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Über das Buch

Wie Hund und Katz

Johanna ist fast 13 und liebt Katzen über alles. Daher ist sie superglücklich, als ihre Mutter die »Katzenboutique« ihrer Tante übernimmt. Für Johanna ist es der Himmel auf Erden: Katzen-Adventskalender, Katzen-Tarot, Katzengeschirr, Katzensofas, Kratzbäume, Katzenleckereien, Katzenspielzeug, Futternäpfe, Bürsten - sie vermitteln sogar Katzensitter. Doch dann eröffnet schräg gegenüber das »Hundeparadies«! Und der Sohn des Besitzers ist ausgerechnet der nervige Mädchenschwarm aus ihrer Klasse, der auch noch Johannes heißt! Johanna fährt die Krallen aus. Schnell bricht ein Konkurrenzkampf aus, der seinesgleichen sucht. Bis Johanna sich eingestehen muss: Hunde sind doch ganz okay, und Johannes ist eigentlich ganz süß …

Inhalt

ALLER ANFANG IST … ANDERS!

WAS KATZEN BRAUCHEN …

EINE BÖSE ÜBERRASCHUNG

DER ERSTE SCHULTAG

EIN PARADIES FÜR HUNDE

KATZE FÄNGT … KUNDEN!

EIN PROBLEM KOMMT SELTEN ALLEIN

WENN HUNDE UNGEZOGEN SIND …

DAS LEBEN JETZT UND IN 15 JAHREN

BESUCH AUS KÖLN

JOHANNAS GESTÄNDNIS

EIN AUFREGENDER FUND

ALTE FEINDSCHAFT – NEUE FREUNDSCHAFT

HUNDELIEBE

EINE SCHWIERIGE ENTSCHEIDUNG

WO IST KIM?

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»Oh! Wow! Ähäm …« Johanna Bergmann blieben die Worte im Hals stecken, als ihre Mutter den schweren Holzrollladen hochzog.

Die siebenjährige Henrietta bekam einen Niesanfall. »Ich bin nicht auf Katzen allergisch«, versicherte sie, während ihre Augen schlimmer tränten als beim Zwiebelschneiden. »Es ist nur der Staub!«

Und staubig war der Laden. Viel zu staubig für die fünf Monate, in denen er geschlossen gewesen war. Tante Agathe musste seit mindestens zwei Jahren nicht mehr geputzt haben. Das Schaufenster war so gut wie blind, und als Johanna auf die Theke tippte, war der Abdruck deutlich zu sehen.

»Es ist toll hier«, sagte Henrietta begeistert. »Das Schloss des Grauen Herrschers. Es ist voller Spinnen und Kakerlaken. Der Graue Herrscher hat mich entführt, weil ich in Wahrheit eine Prinzessin bin!«

»Spinn nicht rum«, sagte Johanna zu ihrer kleinen Schwester. »Hier gibt es keinen Grauen Herrscher, sondern Katzenspielzeug. Katzensofas, Kratzbäume, Tierfutter und …«

»… und eine Menge zu tun«, beendete Frau Bergmann den Satz. »Zum Glück öffnen wir erst in zwei Wochen wieder. Aber ehrlich«, sie seufzte, »so schlimm hatte ich mir das alles nicht vorgestellt!«

Johanna und Henrietta waren begeistert gewesen, als Tante Agathe gefragt hatte, ob sie nicht die kleine »Katzenboutique« in Salfeld übernehmen wollten. Tante Agathe war Frau Bergmanns Schwester und siebzehn Jahre älter. Sie hatte eine neue Hüfte bekommen und sollte zur Reha an den Bodensee fahren. Der Arzt hatte gemeint, dass sie das Geschäft lieber aufgeben sollte, weil es für sie auf Dauer zu anstrengend war, die Leute zu bedienen. Tante Agathe wollte aber sicher sein, dass ihre geliebte »Katzenboutique« in gute Hände kam.

»Ich weiß nicht, ob der Laden das Richtige für uns ist, Agathe«, hatte Mama am Telefon gesagt.

