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Der Feuerbrand

 

Historischer Roman

von Paula Kalhaty

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

 

 

ISBN 978-3-943531-73-2

ISBN 978-3-943531-72-5 (Kindle E-Book)

ISBN 978-3-943531-71-8 (Print Ausgabe)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Juliane Stadler

Umschlaggestaltung | Coverillustration: Detlef Klewer

Satz | Gestaltung: Eridanus IT-Dienstleistungen

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

Prolog

 

In seinen Träumen sprach das Feuer zu ihm.

Stolz war es und mächtig wie ein König oder ein Kaiser. Nein – mächtiger als jeder König, jeder Kaiser. Denn kein Kurfürst hatte das Feuer je gewählt und kein Untertan wagte, sich dagegen zu erheben. Keiner der Stände schrieb dem Feuer vor, wie es sein Mündel züchtigen solle, und kein Totenweib schlug seinen Leichnam in ein Leinentuch ein, auf dass sein Leib verrotten möge.

Das Feuer tanzte auf dem Dach und loderte aus den Fenstern. Es versah den gekreuzigten Christus an seiner Mauer mit schimmernden Engelsflügeln und einer brennenden Märtyrerkrone. Die Stimme des Feuers erhob sich im Krachen des Gebälks und dem Tosen eines herabstürzenden Dachstuhls und sein Glanz ließ totenbleiche Gesichter wie Safran erglühen.

Das Feuer war Teufelswerk, Hexenwerk, von Frauenhand gestiftet. In seinen Träumen fuhr der Wind durch glosende Banner wie durch Hexenhaar, kreischte das erstickende Vieh im Stall mit überschnappenden Hexenstimmen.

Sein Name war Hiob. Den hatte Gott, der Herr, für ihn bestimmt, und in seiner unendlichen Weisheit hatte er Hiob ein Unglück nach dem anderen aufgebürdet, bis sich Hiob in die Vorsehung gefügt hatte. Weib und Kinder, Heim und Herd, Brüder und Freunde: Sie alle hatten danach gestrebt, Hiob an seinem Gottesdienst zu hindern. So wie das Feuer aber duldete Gott, der Herr, keinen Ungehorsam, und keiner widersetzte sich ihm, ohne zu büßen.

Hiob hatte gebüßt.

Nun saß er nach getaner Buße in einer Schenke nahe Freistadt bei saurem Bier und hartem Brot und lauschte dem Geschwätz über das Lumpengesindel im Land.

Söldner gab es und Mordbuben; sie bedeckten die Gegend wie Schmeißfliegen einen stinkenden Kuhfladen und plünderten, töteten, schändeten, wohin sie auch kamen. Man erkannte sie an der Zahl ihrer Narben, am geraubten Putz auf ihren Lumpen und an der Lasterhaftigkeit ihres Treibens, denn nach ihren wahren Namen fragte keiner. So sprach man vom Zweimaul, vom Ohrlos, vom Kettlwanst, vom Kaiblschläger und vom Dirnenmacher.

»Teufelsschergen«, zischte man und Hiob fügte bei sich hinzu: Gefährten des Feuers.

Auch von den Hiesigen war mancher verdorben: der Bauer in der Laimgrub ein Wettermacher, munkelten sie. Seine Tochter hatte ein Büblein mit Hörnern zur Welt gebracht, das keinem Mannsbild im Dorf ähnlich sah, außer vielleicht noch dem Großvater. Die alte Frumoltin war so böse gewesen, dass viele heimlich gingen, um auf ihr Grab zu spucken. Und der langbeinige Gastgeb von Lammrain hielt es wenn schon nicht mit dem Teufel, dann wohl mit Räubern.

Ein hiesiger Räuber – wusste einer von Hiobs Zechbrüdern zu berichten –, ein gar zerlumpter Geselle mit Mordlust in den Augen, habe kürzlich an des Gastgebs Hintertür geklopft. Das war bei Gott nichts Ungewöhnliches in solchen Zeiten. Aber, schwor der Zeuge, statt sich taub zu stellen, habe der Gastgeb gerade so flink geöffnet, als hätte er einen solchen Besuch erwartet. Er habe dem Räuber ein Almosen gegeben: ein Brot, das in einen alten Rock gewickelt war.

Das wenigstens schien nicht vereinbart gewesen zu sein: Der Räuber habe nämlich sein Messer gezückt und dem Gastgeb gedroht, dass ihn sein Geiz noch das Leben kosten werde. Der Gastgeb habe furchtlos erwidert: »Scher dich fort, eh ich dich dem Kuntz nachschicke!« und auf diese Worte sei der Räuber wie ein stinkender Furz entflohen.

»Und wo warst du, dass du all das hörtest und sahst?«, wunderte sich einer.

