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Mobbing am Arbeitsplatz – wie wehre ich mich?

Beobachter-Edition
3., überarbeitete Auflage, 2017
© 2006 Ringier Axel Springer Schweiz AG
Alle Rechte vorbehalten
www.beobachter.ch

Herausgeber: Der Schweizerische Beobachter, Zürich
Lektorat: Käthi Zeugin, Zürich
Reihenkonzept: fraufederer.ch
Umschlagillustration: illumueller
Satz: Bruno Bolliger, Losone
e-Book: mbassador GmbH, Luzern

ISBN 978-3-03875-034-5

eISBN 978-3-03875-054-3

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IRMTRAUD BRÄUNLICH KELLER

Mobbing am Arbeitsplatz
– wie wehre ich mich?

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Die Autorin

Irmtraud Bräunlich Keller, lic. rer. pol., ist Redaktorin und Arbeitsrechtsspezialistin beim Beobachter. Sie ist Autorin der Beobachter-Ratgeber «Arbeitsrecht», «Flexibel arbeiten; Temporär, Teilzeit, Freelance» und «Job weg – meine Rechte» sowie Koautorin von «Fair qualifiziert», «OR für den Alltag» und «Plötzlich Chef».

Stand Gesetze und Rechtsprechung: März 2017

imageDownload-Angebot zu diesem Buch
Die Musterbriefe im Anhang sowie die Checklisten und das Mobbingtagebuch stehen online bereit zum Herunterladen und selber Bearbeiten: www.beobachter.ch/download (Code 0345).

Inhalt

Vorwort

image Was ist Mobbing?

Mobbing – ein Modebegriff und was dahintersteckt

Die Definition der Fachleute

Die Wurzeln des Übels

Das Opfer und seine Situation

Jeder kann ins Abseits geraten

Folgen von Mobbing

Die Sicht von aussen: Alles nur Einbildung?

Werden Sie gemobbt?

Mobbingopfer erzählen – Laura L.:
«Ich hatte das Gefühl: Ich bin niemand und kann nichts.»

image Mobbing vorbeugen und stoppen

Wehret den Anfängen

So können Sie vorbeugen

Beachten Sie frühe Warnsignale

Analysieren Sie die Situation

Führen Sie ein Tagebuch

Achten Sie auf den Informationsfluss

Nehmen Sie die eigene Rolle unter die Lupe

Aussprache statt Eskalation

Das Gespräch mit den Widersachern

Beim Vorgesetzten Unterstützung holen

Wenn der Chef mobbt

Moderne Gefahr: Cyber-Mobbing

Tragen Sie Ihrer Gesundheit Sorge

Kraft schöpfen in der Freizeit

Kämpfen oder fliehen?

Mobbingopfer erzählen – Fabian P.:
«Ich war nicht bereit, die ‹Götter› in unserer Firma anzubeten.»

image Mobbing und Recht

Verletzung der Persönlichkeit – wie kann man sich wehren?

Ihr Anspruch auf Schutz

Sammeln Sie Beweise

Den Arbeitgeber schriftlich mahnen

Die Arbeit verweigern?

Schadenersatz und Genugtuung fordern

Angst vor einer Kündigung?

Vertragsbruch und Machtmissbrauch

Grundregel: Verträge sind einzuhalten

Immer weniger Arbeit

Gegen Ihren Willen versetzt

Weniger qualifizierte Arbeit als vereinbart

Auf unzulässige Weise überwacht

Unfair kritisiert und beurteilt

«Man» hat sich über Sie beschwert

Der Arbeitgeber verlangt Schadenersatz

Wenn es gütlich nicht geht: der Rechtsweg

Diskriminierung und sexuelle Belästigung

Diskriminierung und Mobbing

Schutz vor sexueller Belästigung

Wenn keine Einigung möglich ist

Mobber zur Verantwortung ziehen

Machen sich Mobber strafbar?

Strafantrag: nur in krassen Fällen sinnvoll

image Wenn Mobbing krank macht

Was tun bei gesundheitlichen Problemen?

Ärztliche Hilfe holen

Unsichtbares Leiden

Ihr Lohnanspruch bei Arbeitsunfähigkeit

Wie hoch ist der Krankenlohn?