»Aber natürlich ist er das, Linde«, hatte Tante Agathe gerufen. »Ihr wart doch immer so gern bei mir zu Besuch. Erzähl mir nicht, dass dir dein jetziger Job als Buchhalterin Spaß macht! Du wolltest doch immer einen eigenen Laden … Und du bist eine genauso große Katzennärrin wie ich, stimmt’s?«

Da konnte Mama schlecht widersprechen. Die Bergmanns – Linde, Johanna und Henrietta – liebten Katzen über alles. Im Moment hatten sie zwei: Serafina und Miranda. Serafina war eine rot-weiße Schönheit mit langem Fell, während die getigerte Miranda aus dem Tierheim kam. Durch eine Verletzung hatte sie ein Auge eingebüßt, aber für Johanna und Henrietta war Miranda eine der liebsten Katzen der Welt.

Die beiden Mädchen hätten gerne noch mehr Katzen gehalten, aber der Vermieter ihres Hauses machte schon wegen dieser beiden Tiere Stunk.

»Wenn sich die Nachbarn weiterhin beschweren, dann bekommen Sie von mir die Kündigung«, hatte er den Bergmanns angedroht. »Tiere sind laut Mietvertrag nicht erlaubt.«

Die Beschwerden konnten nur von den Nachbarn rechts kommen. Die hatten nämlich einen Hund – einen fetten Mops – und dem hatte Miranda eine Ohrfeige verpasst, weil er Serafina den Apfelbaum hochgejagt hatte.

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Von dort aus traute sie sich nicht allein herunter. Frau Bergmann hatte die Leiter angelegt und Johanna war hinaufgestiegen und hatte die verängstigte Katze heruntergeholt. Die Mädchen fanden, dass der Mops die Ohrfeige zu Recht bekommen hatte, aber der Nachbar präsentierte den Bergmanns zwei Tage später eine Tierarztrechnung über 110 Euro.

Mama hatte gestöhnt, denn sie war knapp bei Kasse. Wieder mal.

»Ich hasse Hunde«, hatte Johanna gesagt.

»Ich auch«, hatte Henrietta beigestimmt, obwohl sie sonst behauptete, alle Tiere zu lieben, Spinnen und Mücken inbegriffen. Sie rettete sogar Fliegen, wenn sie ins Wasser fielen.

Bei Johanna hatte die Abneigung gegen Hunde jedoch noch einen anderen Grund. Ein Schäferhund hatte sie einmal gebissen, als sie acht Jahre alt war. Sie hatte sich dem angebundenen Hund vertrauensselig genähert, und als sie ihn streicheln wollte, hatte er nach ihr geschnappt. Die Verletzung war nicht schlimm, aber Johanna war damals mächtig erschrocken. Seitdem flößten ihr Hunde großen Respekt ein, sie konnte gar nichts dagegen tun. In ihrer Gegenwart fühlte sie sich einfach unwohl. Sie hatte immer den Eindruck, auf der Hut sein zu müssen, denn schließlich konnten die Biester jederzeit zuschnappen! Sie hielt sich lieber an Katzen. Die meisten Samtpfoten waren verschmust, ihr Fell war kuschelig weich, sie spürten die Stimmung ihrer Besitzer und trösteten sie, wenn sie traurig waren. Johannas Laune schlug momentan ziemlich häufig um. Wie oft hatte sie sich im vergangenen Schuljahr ärgern müssen, weil sie von den Mitschülerinnen gemobbt worden war oder weil ihre vermeintlich beste Freundin sich gegen sie gestellt hatte. Serafina und Miranda waren dann immer in Johannas Zimmer gekommen, hatten sich an sie geschmiegt und sie mit ihren ehrlichen, treuen Augen angesehen. Dann war für Johanna die Welt wieder halbwegs in Ordnung. Katzen waren echte Freunde. Mamas Seufzer riss Johanna aus ihren Gedanken. »Bisher haben wir die Katzen ernährt. Hoffentlich ernähren sie in Zukunft uns.«

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»Igitt!«, quietschte Henrietta sofort los. »Sollen wir dann Mäuse essen?«

»Unsinn«, antwortete Frau Bergmann und lachte. »Ich hoffe, dass dieser Katzenladen so gut läuft, dass wir davon leben können. Tante Agathe hat das ja jahrelang geschafft. Allerdings ist sie Single und keine alleinerziehende Mutter von zwei Kindern …«

Oh ja. Das alte Thema. Johanna hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Wenn Mama sich als »alleinerziehende Mutter« bezeichnete, bekam sie sofort ein ungutes Gefühl. Dabei konnte sie doch nichts dafür, dass Papa kurz nach ihrem zehnten Geburtstag nach Goa aufgebrochen war. Bei diesem Trip war es jedoch nicht geblieben, denn anstatt nach Hause zu kommen, reiste er seither um die Welt – angeblich, um sich selbst zu finden.