Erbost rechtfertigte sich da der Zeuge, dass er nur aus der Stube in des Gastgebs Hof gegangen war, um dort sein Wasser zu lassen. Er habe gewiss nicht lauschen wollen, noch stehe er mit Räubern im Bunde! Gottes Zorn solle auf den Lästerer und seine böse Zunge herabfahren!

Das Gespräch wandte sich alsdann des Gastgebs Weib zu, das wohl im Heiligen Land die Hexerei gelernt hatte und nun Salben machte und die Hände auflegte. Drei Kinder habe der Gastgeb von ihr, erfuhr Hiob, das jüngste ein Mädchen von neun Jahren.

»Und Jungfrau?«

So weit es einer wisse, ja. Damit der lobenswerte Zustand auch lange anhielte, würden ihr Vater und die Brüder sie nur aus den Augen lassen, wenn die Mutter oder sonst eine Verwandte bei ihr sei.

Der Lästerer von vorhin aber schnaufte verächtlich. »Werdet’s sehen«, prophezeite er, »nächstens klopft wieder einer an die Tür und statt des Almosens reicht ihm der Gastgeb dann die Tochter. Dem Raubgesindel gilt Blut und Gottes Wort weniger als ein klimpernder Beutel!« Dass aber des Gastgebs Bier und seine Geschichten gut seien, musste selbst er eingestehen.

Hiob hatte genug gehört. Ein Mädchen von neun Jahren, die Tochter einer Hexe und eines Raubgesellen – verdorben, gewiss, aber dennoch Kind genug, damit bisher weder ein Mann noch der Leibhaftige auf ihr gelegen haben würden. Sein Auftrag bestand darin, solche Jungfrauen zu finden.

 

Erster Teil: Gerd

Erstes Kapitel

 

Kunlein!«, schrie Apolonia, ihre Kinderstimme schrill und durchdringend genug, um die Nadeln von den Fichten ringsum zu schrecken. »Komm! Sag, wo ich bin!«

Kunlein lächelte nur und winkte ins Feld. Inmitten der feurigen Pracht strahlten Apolonias fuchsblondes Haar und die Bänder darin umso röter, als wollte beides mit den Ringelblumen wetteifern.

Ein ganz besonderes Pflänzchen war dieses mit seinen kecken blauen Augen, aus denen der Schalk blitzte.

»Komm!«

Sie seufzte, als sich das Pflänzchen duckte und zwischen den Ringelblumen verschwand. Apolonia aber setzte fast immer ihren Willen durch und so betrat Kunlein nun doch das leuchtende Feld.

»Na gut«, entschied sie laut und folgte dem schmalen Pfad, den die Kinderfüße getreten hatten. »Ich werde deiner Mutter ein Sträußlein pflücken. Wo sind nur die schönsten Blüten? Hilfst du mir suchen?«, schloss sie hoffnungsvoll und spähte um sich.

Ein Kichern war die Antwort.

Unbeirrt beugte sich Kunlein hierhin und dahin, zwackte links mit zwei Fingern eine Blüte ab und rechts eine und …

»Ha!«, rief sie triumphierend, als sich ihre Hand um einen zarten Kinderfußknöchel schloss. »Wer hat denn eine Plageblüte in unser schönes Feld gesetzt?«

Apolonia quietschte empört und krümmte sich, doch sie erreichte nur, dass Kunlein statt des Fußknöchels ihr Handgelenk zu fassen bekam und sie hochzog.

»Da wird sich deine Mutter freuen, wenn ich ihr diese Plageblüte bringe. Bestimmt kocht sie aus dir eine hervorragende Salbe gegen brandiges Bein.«

Angewidert verzog Apolonia das Gesicht. Und kaum lockerte Kunlein den Griff um ihr Handgelenk, entwischte ihr das jüngere Mädchen auch schon und sprang flink wie ein Reh aus dem Feld in den Wald.

»Ich – bin – keine – Plage…!«, hörte Kunlein – gefolgt von einem schrillen Schrei.

Das Blut gefror ihr in den Adern. Schreckensbilder huschten durch ihren Kopf: lüsterne Söldner und heulende Mädchen, das Grinsen eines entzweigehackten Mauls. Sie stürmte hinter Apolonia her, zertrampelte die Ringelblumen, verlor einen Schuh – doch Apolonia tauchte schon wieder am Rande der Lichtung auf und lief zurück ins Feld, einen räudigen Köter im Schlepptau.

