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U-Terminal


U-Terminal

Ein Horrortrip
Edition Marbuelis, Band 8 1. Aufl. d. überarb. Neuausgabe

von: Andreas Gößling

9,99 €

Verlag: Mayamedia
Format: EPUB
Veröffentl.: 30.07.2020
ISBN/EAN: 9783944488509
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 234

Dieses eBook erhalten Sie ohne Kopierschutz.

Beschreibungen

Der Horror ist irgendwo da draußen - oder tief in uns drin?

Seit unvordenklichen Zeiten ruht tief unter der Stadt Idleton ein vergessener Tempel. Bei Bauarbeiten für ein neues U-Bahn-System wird er entdeckt - und eine uralte Macht geweckt, die nach Opfergaben verlangt.
Rick Nadar, der mit seiner schwangeren Freundin Rachel nach Idleton kommt, ahnt nicht, dass er sich bereits mitten in einer apokalyptischen Auseinandersetzung befindet, in der er bald schon um sein Leben kämpfen muss.

»Je weiter er vorankam, desto weicher fühlte sich der Boden unter seinen Füßen an. Beinahe fleischig, federnd, als liefe Rick über das Bauchfell einer riesigen, hingestreckten Kreatur.«

»U-Terminal« erzählt von Ricks wachsendem Grauen - und von den dunklen Quellen, denen seine Schreckensgeister entsteigen.

»Gößling setzt wieder dunkle Mächte frei.« (dpa)
»Absolut beklemmend.« (hysterika.de)
»Ein teuflisch guter Roman.« (histo-couch.de über Faust, der Magier)
»Ein sagenhaft spannender Thriller.« (»Berliner Morgenpost« über Wolfswut)
»Ein genialer Fantasy-Detektiv-Roman.« (»Nautilus« über Der Ruf der Schlange)
New Providence
Hunter’s Castle
Python Resort
Catwalk
Lillison Valley
Overidge
MakaBARett
Versackt
Joey und die Asiatin
Das Flugblatt
Froschteich, Citypark
Die ganze Welt
Der Mythologe
Mi-lung
Achterbahn
Esteban & the I-dolls
Schleuse
Dunkle Göttin
Anhang
Mythenforschung – Nachwort von Ralf Reiter
Nachwort zur überarbeiteten Neuausgabe
Versuch über die Verzauberung. Essay von Andreas Gößling
Andreas Gößling, geboren 1958 in Gelnhausen. Der promovierte Literatur- und Kommunikationswissenschafter beschäftigt sich seit vielen Jahren mit kultur- und mythengeschichtlichen Themen. Neben Romanen für erwachsene und junge Leser hat er zahlreiche Sachbücher publiziert und Forschungsreisen unter anderem im karibischen und südostasiatischen Raum unternommen. Andreas Gößling lebt mit seiner Frau, der Autorin und Sprachdozentin Anne Löhr-Gößling, bei Berlin.
Andreas Gößling

U-Terminal

Ein Horrortrip


Mit einem Nachwort von Ralf Reiter: Mythenforschung
und einem Essay von Andreas Gößling:
Versuch über die Verzauberung