Johanna hatte sich immer vorgestellt, dass er in einem der fremden Länder einem Doppelgänger begegnen und dem Gegenüber dann stürmisch in die Arme fallen würde. Mama meinte jedoch, Papa suche etwas anderes, so etwas wie seine »innere Mitte«, worauf Henrietta ängstlich gerufen hatte: »Iiihhh, lässt er sich den Bauch aufschneiden?«

Inzwischen wusste Johanna kaum noch, wie ihr Vater aussah. Ab und zu kam eine Ansichtskarte von ihm. Anfangs hatten sie sich per Computer noch lange E-Mails geschrieben, aber das hatte irgendwann aufgehört. Papa hatte fast nie gefragt, wie es Johanna oder Henrietta ging. Er hatte immer nur von sich erzählt: auf welchen Berg er gestiegen war, welchen Wasserfall er gesehen hatte, dass er in China versehentlich geröstete Käfer gegessen hatte und dass er die Kängurus in Australien ganz toll fand. Kein Wort davon, ob er Johanna und Henrietta vermisste. Er hatte auch ihre letzten Geburtstage vergessen. So ein Vater, fand Johanna, konnte einem gestohlen bleiben. Mama fand das auch, denn sie hatte inzwischen die Scheidung eingereicht.

»Henrietta, muss das sein?«, rief Frau Bergmann.

Henrietta war ins Schaufenster gekrochen und wischte mit der Hand an der Fensterscheibe herum. Die Sicht wurde nur ein bisschen besser, denn der meiste Schmutz hing außen an der Scheibe.

»Cool!«, sagte Henrietta trotzdem und presste ihre Nase an die Scheibe. »Da drüben ist eine Bäckerei, da gibt es ganz sicher was Leckeres!«

Allen dreien knurrte der Magen, denn sie hatten seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, und jetzt war es drei Uhr. Mama drückte Johanna einen Geldschein in die Hand. »Lauf mal rüber und hol uns was zu essen.«

»Ich komme mit«, krähte Henrietta und kletterte aus dem Schaufenster. Ihre Knie waren dunkel vor Schmutz. Johanna verdrehte die Augen.

»Meinetwegen, du kleines Schmuddelmonster!«

»Ich bin kein Monster«, verteidigte sich Henrietta, während sie Johanna nach draußen folgte. »Ich bin doch in Wirklichkeit eine Prinzessin, und Mama hat mich adoptiert. Eines Tages …«

»Ja, ja, ich weiß«, erwiderte Johanna ungeduldig. Sie hörte diese Geschichte nicht zum ersten Mal. »Eines Tages kommt ein Prinz auf einem weißen Pferd und nimmt dich mit in sein Königreich.«

»Auf einem weißen Einhorn«, verbesserte Henrietta, griff nach Johannas Hand und überquerte hüpfend die Straße.

In der Bäckerei roch es so lecker nach warmem Brot und süßem Kuchen, dass Johanna das Wasser im Mund zusammenlief.

»Was darf’s denn sein?«, fragte die Verkäuferin freundlich.

Hm. Johanna konnte sich nicht entscheiden. Hinter der Glastheke gab es so viele Köstlichkeiten …

»Ich will den Heidelbeerkuchen«, sagte Henrietta, tippte gegen die Glasscheibe und hinterließ dort mit ihren schmutzigen Fingern einen Fleck. Zum Glück bemerkte es die Verkäuferin nicht.

Johanna entschied sich für Marzipantorte. Für Mama kaufte sie ein großes belegtes Brötchen.