»Er ist ein Wolf!«, erklärte sie Kunlein, die mit notdürftig geschnürtem Schuh herbeihumpelte, um sie zu schelten. »Ein wilder, hungriger Wolf. Er möchte gern Jungfrauen fressen, aber die Söldner haben ihm so wenige übrig gelassen.« Das sagte sie mit aller Unschuld eines Kindes. »Darum leidet er nun furchtbaren Hunger.«

Sie setzte sich ins Feld, warf dem Köter ein Stöcklein und quengelte: »Hör auf!«, als sich Kunlein zu ihr hockte und mit den Fingern ihr Haar zu kämmen begann.

»Du siehst selbst aus wie ein wilder, hungriger Wolf.« Der Köter brachte das Stöcklein zurück. Als Lohn dafür und um Kunlein die Beleidigung zu vergelten, stibitzte Apolonia für ihn ein Stück Brot aus deren Beutel.

»Glaubst du, ich gebe dir meine Bänder, nur damit du sie verlierst? Siehst du: Das hier hing schon lose.« Kunlein zog es vollends aus den fuchsblonden Strähnen und wedelte damit vor Apolonias Gesicht.

Trotzig schob Apolonia das Kinn vor. Sie entriss Kunlein das Band und fing an, es um des Köters Stöcklein zu winden.

»Wenn er mein Band frisst, schuldest du mir einen Pfennig.«

»Du hast keinen Pfennig bezahlt!«

»Ich nicht, aber der junge Hold. Drei Pfennig für drei rote Bänder.« Kunlein zog auch die beiden anderen aus Apolonias Haar und die Erinnerung entlockte ihr ein Lächeln. »Rote Bänder, sagte er, für meine roten Lippen.«

»Er hätte dir Ringelblumen schenken sollen«, entgegnete Apolonia gewichtig. »So wie der Vater der Mutter.« Neben ihnen leckte der Köter eifrig Brotkrumen auf und schenkte dem Stöcklein keinen Blick mehr. Kunlein nutzte die Gelegenheit und schob es samt dem Band in ihren Beutel.

»Mir gefallen die roten Bänder.«

»Wirst du den jungen Hold nehmen?«

Sie zögerte.

»Siehst du!«, triumphierte Apolonia. »Die Mutter hat den Vater auch nur genommen, weil er ihr ein Döschen voller Ringelblumen geschenkt hat!«

Kunlein zog die Stirn kraus. Sie war erst fünf gewesen, als ihr Vetter Gerolt – genannt »Gerd« – von seiner Pilgerfahrt heimgekommen war; mit Els, von der es hieß, er habe sie im Heiligen Land aus der Gewalt von Sklavenhändlern errettet. Gerd hatte für Els die Lichtung im Wald nahe dem heimatlichen Wirtshaus mit Ringelblumen bepflanzt und gelacht, als manch einer von einer ‚Hexenwiese‘ gemunkelt hatte. ‚Sa­f­ranwiese‘, hatte er entgegnet, klänge doch viel hübscher. Dass Els in ihre Ringelblumen und Gerd in sein Eheweib vernarrt war, sah ein Blinder.

»Na bitte.« Sie zupfte die letzten Fichtennadeln aus Apolonias Mähne und fing an, das Haar mit einem der Bänder neu zu verflechten. So sehr war sie in ihre Arbeit vertieft, dass ihr Apolonias ungewohntes Schweigen zunächst nicht auffiel. Sie kramte ein zweites Band aus dem Beutel – und hob erstaunt den Kopf, als der Köter neben ihr knurrend Reißaus nahm. Mit seinem gesträubten Fell und der eingezogenen Rute ähnelte er nun tatsächlich einem Wolf.

»Kunlein!«, zischte Apolonia. Erst jetzt folgte Kunlein ihrem Blick.

Ein Teufel trat aus dem Wald!

Ein Mann, es ist ein Mann, rief sich Kunlein zur Ordnung. Doch je näher er kam, desto klarer sah sie, dass er mehr sein musste als nur ein Mann. Er trug die Kleider eines Knechts, nicht die eines Söldners, und sie passten zu gut, als dass er sie geraubt haben konnte. Sein Gang aber mit hinter dem Rücken verschränkten Händen schien zu stolz für einen Knecht, für einen Söldner, ja zu vermessen selbst für einen Kaiser, wenn man wagen durfte, dies zu denken. Er schlenderte herbei, als gehörten der Wald und die ganze Welt ihm.

Zwischen den vordersten Ringelblumen hielt er inne und blickte herab auf seine Füße.

»Höllenfeuer!«, rief er den Mädchen zu. »Hexenwerk ist’s und was seid ihr, die man hier findet, frag ich mich?«

Seine Worte brachen den Bann. Kunlein sprang auf und zerrte Apolonia mit sich hoch, schubste sie vor sich her, zischte: »Lauf!«

Doch Apolonia, liebe, bockige Apolonia, die nie tat, was man ihr sagte, blieb stehen. Ihre Kinderhand krallte sich so fest in Kunleins, dass Kunlein glaubte, das Knacksen der Fingerknochen zu hören.