Edition Marbuelis - Band 8

(c) Edition Marbuelis im Verlag MayaMedia GmbH


New Providence
In dieser Woche hatte Rick Nadar Nachtschicht, und als er um fünf Uhr früh nach Hause fuhr, ging über den Hügeln von New Providence gerade die Sonne auf. Rick war todmüde und zufrieden. Der neue Job war wirklich okay – nicht gerade das große Abenteuer, aber immerhin hatte er zum ersten Mal ein eigenes Büro. Genauer gesagt, eine gläserne Loge, und auf der Tür stand in schwarzen Lettern Security Center. Die Sicherheit der ganzen Fabrik hing von seiner Aufmerksamkeit ab – von ihm und von den Unmengen an Alarmanlagen, Kameras, Überwachungssensoren, mit denen die Zäune und Tore rings um die Fabrik bestückt waren.
Halbleiterproduktion, Rick wusste nicht so ganz genau, was das eigentlich sein sollte. Jedenfalls arbeitete er jetzt in der Computerbranche, und für einen Burschen wie ihn, der bisher hauptsächlich als Kurierfahrer und Wachmann gejobbt hatte, war das ein großartiger Erfolg. Noch vor einem halben Jahr wäre er allerdings gar nicht auf die Idee gekommen, sich nach einem festen Arbeitsplatz umzusehen. Jeden Tag ins selbe Büro oder in die gleiche Fabrik schlurfen, nur damit man seine Miete bezahlen und allenfalls abends noch ein Bier in der Bar an der Ecke kippen konnte. Nicht mit Rick Nadar. So hatte er noch vor kurzem gedacht. Doch dann war Rachel in sein Leben getreten, und seitdem war alles anders.
Die Ampel vor ihm sprang auf Rot, aber Rick fuhr einfach weiter. Um diese frühe Morgenstunde war hier draußen am Stadtrand kaum jemand unterwegs. Er gähnte und rieb sich die Augen. Noch fünf Minuten, höchstens sechs bis zu seinem Block in der Higher Hill Street. In seinem kleinen Dachapartment würde er erst mal schlafen. Nichts essen, nichts trinken, erst mal ein paar Stunden Schlaf. Auch Rachel lag bestimmt noch in ihrem Bett am anderen Ende der Stadt und schlief tief und fest. Nicht mehr lange, dachte Rick, dann würden sie in eine gemeinsame Wohnung ziehen, und wenn er dann von der Nachtschicht nach Hause käme, würde er zu Rachel ins Bett schlüpfen. Mit einem schläfrigen Lächeln würde sie die Augen öffnen und ihn an sich ziehen, ihr langes, dichtes Haar um sie herum auf dem Kissen ausgebreitet wie ein Kranz schwarzer Strahlen.
Seltsam war nur, dass sie immer gleich ablenkte, wenn er dieses Thema anzuschneiden versuchte: ihre gemeinsame Zukunft. Rick kam sich manchmal schon selbst ganz komisch vor. Er hätte nie gedacht, dass er mal in diese Lage geraten würde. Wenn er früher das Gefühl bekommen hatte, dass sein Mädchen mehr von ihm wollte, als ihm lieb war, hatte er die Sache immer kurz entschlossen beendet. Aber bei Rachel war eben alles anders. Plötzlich war er derjenige, der sich sorgte, dass sie ihn verlassen könnte – einfach so und obwohl sie ein Kind erwartete. Mein Kind, dachte Rick und spürte gleich wieder dieses nervöse Kribbeln im Bauch, wie jedes Mal, wenn ihm einfiel, dass er bald Vater werden sollte.
Die Mondsichel schwebte noch über dem Dach seines Apartmentblocks, als Rick seinen alten Ford Mustang in eine Parklücke direkt vor der Haustür manövrierte. New Providence war keine besonders große und schon gar keine glanzvolle oder irgendwie bedeutende Stadt, aber Rick war hier geboren, es war seine Heimatstadt, und er konnte sich nicht vorstellen, eines Tages mal von hier wegzuziehen. Jedes einzelne seiner fünfundzwanzig Lebensjahre hatte er hier verbracht, es war seine Welt, und im Grunde brauchte er keine andere. Obwohl es andererseits sehr für die Welt da draußen sprach, dass sie ein Geschöpf wie Rachel hervorgebracht hatte.
Während er nach oben fuhr, musterte er im Spiegel sein Gesicht, das vor Müdigkeit beinahe gelb war. Aber das lag vielleicht nur an dem trüben Deckenlicht im Lift. Die Kabine hielt in der vierzehnten Etage, und Rick drückte die Tür auf und stieg aus. Müdigkeit hin oder her, am liebsten wäre er gleich wieder umgekehrt, mit dem Lift nach unten gerumpelt, in sein Auto gestiegen und bis ans andere Ende der Stadt gefahren, wo Rachel in einem möblierten Zimmer wohnte. Aber die alte Miss Lilly, der das reichlich verwahrloste Haus mitsamt dem riesigen Garten voll verwilderter Rosenbüsche gehörte, duldete natürlich keinen »Herrenbesuch« – tagsüber nicht und erst recht nicht über Nacht. Trotzdem hatte Rachel ihr Zimmer bei dieser Lilly bis heute nicht aufgegeben, und es kam nur selten vor, dass sie mal eine ganze Nacht bei ihm verbrachte.
Rick liebte Rachel mehr als alles auf der Welt, dabei wusste er eigentlich nichts von ihr. Nur dass sie umwerfend schön war und eines Abends vor sechs Monaten in der Tür des Gloaming, seiner Lieblingsbar, gestanden hatte, vergoldet von den Strahlen der Sonne, die in ihrem Rücken gerade unterging. Und dass er sie immerzu angestarrt und dann wie ein Trottel herumgestottert hatte, als sie ausgerechnet neben ihm auf den Barhocker geglitten war. Geschmeidig wie eine Raubkatze und mit einem Lächeln, das ihm auch irgendwie katzenhaft vorgekommen war.
Rick schob seinen Schlüssel ins Schloss und sperrte die Tür auf. Sein Apartment war eigentlich nur ein Dachzimmer mit schrägen Wänden, einer Nasszelle in der einen und einem winzigen Küchenblock in der anderen Ecke. Das Schrankbett in der Nische war so schmal, dass er es Rachel nicht verübeln konnte, wenn sie in diesem sargartigen Verschlag nicht die ganze Nacht verbringen wollte.
Während er durchs Zimmer ging, knöpfte er sein Hemd auf, öffnete den Gürtel und schüttelte sich die Turnschuhe von den Füßen. Er war wirklich todmüde, kein Wunder, wenn man die ganze Nacht über mehr als zwei Dutzend Monitore und lange Reihen mit Signallampen im Auge behalten musste.
Als er bei der Bettnische war, glaubte er zuerst, dass er schon im Stehen träumte. Vor ihm lag Rachel, ganz genauso, wie er es sich eben im Auto ausgemalt hatte: ihr Kopf auf seinem Kissen, die langen Haare um sie herum ausgebreitet wie ein Kranz schwarzer Strahlen. Aber Rachel lächelte ihn nicht an, und sie streckte auch nicht die Arme nach ihm aus, damit er zu ihr unter die Decke kroch.
»Zieh dich wieder an, Rick«, sagte sie, »wir müssen sofort losfahren.«
»Was ist denn passiert?«, fragte er, aber sie schien seine Worte nicht gehört zu haben. Sie erhob sich von seinem Bett, und da erst bemerkte er, dass sie schon fix und fertig angezogen war. Sie trug ihr neues, extraweit geschnittenes Kleid mit dem gelb-grünen Tupfenmuster, das ein wenig an den Schuppenpanzer eines Leguans erinnerte. Konnte es sein, dass ihr Bauch über Nacht noch viel runder geworden war? Es kam ihm so vor, aber das lag wohl an seiner Müdigkeit und der Nervosität, die ihn alles überdeutlich wahrnehmen ließ. »Um Himmels willen, ist was mit dem Kind?«, fragte er.
Rachel schob sich an ihm vorbei, aus der Bettnische heraus, ohne ihn anzusehen. Ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen wirkte angespannt, die dunklen, ein wenig schräg geschnittenen Augen schauten durch Rick hindurch. Er sah ihr hinterher und versuchte zur gleichen Zeit, sein Hemd wieder zuzuknöpfen. Seine Finger zitterten. Mit einer fahrigen Bewegung riss er sich das Hemd herunter, ging zum Schrank und nahm ein schwarzes T-Shirt heraus.
Als er sich wieder zu ihr herumdrehte, lächelte ihn Rachel an. »Ja, ich glaube, es ist wegen dem Kind«, sagte sie. Mit beiden Händen strich sie sich sanft über den Bauch, der sich unter dem gelb-grünen Kleid wie eine Weltkugel wölbte.
Rick hatte keine präzise Vorstellung davon, wie dick die Bäuche von Schwangeren im fünften Monat gewöhnlich waren. Vielleicht würde Rachel ja auch Zwillinge bekommen? Der Gedanke trug nicht gerade zu seiner Beruhigung bei.
»Jedenfalls kann ich hier nicht länger bleiben«, fuhr Rachel fort, und wieder nahm ihr Gesicht diesen angespannten Ausdruck an, als ob sie auf Geräusche in weiter Ferne lauschte. »Diese Stadt bedrückt mich«, sagte sie, »der kalte Wind von den Hügeln her, die staubigen Straßen, in denen weit und breit nichts Grünes wächst und keine Vögel singen. Lass uns weggehen von hier.«
Rick verstand überhaupt nichts mehr. Das T-Shirt in der Hand, Hose und Gürtel geöffnet, stand er todmüde neben seinem Bett, und das Zimmer mitsamt Rachel begann um ihn herum leise zu schwanken. Dem Kind in ihrem Bauch ging es also gar nicht schlecht? Sie hatte nur die Nase voll von New Providence und wollte, dass sie Hals über Kopf abreisten – und das, obwohl er wegen ihr und dem Kind gerade diesen neuen Job angenommen hatte?
»Ich habe schon alles zusammengepackt«, sagte Rachel. »Wir müssen nur noch schnell bei Lilly vorbeifahren, damit du meine Koffer einladen kannst.«
Er meinte nun einen Unterton von Ungeduld in ihrer Stimme zu hören. Bei keinem anderen Mädchen hatte er jemals auf solche Feinheiten geachtet.
»Gönn mir wenigstens ein paar Stunden Schlaf, Rachel. Dann fahr ich dich hin, wo immer du hinwillst.« Er gähnte demonstrativ und rieb sich übers Gesicht. Dabei wusste er jetzt schon, dass er kein Auge zumachen würde, egal wie viel Aufschub Rachel ihm gewährte.
Ihre Hände legten sich wieder um ihren Bauch. »In spätestens einer Stunde müssen wir los.« Sie schaute zum Dachfenster hinaus, als ob diese Botschaft auf dem blassblauen Morgenhimmel geschrieben stünde.
»Okay, wie du willst.« Rick ließ sich auf sein Bett fallen und streckte eine Hand nach ihr aus. »Komm, Liebes, leg dich so lange zu mir.«
Aber Rachel hatte die Zimmertür schon geöffnet. »Sei so nett und hol mich um halb sieben bei Lilly ab, ja?« Über die Schulter sah sie ihn an, mit einem so abwesenden Lächeln, als fragte sie sich, was sie mit dem jungen Mann auf dem Klappbett überhaupt anfangen sollte.



