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Eugene H. Peterson

„Nimm und iss …“

Die Bibel als Lebensmittel

Aus dem Amerikanischen
übersetzt von Evelyn Sternad

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Da ging ich zu dem Engel und bat ihn um das kleine Buch. Er antwortete mir: „Nimm das Büchlein, und iss es auf!
Es schmeckt süß wie Honig, aber du wirst Magenschmerzen davon bekommen.“ So nahm ich das kleine Buch aus seiner Hand und aß es. Es schmeckte wirklich süß wie Honig; aber dann lag es mir schwer im Magen
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OFFENBARUNG 10,9

Zu diesem Buch

Sie ahnen etwas von der Kraft der Bibel, hätten aber gerne gewusst, was dieses Buch mit Ihrem Alltag zu tun hat?

Eugene H. Peterson fordert heraus, die Bibel auf eine andere Art zu lesen – so dass sie ein Text zum Leben und Wachsen wird, nicht nur um Wissen anzuhäufen oder Regeln zu befolgen. Dabei verleiht er der klugen Art eines bedächtigen Lesens, die sich im Laufe von Jahrhunderten entwickelt hat (Lectio Divina), eine neue Form für unsere Zeit.

„Nimm und iss dieses Buch“ lautet die Aufforderung, die Johannes im biblischen Buch der Offenbarung von einem Engel erhält.

Peterson macht Mut, dieses Buch „zu essen“, in sich aufzunehmen, es zu leben und nicht nur zu lesen – und zwar erfrischend unkonventionell! Denn er ist überzeugt: Gott lädt uns heute noch ein, sein Wort in uns aufzunehmen: „Nimm und iss …“

Über den Autor

Eugene H. Peterson, Jahrgang 1932, gründete 1962 eine presbyterianische Gemeinde in Maryland, USA, die er als Pastor 29 Jahre lang leitete. Von 1993 bis 1998 war er Professor für Spiritual Theology am renommierten Regent College in Vancouver, Kanada. 2002 erschien seine Bibelübersetzung The Message, an der er zehn Jahre gearbeitet hatte.

Gleich ob er die Bibel aus dem Hebräischen und Griechischen übersetzt oder geistliche Bücher schreibt, Eugene H. Peterson geht es dabei um ein Ziel: dass die Heilige Schrift in die Herzen und Hirne, Arme und Beine sowie die Münder der Menschen gelangt.

Peterson ist Autor von über 30 Büchern und erhielt mehrere Ehrendoktortitel. Seine Frau Jan und er haben drei Kinder und sechs Enkel. Heute leben Petersons im Ruhestand in Montana.

Auf Deutsch sind bisher die folgenden Bücher von Eugene H. Peterson erschienen:

Der verlorene Hirte – Wie Gott geistliche Leiter aus der Wüste führt. Wuppertal 2000 (Originaltitel: Under the unpredictable plant)

Die Seele geht zu Fuß – Glauben in einer beschleunigten Welt. Meditationen zu Psalmen. Gießen und Basel 2006 (Originaltitel: A long obedience in the same direction)

Mit den Pferden laufen – Verlockung zu einem leidenschaftlichen Leben. Gießen und Basel 2003 (Originaltitel: Run with the horses)

Wer den Himmel sucht, muss die Erde lieben – Gott im Alltag finden. Gießen und Basel 2002 (Originaltitel: Leap over a wall)

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe dieses Buches erschien unter dem Titel Eat This Book – A Conversation in the Art of Spiritual Reading bei Wm. B. Eerdmans Publishing Co., Michigan/USA

Inhalt

Zu diesem Buch

Über den Autor

Impressum

Vorwort

1.„Die unerhörte Gewohnheit des geistlichen Lesens“

Iss dieses Buch

2.Die Heilige Gemeinschaft am Tisch mit der Heiligen Schrift

3.Die Heilige Schrift als Text: Gottes Offenbarung kennenlernen

Der offenbarende und offenbarte Gott

Die Dreieinigkeit: Es bleibt persönlich

Dem Text die Persönlichkeit nehmen

Die Ersatz-Dreieinigkeit

Hoshia

4.Die Heilige Schrift als Form: Jesus nacheifern

Die Erzählung

Der Satz

5.Die Heilige Schrift als Drehbuch: Wir übernehmen unsere Rolle im Geist

Die unbehagliche Bibel

Die unermessliche Welt der Bibel

Gehorsam

Die Bibel liturgisch lesen

Geistliches Leben virtuos

Lectio Divina

6.Caveat Lector

7.„Ohren hast du mir gegraben“

Lectio

Meditatio

Oratio

Contemplatio

Die Gemeinschaft der Übersetzer

8.„Die Sekretäre Gottes“

Übersetzung ins Aramäische

Übersetzung ins Griechische

Übersetzung ins Amerikanische

9.„The Message“

Oxyrhynchus und Ugarit

Verlust durch Übersetzung

Über den Verlag

Vorwort

An einem Samstag im Oktober holte meine Frau unseren 7-jährigen Enkel von der Holy Nativity Church ab. Hans hatte dort den Unterricht zur Vorbereitung auf seine Erstkommunion besucht. Sie stiegen ins Auto und machten sich auf den Weg zu einem Museum in der Nähe, wo gerade eine Ausstellung für Kinder zum Thema Edelsteine gezeigt wurde. Unterwegs hielten sie an, um in einem kleinen Park zu essen. Während sie auf der Bank saßen und ihre Brote verspeisten, plapperte Hans ohne Unterlass – so ging das bereits, seitdem sie das Kirchengebäude verlassen hatten.