»G-guter Herr«, stammelte sie und versuchte sich aus Apolonias klettenhaftem Griff zu entwinden. »Gott helf uns, wir sind zwei fromme Jungfrauen! Wenn es Euch gefällt, wollen wir ihn gemeinsam loben und preisen.«

Der Fremde musterte sie voll Abscheu. »Gottes Zorn fährt auf Hexen herab und er bedarf ihres Lobpreises nicht.«

Er brachte beide Hände zum Vorschein. Kunlein sah den armlangen Prügel in seiner Rechten. Apolonia kreischte bei dem Anblick und fuhr herum, riss Kunlein fast von den Füßen und sie rannten Hand in Hand durchs Feld auf den Wald zu, in dem der Köter verschwunden war.

Der Fremde stürmte ihnen nach. Im Nacken spürte Kunlein den Luftzug, als er den Prügel schwang, und mit einer verzweifelten Anstrengung entzog sie ihre schweißnasse Hand aus Apolonias Griff, stieß das Mädchen vorwärts.

»Lauf!«, kreischte sie, ehe der Schmerz im Hinterkopf sie lähmte.

Die Welt wurde Schwarz und Rot und Gelb, Ringelblumen auf und über und unter ihr. Das Letzte, was Kunlein sah, waren ihre Finger, die ein rotes Band umklammerten.

Sie ließen los.

Wenig später lag die Lichtung verlassen und nur zertrampelte Ringelblumen verrieten, dass hier Menschen gewesen waren. Die Waldluft strich über die feurig glühende Pracht. Ein rotes Band flatterte im Wind.

 

***

 

Allmählich kam sich Gerd vor wie ein verdammter Narr. Keine Menschenseele hatte Kunlein und Apolonia seit dem Mittagsmahl gesehen. Nicht Els und Diemut daheim, nicht Kunleins Schwester Klärlein und ihr Bruder Simon, auch nicht Kethel und Oswald, die Kunleins Tante und Onkel waren.

»Geht nicht in den Wald«, pflegte Els, die ängstliche Stimme der Vernunft, zu warnen. Aber natürlich gingen sie, die Jungen, um mit ihren Steinschleudern zu üben, und die Mädchen, um seine Ringel­blumen zu bewundern. Gerd duldete es, weil es seine Kinder waren und man von ihnen nicht erwarten konnte, dass sie immer nur das taten, was erlaubt war; und weil er gedacht hatte, Lammrain wäre sicher: keine Räuber hier, außer jenen, die er kannte.

Für einen Herzschlag durchfuhr ihn der Gedanke, dass …

Er verwarf ihn. Einen Bruder wie Kuntz würde Raimund Carnifex nicht rächen, erst recht nicht nach dreizehn Jahren. Und wollte er’s doch tun, wäre er selbst gekommen oder hätte Gerd von seiner Hexenbande vorführen lassen. Raimund Carnifex verging sich nicht an kleinen Mädchen.

Nein, die Schuld lag allein bei Gerd. Er schalt sich ausgiebig einen Narren, Lippel und Holzkopf, was allemal besser war als sich auszumalen, welcher Mordbube gerade Hand an sein Kind legen mochte. Brieten auch Kuntz Carnifex und sein Busenfreund, der schwarze Teufl, in der Hölle, so gab es doch genug, die ihnen nacheiferten, wenn man nur die Hälfte dessen glauben wollte, was zu später Stunde in der Stube über den Zweimaul und seine Gefährten gemunkelt wurde.

Schließlich trieb er Krug, seine treue, altersschwache Schimmelstute, zurück in den Wald. Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch die Fichtenwipfel und ließen die Ringelblumen wie Safran schimmern, Gerd zum Hohn. Er saß ab und folgte dem Trampelpfad ins Feld, in den Wald und dann zurück, bis er wieder auf jenem Fleck stand, wo die Blumen derart zertreten waren, als hätten hier zwei Kerle von Kuntz’ Wuchs miteinander gerungen.

Ein Schnauben! Er fuhr herum. Krug senkte den Kopf wie jemand, der seine Schuldigkeit getan hatte, doch Gerd musste eine ganze Weile in den dämmrigen Wald spähen, bis er den Wolf entdeckte.

Nein, keinen Wolf, nur einen räudigen, halb verhungerten Köter. Das Biest war schlau oder feige genug, nicht näher zu kommen, und nachdem sie einander für ein paar Herzschläge angestarrt hatten, nahm Gerd widerwillig die Hand vom Dolchgriff.