Hunter’s Castle
Die Straße wand sich einige Meilen weit durch die hügelige Landschaft, dann plötzlich ging es steil bergauf. In diese Richtung war Rick noch nie weiter als bis zu den Steinbrüchen gefahren. Die Piste war schmal, kurvig und mit Schlaglöchern übersät. Ab und zu donnerten ihnen riesige Lastzüge entgegen, in gelbgraue Staubwolken gehüllt. Immer wieder musste er Geröllbrocken ausweichen, die von den schroffen Felsen auf die Straße gerollt waren. So steil rechts von ihnen die Bergwand aufragte, so schwindelerregend ging es links ins Tal hinab. Anfangs glaubte Rick ab und zu noch einen Schimmer von New Providence zu erspähen, von seinen Dächern und Glasfassaden, die tief unter ihnen in der Sonne glitzerten. Aber bald schon war um sie herum nichts mehr als Berge und Wälder und der wolkenlose Himmel über ihnen.
Erwartungsgemäß hatte er heute früh in seinem Schrankbett nicht eine Sekunde geschlafen. Im Gegenteil war er immer nervöser geworden, je länger er sich auf dem Laken hin und her warf, das noch warm von Rachel war und nach ihrem Mandelduft roch. Also war er bald schon wieder aufgesprungen, hatte sich in der Fabrik für drei Tage abgemeldet, dann Kaffee gekocht und ein paar Sachen zusammengepackt. Nur das Allernötigste für eine kurze Reise, natürlich würden sie bald schon nach New Providence zurückkommen, ja was denn sonst. Er konnte doch nicht einfach seinen Job aufgeben und mit Rachel durchs Land vagabundieren. Sie müssten in Hotels übernachten und in Restaurants essen, und selbst wenn sie sich einschränken würden, wäre er nach spätestens acht Tagen pleite. Sparen war bisher nicht seine Stärke gewesen, und gerade jetzt, wo er angefangen hatte, sein Leben für Rachel umzukrempeln, wollte sie, dass er alles wieder hinwarf? Das mochte verstehen, wer konnte und wollte, er verstand es jedenfalls nicht. Und hatte Rachel ihm nicht vor ein paar Tagen erst erklärt, dass sie bis zur Geburt ihres Kindes die Stadt auf keinen Fall verlassen dürfe, damit die Ärztin, die sie und das Kind betreute, immer in ihrer Nähe war? So wie er selbst, dachte Rick, seine Security-Zelle in der Fabrik während der Schicht nicht verlassen durfte – für den Fall, dass das Kontrollsystem plötzlich Alarm schlug. Als ob so eine schwangere Frau letztlich auch nichts anderes wäre als eine Fabrik – nur eben eine, die statt Halbleitern Babys produzierte.
Nein, bei solchen Gedanken war wirklich nicht an Schlaf zu denken. In letzter Zeit war Rick sogar ganz froh gewesen, wenn er für die Nachtschicht eingeteilt wurde, denn seit einigen Wochen schlief er ziemlich schlecht. Fast jedes Mal wachte er nach ein paar Stunden wieder auf, weil er irgendeinen Mist geträumt hatte, dabei hatte er so etwas früher nicht gekannt: Albträume, aus denen man schweißnass und mit wahnsinnigem Herzklopfen emporfuhr.
Er riskierte einen Blick zu Rachel hinüber, die wie eine Statue auf dem Beifahrersitz thronte. Seit er sie bei Lilly abgeholt hatte, saßen sie mehr oder weniger stumm nebeneinander, wechselten nur ab und zu ein paar Worte, ansonsten hing jeder seinen Gedanken nach. Rachels Gepäck bestand aus einem riesigen Koffer und drei unförmigen Reisetaschen. Je länger Rick darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass sie nicht vorhatte, jemals nach New Providence zurückzukehren. Dabei schien sie selbst nicht zu wissen, wo sie überhaupt hinwollte. »Immer nach Osten« war alles, was er zu diesem Thema aus ihr herausbekommen hatte, und mit jeder Meile, die sie vorankamen, wuchs Ricks Nervosität.
Sie wollte ihn loswerden, anders war ihr Verhalten nicht zu erklären. Sie benutzte ihn ein letztes Mal, um sich von ihm zu ihrem geheimnisvollen neuen Ziel chauffieren zu lassen – und dort angekommen, würde sie ihn abservieren! Anders konnte es gar nicht sein, dachte Rick und umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. Sie würde sich kühl bei ihm bedanken und ihn ein letztes Mal mit ihrem Blick aus schrägen Katzenaugen verwirren – und dann ab mit dir, Rick. Du bist ein netter Bursche, keine Frage, siehst ganz gut aus mit deinen kurzen braunen Haaren, breiten Schultern, dem energischen Kinn, dem jungenhaften Grinsen, und im Bett bist du zumindest keine totale Katastrophe. Aber mein Leben ist zu kostbar, um es mit dir zu vergeuden – also mach keine Szene, Ricky, und verschwinde.
So hörte er sie in seinem Innern zu ihm sprechen, keineswegs zum ersten Mal, und obwohl er immer noch todmüde war, fühlte er sich bald schon so überdreht wie der Motor seines räudigen Mustangs, der sich heulend und röchelnd die Serpentinen hochquälte.