»Darf’s sonst noch was sein?«, wollte die Verkäuferin wissen. »Das Kartoffelbrot ist heute im Angebot.«

Johanna nickte. »Okay, das nehme ich.« Tante Agathes Kühlschrank war sicher leer, und irgendetwas mussten sie heute Abend essen.

»Übernehmt ihr den Laden dort drüben?«, fragte die Verkäuferin, während sie alles in Papier einwickelte.

»Ja, Tante Agathe hat nämlich eine neue Hüfte«, trompetete Henrietta heraus, bevor Johanna etwas sagen konnte. »Sie ist ganz, ganz krank und muss sich viele Wochen erholen.«

»Das tut mir leid«, sagte die Verkäuferin. Sie reichte Johanna das Papierpäckchen über die Theke und kassierte das Geld. »Woher kommt ihr denn?«

»Aus Köln«, antwortete Johanna.

»Seid ihr Schwestern?«

»Ja.«

»Und eure Eltern sind auch dabei?«

»Nur unsere Mama«, antwortete Henrietta. »Unser Papa ist nämlich in Manien.«

»Spanien?«, fragte die Verkäuferin nach.

»Tasmanien«, korrigierte Johanna.

»Oh, das ist weit weg«, meinte die Verkäuferin mit einem mitleidigen Lächeln. »Wird der Katzenladen denn wieder aufgemacht?«, fragte die Verkäuferin weiter.

»So bald wie möglich«, sagte Johanna. Sie balancierte das Paket vorsichtig auf den Händen. »Vielen Dank. Auf Wiedersehen.«

»Tschü-üss«, rief Henrietta.

»Wartet, ihr bekommt noch was.« Die Verkäuferin legte zwei Lollis auf die Theke.

Johanna wurde rot. Die Zeiten, in denen sie beim Einkaufen Süßigkeiten bekommen hatte, lagen schon lange zurück. Aber vielleicht tickten hier in Salheim die Uhren anders …

»Danke!« Henrietta strahlte und schnappte sich die beiden Lollis. Sie winkte der Verkäuferin zu, dann verließen die beiden Mädchen die Bäckerei.

»Die war nett!« Henrietta pfriemelte das Einwickelpapier von einem Lolli herunter und steckte ihn in den Mund. »Mmh, Himbeere …«

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Frau Bergmann hatte das Smartphone am Ohr und telefonierte, als Johanna und Henrietta zurückkamen.

»Eine Katastrophe«, hörten die Mädchen sie sagen. »Der Laden ist völlig heruntergewirtschaftet. Ich fürchte, es war ein Fehler, dass wir hergekommen sind.«

Johanna rutschte das Herz in die Hose, während Henrietta nur geheimnisvoll grinste.

»Dann muss wohl mein Zauberstab in Aktion treten«, flüsterte sie mit leuchtenden Augen.

Johanna seufzte innerlich. Ihre kleine Schwester war manchmal wirklich anstrengend. Sie hatte eine überschäumende Fantasie. Und seit sie bei der letzten Kölner Kirmes einen pinkfarbenen Zauberstab mit viel Glitzer gewonnen hatte, bildete sie sich ein, dass sie damit Dinge verändern konnte.

»Ich muss Schluss machen«, sagte Frau Bergmann, nachdem sie gesehen hatte, dass ihre Töchter zurück waren. »Bis bald mal wieder! Tschüss, Karla!« Sie beendete das Gespräch und lächelte die Mädchen an. Karla war ihre Freundin aus Köln.

»Futter!«, verkündete Johanna und hob ihr Päckchen in die Höhe.

»Prima. Am besten gehen wir damit nach hinten auf die Terrasse.« Frau Bergmann durchquerte den langen schmalen Laden.

Johanna war froh, als sie ins Freie traten. Auf der Terrasse standen ein Teil ihres Gepäcks und die beiden Katzenkörbe, in denen Miranda und Serafina miauend um Freiheit bettelten.

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»Ich glaube, sie haben Hunger«, sagte Henrietta mitleidig.