Kaum aber wandte er sich halb ab, sah er aus dem Augenwinkel, wie der Köter näher schlich. Dabei rann ihm der Geifer aus dem Maul, so dass sich Gerd allmählich nicht nur wie ein Narr, sondern auch wie ein fetter Braten vorkam. Der Köter musste etwas an ihm wittern, vermutlich den Gastgeb oder den Spielmann, beides Kost, die Gerds Erfahrung nach Kötern ganz vorzüglich mundete.

»Sei gewarnt: Ich bin der Feuerbrand, ein gefürchteter Räuber!« Er wedelte mit dem Dolch. Der Köter warf ihm einen verächtlichen Blick zu und fing an, die zertrampelten Blumen zu beschnüffeln.

Und etwas blitzte vor Gerds Augen röter als Ringelblumen auf. Das Biest hatte sich in ein Kirmes-Band verbissen, eins jener Bänder, von denen Kunlein längst genug besaß, um selbst Marktweib zu sein.

»Heda!« Mit langen Schritten rannte Gerd auf den Köter zu. Dieser ließ ihn fast herankommen, ehe er davonsprang. Fluchend folgte ihm Gerd in den Wald, duckte sich unter tief hängenden Zweigen hindurch und hatte alle Mühe, sein Wild nicht aus den Augen zu verlieren, während ihm Fichtennadeln ins Gesicht klatschten. Zu guter Letzt bekam er das zottelige Nackenfell zu fassen. Der Köter knurrte und versuchte seine Hand zu beißen, Gerd aber entriss ihm das zerkaute Band und wedelte damit vor den gebleckten Zähnen, ließ es tanzen.

»Hier. Hier! Wo sind sie hin?« Der Köter schnappte nach dem Band, als hielte er es für einen von Gerds Fingern.

Enttäuscht ließ ihn Gerd los. Das Biest floh in den Wald und er kehrte zurück ins Feld. Unweit der Stelle, wo das Kirmes-Band gelegen hatte, fand er ein paar Brotkrumen. Gewiss war Apolonia hier gesessen, sein Töchterlein, das keinen Tag im Leben Hunger gelitten hatte und jeden streunenden Köter ihren Freund nannte.

Er seufzte, als das schwarze Biest erneut herangetrottet kam, wünschte sich, der verdammte Köter könnte reden. Kaum aber wandte sich Gerd ihm zu, sprang jener davon. Gerd eilte hinterher. Als er den Köter einholte, trug dieser ein Stöcklein im Maul. Hoffnungsvoll spie er es vor Gerd aus und wedelte mit dem Schwanz.

Gerd war drauf und dran, ihm mit dem Dolch eins überzuziehen – bis er ein rotes Band von dem Stöcklein baumeln sah. Apolonias Werk, daran gab es keinen Zweifel.

»Wo?«, fuhr er den Köter an und hielt selbst Ausschau. Und die tief stehende Sonne zeigte ihm endlich an einem Strauch ein fuchsblondes Haar. Hier und da und auch dort vorn waren Zweige geknickt oder gebrochen, als hätte sich ein Mann mit einer Last auf den Schultern einen Pfad durchs Unterholz gebahnt.

Mit klopfendem Herzen folgte Gerd der Spur. Sie endete an einem schattigen Waldweg. Pferdehufe und die Räder eines Karrens hatten im Morast tiefe Abdrücke hinterlassen und Gerd zerbrach sich den Kopf darüber, wohin der Weg führen mochte. Nach Lammrain in die westliche Richtung und – ins Kronest im Osten?

Der Köter hatte wohl einen Hasen oder sonst einen schmackhaften Bissen gewittert und sich längst getrollt. Gerd spähte zurück zum fernen, dunklen Rotgold der Blüten, zu einem geduldig wartenden weißen Fleck mit gesenktem Kopf.

Nur unwillig ließ sich Krug durchs dichte Unterholz führen und bis Gerd endlich aufsitzen konnte, war das Dämmerlicht fast zu schwach, um noch die ostwärts führenden Spuren des Karrens ausmachen zu können. Halb blind trieb er Krug vorwärts. Irgendwann lichtete sich der Wald, endete der Weg und mit ihm die Spur an einer breiteren Straße. Nichts wies darauf hin, in welche Richtung sich der Karren gewandt haben mochte.

Unweit der Straße erahnte Gerd die weißen Mauern und das pechschwarze Dach eines Hofes. Ein kurzes Zögern nur, bevor er Krug anspornte. Er wusste besser als die meisten, welcher Empfang denen zuteil wurde, die nachts auf fremde Höfe schlichen; doch er wusste auch, dass die Spur fast verloren war und mit ihr sein herzallerliebstes Töchterlein.