+++

Gegen Mittag kamen sie zu einem Parkplatz, den ein ausgeblichenes Schild als »eindrucksvollen Aussichtspunkt« anpries. Zu Ricks Überraschung erwachte Rachel aus ihrem Dämmerzustand, sah sich um und fragte: »Warum machen wir hier nicht eine kleine Pause, Ricky?« Er nickte zustimmend und ging vom Gas. »Ich weiß nicht, was es ist«, hörte er Rachel murmeln, »aber irgendetwas muss hier sein, das spür ich genau.«
Sie wirkte auf einmal viel wacher als in den Stunden, seit sie aufgebrochen waren. Kaum hatte Rick den Motor abgestellt, sprang sie aus dem Wagen, so geschmeidig und leichtfüßig, wie sie vor ihrer Schwangerschaft gewesen war. Rick blieb noch einen Augenblick hinterm Steuer sitzen und sah ihr zu, wie sie aufgeregt auf dem geschotterten Platz herumlief. War nicht alles viel besser und einfacher gewesen, bevor sie schwanger geworden war? Er tadelte sich für diesen Gedanken, aber eine Stimme irgendwo tief in ihm gab ihm flüsternd Recht. Als Rachel noch schlank und mädchenhaft war, wisperte die Stimme, als sie noch nicht diesen enormen Bauch vor sich hergetragen hat, als in ihrem Körper noch kein fremdes Leben herangewachsen ist ...
»Wo bleibst du denn, Rick?« Wieder mit diesem Unterton, der ihre Stimme fast metallisch vibrieren ließ.
Er beeilte sich auszusteigen, den Wagen zu verriegeln, um die Motorhaube herum zu ihr zu spurten – mit einer Dienstfertigkeit, die er absichtlich übertrieb, ohne Rachel auch nur das leiseste Lächeln zu entlocken. »Da drüben ist ein Hotel«, sagte sie und deutete auf einen düsteren, burgartigen Bau, der hinter einem Wall aus Tannen in den Himmel ragte. Die verwitterten Schriftzeichen an der Fassade besagten Hunter’s Castle – Hotel.
Rick rieb sich die nackten Arme. Er hatte nur sein schwarzes T-Shirt an, und es war kalt hier oben, aber die Luft war rein und klar und der Ausblick über Berge und Wälder tatsächlich beeindruckend. Am liebsten hätte er mit Rachel die Nacht hier in den Bergen verbracht, wenn es sein musste auch in dieser finsteren Jägerklause. Aber ein halbes Jahr an Rachels Seite hatte ihn gelehrt, dass es klüger war zu warten, wie sie sich entscheiden würde. Hatte sie Lust, die Nacht über hier zu bleiben – wunderbar. Hatte sie keine Lust, könnte er mit der Beredsamkeit eines Engels auf sie einwirken und würde sie doch niemals überzeugen. Und zwar aus dem einfachen, wenn auch niederschmetternden Grund, dass sie sofort abschaltete, einfach nicht mehr zuhörte, sich in ihr geheimnisvolles Inneres zurückzog, wenn ihr irgendwas gegen den Strich ging. Auf den ersten und auch noch auf den zweiten Blick, dachte Rick, wirkte Rachel zierlich und zerbrechlich wie ein kleines Mädchen, aber hinter ihrer Zartheit verbarg sich eine Härte, die ihn jedes Mal erschreckte, wenn er ein Stück davon zu sehen bekam.