Nachdem alles aufgegessen war – im Fall von Hans ein Brot mit Salat und Mayonnaise, von ihm selbst belegt („Ich versuche mich gesund zu ernähren, Oma“) –, rückte er etwas von seiner Großmutter ab, blickte in den Park hinaus, holte ein Neues Testament aus seinem Rucksack, das er gerade erst vom Gemeindepfarrer bekommen hatte, öffnete es, hielt es sich vor die Augen und fing an zu lesen. Dabei bewegten sich seine Augen in andächtiger, aber für ihn untypischer Stille über die Seiten. Nach einer langen Minute machte er das Buch zu und steckte es wieder in den Rucksack. „Okay, Oma. Ich bin fertig – auf ins Museum.“

Seine Großmutter war beeindruckt und belustigt zugleich, denn Hans kann noch nicht lesen. Er will lesen können. Seine Schwester kann lesen. Und sogar einige seiner Freunde können es, aber Hans kann nicht lesen. Er weiß auch, dass er nicht lesen kann. Und manchmal weist er uns sogar darauf hin: „Ich kann nicht lesen.“ Es scheint dann, als wollte er uns in aller Deutlichkeit sagen, was ihm entgeht.

Wie also „las“ er an diesem Herbstsamstag im Park sein Neues Testament?

Als meine Frau mir später diese Geschichte erzählte, war ich genau wie sie beeindruckt und belustigt zugleich. Aber einige Tage später war diese Geschichte in meiner Vorstellung zu einer Parabel geworden. Ich steckte damals mitten in der Arbeit an diesem Buch, einer intensiven Beschäftigung mit dem geistlichen Lesen, und es fiel mir schwer, mir meine zukünftigen Leser vorzustellen. Vor meinem inneren Auge verschwammen sie zu einer gesichtslosen Masse aus Bibellesern und Nicht-Bibel-Lesern, Bibellehrern und Bibelpredigern. Gibt es ein Hindernis, das uns allen im Weg steht, sobald wir unsere Bibeln in die Hand nehmen und sie öffnen? Ja, meiner Meinung nach schon. Hans hatte es mir gezeigt.

Als ich ungefähr so alt war wie Hans, bin ich ins Bibel-Lese-Geschäft eingestiegen. Zwanzig Jahre später wurde ich Pastor und Professor. Nun beschäftige ich mich seit mehr als fünfzig Jahren beruflich damit, den biblischen Text in die Köpfe und Herzen, Arme und Beine, Ohren und Münder von Männern und Frauen zu befördern. Und es fällt mir nicht leicht. Warum ist das nicht leicht?

Die Erklärung ist einfach. Wenn es um den biblischen Text geht, gibt es eine ganz besondere Herausforderung, nämlich sicherzustellen, dass er gelesen wird. Und zwar zu seinen eigenen Bedingungen: als göttliche Offenbarung. Oberflächlich betrachtet scheint das die einfachste Aufgabe der Welt zu sein. Nach fünf oder sechs Jahren Unterricht, der durch den finanziellen Beitrag von uns allen möglich wird, können die meisten von uns lesen, was in der Bibel steht. Besitzt man selbst keine Bibel und kann man sich auch keine leisten, dann hat man die Möglichkeit, sich in nahezu jedem Hotel des Landes eine zu stehlen. Dabei muss man nicht einmal mit einer Anklage rechnen. Wer wurde in diesem gerechten Land jemals wegen des Diebstahls einer Bibel festgenommen?

Doch scheinbar gibt es inmitten der geschäftigen Betriebsamkeit eines christlichen Lebens viele Aspekte, die vernachlässigt werden. Einer scheint davon aber ganz besonders betroffen zu sein, und er hat mit der Frage zu tun, wie die Bibel gelesen wird. Das heißt nicht, dass Christen keine Bibeln haben oder nicht darin lesen. Auch nicht, dass Christen bezweifeln, dass ihre Bibeln Gottes Wort sind. Was vielmehr zu kurz kommt, ist das prägende Bibellesen. Lesen, um zu leben.

Hans sitzt auf seiner Parkbank. Seine Augen bewegen sich über die Seiten seiner Bibel, er „liest“ und liest doch nicht, er ist ehrfürchtig und andächtig, doch er versteht nichts. Auf eine höchst liebevolle Art gibt er diesem Buch die Ehre, doch ohne das Bewusstsein, dass es irgendetwas zu tun hat mit dem Salat-Mayonnaise-Sandwich, das er gerade gegessen hat oder dem Museum, das er besuchen wird, oder der Gegenwart seiner Großmutter neben ihm. Hans „liest“ seine Bibel. Eine Parabel.

Eine Parabel darüber, wie die Bibel zu einem Objekt entpersönlicht wird, dem man die Ehre erweist; die Bibel, abgekoppelt von Ursache und Wirkung, von Mittagessen und Museum; die Bibel in einem Park, weit entfernt vom Alltag der Straße, ein Text auf einem Podest, abgeschirmt vom Lärm und Dieselgestank der 40-Tonner durch eine weitläufige, gepflegte Rasenfläche.

Es ist das Werk des Teufels, wenn er fortsetzt, was jetzt noch reizend und unschuldig an Hans ist. Hans bleibt dann sein Leben lang ein andächtiger, aber gleichgültiger Leser.

Dem Teufel entgegenzuwirken heißt, meine ich, die Bibel angemessen und sorgfältig zu lesen. Und das bedeutet, dass wir sie gleichzeitig auch leben. Sie zu leben ist dabei nicht die Bedingung für das Lesen und auch nicht dessen Folge. Vielmehr leben wir die Bibel, während wir sie lesen, erleben die Wechselwirkung zwischen Leben und Lesen, Körpersprache und gesprochenem Wort, das Geben und Nehmen, welches das Lesen zum Leben und das Leben zum Lesen macht. Die Bibel lesen und das Wort leben lassen sich nicht voneinander trennen. Vielmehr ist das Lesen ein fester Bestandteil des Lebens. Das bedeutet, dass wir einem anderen ein Mitspracherecht einräumen bei allem, was wir sagen und tun. So einfach ist das. Und so schwer.