»Wir geben ihnen gleich was.« Johanna wühlte in der großen Reisetasche, fand die Näpfe und zwei Dosen Futter und drückte die Sachen Henrietta in den Arm. »Hier, nimm! Ich trage die Katzenkörbe. Wir lassen die Raubtiere drüben im Haus raus.«

»Am besten füttert ihr sie in der Küche«, meinte Frau Bergmann. »Aber macht die Tür zu, sonst erkunden Serafina und Miranda gleich das ganze Haus, und wir können sie nachher suchen!«

Die Mädchen brachten die Katzen in ihr neues Heim. Tante Agathes Küche war groß und diente gleichzeitig als Esszimmer. Johanna hatte sich schon immer eine solche Küche gewünscht. Die Möbel waren aus hellem Holz, in den Schränken stand blau-weißes Porzellan, und an den beiden Fenstern hingen selbst gehäkelte Gardinen.

»Gemütlich!«, war auch Henriettas Kommentar. Sie öffnete die Katzenkörbe, während Johanna die beiden Näpfe mit Katzenfutter füllte.

Miranda schoss wie ein Blitz aus dem Korb und verschwand unter der Eckbank. Serafina dagegen stieg wie eine Königin aus dem Transportkäfig und stolzierte mit erhobenem Schwanz durch die Küche. Als Johanna die gefüllten Futternäpfe auf den Boden stellte, war Serafina sofort bei ihr. Sie schnupperte an dem Futter und machte sich gleich über Mirandas Napf her.

»Halt, das ist der falsche!«, rief Johanna. Serafina wechselte gehorsam zu ihrem eigenen Napf.

»Sie probiert es immer wieder«, meinte Henrietta. »Als würde Mirandas Futter besser schmecken!« Sie grinste, sodass man ihre große Zahnlücke sah. Ihre beiden oberen Schneidezähne waren schon vor drei Monaten ausgefallen, und seither wartete Henrietta sehnsüchtig auf ihre neuen Zähne.

Johanna lockte Miranda unter der Eckbank hervor. »Komm, Miri, schönes, schönes Futter! Wenn du nicht kommst, frisst dir Serafina alles weg!«

Die Drohung schien zu wirken, denn Miranda kam aus ihrem Versteck hervor. Misstrauisch stakste sie durch die Küche, der ganze Körper war angespannt. Johanna war sich nicht sicher, ob der Katze das neue Zuhause gefiel. Erst nachdem sich Miranda genau umgesehen hatte, fing sie an zu fressen. Johanna stellte für die Katzen noch eine Schale mit Wasser bereit. Sicher waren die Tiere nach der langen Fahrt durstig. Serafina schlabberte gleich zufrieden.

»So, und jetzt sind wir dran«, sagte Johanna und zog Henrietta aus der Küche.

Auf der Terrasse hatte Frau Bergmann inzwischen Tante Agathes Klappstühle vom gröbsten Schmutz befreit. Johanna und Henrietta setzten sich zu ihr an einen runden Holztisch, und Frau Bergmann packte die Sachen von der Bäckerei aus. Johanna und Henrietta aßen Torte und Kuchen, während die Mutter das belegte Brötchen verzehrte. Dazu tranken sie Saft, den sie mitgebracht hatten.

Henrietta ließ die Beine baumeln und blickte vergnügt in den kleinen Garten, der völlig verwildert war. Ein Pfauenauge ließ sich auf einer großen Sonnenblume nieder. Auf der Mauer landete wippend eine Elster, und hoch am Himmel kreiste ein Bussard.

»Super hier«, nuschelte Henrietta mit vollem Mund und streckte ihren Finger nach einem Marienkäfer aus, der am Tischrand entlangkrabbelte. »Guck mal! Der Käfer bringt Glück!«

»Glück können wir auch gut brauchen«, sagte Frau Bergmann.

Am Abend war Johanna völlig erschöpft. Trotzdem konnte sie nicht schlafen. Sie kroch aus ihrem Schlafsack, setzte sich auf einen kleinen Hocker und knipste die Taschenlampe an. Dann öffnete sie ihr Tagebuch, das sie zu ihrem dreizehnten Geburtstag bekommen hatte, und fing an zu schreiben.