Das gilt, wenn Sie länger krank sind

Mobbingopfer erzählen: Brigitte R.:
«Ich bin stolz, dass ich mich gewehrt habe.»

image Kündigung?

Die allgemeinen Kündigungsregeln

Kein wirksamer Schutz vor Entlassung

Die korrekte ordentliche Kündigung

Als Mobbingopfer selber kündigen?

Wenn Arbeitslosigkeit droht

Sofort gehen – ist das möglich?

Wenn der Arbeitgeber kündigt

Schützende Kündigungssperrfristen

Die missbräuchliche Kündigung

Wann darf der Arbeitgeber fristlos kündigen?

Vertragsauflösung im gegenseitigen Einverständnis

Blick nach vorn – die Zukunft anpacken

Rasch eine neue Stelle suchen

Kämpfen lohnt sich: das Arbeitszeugnis

Worauf achten bei Referenzauskünften?

Mobbing verarbeiten

image So beugen Firmen Mobbing vor

Die Verantwortung der Chefs

Wenn Vorgesetzte versagen

Motivation und Produktivität leiden

Prävention: geeignete Massnahmen im Betrieb

Die Zufriedenheit der Mitarbeiter erfassen

Ein schriftliches Leitbild erarbeiten

Anlaufstellen schaffen

Eingreifen: Probleme früh ansprechen

Professionelle Berater beiziehen

Vom Umgang mit Mobbingopfern

image Mobbing in der Gerichtspraxis

Mobbingprozesse – ein Überblick

Unterschiede zwischen Deutschschweiz und Romandie

Urteile des Bundesgerichts

Kantonale Urteile

Mobbingopfer erzählen – Paul F.:
«Am schlimmsten war, nicht zu verstehen, was geschah.»

image Anhang

Musterbriefe

Adressen und Links

Literatur

Vorwort

Gezielte Schikanen, abschätzige Bemerkungen, unfaire Kritik, fiese Machenschaften aller Art – Mobbing hat viele Gesichter. Studien haben ergeben, dass gegen zehn Prozent aller Arbeitnehmenden Psychoterror und Ausgrenzung am Arbeitsplatz erleben. Die Folgen sind nicht selten gesundheitliche Störungen, ein kaputtes Selbstwertgefühl, Stellenverlust und Arbeitslosigkeit.

Auch ans Beobachter-Beratungszentrum wenden sich re-gelmässig Ratsuchende, die an ihrem Arbeitsplatz ausgegrenzt und gedemütigt werden. «Der neue Chef wollte mich von Anfang an weghaben», heisst es dann etwa. Oder: «Ich werde ständig kritisiert. Aber was ich anders machen soll, erklärt mir niemand.»

Dieser Ratgeber leistet Erste Hilfe. Er informiert einerseits Betroffene, un-sterstützt sie und zeigt ihnen Wege, wie sie sich wehren können. Andererseits erfahren Führungspersonen, welch zentrale Rolle ihnen bei der Entstehung und vor allem bei der Verhinderung von Mobbing zukommt. Und schliesslich erklärt das Buch auch, worauf es ankommt, wenn nichts anderes übrig bleibt, als die Stelle zu wechseln und sich neu zu orientieren.

Mobbing verursacht nicht nur sehr viel Leid, sondern auch horrende betriebs- und volkswirtschaftliche Kosten. Dass es im Interesse aller liegt, destruktive Vorgänge in der Arbeitswelt zu verhindern und fair und respektvoll miteinander umzugehen, das ist die Hauptbotschaft dieses Buches.

Irmtraud Bräunlich Keller
im April 2017

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Mobbing – ein Modebegriff und was dahintersteckt

Mobbing ist ein Modewort und – so scheint es – in aller Munde. Gemobbt wird am Arbeitsplatz, in Schulklassen und Vereinen. Zählungen haben ergeben, dass von allen Ratsuchenden, die sich mit arbeitsrechtlichen Fragen ans Beobachter-Beratungszentrum wenden, rund zehn Prozent über Mobbing klagen. Was aber ist Mobbing?