KAPITEL 1

„Die unerhörte Gewohnheit des geistlichen Lesens“

Vor vielen Jahren besaß ich einen Hund, der eine Vorliebe für große Knochen hatte. Zu seinem Glück lebten wir damals im bewaldeten Hügelvorland von Montana. Auf seinen Streifzügen durch den Wald fand er oft die Überreste von Weißwedelhirschen, die von Kojoten gerissen worden waren. Wenig später erschien er dann auf unserer Steinterrasse am Seeufer und zog seine Trophäe hinter sich her, für gewöhnlich ein Schenkel oder ein Rippenstück. Er war ein kleiner Hund und der Knochen war manchmal fast so lang wie er selbst. Jeder Hundebesitzer weiß, was jetzt kommt: Mit seiner Beute tänzelte er verspielt vor uns herum und wedelte mit dem Schwanz. Er war stolz auf seinen Fund und er bettelte um unsere Anerkennung. Und natürlich zeigten wir sie ihm: Wir überschütteten ihn mit Lob, sagten ihm, was er doch für ein guter Hund sei. Kurz darauf, nachdem er unseren Applaus ausgekostet hatte, zog er sich mit seinem Knochen an einen privateren Ort zurück, für gewöhnlich in den Schatten eines etwa 20 Meter entfernten, moosbewachsenen Steinbrockens. Dort bearbeitete er seinen Knochen. Der Knochen hatte keine soziale Bedeutung mehr für ihn. Nun widmete er sich ganz seinem privaten Vergnügen. Er nagte an dem Knochen, drehte ihn hin und her, leckte daran, jagte ihm Angst ein. Manchmal hörten wir ein leises Grollen und Knurren. Bei einer Katze würde man Schnurren sagen. Er hatte offensichtlich seinen Spaß und sah keinen Grund zur Eile. Nach ein paar vergnüglichen Stunden vergrub er den Knochen und buddelte ihn dann am nächsten Tag wieder aus. Ein durchschnittlicher Knochen hielt ungefähr eine Woche.

Das Vergnügen meines Hundes war auch mein Vergnügen. Ich freute mich an seinem spielerischen Ernst, seiner kindlichen Spontaneität, die geprägt war vom „Wichtig ist nur eins!“. Stellen Sie sich aber meine noch größere Freude vor, als ich eines Tages auf eine Stelle in Jesaja stieß, in der der Dichter-Prophet etwas beobachtete, das dem ähnelte, was ich an meinem Hund so mochte. Der einzige Unterschied ist, dass es bei Jesaja ein Löwe war und kein Hund: „Ein junger Löwe verteidigt knurrend seine Beute“ (Jes. 31,4). „Knurren“ ist das Wort, das meine Aufmerksamkeit erregte und mir diesen besonderen freudigen Kick versetzte. Was mein Hund da von sich gab, während er an seiner Errungenschaft nagte, sich daran freute und sie genoss, das tat Jesajas Löwe mit seiner Beute. Zum wahren Kern meiner Freude drang ich vor, als ich feststellte, dass das hebräische Wort, das hier als „knurren“ (hagah) übersetzt wird, normalerweise mit „nachdenken“ oder „sinnen“ übersetzt wird, so wie in Psalm 1, wo glücklich ist, „wer Freude hat am Gesetz des Herrn und darüber nachdenkt – Tag und Nacht“ (V. 2). Genauso in Psalm 63: „Wenn ich mich zu Bette lege, so denke ich an dich, wenn ich wach liege, sinne ich über dich nach“ (V. 7; Luther 1984). Doch Jesaja verwendet dieses Wort, um einen Löwen zu beschreiben, der sich knurrend über seine Beute duckt, genauso wie mein Hund es mit seinem Knochen tat.

Hagah ist ein Wort, das unsere hebräischen Vorfahren häufig für das Lesen von Texten verwendeten, in denen es um die Seele geht. Allerdings ist „Nachdenken“ viel zu schwach, um die wahre Bedeutung wiederzugeben. „Nachdenken“ oder „meditieren“ scheinen das zu beschreiben, was man kniend in einer stillen Kapelle tut, während auf dem Altar eine Kerze brennt. Oder was meine Frau tut, wenn Sie in einem Rosengarten sitzt, die Bibel aufgeschlagen auf dem Schoß. Wenn allerdings Jesajas Löwe und mein Hund meditierten, dann nagten sie und schluckten, benutzten Zähne und Zunge, Magen und Darm: Jesajas Löwe meditiert über seiner Ziege (sofern es das war); mein Hund meditiert über seinem Knochen. Es gibt eine Art zu schreiben, die eine bestimmte Art des Lesens fordert: sanftes Schnurren, leises Knurren, während wir sie schmecken und genießen, erahnen und aufnehmen, die süßen, würzigen, verführerischen und die Seele stärkenden Wortbissen – „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist“ (Ps. 34,9; Luther 1984). Nur wenige Seiten später verwendet Jesaja das gleiche Wort (hagah) für das Gurren einer Taube (38,14). Ein besonders aufmerksamer Leser dieses Textes erfasste genau den Geist hinter diesen Worten, als er sagte, dass hagah beschreibt, wie ein Mensch „sich in seine Religion verliert“.1 Genau so ging es meinem Hund mit seinem Knochen. Baron Friedrich von Hügel verglich diese Art des Lesens mit dem „langsamen, kaum wahrnehmbaren Zerschmelzen eines Bonbons im Mund.“2