Ein Schatten schoss auf ihn zu, nicht etwa der pflichtvergessene Köter, sondern ein anderer, viel wohl genährterer mit blitzenden Zähnen. Er knurrte und zwei weitere gesellten sich zu ihm. Bald sprangen sie alle drei um Gerd herum und kläfften so laut, dass sogar die alte Krug anfing, ängstlich zu tänzeln.

»Heda! Bauer! Ruf deine Hunde weg!« Gerd sah sich schon vom Pferderücken fallen und als Hundefutter enden. Er hätte den Dolch gezogen, wenn er gewagt hätte, die Zügel loszulassen.

Die Haustür knarzte, kaum hörbar inmitten des Gekläffs, und schwang auf. Ein Mann so wohlgenährt wie seine Hunde trat hindurch und nickte zufrieden beim Anblick des tänzelnden Gauls inmitten der Köter.

»Das mag dich lehren, Bube, ehrlichen Leuten dein übles Handwerk anzutragen!«

Der hämische Ton schien vertraut und auch die Nase, die in der Dämmerung rot wie eine Ringelblume leuchtete. »So übel ist mein Handwerk gar nicht«, erwiderte Gerd. »Sagtest du nicht selbst, du hättest nie besseres Bier getrunken?«

Der Bauer gaffte, als ihm klar werden musste, dass er den Gastgeb von Lammrain und keinen Mordbrenner vor sich hatte. Mit einem knappen Befehl rief er die Köter zu sich. Dankbar rutschte Gerd aus dem Sattel.

»Was treibt dich nachts hierher, Gastgeb?«

»Meine Tochter ist fort.« Gerd schlang sich Krugs Zügel ums Handgelenk und trat nahe genug vor den Mann, um seine Miene zu beobachten. So etwas wie Mitgefühl huschte über die groben Züge. »Wenn du fromm bist, sag mir, ob du sie gesehen hast – sie und ihre Verwandte.« Er schämte sich ein wenig, weil er jetzt erst an Kunlein dachte.

»Deine Tochter, sagst du?«

»Ein Mädchen von neun Jahren.« Gerd wünschte sich Els herbei oder wenigstens einen Krug seines besten Biers, um dem Mann die Zunge zu lockern.

Der Bauer nickte knapp. »Hab sie gesehen. Die Größere schlief und die Kleine winkte, aber ich sah dann nicht mehr hin. Hatte Haare wie du«, fügte er ein wenig widerstrebend hinzu, fast als bedauerte er es, dass Gerd nicht log.

»Wo?« Gerd starrte wild um sich, als hätten sie auf ihn gewartet, als könnte nicht einmal das Hundegebell die schlafende Kunlein wecken.

Ein harsches Lachen. »’s war zu Mittag. Sind lange schon fort.«

»Wohin?« Und in Gerds Miene mochte sich abzeichnen, was er von einem Mann hielt, der stumm zu- oder vielmehr wegsah, während man Mädchen verschleppte. »Und wie? Mit wem?«

»Mit dem Karren!«, schnappte der Bauer. »Mit dem Karren und dem Käfig drauf, in dem sie saßen! Weiß ich, wem der gehörte, oder wohin? ’s sind nicht meine Kinder.«

Deine mögen die nächsten sein. Fast hätte er den Fluch laut ausgesprochen.

Der Bauer spähte hoch zum dunklen Himmel. »Würd machen, dass ich heimkomm, wär ich du«, riet er Gerd nicht unfreundlich. »’s heißt, dass der Vollmond den Kaiblschläger bringt. Und den kümmert’s wenig, was er erschlägt.«

Er wies Gerd die Richtung, die der Karren genommen hatte, und zog sich in sein Haus zurück – sein Haus, das drei scharfe Hunde bewachten, während man draußen Mädchen in Käfigen fing und verschleppte. Schon breitete sich die Nacht über das Land, lugte der Mond hinter der Scheune hervor wie die narbige Fratze eines Söldners.

Gerd saß auf. Ihm schauderte vor den Söldnern, als er zurück nach Lammrain ritt. Aber noch mehr schauderte ihm davor, Els die Nachricht zu überbringen. Er wusste, sie würde ihm entgegenlaufen, wenn sie Krugs Hufgeklapper hörte, würde sich und ihren prallen Bauch in dem Überkleid, das Diemut für sie schon zum dritten Mal weiter gemacht hatte, in den Hof wälzen und Gerd mit solcher Hoffnung in den Augen ansehen. Sie glaubte noch immer, er könne die Dinge erträglicher machen als sie waren, obwohl er sie doch weiß Gott oft genug eines Besseren belehrt hatte.