Das Wort leitet sich vom Englischen «to mob» ab und bedeutet «jemanden anpöbeln, über jemanden herfallen». Der Begriff Mobbing wurde in den 1970er-Jahren vom Verhaltensforscher Konrad Lorenz für Angriffe verwendet, die Gruppen von Tieren gegen ein einzelnes Tier praktizieren, um es zu verscheuchen. Später wurde das Wort vom deutsch-schwedischen Arbeitspsychologen Heinz Leymann aufgegriffen, der als Begründer der modernen Mobbingforschung gilt (siehe Literaturverzeichnis). Er untersuchte als Erster systematische destruktive Vorgänge in der Arbeitswelt, die auf das Schikanieren von Mitarbeitenden hinauslaufen, mit dem Ziel, diese fertigzumachen und schliesslich aus dem Job zu drängen. Geht Mobbing von Vorgesetzten aus, spricht man auch von Bossing.

Die Definition der Fachleute

Leymann und nach ihm andere Wissenschaftler haben den Begriff Mobbing definiert. Übereinstimmend haben sie festgehalten, dass es sich bei Mobbing um Feindseligkeiten handelt, die über einen längeren Zeitraum ausgeübt werden und sich gegen eine bestimmte Person oder Gruppe wenden. Vereinzelte Vorfälle und Übergriffe sowie Auseinandersetzungen zwischen gleich starken Kontrahenten sind kein Mobbing. Ebenso wenig das gelegentliche Ausrasten des cholerischen Chefs, das immer wieder mal einen anderen Mitarbeiter trifft. Es sind nicht die einzelnen Vorkommnisse, die das Mobbing ausmachen, sondern ihre Gesamtheit – die Summe aller belastenden Handlungen über einen längeren Zeitraum hinweg.

imageKATHRIN F., 49-JÄHRIG, arbeitet seit 22 Jahren als geschätzte Fachkraft im selben Betrieb. Doch dann übernimmt ein neuer Chef die Abteilung und beginnt ein Verhältnis mit der jungen Arbeitskollegin. Seither fühlt sich Frau F. schikaniert, ausgegrenzt und belächelt. Interessante Arbeiten werden ihr weg-genommen und der jungen Kollegin zugeschanzt. Der Chef hat an allem etwas auszusetzen, und die herablassenden Bemerkungen der Kollegin sind zutiefst verletzend. Nach anderthalb Jahren ist Katrin F. mit ihren Kräften am Ende, schläft nicht mehr und hat Angst, am Morgen zur Arbeit zu gehen. Schliesslich kündigt sie, ohne zu wissen, ob sie überhaupt die Kraft aufbringen wird, eine neue Stelle zu suchen.

Die fünf Formen der Schikane

Mobbing kommt in den verschiedensten Formen vor. Vor allem in der Anfangsphase können die Betroffenen nur schwer einordnen, ob es sich um Zufälle oder gezielte Attacken handelt. Ausserdem lassen sich Mobber die unterschiedlichsten Gemeinheiten einfallen. Das Geschehen ist somit völlig unberechenbar. Heinz Leymann unterschied fünf Arten von Mobbinghandlungen:

Angriffe auf die Möglichkeit, sich mitzuteilen: nicht ausreden lassen, Informationen vorenthalten oder falsche Informationen weitergeben, «wie Luft» behandeln

Angriffe auf die sozialen Beziehungen: allgemeine Kontakt-verweigerung, nicht grüssen, Isolierung des Opfers, Versetzung an einen abgelegenen Arbeitsplatz

Angriffe auf das soziale Ansehen: Gerüchte verbreiten, Beleidigungen, öffentliches Blossstellen, abschätzige Bemerkungen über Privatleben oder Aussehen der gemobbten Person

Angriffe auf die Qualität der Berufs- oder Lebenssituation: schikanöse oder erniedrigende Arbeitszuweisung, ungerechtfertigte Kritik an Arbeitsweise und Leistung, Entziehen wichtiger Aufgaben

Angriffe auf die Gesundheit: Tätlichkeiten, Arrangieren von Unfällen, sexuelle Belästigung

Gemäss Leymann handelt es sich um Mobbing, wenn derartige Handlungen mindestens einmal in der Woche und seit mindestens einem halben Jahr vorkommen (siehe auch Fragebogen auf Seite 25).