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Ich möchte diese Art des Lesens fördern. Meiner Meinung nach ist es die einzige Art zu lesen, die zu dem Text der Heiligen Schrift passt und genauso auch zu anderer Literatur, die dazu gedacht ist, unser Leben zu verändern und nicht nur unsere Gehirnzellen mit Futter zu versorgen. Ernsthafte und gute Literatur setzt genau dieses Lesen voraus – gedankenvoll und gemächlich, eine Tändelei mit Worten, nicht Informationenfraß in Höchstgeschwindigkeit. Für unsere kanonischen Schreiber, die sich darum mühten, Gottes Offenbarung in hebräische, aramäische und griechische Sätze zu verpacken – Mose und Jesaja, Hesekiel und Jeremia, Markus und Paulus, Lukas und Johannes, Matthäus und David, zusammen mit ihren zahlreichen bekannten und unbekannten Brüdern und Schwestern durch alle Jahrhunderte hindurch – ist sie unabdingbar. Diese Autoren wurden vom Heiligen Geist eingesetzt, um uns die Heilige Schrift zu übermitteln, um uns in Kontakt mit der Wirklichkeit zu bringen und uns zu befähigen, auf sie zu reagieren, sei sie sichtbar oder unsichtbar: Gottes Wirklichkeit, Gottes Gegenwart. Sie alle zeichnen sich aus durch ein tiefes Vertrauen in die „Macht der Worte“ (Coleridge), die uns in die Gegenwart Gottes bringen und unser Leben verändern können. Wenn wir die Nähe zu den Autoren der Heiligen Schrift suchen, dann lernen wir eine Art des Lesens und Schreibens kennen, die von großem Respekt geprägt ist – mehr noch als Respekt, ehrfürchtiger Verehrung – für die offenbarende und verändernde Macht der Worte. Die erste Seite des christlichen Lebenstextes, der Bibel, erzählt uns, dass der gesamte Kosmos und jede lebende Kreatur durch Worte ins Leben gerufen wurden. Johannes wählt den Begriff „Wort“, um ein für alle Mal zu beschreiben, was Jesus am stärksten auszeichnet, die Person im offenbarten und offenbarenden Mittelpunkt der Geschichte des Christentums. Gesprochene und geschriebene Sprache ist das Mittel der Wahl, um uns klar vor Augen zu führen, was ist, wer Gott ist und was er tut. Allerdings ist es eine ganz besondere Art von Sprache, die nicht aus Worten besteht, die unserem Leben fremd sind, sondern vielmehr aus solchen, wie sie auf Einkaufslisten stehen, in Gebrauchsanweisungen, in französischen Grammatiken und in Basketballregeln.

Diese manchmal provozierenden, manchmal indirekten Worte sind dazu gedacht, in uns einzudringen, auf unsere Seelen zu wirken, ein Leben zu formen, das sich deckt mit der Welt, die Gott geschaffen hat, mit der Rettung, die er ermöglicht hat und der Gemeinde, die er versammelt hat. Solche Literatur setzt eine bestimmte Art zu lesen voraus und baut darauf auf. Man könnte sagen, man liest sie wie ein Hund am Knochen.

Autoren anderer Glaubensrichtungen und auch solche, die nicht glauben – Atheisten, Agnostiker, säkulare Schriftsteller – haben natürlich genauso Zugang zu dieser Schreibtradition und ihnen kommt die Unterweisung in der Heiligkeit der Worte sehr zugute. Doch das Adjektiv „geistlich“ kennzeichnet den Sprachgebrauch der biblischen Schreiber, die das Ziel hatten, „die Gedanken Christi“ in ihre Leser zu legen. Das Adjektiv ist auch heute noch hilfreich, um die nachbiblischen Männer und Frauen zu beschreiben, die journalistische Texte, Kommentare, Studien und Betrachtungen, Geschichten und Gedichte für uns verfassen, während wir weiterhin unsere Vorstellungskraft der formenden Syntax und Wortwahl unserer biblischen Meister unterwerfen. Allerdings ist die Heilige Schrift der Quelltext, der entscheidende Zeichensatz, das Werk des Geistes und damit die Messlatte für wahres geistliches Leben.

Ich möchte betonen, dass geistliches Schreiben – Schreiben aus dem Geist – auch geistliches Lesen voraussetzt. Also eine Art zu lesen, die Worte als heilig anerkennt, als Grundsubstanz, aus denen sich das verzweigte Netz der Beziehungen zwischen Gott und den Menschen spinnt, zwischen allen sichtbaren und unsichtbaren Dingen.

Es gibt nur eine Art zu lesen, die unserer Heiligen Schrift gerecht wird, einem Buch, das auf die Macht der Worte vertraut, ihnen zutraut, in unser Leben einzudringen und Wahrheit, Schönheit und Güte zu schaffen, einem Buch, das Leser braucht, wie Rainer Maria Rilke sie beschreibt: „Er bleibt nicht immer über die Blätter gebeugt, er lehnt sich oft zurück, er schließt die Augen über einer wiedergelesenen Zeile, und ihr Sinn verteilt sich in seinem Blut“.3

Diese Art zu lesen haben unsere Vorfahren als Lectio Divina bezeichnet. Heute wird sie auch „geistliches Lesen“ genannt, Lektüre, die unsere Seele füllt, wie Essen unseren Magen, die unseren Blutkreislauf durchzieht und zu Heiligkeit, Liebe und Weisheit wird.