+++

Verwundert sah sich Rick in der kleinen Hotelhalle um. Sie ähnelte der Höhle eines urzeitlichen Jägers. Hirschgeweihe an den Wänden, ausgestopfte Wildschweine und Rehe in schummrigen Nischen. Unter der Gewölbedecke schwebten glasäugige Falken und Habichte, an Nylonfäden aufgehängt, sodass es aussah, als ob sie im Sturzflug wären.
»Seltsamer Laden, oder?« Rachel gab ihm keine Antwort. Er stellte ihren Schrankkoffer neben der Tür ab und setzte seine kleine Reisetasche darauf. »Hallo, ist jemand zu Hause?« Das Hotel machte einen verlassenen und verwahrlosten Eindruck. Aus Deckenfunzeln sickerte gelbstichiges Licht. Jetzt erst wurde Rick bewusst, dass der Parkplatz unter dem Schild Hunter’s Castle leer gewesen war.
Im Hintergrund bemerkte er einen Tresen, auf dem eine altmodische Handglocke stand. Rick wollte darauf zugehen, aber Rachel hielt ihn zurück. Sie hatte sich bei ihm eingehängt, und plötzlich presste sie seinen Arm so fest, dass es weh tat. Ein Zittern überlief sie, ihr Körper spannte sich an, und im gleichen Moment hörte Rick ein unheimliches Knurren. Er fuhr herum. Vor ihnen stand ein riesiger schwarzer Hund, mit Augen so groß wie Espressotassen. Das Biest knurrte, und Rachel starrte es an, als ob sie die Dogge hypnotisieren wollte.
»Möchtest du, dass wir weiterfahren, Liebes?«, fragte Rick.
Wieder bekam er keine Antwort. Noch immer presste Rachel mit ihrer rechten Hand seinen Unterarm zusammen, und dabei bohrte sie ihren Blick in die Augen des Hundes, der irgendwie seinen Mumm zu verlieren schien. Er hörte auf zu knurren, ließ den Kopf hängen und kniff den Schwanz ein.
»Hey, wie hast du das gemacht, Rachel?«
»Ich habe ihn verhext«, sagte sie und schaute Rick auf die gleiche Weise an. Mit einem so starren, durchdringenden Blick, dass es ihm kalt den Rücken herunterlief. Er versuchte zu lachen und riss sich von ihren Augen los. Wie eine riesige Katze hatte sie ihn angesehen. Wie sich der Hund wohl gerade gefühlt hatte? Rick schaute sich nach der schwarzen Dogge um, aber von dem Höllenvieh war weit und breit nichts mehr zu sehen.
»Womit kann ich Ihnen helfen?« Der heisere Klang ließ Rick erneut herumfahren. Hinter der Rezeption stand ein stämmiger Glatzkopf im tannengrünen Wams, die Hände auf den Tresen gestützt. Unter struppigen Brauen sah er ihnen mürrisch entgegen, als ob Gäste in seinem Hotel unerwünscht wären.
»Wir brauchen ein Zimmer«, sagte Rick. Wieder versuchte er sich in Bewegung zu setzen, und diesmal ließ sich Rachel widerstandslos mitziehen. »Für eine Nacht, vielleicht auch für zwei.«
Auch diese Aussicht schien den Hotelbesitzer nicht aufzuheitern. Mit finsterer Miene zog er eine Kladde hervor und knallte sie vor ihnen auf die abgewetzte schwarze Holztheke. »Tragen Sie sich hier ein.« Die Arme vor der Brust verschränkt, beobachtete er argwöhnisch, wie Rick ihre Namen in das Heft schrieb. Als ihren ständigen Wohnsitz gab er nach kurzem Zögern seine Adresse in New Providence an.
Der Hotelier schob einen überdimensionalen Schlüssel über den Tresen. »Nummer Achtzehn«, sagte er. »Werfen Sie keine Abfälle ins Klosett.«
»Ist okay.« Mit einiger Mühe stopfte Rick den riesigen Schlüssel in seine Jeanstasche, dann schnappte er sich wieder ihr Gepäck und schleppte es durch den engen Gang, an dessen Ende Zimmer Achtzehn liegen sollte. Rachels Koffer war so schwer, als ob er randvoll mit Stahlplatten wäre. Auch hier im Gang hingen Geweihe von Hirschen und Böcken an den Wänden, die mit schwarzem Holz vertäfelt waren. In Mauernischen standen verschlissene grüne Ledersessel, auf denen wahrscheinlich seit Jahren niemand mehr gesessen hatte. Es roch muffig, nach Staub und ranzigem Frittierfett, und obwohl draußen die Sonne senkrecht vom Himmel scheinen musste, war es hier drinnen fast so finster wie in einem Sarg.
Im Zimmer Nummer Achtzehn gab es ein großes Fenster auf den Wald hinaus. Rick zog die staubigen Vorhänge auf und öffnete beide Flügel, um frische Luft und Tageslicht einzulassen. »Im Prinzip hab ich nichts gegen Jäger«, sagte er. »Mein Vater ist früher oft auf Entenjagd gegangen, und als Junge war ich auch ab und zu dabei. Aber das hier?« Über der Badtür hing ein Geweih mit mindestens vierzehn Enden. »Wir werden uns beobachtet fühlen«, sagte Rick und deutete auf den ausgestopften Hühnerhabicht, der über dem Doppelbett schwebte.
Rachel schenkte ihm ein abwesendes Lächeln. Na, immerhin, dachte er, ich hatte schon befürchtet, dass sie mich überhaupt nicht mehr wahrnehmen würde. Er wuchtete ihren Schrankkoffer auf den klapprigen Tisch, der mit einem Ächzen protestierte, und stellte seine Reisetasche daneben. Sie enthielt Wäsche zum Wechseln, Rasierzeug und Zahnbürste, Rachel dagegen hatte offenbar ihre sämtlichen Kleider und Röcke sowie fünf Dutzend Paar Schuhe eingepackt. So als wollte sie nie mehr nach New Providence zurück, dachte er wieder.
Rachel war unterdessen ans Fenster getreten, vor dem riesige Tannen emporragten, so dicht nebeneinander und so himmelhoch wie eine Bergwand. Rick lehnte sich in den Rahmen der Badtür und sah Rachel zu, wie sie aus dem Fenster schaute, ihre zierliche Gestalt, das üppige schwarze Haar über dem Leguankleid, ihre langen Beine, die schmalen Füße in den Schlangenlederschuhen. Er liebte jeden Zoll ihres Körpers, er betete sie einfach an. Warum konnten sie sich jetzt nicht einfach in dieses Hotelbett legen und alles andere vergessen? »Rachel«, sagte er und beobachtete ihren Rücken, der starr blieb wie die Hinterseite einer Statue. »Rachel, Liebes, warum legen wir uns nicht ein biss...?«
Weiter kam er nicht, denn sie wandte sich wieder um, und ihr Blick wirkte noch viel abwesender als vorhin ihr Lächeln. Ihre rechte Hand fuhr mit kreisenden Bewegungen über ihren Bauch. »Lass uns im Wald spazieren gehen, Rick«, sagte sie, »deshalb sind wir ja schließlich hier, oder?«
Erstaunt hob er die Schultern und nickte ihr gleichzeitig zu. Wenn Rachel es so wollte, würden sie spazieren gehen, keine Frage. Aber seltsam war es trotzdem. In den sechs Monaten, seit er sie kennen gelernt hatte, war Rachel kein einziges Mal auch nur einen Block weit zu Fuß gegangen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Und jetzt wollte sie mit ihm durch diesen Wald spazieren? Na, warum nicht, dachte er. Das Bett unter dem Hühnerhabicht konnten sie immer noch ausprobieren. Ein würziger Geruch nach Tannen und Moos strömte durchs Fenster und vermischte sich mit dem Mief, der seit vielen Jahren der einzige Bewohner von Zimmer Achtzehn gewesen zu sein schien.