Die Wurzeln des Übels

Es gibt Fachleute in spezialisierten Beratungsstellen, die das Wort Mobbing nicht gern verwenden. Denn es klingt nach «Täter» und «Opfer», nach klarer Schuldzuweisung, nach einem Konzept also, das für die Lösung von Konflikten am Arbeitsplatz oft nicht hilfreich ist. Tatsächlich ist die Ursache für Gehässigkeiten und Spannungen am Arbeitsplatz nicht immer nur bei klar identifizierbaren Bösewichten zu suchen. In der Regel spielen verschiedene Ursachen zusammen.

Ein Sündenbock muss her

Wo verschiedene Menschen gemeinsam in einem Betrieb arbeiten, gibt es Reibereien, Konflikte, Stress und mitunter auch verbale Entgleisungen und Wutausbrüche. Das ist normal. Werden die Probleme ernst genommen und aktiv angegangen, lassen sie sich in der Regel lösen und können sogar positive Impulse liefern. Doch Konflikte am Arbeitsplatz werden häufig als störend empfunden. Die Versuchung ist gross, sie zu ignorieren oder von der sachlichen auf die persönliche Ebene zu verschieben. Anstatt das Problem direkt anzugehen, ist es einfacher, einem Sündenbock die Verantwortung zuzuschieben.

imageDER FIRMA X STEHT EINE UMORGANISATION BEVOR. Aufgaben werden neu verteilt, Abteilungen umstrukturiert. Zwei Mitarbeiter haben sachliche Bedenken und fürchten um ihre Arbeitsplätze. Sie äussern ihre Vorbehalte, präsentieren Gegenkonzepte. Anstatt diese Ängste ernst zu nehmen und ihnen mit sachlichen Argumenten zu begegnen, beginnen die Vorgesetzten einen Kleinkrieg gegen die «Rebellen». Der Geschäftsführer macht sich lustig über sie, bezeichnet sie als «unsere beiden Ewiggestrigen», hetzt die Befürworter der neuen Organisationsstruktur gegen sie auf und stellt die Qualität ihrer Arbeit infrage. Das eigentliche Problem, die möglichen Schwächen der Neuorganisation, wird nicht thematisiert.

Ungelöste Probleme und Konflikte

Ursache für Mobbing sind also häufig ungelöste Probleme. Dabei gibt es die unterschiedlichsten Varianten. Hier ein paar Beispiele:

Mangelhafte Strukturen: Wo keine klaren Pflichtenhefte und Kompetenzverteilungen existieren, sind Mitarbeitende versucht, ihr «Gärtchen» selbst abzustecken, Seilschaften zu bilden und ihre Position mit unlauteren Mitteln zu verteidigen.

Zunehmender Leistungs- und Kostenspardruck verhindert ein «Wirgefühl» und führt zu Konkurrenzdenken und Ellenbogenmentalität, mitunter sogar zu Verdrängungskämpfen.

Häufige Mobber sind inkompetente oder unsichere Chefs, die sich von fähigen, dynamischen Mitarbeitenden bedroht fühlen. Anstatt die Qualitäten kompetenter Mitarbeiter im Interesse der Firma zu nutzen, ziehen sie es vor, deren Ideen abzuwürgen, sie zu bremsen und mit unsachlicher Kritik zu verunsichern. Dabei werden häufig gerade besonders gute Leute demontiert und fertiggemacht.

Mitunter ist Mobbing auch ein Ablenkungsmanöver: Mobber haben häufig eine negative Einstellung zur Leistung. Anstatt sich selber anzustrengen, machen sie lieber andere schlecht.

Schlecht durchgeführte und kommunizierte Veränderungsprozesse (Umorganisationen, Chefwechsel, Fusionen) führen zu Unruhe, brodelnder Gerüchteküche, Gerangel um die «besten Plätze» – nicht immer mit fairen Mitteln.