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Im Jahr 1916 hielt der junge Schweizer Pfarrer Karl Barth im Nachbardorf Leutwil, wo sein Freund Eduard Thurneysen Pfarrer war, eine Ansprache. Barth war 30 Jahre alt, seit fünf Jahren Pfarrer in Safenwil und begann gerade erst die Bibel zu entdecken. Nur wenige Kilometer entfernt stand der Rest Europas in Flammen, ausgelöst durch einen Krieg, der vor Lügen und Blutvergießen strotzte und der, wie Karl Kraus es ausdrückte, „die letzten Tage der Menschheit“ markierte, „die nicht wieder rückgängig zu machende Beendigung dessen, was in der abendländischen Zivilisation human war“.4 Jedes folgende Jahrzehnt dieses Jahrhunderts lieferte weitere Details – politische, kulturelle und geistliche Offenbarungen – dass die Welt unaufhaltsam zu dem wird, was T. S. Eliot in seinem Gedicht „Das wüste Land“ bereits vorausgesehen hatte.

Während in den Nachbarstaaten Deutschland und Frankreich das Morden und Lügen seinen Höhepunkt erreichte, entdeckte dieser junge Pfarrer in der neutralen Schweiz die Bibel, als hätte er sie nie zuvor gelesen. Er entdeckte ein absolut einzigartiges Buch, etwas, das es vorher noch nie gegeben hatte. Die Seele und der Körper Europas und schließlich der ganzen Welt standen unter Beschuss. Auf jedem Kontinent lauschten Millionen Menschen den Frontberichten und den Reden der Staatsoberhäupter. Zur gleichen Zeit schrieb Barth in seinem kleinen abgeschiedenen Dorf auf, was er entdeckt hatte: die Wahrheit stiftende, Gott bezeugende, Kultur herausfordernde Wirklichkeit in diesem Buch, der Bibel. Ein paar Jahre später veröffentlichte er seine Entdeckungen in seinem Kommentar „Der Römerbrief“. Diesem Buch folgten weitere, die in den folgenden Jahren viele Christen davon überzeugen sollten, dass die Bibel ein echteres, stimmigeres Bild von dem zeichnet, was in ihrer scheinbar einstürzenden Welt passiert, als es ihnen die Politiker und Journalisten darstellten. Zur gleichen Zeit beschloss Barth, die Fähigkeit der Christen wiederzubeleben, das Buch empfänglich zu lesen, ganz wie es seinem ursprünglichen verändernden Charakter entsprach. Barth holte die Bibel aus der akademischen Mottenkiste, in der sie für so viele so lange gelegen hatte. Er verdeutlichte, wie lebendig sie ist und wie sehr sie sich von anderen Büchern unterscheidet, die man „benutzen“ kann – zerlegen und analysieren, um sie dann für jedweden Zweck einzusetzen. Er zeigte deutlich und überzeugend, dass diese „andere“ Art des Schreibens (offenbarend und vertraut anstatt informativ und unpersönlich) auch anders gelesen werden muss (empfänglich und gemächlich anstatt reserviert und effizient). Er verwies auch immer wieder auf Autoren, die sich diesen Schreibstil angeeignet hatten, auch jetzt noch im biblischen Stil schrieben und damit uns als Leser dazu herausfordern, unser Leben zu ändern, wie beispielsweise Dostojewski. Der Russe übernahm in seinen Romanen von der Genesis die radikale Umkehr der menschlichen Urteilsgewohnheiten und gestaltete seine Charaktere gemäß des göttlichen „dennoch“ und nicht des göttlichen „deshalb“.

Barth veröffentlichte später seine Leutwiler Ansprache unter dem Titel „Die neue Welt in der Bibel.“5 In einer Zeit und Kultur, in der die Bibel von Generationen von Totengräber-Theologen einbalsamiert und begraben worden war, bestand er leidenschaftlich und unnachgiebig darauf: „Das Mädchen ist nicht tot, es schläft nur“; nahm sie bei der Hand und sagte „Steh auf“. Über die nächsten fünfzig Jahre offenbarte Barth die unglaubliche Lebenskraft und Energie, die aus den Sätzen und Geschichten der Bibel strömt und er zeigte uns, wie man sie liest.

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Barth besteht darauf, dass wir dieses Buch und die von ihm geprägten nachfolgenden Schriften nicht lesen, um herauszufinden, wie wir Gott in unser Leben bekommen und um ihn dazu zu bringen, Teil unseres Lebens zu sein. Nein. Wir schlagen dieses Buch auf und stellen fest, dass es uns auf jeder Seite überrumpelt und überrascht und uns in seine Realität hineinnimmt, uns hinzieht zur Gemeinschaft mit Gott, zu seinen Bedingungen.

Er hat dies mit einem berühmten Bild verdeutlicht. Ich benutze den Kern seiner Anekdote und gestalte ihn mit meinen eigenen Details und mit der Hilfe von Walker Percy6 aus. Stellen Sie sich eine Gruppe von Männern und Frauen in einem großen Lagerhaus vor. Alle wurden in diesem Lagerhaus geboren, sind darin aufgewachsen und alles, was sie zum Leben benötigen, finden sie dort. Dieses Gebäude hat zwar keine Ausgänge, dafür aber Fenster. Doch die Fenster sind dick mit Staub überzogen, sie werden nie gereinigt und darum macht sich niemand die Mühe hinauszusehen. Wieso auch? Sie kennen nur das Lagerhaus, und dort gibt es alles, was sie brauchen. Doch eines Tages zieht ein Kind eine Trittleiter zu einem der Fenster, kratzt den Dreck weg und schaut hinaus. Es sieht Menschen auf der Straße gehen. Es ruft seine Freunde herbei. Sie drängeln sich um das Fenster – sie hatten ja keine Ahnung, dass es außerhalb dieses Lagerhauses eine ganze Welt gibt. Und dann sehen sie auf der Straße jemanden, der nach oben schaut und hinaufzeigt. Bald hat sich eine kleine Gruppe gebildet, die hinaufschaut und aufgeregt durcheinanderredet. Die Kinder schauen nach oben, doch alles, was sie sehen, ist das Dach ihres Lagerhauses. Schließlich wird es ihnen langweilig, diesen verrückten Leuten auf der Straße zuzusehen, die ständig nach oben ins Leere zeigen und darüber ganz aufgeregt werden. Weshalb sollte man ohne Grund stehen bleiben, ins Leere deuten und sich wegen nichts verrückt machen?