+++

Die Dogge lag auf einem räudigen Wildeberfell mitten in der Halle. Als Rick und Rachel aus ihrem Zimmerflur traten, sprang der Hund auf und begann aufs Neue drohend zu knurren. Aber Rachel brauchte ihn nur kurz anzusehen, da fing er wieder an zu winseln, zog den Schwanz ein und verkroch sich hinter den Tresen.
»Na, den hast du ganz schön kirre gemacht«, sagte Rick und überlegte, ob das nicht genauso für ihn selbst galt. Rachel hatte sich wieder bei ihm eingehängt und lächelte ganz leicht, ohne ihn anzusehen. Er fragte sich, ob sie seine Bemerkung überhaupt mitbekommen hatte. In seinem Rücken spürte er den erstaunten Blick des Hotelbesitzers und hörte, wie der Mann im jägergrünen Wams die Dogge ausschimpfte: »Was ist denn mit dir los, Zerbie? So kenne ich dich gar nicht, du winselst ja wie ein Mops.« Dann stieß Rick die Tür auf, und sie waren endlich wieder draußen, in der unwirklich hellen Mittagssonne.
»Da hinten müssen wir lang«, sagte Rachel und zog ihn auf einen schmalen, mit Unkraut überwucherten Pfad, der unter verrammelten Fenstern an der stockfleckigen Hotelrückfront entlangführte. Aus verwilderten Büschen flatterten Falter empor, und unter ihren Sohlen stoben ganze Wolken von Insekten auf. Hier war offensichtlich seit Wochen und Monaten niemand mehr gelaufen. Aber Rachel bewegte sich so zielstrebig den Pfad entlang, als wäre sie schon mal hier gewesen.
Rick machte den Mund auf, doch dann zog er es vor, seine Frage wieder herunterzuschlucken. Direkt hinter dem Hotel begann der Wald, und der Weg wurde ein wenig breiter, sodass sie bequem nebeneinander laufen konnten. Allerdings ging es nun zwischen einer schroffen Bergwand zu ihrer Linken und einer schwindelerregend tiefen Schlucht entlang, die zwei Handbreit neben Ricks rechtem Turnschuh verlief.
Die Waldvögel zwitscherten, und schwarze Eichkatzen von unwahrscheinlicher Größe schnellten an den glatten Tannenstämmen empor. »Schön hier, oder?«, fragte er.
»Diese Höhe«, murmelte Rachel, »macht mir Angst.« Sie sah gehetzt um sich, von der bemoosten Felswand neben ihr zu der Schlucht, an deren Grund ein Wildbach dahintoste.
»Dann lass uns zurückgehen, Liebes«, schlug Rick vor. »Es ist sowieso ziemlich kalt hier draußen.« Er hatte vorgehabt, vor dem Spaziergang seine Lederjacke aus dem Auto zu holen, aber Rachel hatte ihn gleich auf diesen Weg gelotst, sodass sie nicht mehr am Parkplatz vorbeigekommen waren. Doch obwohl er in seinem T-Shirt fröstelte, genoss er zugleich die kalte, frische Bergluft. Sie machte einen klaren Kopf, jedenfalls hoffte er das. Überhaupt mochte er die Berge viel mehr als das Tiefland, wo es meistens heiß und stickig war.
Plötzlich blieb Rachel stehen. Rick drehte sich zu ihr und sah sie voller Erstaunen an. Was ging nur mit ihr vor? Rachels Augen waren zu schrägen Schlitzen zusammengezogen, ihre Nasenflügel bebten, als ob sie witternd die Waldluft einsöge. Mit dem rechten Arm hatte sie sich bei ihm eingehängt, ihre linke Hand fuhr immer wieder kreisend über ihren Bauch. So als hielte sie Zwiesprache mit dem Kind in ihrem Innern.
»Weiter«, sagte sie, »hier entlang.« Und sie setzte sich wieder in Bewegung, sodass Rick nichts anderes übrig blieb, als gleichfalls weiterzutrotten, obwohl Rachel seine Anwesenheit kaum mehr wahrzunehmen schien.
Ein bitteres Gefühl kochte in ihm hoch, aber er zwang sich, das Gefühl genauso wieder runterzuschlucken wie vorhin seine Frage. Es war lächerlich, auf ein ungeborenes Kind eifersüchtig zu sein. Und doch ertappte er sich immer wieder bei dem Wunsch, dass alles wie früher sein sollte, als Rachels Bauch noch nicht so prall und rund wie ein Globus gewesen war. Als sie noch scharf auf ihn gewesen war und ihm in den unerwartetsten Momenten ins Ohr flüstern konnte: »Lass uns von hier verschwinden, Ricky. Ich bin ganz wild auf dich, ich würde dich am liebsten mit Haut und Haaren fressen.« Daran hatte er sich zwar auch nie so richtig gewöhnen können – dass Rachel so fordernd sein konnte, wie er es noch bei keinem Mädchen erlebt hatte, und dass sie ihn von Anfang an so behandelt hatte, als ob sein einziger Lebenszweck darin bestünde, ihrer Lust und ihren Launen zu dienen. Aber es war jedenfalls viel besser gewesen als die jetzige Situation, in der er anscheinend nur noch als Chauffeur und Kofferträger benötigt wurde.
Rachel blieb abermals stehen, und er fuhr aus seinen Grübeleien auf. Sie entzog ihm ihren Arm und starrte auf die Felswand, die zu ihrer Linken emporragte, von nackten Furchen durchzogen und mit schütteren Moosflechten bedeckt. Warum schaute sie unverwandt auf dieses Stück Fels? Oder starrte sie einfach gedankenverloren ins Leere und lauschte auf die geheimnisvollen Zeichen, die das Kind in ihrem Innern ihr sandte?
Doch als Rick ihrem Blick folgte, kam es ihm plötzlich so vor, als ob das Durcheinander aus steinernen Rillen, aus Schmutz und Moosflechten nicht zufällig so angeordnet wäre. Jemand hatte diese Furchen mit einem Messer oder Meißel in den Stein gegraben und das Muster aus Moos und Schlamm absichtlich einbezogen, sagte sich Rick. Es war eine Ritzzeichnung, ganz ohne Zweifel, und je länger er sie anstarrte, desto klarer sah er die höhlenartigen Umrisse einer Gebärmutter, in der ein winziges Skelett hockte.
Oder verlor er jetzt ganz einfach seinen Verstand?
»Ich muss runter ins Tal«, hörte er Rachel murmeln. Schon wandte sie sich um, in Richtung Hotel, und Rick blieb erneut nichts anderes übrig, als hinter ihr her zu laufen.
»In was für ein Tal denn? Und was musst du da so dringend machen?«, fragte er und verdrehte sich im Gehen den Hals, um noch einen Blick auf die seltsame Stelle an der Felswand zu werfen. Hatte er sich nur eingebildet, dass die Ritzen und Moosflechten dieses bizarre Muster bildeten, oder hatte da wirklich irgendwer ein winziges Skelett in den Fels gekratzt, das im Mutterbauch hockte wie in einem Grab? Aber wer sollte so etwas tun – und zu welchem Zweck?
»Dringend? Gar nichts«, sagte Rachel. »Was suchst du nur dauernd da hinten?« Sie erschauerte und schmiegte sich an Ricks Seite. »Mir ist so kalt. Auch das Kind friert«, setzte sie hinzu und bekam wieder diesen abwesenden Ausdruck, als ob sie Zeichen aus großer Ferne empfangen würde. »Bringst du uns runter ins Tal, Ricky? Da ist es bestimmt viel wärmer.«
»Natürlich«, sagte Rick, »wie du willst, Liebes.« Er fragte sich, ob zumindest sie selbst sich noch in ihren Wünschen und Worten zurechtfand oder ob sie einfach so daherredete wie manchmal, wenn sie im Schlaf unverständlich murmelte und seufzte.