Auch Führungskräfte können gemobbt werden. Für Untergebene, die selbst gern Chef geworden wären, gibt es zahlreiche Möglichkeiten, dem Neuen in den Rücken zu fallen und seine Vorhaben zu torpedieren.

imageINFO Beim Mobbing geht es nie darum, einen Konflikt zu lösen. Im Gegenteil: Die andere Partei soll niedergemacht und ausgeschaltet werden. Dass diese destruktiven Vorgänge möglich werden, ist nicht nur die Schuld der Mobber selbst. Verantwortung tragen auch alle Kollegen, die schweigend zusehen, sowie die Vorgesetzten, die – obwohl sie es in der Hand hätten – nichts unternehmen, um die üblen Machenschaften zu stoppen.

Das Opfer und seine Situation

Mobbing kann jeden und jede treffen. Das typische Mobbingopfer gibt es nicht. Betroffen sind Männer und Frauen jeglichen Alters, unabhängig vom beruflichen Status, Aussehen und Zivilstand.

Mobbing ist kein Frauenproblem, wie häufig vermutet wird. Allerdings wenden sich deutlich mehr Frauen als Männer an spezialisierte Beratungsstellen. Männer neigen eher dazu, ihre Probleme allein lösen zu wollen.

Jeder kann ins Abseits geraten

Es trifft nicht zu, dass nur überempfindliche Menschen oder «geborene Opfer» unter Mobbing leiden. Zwar laufen schwächere Personen, die besonders harmoniebedürftig sind und Mühe haben, für ihre Interessen einzutreten, eher Gefahr, gemobbt zu werden. Aber nicht nur sie: Untersuchungen haben gezeigt, dass Personen, die sich in irgendeiner Form von ihren Kolleginnen und Kollegen unterscheiden, eher zu Mobbingopfern werden. So werden Menschen mit Behinderung, Homosexuelle und Ausländer besonders häufig gemobbt. Die einzige Frau unter lauter Männern ist ebenfalls eine mögliche Zielscheibe. Bekannt wurden sowohl in Deutschland wie in der Schweiz Fälle von Polizistinnen, die von ihren männlichen Kollegen massiv gemobbt wurden (siehe auch Urteil auf Seite 179).

Anders als die anderen ist aber auch der Ältere unter den Jungen, die besonders Attraktive unter den Durchschnittstypen, die Neue unter den Altgedienten oder der besonders Tüchtige, der den beschaulichen Büroalltag seiner weniger engagierten Kollegen zu stören droht. Häufige Mobbingopfer sind zudem Personen, die sich erlaubt haben, auf Missstände innerhalb des Betriebs hinzuweisen, sogenannte Whistleblower. Gegen Mobbing ist niemand gefeit.

imageWALTER P. BERICHTET: «Ich hatte das Glück, relativ früh meinen Traumjob zu finden, und habe dann über 20 Jahre im gleichen Betrieb gearbeitet. Leider blieb mir zuletzt nichts anderes übrig, als zu gehen. Nie hätte ich gedacht, dass man mir meine Arbeit so vermiesen könnte. Früher war ich ein geschätztes Teammitglied und hatte dank meiner Erfahrung eine Art Sonderstellung. Mit den Kollegen verband mich ein freundschaftliches Verhältnis. Doch dann gab es Personalwechsel, jüngere Leute kamen und ich fühlte mich immer mehr als Aussenseiter. Meine Betriebstreue galt plötzlich als Sesselkleberei und Zeichen mangelnder Dynamik. Bei der Verteilung interessanter Aufgaben wurde ich übergangen. Meine Vorschläge wurden belächelt oder ignoriert. Ich kam mir vor wie eine Altlast, die man notgedrungen mitschleppt. Schliesslich musste ich die Konsequenzen ziehen, um nicht krank zu werden.»

Soziale Berufe: erhöhtes Mobbingrisiko

Studien haben ergeben, dass in sozialen Berufen sowie auch in der öffentlichen Verwaltung Mobbing besonders häufig vorkommt. So ergab eine Erhebung in Deutschland, dass Mobbing im Gesundheits- und Sozialbereich siebenmal häufiger vorkommt als in anderen Branchen.