Die Leute auf der Straße hatten allerdings ein Flugzeug (oder Wildgänse oder einen riesigen Berg Kumuluswolken) gesehen. Die Leute auf der Straße sehen nach oben und sehen den Himmel und alles, was dort unterwegs ist. Die Lagerhaus-Menschen haben keinen Himmel über sich, nur ein Dach.

Was würde allerdings passieren, wenn plötzlich eines der Kinder eine Tür in die Wand des Lagerhauses bricht, seine Freunde dazu überredet mitzukommen und die Gruppe draußen den riesigen Himmel über ihren Köpfen entdeckt, den großartigen Horizont in der Ferne? Genau das passiert, wenn wir die Bibel öffnen, meint Barth. Wir betreten die völlig unbekannte Welt Gottes, eine Welt voller Schöpfungskraft und Erlösung, die sich über und neben uns endlos ausbreitet. Das Leben im Lagerhaus hat uns darauf nicht vorbereitet.

Die Erwachsenen im Lagerhaus spotten über die Geschichten, die die Kinder von draußen mitbringen. Schließlich haben sie die Kontrolle über das Leben im Lagerhaus, nicht über die Welt da draußen. Und sie wollen, dass es so bleibt.

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Paulus war für Barth dieses kleine Kind, das als erstes den Schmutz von der Scheibe kratzte, eine Tür aufbrach und ihn dazu überredete, mit nach draußen zu kommen, in die große „fremdartige“ Welt, von der uns die biblischen Schreiber Zeugnis geben. Unter Anleitung dieser Schreiber, zuerst war es nur Paulus, doch bald schon die ganze Fakultät des Heiligen Geistes, wurde Barth zu einem christlichen Leser. Er las Worte, um sich vom Wort formen zu lassen. Erst dann wurde er ein christlicher Schriftsteller. Barth veröffentlichte seine Darstellung der Ereignisse später in „Das Wort Gottes und die Theologie“. Der Romanautor John Updike sagte über dieses Buch, es habe ihm „so etwas wie eine Philosophie, auf deren Grundlage ich leben und arbeiten konnte“ gegeben, „und insofern [hat es] mein Leben verändert“. Bei der Überreichung der Campion Medaille im Jahr 1997 gab Updike den christlichen Glauben, wie ihn Barth in seiner Wiederentdeckung der Bibel offenbarte, als Grund dafür an, dass er als Schriftsteller erkannt hatte: „… dass die Wahrheit heilig ist und das Verkünden der Wahrheit eine edle und nützliche Tätigkeit, dass die Wirklichkeit um uns herum geschaffen und würdig ist, gefeiert zu werden, dass Männer und Frauen radikal unvollkommen und radikal wertvoll sind.“7

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Die ersten Metaphern über das Schreiben und Lesen, die wirklich mein Interesse weckten, kamen von Kafka: „Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? … Ein Buch muss wie die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“8 Zu dieser Zeit war ich Pastor und setzte mich deshalb beruflich damit auseinander, Menschen zum Bibellesen zu motivieren. Es erschreckte mich, dass sie die Bibel nicht anders lasen als den Sportteil oder einen Comic oder die Kleinanzeigen. Ich wollte die Menschen aufwecken und sie verändern. Ich wollte, dass sie die Bibel als einen Faustschlag sahen, einen Eispickel. Im Rückblick muss ich eingestehen, dass meine Strategie in erster Linie darin bestand, manchmal etwas lauter zu werden. Ich erkannte nicht, wie gewalttätig diese Metaphern waren. Ich wollte einfach etwas anstoßen. Doch dann brachte mich eine Frage von Wendell Berry zum Stutzen: „Bist du endlich fertig damit, alle umzubringen, die keinen Frieden wollten?“9 Mir wurde klar, dass die Gewalt, die diese Metaphern unterstellten, nicht wirklich meinem Vorhaben dienlich waren, nämlich Christen anzuleiten, die Heilige Schrift als Nahrung für ihre Seelen wahrzunehmen. Zwangsernährung ist vermutlich nicht der beste Weg, um die Einzigartigkeit des Bibellesens, des geistlichen Lesens, zu vermitteln.

Schließlich stellte ich fest, dass das eindringlichste biblische Bild für das Lesen das von Johannes ist, der ein Buch isst:

Dann ging zu dem Engel und bat ihn um das kleine Buch. Er antwortete mir: „Nimm das Büchlein, und iss es auf! Es schmeckt süß wie Honig, aber du wirst Magenschmerzen davon bekommen.“ So nahm ich das kleine Buch aus seiner Hand und aß es. Es schmeckte wirklich süß wie Honig; aber dann lag es mir schwer im Magen (Offb 10,9–10).

Vor ihm hatten schon Jeremia und Hesekiel Bücher gegessen – scheinbar gute Nahrung für all jene, denen es wichtig ist, einen Text richtig zu verstehen.

Damit erregt man allemal so viel Aufsehen wie mit Kafka, doch als Bild ist es weitaus besser. Johannes, dieser endlos faszinierende frühkirchliche Apostel, Pastor und Schriftsteller, geht zu dem Engel und sagt: „Gib mir das Buch.“ Der Engel gibt es ihm: „Da hast du es. Iss es auf, iss das Buch auf.“ Johannes tut es. Er isst das Buch – er liest es nicht nur – es gelangte in seine Nervenzellen, seine Reflexe, seine Einbildungskraft. Er hatte die Heilige Schrift gegessen. Das Buch wurde Teil seiner Anbetung und seiner Gebete, seiner Vorstellungen und seines Schreibens. Das Buch, das er gegessen hatte, wurde zu dem Buch, das er verfasste, das erste große Gedicht in der christlichen Tradition und das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung.