Er brachte ihr keine Antworten, nur Fragen. Und einen schwachen Hoffnungsschimmer, der längst in einem rumpelnden Karren der Teufel wusste wohin verschwunden war.

 

***

 

»Lass mich!« Schlaftrunken hieb Gilig nach seinem Bruder, doch der Schlag ging ins Leere. Gilig vergrub den Kopf im gemeinsamen Kissen und gähnte. Keiner hatte viel geschlafen, seit der Vater gestern bis spätnachts ausgeblieben war und bei seiner Rückkehr vermeldet hatte, das Schwesterlein und Kunlein seien fort.

»Wach auf!«, zischte Pankraz erneut. Er zog am Kissen. Sein Gesicht kam Giligs dabei so nahe, dass sich Gilig in den blauen Augen wie in einem Spiegel sehen konnte. »Der Vater reitet zu den Räubern. Ich hab’s gehört!«

Zu den Räubern! Mit einem Mal war Gilig hellwach. »Nimmt er uns mit?«

Wenig später traten sie notdürftig angekleidet in die Stube, wo die Eltern auf einer Bank nahe der Küche saßen und Brot in Biersuppe tunkten. Der Vater wandte fast unmerklich den Kopf und sagte laut zur Mutter: »Wie’s scheint, musst du ihnen nachher nicht erzählen, wohin ich geritten bin.«

»Dürfen wir mit zu den Räubern?«, platzte Gilig heraus, ehe ihn Pankraz’ Rippenstoß zum Schweigen bringen konnte.

Er las das ängstliche Nein im Gesicht der Mutter. Der Vater hingegen musterte beide Söhne mit abwägendem Blick. Hoffnungsvoll bemühte sich Gilig, älter als seine elf Jahre auszusehen, vor allem aber älter als Pankraz’ zwölf.

»Gilig«, entschied der Vater jäh. Fast entschuldigend wandte er sich an die Mutter. »Einen nehm ich mit. Er mag mir nützlich sein.«

»Warum ihn?«, rief Pankraz zornig und seine Miene sprach vom elendsten Verrat. »Er darf mit und ich soll beim Ofen hocken? Er ist erst elf!«

Der Vater erwiderte scharf: »Pankraz, ich vertraue dir die Mutter und die Ähnl und dein Geschwisterlein an. Du musst mir der Mann im Haus sein und gut auf sie achten!«

Die zornige Röte wich aus Pankraz’ Gesicht, als er begriff, welch ehrenvolle Aufgabe ihm der Vater zuteilte. Trotzdem neidete ihm Gilig zum ersten Mal nicht das Jahr, das sie beide trennte.

Sodann löste der Vater die Dolchscheide von seinem Gürtel. Pankraz’ Augen wurden groß. Voll Ehrfurcht nahm er den Dolch entgegen, mit dem der Vater einst einen räuberischen Henker zum Teufel geschickt hatte.

»Wenn ein räuberischer Henker kommt und der Mutter ein Leids antun will, erstech’ ich ihn!«, versprach er.

»Wenn ein räuberischer Henker kommt«, warnte ihn der Vater, »fragst du ihn erst, ob er bolzensicher sei. Sagt er Nein, dann erschießt du ihn gleich und läufst davon. Und nur wenn er Ja sagt, erstichst du ihn. Ist das verstanden?«

Pankraz nickte ernst.

»Hör stets auf die Mutter«, ermahnte ihn der Vater noch. »Bring sie zum Lachen, wenn sie weinen will.« Pankraz versprach auch das und erbot sich dann eifrig, für den Vater und Gilig die Pferde zu satteln.

Doch statt in den Stall zu gehen, folgte er Gilig in die gemeinsame Kammer, trat dort von einem Bein aufs andere, während Gilig seinen Beutel mit ein paar Pfennigen darin an den Gürtel fädelte und saubere Strümpfe anzog.

»Geh weg!«, befahl ihm Gilig. »Ich glaub noch, ein Räuber wollt mich erstechen, wenn du mit dem Dolch da lauerst.«

Sein Bruder wich einen Schritt zurück und starrte zu Boden. Gleich schämte sich Gilig für die harschen Worte. Pankraz hatte zwar des Vaters Dolch. Trotzdem durfte er nicht mit zu den Räubern, obwohl er älter war.

»Nimm deine Schleuder mit«, riet ihm Pankraz leise, als Gilig bereits danach griff. Der Vater hatte ihnen geholfen, die Steinschleudern zu machen, doch er wusste nicht, wie oft seine Söhne damit in den Wald geschlichen waren, um zu üben.