Dies entspricht auch den täglichen Erfahrungen des Beobachter-Beratungszentrums. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass Fachleute im Sozialbereich eine menschlich sehr anspruchsvolle Arbeit ausführen und grosse Verantwortung tragen, gleichzeitig aber einem hohen Kostenspardruck ausgesetzt sind. «In unsere Beratung kam eine leitende Pflegeangestellte, die in ihrer Abteilung 16 Vakanzen hat. Wegen Geldmangel und Sparmassnahmen werden diese Stellen aber nicht besetzt», berichtet der Leiter einer spezialisierten Beratungsstelle. «Das sorgt für Stress und Druck unter den Mitarbeitenden, der sich in vermehrten Konflikten äussert.»

Folgen von Mobbing

Für die Mobbingopfer werden die feindseligen Angriffe zur unerträglichen Belastung. Der ständige Kleinkrieg zerstört nicht nur ihr Selbstwertgefühl, sondern auch ihre Gesundheit. Da viele Mobbinghandlungen keiner vernünftigen Logik folgen, beginnen die Opfer an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln und sich selbst zu hinterfragen. Ihre Gedanken kreisen ständig um das Erlebte im verzweifelten Bemühen, die Vorgänge zu verstehen und irgendeine Lösung zu finden. Betroffene bezeichnen den Prozess oft als Spirale, die sich immer weiter nach unten dreht.

Je länger das Mobbing andauert, umso häufiger kommt es zu gesundheitlichen Störungen: Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen bis hin zu Depressionen, Selbstmordgedanken und völliger Arbeitsunfähigkeit. Zudem leidet auch das familiäre Umfeld eines Betroffenen. Das ewige Grübeln rund um die Mobbingerlebnisse belastet auch die Angehörigen des Opfers.

Mobbing ist teuer

Die Schäden, die durch Mobbing verursacht werden, sind enorm – und nicht nur für die Betroffenen: Hinzu kommen hohe Kosten für die Betriebe, die Mobbing zulassen, sowie für die gesamte Volkswirtschaft.

Von Mobbing Betroffene sind in ihrer Leistungsfähigkeit massiv eingeschränkt, werden häufiger arbeitsunfähig geschrieben. Aber auch die Mobber verschwenden einen Grossteil ihrer Arbeitskraft für ihre bösartigen Machenschaften. Weitere Arbeitsausfälle entstehen durch Sitzungen, Gespräche und andere Massnahmen, mit denen man versucht, das Mobbingproblem in den Griff zu kriegen.

Hinzu kommen die Kosten von allfälligen Entlassungen, Neuanstellungen und Umstrukturierungen. Enorm ist auch der finanzielle Schaden für die gesamte Volkswirtschaft, wenn die Opfer krank, arbeitslos oder invalid werden. Die durch Mobbing verursachten Kosten werden in der Schweiz auf über vier Milliarden Franken jährlich geschätzt.

imageNACH MONATELANGEN ANFEINDUNGEN und unhaltbaren Verdächtigungen seitens ihres Vorgesetzten war die 42-jährige Alexandra W. mit ihren Kräften am Ende. Die Folgen des schweren Mobbings: ein mehrwöchiger Klinikaufenthalt, monatelange Therapie und eine fast einjährige Arbeitsunfähigkeit. In einem langwierigen Mediationsverfahren suchte man nach Lösungen. Schliesslich verliessen als Folge der Querelen vier Personen den Betrieb, mussten ersetzt und ihre Nachfolger eingearbeitet werden. Alexandra W.s Erwerbsausfall zahlte zuerst die Krankentaggeld- und anschliessend monatelang die Arbeitslosenversicherung.

Die Sicht von aussen: Alles nur Einbildung?

Für Mobbingbetroffene ist es schwierig, sich Dritten anzuvertrauen und ihr Leiden in Worte zu fassen. Da die meisten Vorfälle – isoliert betrachtet – als nicht besonders gravierend erscheinen und erst durch ihre Häufung zum Terror werden, stossen Schilderungen bei Unbeteiligten nicht selten auf Unverständnis. Für viele Aussenstehende, die noch keine Mobbingerfahrungen gemacht haben, ist auch schlicht unvorstellbar, dass es «so etwas» geben soll. Sie neigen dazu, die Schilderungen der betroffenen Person in Zweifel zu ziehen oder zumindest als «nicht so schlimm» abzutun.