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Austin Farrer, Dozent an der Universität Oxford, sprach in einer seiner Bampton-Vorlesungen von der „unerhörten Gewohnheit des geistlichen Lesens“,10 mit der gewöhnliche Menschen schon immer an diesen Seelen-verändernden Text herangegangen waren. Unerhört deshalb, weil wir unser ganzes Leben in den Leseprozess einbringen und nicht nur die Synapsen unseres Gehirns. Unerhört deshalb, weil wir so erfindungsreich sind, wenn es darum geht, das Risiko des Glaubens an Gott zu umgehen. Unerhört deshalb, weil wir unser „spirituelles“ Halbwissen unermüdlich dazu einsetzen, uns selbst zu Gott zu machen. Unerhört deshalb, weil wir zwar gelernt haben, die Wörter auf den Seiten zu lesen und zu verstehen, doch erkennen müssen, dass wir trotzdem noch ganz am Anfang stehen. Unerhört deshalb, weil wir als ganzer Mensch gefordert sind, mit unseren Muskeln und Bändern, unseren Augen und Ohren, unserem Gehorsam und unserer Anbetung, unserer Einbildungskraft und unserem Gebet. Unsere Vorfahren stellten diese „unerhörte Gewohnheit“ (sie nannten es Lectio Divina)11 in das Zentrum des Lehrplans der Schule des Heiligen Geistes, der anspruchsvollsten aller Schulen. Jesus gründete sie, als er zu seinen Jüngern sagte: „Wenn aber der Geist der Wahrheit kommt, hilft er euch dabei, die Wahrheit vollständig zu erfassen … alles, was er euch zeigt, kommt von mir“ (Joh 16,13–15; auch 14,16; 15,26; 16,7–8). Alles, was gemäß dieses Lehrplans verfasst wurde und wird, setzt folgende Art zu lesen voraus: teilhabendes Lesen, bei dem wir die Worte aufnehmen, sodass sie Teil unseres Lebens werden, bei dem die Rhythmen und Bilder zu unseren Gebeten werden, zu gehorsamem Handeln, gelebter Liebe.

Worte, die mit dem Bild des Essens zu uns gesprochen oder geschrieben werden, Worte, die wir unbelastet zu uns nehmen, schmecken, kauen, genießen, schlucken und verdauen, haben eine andere Wirkung auf uns als Worte, die von außen auf uns einwirken, sei es in Form von Propaganda oder Information. Propaganda zwingt uns die Meinung anderer auf, manipuliert uns zu einer Handlung oder einem Glauben. Insoweit wir das zulassen, werden wir kleiner, werden wir zur Puppe eines sprechenden und schreibenden Puppenspielers. Eine Puppe hat weder eine Würde noch eine Seele. Information macht Worte zu Waren, die wir ganz nach Wunsch verwenden können. Die Worte werden ihrem moralischen Ursprung und dem Bereich der persönlichen Beziehungen entzogen und werden zu Werkzeugen oder Waffen. Eine derartige Nutzbarmachung der Sprache macht sowohl Sprecher als auch Zuhörer zu Waren.

Lesen zu können ist ein großes Geschenk, wenn die Worte einen Platz in unserer Seele finden – wenn sie gegessen werden, an ihnen genagt wird, sie geruhsam und freudig aufgenommen werden. Die Worte von lang verstorbenen oder durch Entfernung und/oder Jahre von uns getrennten Männern und Frauen erheben sich von den Seiten und kommen frisch und geradewegs in unser Leben und vermitteln Wahrheit, Schönheit und Güte; Worte, die Gottes Geist dazu verwendet, um unseren Seelen frisches Leben einzuhauchen. Unser Zugang zur Wirklichkeit vertieft sich über Jahrhunderte und Kontinente hinweg. Allerdings birgt solches Lesen auch subtile Gefahren. Leidenschaftliche Worte, die Männer oder Frauen mit großer Begeisterung gesprochen haben, sterben, sobald sie zu Papier gebracht werden, einen langsamen Tod und werden von lieblosen Augen zerlegt. Ungebändigte Worte, entstanden aus entsetzlichem Leiden, können als Museumsstück enden, gehäutet und ausgestopft, aufgehängt und beschriftet. Jedes Lesen birgt die Gefahr, dass Worte zu Propaganda verdreht oder auf Information reduziert werden und nur mehr Werkzeuge und Daten sind. Wir bringen die lebendige Stimme zum Schweigen und reduzieren Worte auf das, was angenehm und gewinnbringend ist. Ein Psalmist spottet über seine Zeitgenossen, die den lebendigen, sprechenden und hörenden Gott auf einen goldenen oder silbernen Waren-Gott reduzierten, der ihnen zu Nutzen war:

Die solche Götzen machen, sind ihnen gleich, alle, die auf sie hoffen! (Ps 115,8)

Diese Warnung gilt auch für uns heute, wenn wir täglich mit der unglaublichen Explosion der Informationstechnologien und Werbetechniken konfrontiert werden. Wir müssen diese Worte retten.

1A. Negoită, „image hāgāh, 3. Meditation im A.T.“, in: G. Johannes Botterweck/Helmer Ringgren (Hrsg.): Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Bd. II, W. Kohlhammer, Stuttgart 1977, Sp. 345.

2Baron Friedrich von Hügel, Selected Letters, E. P. Dutton, New York 1927, S. 229.

3Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Reclam, Stuttgart 1997 (Erstauflage 1910).