Giligs Faust ballte sich um die Schleuder. Es hieß, dass die umherziehenden Söldner Mädchen raubten, um sie zu ihren Soldatenweibern zu machen. Aber doch nicht Apolonia, die immer so bockig das Kinn vorschob, wenn sie etwas nicht durfte, und die der Vater seine »herzallerliebste Plage« nannte! Nicht Kunlein, die mit ihren Bändern und Locken schön wie eine Prinzessin war und die ihren Vettern Naschwerk von der Kirmes zusteckte!

Er spürte Pankraz’ Blick auf sich ruhen. »Bring mir die Mädchen wieder!«, befahl ihm sein Bruder und fügte leise hinzu: »Ich wünschte, wir wären nie in den Wald gegangen. Ich geh nicht mehr hin, solange ihr weg seid.«

Gilig nickte stumm. Er wollte tapfer sein und sagen, dass sich die Söldner andere Soldatenweiber suchen müssten, doch er brachte kein Wort heraus.

Unschlüssig kaute Pankraz auf seiner Lippe. Dann legte er den Dolch aufs Bett und zog das Kettchen hervor, das er stets unter dem Hemd trug. Ein ungläubiger Laut entkam Gilig und er hatte alle Mühe, nicht vor Aufregung zu zappeln, als ihm sein Bruder das Kettchen mit dem wundertätigen Finger daran um den Hals band.

»Ich leih ihn dir nur«, betonte Pankraz hastig. »Damit er dich und den Vater beschützt. Wenn du in Not kommst, sag: ‚Finger, tu, was Gott gefällig ist‘ und er wird machen, dass dich keiner sieht und dass du stark wirst wie zehn Männer!«

Ehrfürchtig strich Gilig über den Finger. Die Haut des Gehenkten war ledrig wie ein gedörrter Stockfisch, ehe man ihn zum Aufweichen in Wasser legte. Er schloss die Faust darum und heimlich schwor er dem Finger, nicht ohne die beiden Mädchen nach Hause zu kommen. Ein Teil von ihm malte sich bereits aus, wie der Vater staunen würde, wenn Gilig mit seiner Schleuder und der Stärke von zehn Männern scharenweise Räuber in die Flucht schlug.

Die Ähnl war bei den Eltern in der Stube. Sie drückte ihren gewappneten Enkel fest an sich. Auch die Mutter küsste und herzte ihn und das Geschwisterlein in ihrem Bauch trat mit dem Fuß gegen Giligs Schleuder.

Die Mutter schniefte. »Schwör, dass du ihn mir heil und gesund zurückbringst!«, befahl sie dem Vater.

»Ich schwöre es bei meiner übergroßen Frömmigkeit.«

Das entrang ihr einen Laut, der halb ein Lachen und halb ein Schluchzen war, und der Vater fügte sanfter hinzu: »Mein Elslein, verzag nicht. Dein Sohn kommt ja wieder. Sollt ich dagegen nicht mehr kommen«, fuhr er fort, »dann erwarte ich, dass du mich sieben Jahre lang beweinst. Und sind die sieben Jahre um, sollst du zur Jungfrau von Gojau pilgern und sie um einen Mann bitten, der nur halb so fromm ist wie ich. Zu meinem Totenschmaus aber bratet am Spieß ein paar Krähen, damit alle würdig meiner gedenken.«

»Geh!«, drohte ihm die Mutter noch immer halb lachend und halb weinend, »geh, bevor ich dich am Spieß brate!«

»Mein Elslein, ich wäre gewiss ein vorzüglicher Braten und sie würden dich des Kaisers Köchin nennen, wolltest du unseren Gästen einen solchen Schmaus vorsetzen. Auch ist’s, da ich nun ein Weib und Kinder habe, nur recht und billig, dass ich danach trachte, sie zu ernähren. Und du weißt, ich fühle mich ganz wie zu Hause, wenn mir das Feuer bis hinauf zu den Ohren schlägt …«

»Gerd …«, flüsterte die Mutter. Der Vater verstummte.

Dann beugte er sich herab und drückte ihr aufs pechschwarze Haar einen Kuss. »Mein Elslein«, raunte er so leise, dass Gilig Mühe hatte, die Worte zu verstehen. »Sei tapfer und denk dran: Ein zahmer Fuchs kehrt immer in seinen Bau zurück.«

Draußen wartete Pankraz mit den Pferden. Gilig lief voran und der Vater, der nun einen anderen Dolch umgegürtet hatte, folgte ihm.

Der Braune stand für den Vater bereit. Krug, die alte Schimmelstute, hielt geduldig still, während Gilig aufsaß. Die Mutter und die Ähnl kamen, um ihren Segen zu geben. Pankraz legte je einen Arm um sie beide, wie es der Vater getan hätte.

Gilig winkte einmal zum Abschied und blickt dann nur mehr nach vorn. Er wollte nicht sehen, wie die Mutter weinte.