+++
Als sie wieder beim Hotel waren, wandte sich Rachel nach links, wo ein Dutzend zertretener Stufen zum Parkplatz hinunterführten. »Holst du unsere Sachen? Ich bin so müde, ich warte im Auto auf dich.«
Wenn sie fror und müde war, warum verdammt noch mal legte sie sich nicht in ihrem Zimmer ins Bett und ließ sich von ihm wärmen? Rick biss sich auf die Unterlippe. »Wie du willst, Rachel«, sagte er wieder und zog die Tür zur Hotelhalle auf.
Als er mit Rachels Schrankkoffer und seiner Reisetasche erneut vor der Rezeption stand, war sein Ärger längst verraucht. Sie hat ja recht, dachte er, warum sollten wir in diesem muffigen Mausoleum übernachten? Bestimmt kommen wir noch an schöneren Hotels vorbei, wenn wir die Berge erst hinter uns haben. Er nahm die altmodische Handglocke und schüttelte sie. Ihr rostiger Ton war noch nicht verhallt, da hörte er ein heiseres Bellen. Die Dogge! Und diesmal war an seiner Seite keine Rachel, die blutrünstige Bestien mit der bloßen Kraft ihres Blicks niederzwingen konnte.
Das Bellen wurde lauter, jetzt war das Vieh schon so nah, dass er das Geräusch der Pfoten auf dem steinernen Boden hörte. Nur ruhig Blut, versuchte sich Rick zu ermuntern und sah sich nach allen Seiten um. Im Halbdunkel der Halle war kaum zu erkennen, was in den Wandnischen so alles hauste. Die plumpe Silhouette dort drüben, war das ein ausgestopfter Eber oder etwa die Dogge Zerbie? Hunde hatte Rick noch niemals leiden können, schon als kleiner Junge nicht. Die Biester schienen das zu spüren, jedenfalls gingen sie mit Vorliebe auf ihn los, während andere Leute meistens unbehelligt blieben. Er hatte das schon mehr als einmal beobachtet – wenn er mit einem halben Dutzend Kumpels um die Häuser zog und plötzlich so ein verdammtes Vieh aus einer Tür geschossen kam, stürzte es sich unweigerlich auf ihn. Und wo zum Henker befand sich also die Dogge Zerbie? Ihr Bellen echote hinter den Wänden und Türen der Halle, so als ob der riesige Hund durch eine Flucht von Zimmern im Kreis hetzte, auf der Suche nach einem Durchschlupf. Sein Bellen klang immer zorniger und heiserer, und ab und zu warf sich der Hund gegen eine Tür, dass das Holz nur so krachte.
»Hallo? Mister ... Hunter?« Niemand antwortete ihm, aber das war Rick allmählich fast schon gewöhnt. Er beschloss, nicht länger auf den Hotelbesitzer zu warten. Wenn Mr. Hunter am helllichten Tag seinen Posten verließ, konnte er als Gast nicht dazu verpflichtet sein, auf unbestimmte Dauer in dieser Halle auszuharren. Schließlich wartete Rachel unten im Auto auf ihn, und die Dogge warf sich immer wütender gegen eine Tür, die schon reichlich mürbe klang.
Rick legte eben den gewaltigen Zimmerschlüssel auf den Tresen, als der Mann im grünen Wams durch eine Tür neben der Rezeption trat. Hinter ihm warf sich der Hund mit einem Röcheln durch den Spalt und schoss um den Tresen herum. Rick wurde hart angerempelt, dann stand die Bestie Auge in Auge vor ihm, die Vorderpfoten auf seinen Schultern, und hechelte ihm ihren stinkenden Atem ins Gesicht.
»Ruhig, Zerbie.« Der Hotelier beugte sich über den Tresen und musterte Ricks Gepäck. »Sie reisen wieder ab, Mister Nadar?«
»Leider«, sagte Rick. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, während die Dogge ihre Pfoten von seinen Schultern nahm und sich für den Moment damit begnügte, ihn knurrend zu umkreisen.
»Mit Nummer Achtzehn was nicht in Ordnung?«
»Wie? Ah, doch, alles bestens. Es ist nur so, dass meine Frau ... das heißt wir ... Also, wir haben uns anders entschieden.« Einen Moment lang hatte er ernsthaft vorgehabt, Rachels Schwangerschaft als mildernden Umstand anzuführen, damit der Mann ihn gehen ließ, ohne ihm den Preis für eine Übernachtung abzuknöpfen. Aber es wäre ihm wie Verrat erschienen, und so hatte er sich im letzten Augenblick noch korrigiert. »Wir haben im Zimmer nichts angefasst. Nur die Koffer abgestellt und sind gleich raus in den Wald.«
Bei dem Wörtchen »Wald« begann die Dogge ohrenbetäubend zu bellen. Sie stand wie angenagelt vor Rick, die enormen Zähne gefletscht, und bellte so wild, dass sie am ganzen Körper wie von der Tobsucht geschüttelt wurde.
»Ruhig, Zerbie. Der Hund mag Sie nicht«, teilte der Hotelier ihm mit. »Ich sag immer – es gibt Hundetypen, und es gibt Katzentypen. Und Sie sind ein Katzentyp, klarer Fall.«
»Stimmt«, sagte Rick um des lieben Friedens willen. »Jetzt muss ich aber wirklich gehen.« Er nahm seine beiden ungleichen Gepäckstücke auf. »Nichts für ungut, Sir.« Ohne den Hund aus den Augen zu lassen, bewegte er sich auf die Ausgangstür zu, so schnell es Rachels zentnerschwerer Koffer erlaubte. Was hatte sie da nur reingepackt? Eine Leiche? Blödsinn! Wie kam er denn auf so was? Natürlich fiel ihm jetzt diese seltsame Zeichnung wieder ein, die er vorhin auf dem Felsstück im Wald gesehen hatte.
Endlich war Rick bei der Tür. Er stieß sie auf, schob erst den Koffer, dann sich selbst ins Freie und wandte sich um. Der Mann im Jägerwams stand hinter seinem Tresen, die Ellbogen aufgestützt. Die Dogge hockte mitten in der Halle auf der räudigen Eberhaut, und beide, Herr und Hund, sahen mit gerunzelten Stirnen hinter ihm her.
»Sie haben wirklich recht, Sir«, sagte Rick, »ich bin wahrhaftig kein Hundetyp. Aber Katzen?« Weiter kam er nicht, denn die Dogge sprang auf und rannte mit heiserem Bellen hinter ihm her.