4„Die letzten Tage…“: So das gleichnamige Werk von Karl Kraus. Zitat: Steiner, George: Grammatik der Schöpfung, Hanser, München/Wien 2001, S. 276 (Originalausgabe: Steiner, George: Grammars of Creation, Yale University Press, New Haven 2001, S. 222).

5In: Barth, Karl: Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, Chr. Kaiser Verlag, München 1925.

6Siehe: Walker Percy, The Message in the Bottle, Farrar, Straus and Giroux, New York 1975, S. 119–149.

7In: Updike, John: Updike und ich. Essays, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 536 u. 553 (Originalausgabe: John Updike, More Matter, Alfred A. Knopf, New York 1999, S. 843, 851).

8Franz Kafka an Oskar Pollak, 27. Januar 1904, in: Kafka, Franz: Briefe 1902 – 1924, S. Fischer, 1998, S. 27f.

9Berry, Wendell: Collected Poems 1957 – 1982, North Point, San Francisco 1985, S. 121.

10Austin Farrer, The Glass of Vision, Dacre, Westminster 1948, S. 36.

11Worum es bei diesem „Unerhörten“ tatsächlich geht, wird in Teil II, Lectio Divina genauer erläutert.

I

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„Ich selbst bin das Brot, das euch dieses Leben gibt! Eure Vorfahren haben in der Wüste das Manna, das Brot vom Himmel, gegessen und sind doch alle gestorben. Aber hier ist das wahre Brot, das vom Himmel kommt. Wer davon isst, wird nicht sterben.“

JOHANNES 6,48–50

„Viel zu wissen und nichts zu schmecken – wozu soll das gut sein?“

BONAVENTURA

KAPITEL 2

Die Heilige Gemeinschaft am Tisch
mit der Heiligen Schrift

Der biblische Text ist die Grundlage für das geistliche Leben eines Christen. Dieses geistliche Leben ist vollkommen im biblischen Text verwurzelt und durch ihn geprägt. Wir schaffen uns nicht unser persönliches geistliches Leben aus einer zufälligen Ansammlung von Lieblingstexten, kombiniert mit unseren persönlichen Lebensumständen. Wir werden vom Heiligen Geist in Übereinstimmung mit dem Text der Heiligen Schrift geformt. Gott beauftragt uns nicht damit, unsere eigene persönliche Spiritualität zu schaffen. Wir wachsen in Übereinstimmung mit dem offenbarten Wort, das uns durch den Geist eingepflanzt wird.

Die einzigartige Position der Heiligen Schrift als der prägende Text für Christen wurde immer wieder in Frage gestellt. Durch alle Jahrhunderte hindurch haben Menschen sich für andere Wege entschieden, auf denen sie sich Richtung und Führung für ihr Leben als Christ erhofften. Doch die Kirchengemeinschaft hat diese Wege immer wieder abgelehnt und hält an der Bibel fest, der Bibel als verbindliche Grundlage.

Beispielsweise lehnen wir es ab, wenn Menschen sich in schwärmerische Ekstasen hineinsteigern, um dadurch Verbindung zu Gott aufzunehmen. Extreme Gefühlszustände sind sehr anziehend, besonders für Heranwachsende. Sie bieten eine aufregende Unmittelbarkeit. Es fühlt sich so, na ja, so authentisch, so lebendig an. Dieser Seelenzustand läuft mittlerweile unter den Sammelbegriff „Enthusiasmus“ und hat schon viele erfasst, sie auf Irrwege der Selbsterfüllung und in ausweglose Abhängigkeit geführt. Unsere klügsten Gelehrten warnen uns nach wie vor vor ihnen.12 Wir sagen „Nein“ zu moralischen Herkulestaten, mit denen wir unser göttliches Potenzial abrufen und zur Schau stellen. Heldenhafte Herausforderungen, besonders der moralischen Art, pumpen Adrenalin in unseren Blutkreislauf und befreien uns vom alltäglichen Klein-Klein, das uns im Sumpf des Gewöhnlichen gefangen hält. Wir sagen „Nein“ dazu, sich in eine Berghöhle zurückzuziehen und sich von allen Gedanken, Gefühlen und Wünschen zu befreien, bis nichts mehr übrig ist, was uns den direkten Zugang zur Wirklichkeit verstellt. Das hat so etwas Reines, Einfaches, Ordentliches. Der Zen Koan ersetzt den biblischen Text.

Allerdings ist der beliebteste „Text“ in Amerika im Augenblick der des unabhängigen Ich. Vor Kurzem erzählte mir ein Freund von einem Bekannten, der sein Leben lang die Bibel gelesen hatte und eines Tages feststellte, dass sein Leben sich nicht so entwickelte, wie es ihm die Bibel seiner Ansicht nach vorausgesagt hatte. Er entschloss sich dann sofort dazu, „seinem Leben die Autorität zu übergeben und nicht der Bibel.“ Der Großteil unserer Kultur, sowohl der säkulare als auch der religiöse Teil, unterstützt die Entscheidung dieses Mannes. Es ist charakteristisch für die aufkeimende, vielfältige Spiritualität von heute, das souveräne Ich als Lebenstext zu etablieren. Die Ergebnisse machen allerdings wenig Mut: Das plötzlich so große Interesse an spirituellen Dingen zu Beginn dieses Jahrtausends scheint kein größeres Engagement für Gerechtigkeit und treue Liebe zu produzieren, was ja zwei der sichtbareren Begleiterscheinungen eines guten, geheiligten Christenlebens sind. Tatsächlich sind wir an einem Punkt angekommen, wo „Spiritualität“ eher das Bild eines Möchtegern-Gurus für Transzendenz heraufbeschwört als das von einem Leben in Strenge, großer Freude, Güte und Gerechtigkeit – was genau die Art von Leben ist, mit dem der Begriff ursprünglich verknüpft war.

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