Unser erster Tag in Salheim. Ich weiß noch nicht, ob ich es hier gut finde. Mama ist ein bisschen enttäuscht, obwohl sie versucht, es zu verbergen. Aber ich spüre, dass sie sich Sorgen macht, ob das nicht alles zu viel für uns wird …

Ich habe mich so darauf gefreut, dass ich jetzt ein eigenes Zimmer habe! Und es ist auch echt toll, so viel Platz für mich allein zu haben. Ich freue mich schon darauf, mich hier richtig gemütlich einzurichten. Allerdings ist die Tapete echt grauenhaft, so richtig oma-mäßig. Am liebsten würde ich sie auf der Stelle abreißen und eine neue an die Wand kleben. Aber morgen kommen unsere Möbel, und es ist wichtiger, dass erst einmal der Laden tipptopp ist, bevor wir Tante Agathes Häuschen renovieren. Ich glaube, seit sie vor gut dreißig Jahren das Grundstück mit dem Laden und dem alten Haus gekauft hat, hat sie nichts mehr dran gemacht.

Serafina und Miranda finden ihr neues Zuhause inzwischen wunderbar. So viele Ecken, die sie noch nicht kennen. Miranda hat eine riesige Spinne gefunden und mit Begeisterung gefressen. Ich muss mich jetzt noch schütteln, wenn ich daran denke!

Henrietta ist ebenfalls von dem alten Haus begeistert. Sie läuft mit ihrem rosa Zauberstab durch alle Räume und brabbelt geheimnisvolle Sprüche. Damit will sie unser Haus wohl in einen Palast verwandeln, haha. Oder sie verjagt die bösen Geister!

Komischerweise habe ich kein bisschen Heimweh nach Köln. Nicht nach unserer alten Wohnung und auch nicht nach meiner »Freundin« Marie. Genauer: meiner Ex-Freundin, weil sie in den letzten Wochen so gemein zu mir war. Hat sich nur noch mit Anja und Thekla abgegeben, und ich war für sie fast nur Luft. Wenn ich mich mit ihr treffen wollte, hatte sie keine Zeit. Aber für die anderen immer!!!

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Gestern Abend war sie dann noch mal an der Haustür und hat mir zum Abschied eine Tafel Schokolade geschenkt. Als sie mich umarmen wollte, habe ich sie an ihre Katzenallergie erinnert.

Da ist sie gleich zwei Meter zurückgesprungen. »Aber wir bleiben in Kontakt, Hanni«, hat sie gerufen. »Wir mailen uns, versprochen?«

»Versprochen«, habe ich geantwortet und dabei die Finger hinter meinem Rücken gekreuzt.

Ich kann es nicht leiden, wenn man mich »Hanni« nennt. In meiner alten Schule haben sie mich damit aufgezogen: »Hanni, wo bleibt denn deine Nanni?« Wobei sie gemeint haben Nanny = Kindermädchen.

Ob ich in meiner neuen Schule eine Freundin finde? Vielleicht eine, die so katzenlieb ist wie ich? Das wäre cool!

Henrietta hat nie Probleme, Freundinnen zu finden. Alle lieben Henrietta!! Wahrscheinlich, weil sie wie ein Engel aussieht mit ihren weißblonden Locken und ihren großen blauen Augen.

Und mit ihren ausgedachten Geschichten. Sie kann dir die tollsten Lügengeschichten so überzeugend erzählen, dass du beinahe selbst anfängst, an Feen und Elfen zu glauben. Manchmal kann Henrietta aber auch ein richtiges Biest sein, wenn es nicht nach ihrem Kopf geht.

Ich wünschte, ich wäre so beliebt wie Henrietta. Aber ich sehe ja auch schon viel langweiliger aus als sie. Meine Haare sind dunkler und hängen wie Spaghetti von meinem Kopf herunter. Langweilig eben. Ohne meine geliebten kleinen Spangen würden sie überhaupt nach nichts aussehen. Inzwischen habe ich 111 verschiedene Haarspangen! Mama meint, es reicht langsam, aber ich sammle weiter, bis ich 365 Stück habe – für jeden Tag im Jahr eine!

Wenigstens habe ich grüne Augen, das mag ich. Außerdem bin ich ziemlich groß für mein Alter, 1,69 Meter und sehr schlank. Leider aber auch vorn herum. Mama hat mir neulich einen BH gekauft, den habe ich noch kein einziges Mal angezogen, weil ich mir dabei einfach blöd vorkomme mit dem vielen Schaumgummi. Mama findet, meine T-Shirts würden viel besser aussehen, wenn ich den BH trage, und ich hätte eine Super-Figur. Aber meinetwegen kann das Ding im Wäschekorb verschimmeln!