+++

Kurz darauf musste Rick sich erneut über die Stirn wischen, die diesmal nicht mit dem Speichel der Dogge, sondern mit seinem eigenen Schweiß bedeckt war. Er saß hinter dem Steuer seines Ford Mustang, ihr Gepäck war im Kofferraum verstaut, und neben ihm saß Rachel und fragte: »Worauf wartest du denn, Rick?« Wieder mit diesem Unterton von Ungeduld, sodass er am liebsten mit der Faust auf die Hupe gehauen hätte.
Stattdessen legte er die Hände ums Lenkrad und schaute starr geradeaus auf das Hunter’s Castle, das sich hinter dem Parkplatz wie ein Stein gewordener Spuk erhob. »Wohin möchtest du denn?«, fragte er und achtete sorgfältig darauf, dass in seiner Stimme kein Zorn und schon gar keine Angst mitschwang.
»Ins Tal.« Ihre Hand machte kreisende Bewegungen auf ihrem Bauch.
Rick ließ den Motor an. Am Rand des Parkplatzes, direkt unter der Treppe, die zum Hotel hinaufführte, lag die Dogge Zerbie. Er musste sich konzentrieren, damit er beim Ausparken in den Rückspiegel sah und nicht immer wieder zu dem riesigen Biest hinschaute, das dort so reglos lag, als ob es von seinem Herrn bereits ausgestopft worden wäre. Falls Hunde so etwas wie eine Persönlichkeit besaßen, dann hatte Rachel dieses Etwas in der Dogge Zerbie soeben zerstört. Anders konnte Rick es nicht nennen.
Die Dogge war hinter ihm hergerannt, erneut wie tobsüchtig bellend, während er, Rick, den elenden Schrankkoffer über die Treppe nach unten gewuchtet hatte. Sie waren fast gleichzeitig am Parkplatz angekommen, und der Hund hatte sich eben auf ihn stürzen wollen, als er Rachel bemerkte. Sie hatte die Beifahrertür geöffnet, nur gerade weit genug, dass sie Kopf und Schultern oben durch den Spalt strecken konnte. Rachel hatte keinen Ton von sich gegeben, sie hatte den Hund einfach nur angesehen. Rick hatte direkt daneben gestanden, und so hatte er diesmal ganz genau mitbekommen, wie Rachel dreingeschaut hatte. Auch seine Knie hatten zu zittern begonnen, aber das kam sicherlich von der Mühe des Kofferschleppens. Und ein wenig auch von der Angst, die in ihm immer höher gekrochen war – Angst vor dem verdammten Hund, der keinen Mucks mehr von sich gab, oder vor Rachel, die ihn einfach mit ihrem Blick niedergezwungen hatte?
Die Dogge Zerbie jedenfalls war wie ein Kartoffelsack zu Boden geplumpst und hatte keine Pfote, keine Ohrspitze mehr bewegt, während Rick weiter zum Wagen gegangen war, das Gepäck in den Kofferraum gewuchtet und sich selbst hinter das Lenkrad geklemmt hatte. Und der Hund lag auch jetzt noch wie ausgestopft unter der Treppe, als Rick den ersten Gang einlegte und seinen Mustang vom Parkplatz galoppieren ließ, dass der Motor aufheulte und die Reifen quietschten.
»Entschuldige«, sagte er, »das musste jetzt einfach sein.«
Rachel gab ihm keine Antwort. Er sah sie von der Seite an und wusste schon im Voraus, dass sie wieder mit abwesendem Blick in die Ferne schauen würde. Und dass ihre Hände mit kreisenden Bewegungen über ihren Bauch fahren würden, der so prall und rund wie die Erdkugel war.

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