Mobbingopfer, deren Gedanken ständig um die erlebten Quälereien kreisen, beschweren sich zudem oft auf eine Weise, die auf andere rechthaberisch wirkt und den Eindruck erweckt, sie seien von ihrem Problem geradezu besessen. Häufig sind dann Reaktionen der Umwelt wie: «Der bildet sich das doch nur ein», oder: «Die ist ja wohl selbst schuld, so wie die redet …» Und das treibt Mobbingopfer noch weiter in die Isolation und Verzweiflung.

imageTIPP Kennen Sie diese Situation als Aussenstehender? Um die Abwärtsspirale zu verhindern, ist es wichtig, Mobbingopfern Gelegenheit zu geben, sich mitzuteilen, und ihnen zuzuhören. Versuchen Sie, dem Opfer zu helfen, seine Situation in Worte zu fassen. Zeigen Sie ihm, dass Sie es ernst nehmen.

Querulanten haben keine Zweifel

Natürlich gibt es sie, die Überempfindlichen, die überall Feindseligkeiten wittern, die Querulanten, die sich ständig benachteiligt fühlen, oder die Paranoiker mit ihrem Verfolgungswahn. Sie sind nicht das Thema dieses Buches.

Paranoiker unterscheiden sich von echten Opfern «durch die Tonart, in der sie die Beschwerde vorbringen», erklärt die französische Psychotherapeutin Marie-France Hirigoyen in ihrem Buch «Mobbing – Wenn der Job zur Hölle wird» (siehe Literaturverzeichnis): «Tatsächliche Opfer seelischer Gewalt äussern Zweifel, fragen sich, ob ihre eigene Handlungsweise immer korrekt war, und suchen nach Lösungen, wie sie ihrer Qual ein Ende setzen könnten […] Paranoiker dagegen zweifeln nicht. Sie stellen Behauptungen auf und ergehen sich in Anschuldigungen.» Pseudo-Opfer suchten kein Arrangement – so die Fachfrau. Ihnen gehe es einzig darum, sich zu rächen oder finanzielle Vorteile aus der Situation zu ziehen.

Werden Sie gemobbt?

Mobbingprozesse sind sehr komplex. Möglicherweise sind Sie immer noch unsicher, ob die Belastungen, denen Sie am Arbeitsplatz ausgesetzt sind, als Mobbing einzustufen sind. Die Checkliste auf der nächsten Seite hilft Ihnen, Ihre Situation besser einzuschätzen. Es handelt sich um die Fragen, die den Probanden in einer Mobbing-Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) gestellt wurden.

Handeln Sie, holen Sie Hilfe

Wenn Sie nach reiflicher Überlegung zum Schluss kommen, dass Sie von Ihren Vorgesetzten oder Kollegen gemobbt werden, müssen Sie handeln. Es wäre falsch, das Erlebte zu verdrängen oder einfach alles über sich ergehen zu lassen. In den folgenden Kapiteln erfahren Sie, welche Möglichkeiten und Rechte Sie als Mobbingopfer haben. Sie dürfen sich allerdings nichts vormachen: Patentrezepte gegen Mobbing gibt es nicht. Absichtlicher Bösartigkeit ist nur schwer beizukommen.

imageTIPP Wenn Sie feststellen, dass Sie allein nichts ausrichten können, holen Sie – besser früher als später – professionelle Hilfe. Scheuen Sie sich nicht, qualifizierte Beratungsstellen aufzusuchen. Es ist keine Schande, in einer solchen Situation nicht weiterzuwissen. Auf dem Spiel steht Ihr höchstes Gut: Ihre Gesundheit. Adressen finden Sie im Anhang

Möglicherweise leiden Sie an Ihrem Arbeitsplatz unter Meinungsverschiedenheiten und Konflikten, die nicht als Mobbing gelten können. Auch dann wird Ihnen der eine oder andere Ratschlag in diesem Buch nützlich sein. Nehmen Sie aber das Wort Mobbing nicht voreilig und leichtfertig in den Mund. Damit leisten Sie sich keinen Dienst und tragen womöglich zu einer unnötigen Verhärtung der Situation bei.