Oh, Miranda will nicht mehr, dass ich weiterschreibe! Na gut, dann mache ich eben Schluss. Gute Nacht!

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Mit den Möbeln aus Köln wirkten die Zimmer ziemlich vollgestopft. Die Katzen fanden das toll. So viele Verstecke! Frau Bergmann dagegen stöhnte.

»Eines Tages werden wir im Lotto gewinnen, dann lasse ich die Entrümpler kommen, und wir richten uns danach ganz neu ein.«

»Ach Mama«, erwiderte Henrietta. »Dann schimpfst du, wenn uns die Katzen die neuen Möbel zerkratzen!«

»Da hast du auch wieder recht«, meinte Frau Bergmann lachend.

Johanna, Henrietta und ihre Mutter hatten die meisten Sachen, die Tante Agathe gehörten und von denen sie sich noch nicht hatte trennen können, in den Keller geschafft. Es war eine mühsame Angelegenheit gewesen, und Frau Bergmann hatte sich dabei die Hand gequetscht. Zum Glück war es die linke.

»Uff!«, sagte Johanna, nachdem sie zigmal treppauf und treppab gelaufen war, sodass ihre Beine schwer wie Blei waren. »Wir hätten noch Hilfe beim Schleppen gebrauchen können.«

»Mama, du brauchst wieder einen Freund«, stellte Henrietta fest, pragmatisch wie immer. »Einer, der schrauben und bohren kann und der stark ist wie ein Bär. Dann wäre alles viel einfacher.«

Frau Bergmann lachte. »Wir kommen auch so ganz gut klar. Wir sind doch drei starke Frauen, oder?«

Aber Henrietta ließ sich nicht so schnell vom Thema abbringen. »Du könntest eine Anzeige aufgeben«, schlug sie vor. »Oder du meldest dich im Internet an, damit du einen Mann findest.«

»Im Moment brauche ich keinen Mann, sondern wir brauchen viel dringender Waren für unseren Laden«, erklärte Frau Bergmann. »Das, was von Tante Agathe noch da ist, ist nicht unbedingt der große Hit. Wir wollen ja, dass viele neue Kunden kommen. Dazu müssen wir uns etwas einfallen lassen.«

Während Frau Bergmann ihre gequetschte Hand kühlte, holte Henrietta einen Block und einen Bleistift. Sie konnte schon die meisten Wörter schreiben, obwohl sie nach den Sommerferien erst in die zweite Klasse kam. Alle drei setzten sich an den großen Küchentisch und überlegten, was im Laden angeboten werden sollte.

»Katzenfutter kaufen die meisten Leute im Supermarkt, weil es dort billiger ist«, meinte Frau Bergmann. »Wir müssen natürlich auch welches dahaben, aber es muss etwas Besonderes sein, damit die Leute zu uns kommen. Beispielsweise Futter für ältere Katzen oder für junge, die noch wachsen. Und Futter für Katzen mit Allergien oder Nahrungsmittelunverträglichkeiten.«

Henrietta war überfordert und schob Block und Bleistift zu Johanna. »Schreib du!«

Johanna grinste und notierte die Vorschläge.

»Kratzbäume«, sagte Henrietta.

»Da hat Tante Agathe noch einige da, aber sie sind ziemlich verstaubt«, erwiderte Frau Bergmann. »Die können wir nur verkaufen, wenn wir den Preis herabsetzen.«

»Wie wär’s mit einem Gewinnspiel zur Eröffnung?«, schlug Johanna vor.

»Gute Idee.« Frau Bergmann nickte. »Und jeder Kunde bekommt beim ersten Einkauf eine Kleinigkeit gratis dazu.«

»Warum verkaufen wir keine Katzen?«, fragte Henrietta mit leuchtenden Augen.

»Schatz, wir handeln nicht mit lebendigen Tieren«, sagte Frau Bergmann. »Aber wir können einen Vermittlerdienst anbieten, wenn jemand Katzen abgeben will.«