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Herfried Münkler

Imperien

Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Was ist ein Imperium?

Eine knappe Merkmalsbeschreibung der Imperien

Weltreiche und Großreiche

Imperialer Interventionszwang, Neutralitätsoptionen und der Melier-Dialog bei Thukydides

2. Imperium, Imperialismus und Hegemonie: eine notwendige Differenzierung

Die selbstzerstörerische Dynamik des Kapitalismus: die ökonomischen Imperialismustheorien

Das Zentrum-Peripherie-Problem

Prestigestreben und Mächtekonkurrenz: die politischen Imperialismustheorien

Expansionszwänge, Randlagenvorteile und Zeitsouveränität

Die heikle Unterscheidung zwischen Hegemonie und Imperium

3. Steppenimperien, Seereiche und globale Ökonomien: eine kleine Typologie imperialer Herrschaft

Imperienbildung durch militärische und kommerzielle Mehrproduktabschöpfung

Die (mindestens) zwei Seiten von Imperien

Imperiale Zyklen und augusteische Schwellen

4. Zivilisierung und Barbarengrenze: Merkmale und Aufgaben imperialer Ordnung

Der Frieden als Rechtfertigung imperialer Herrschaft

Imperiale Mission und Sakralität des Reiches

Der Barbarendiskurs und die Konstruktion des imperialen Raumes

Prosperität als Rechtfertigung und Programm imperialer Herrschaft

5. Das Scheitern der Imperien an der Macht der Schwachen

Formen imperialer Überdehnung

Politische Mobilisierung und militärische Asymmetrierung: die Strategien antiimperialer Akteure

Kulturelle Identitätskämpfe und Terrorismus als Strategie des Verwüstungskrieges

6. Die überraschende Wiederkehr des Imperiums im postimperialen Zeitalter

Die Diagnose vom Ende des imperialen Zeitalters und das Problem postimperialer Räume

Die USA: das neue Imperium

Ein demokratisches Imperium?

Die imperiale Herausforderung Europas

Karten

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Danksagung

VORWORT

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich in der deutschen Wissenschaft für Theorie und Geschichte der Imperien niemand mehr besonders interessiert. Erst der Zusammenbruch der Sowjetunion hat ein kurzzeitiges Interesse daran aufleben lassen, getragen freilich von der erleichterten Feststellung, dass die Geschichte der Imperien, die bis in die Zeit der frühen Hochkulturen zurückreicht, nunmehr definitiv zu Ende sei. Das hat sich in den letzten Jahren, als die neue weltpolitische Rolle der USA sichtbar wurde, schlagartig geändert. Mit einem Mal war vom amerikanischen Imperium die Rede, und seitdem weist die Kritik am weltpolitischen Agieren der USA starke antiimperiale Züge auf. Zwar ist den USA schon häufig Imperialismus vorgeworfen worden – während des Vietnamkriegs etwa, anlässlich von Militärinterventionen in Lateinamerika oder am Persischen Golf. Doch solche Vorwürfe richteten sich gegen bestimmte Entscheidungen und Handlungen der amerikanischen Regierung; die antiimperiale Grunddisposition richtet sich gegen das Übergewicht und die Dominanzansprüche der USA als solche. Das ist entschieden mehr.

Ist die Weltgemeinschaft zu ihrer eigenen Sicherheit auf eine imperiale Vormacht angewiesen? Oder stellt diese imperiale Vormacht eine gravierende Störung der Weltordnung dar, und es wäre besser, wenn es sie nicht gäbe? Um diese Frage kreist im Prinzip die Debatte, wie sie im Vorfeld des jüngsten Golfkrieges geführt worden ist. Tatsächlich hat die in der UNO versammelte Weltgemeinschaft in den vergangenen Jahren immer wieder auf die Fähigkeiten der imperialen Vormacht zurückgegriffen. Dass diese Inanspruchnahme nicht selbstlos war und die USA dafür Sonderrechte forderten, hat man nicht wahrhaben wollen. Die daraus erwachsenen Irritationen waren auch eine Folge davon, dass man Funktionen und Ansprüche eines Imperiums schon lange nicht mehr durchdacht hatte.

Imperien sind mehr als große Staaten; sie bewegen sich in einer ihnen eigenen Welt. Staaten sind in eine Ordnung eingebunden, die sie gemeinsam mit anderen Staaten geschaffen haben und über die sie daher nicht allein verfügen. Imperien dagegen verstehen sich als Schöpfer und Garanten einer Ordnung, die letztlich von ihnen abhängt und die sie gegen den Einbruch des Chaos, der für sie eine stete Bedrohung darstellt, verteidigen müssen. Der Blick in die Geschichte nicht nur der USA, sondern auch anderer Imperien zeigt, dass sprachliche Wendungen wie die von der «Achse des Bösen» oder den «Vorposten der Tyrannei» nichts Neues und Besonderes sind. Vielmehr durchziehen sie die Geschichte der Imperien wie ein roter Faden.

Das Pendant der Furcht vor dem Einbruch des Chaos und der selbst gewählten Rolle eines Verteidigers der Ordnung gegen die Unordnung, des Guten gegen das Böse, in der sich das Imperium sieht und durch die es sich legitimiert, ist die imperiale Mission, die ebenfalls eine grundlegende Rechtfertigung der Weltreichsbildung darstellt: Entweder soll die Zivilisation verbreitet werden, oder es geht um die weltweite Durchsetzung der sozialistischen Gesellschaftsordnung, den Schutz der Menschenrechte oder die Förderung der Demokratie. Während Staaten an den Grenzen anderer Staaten Halt machen und es ihnen selbst überlassen, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln, mischen sich Imperien in die Verhältnisse anderer ein, um ihrer Mission gerecht zu werden. Deshalb können Imperien auch sehr viel stärkere Veränderungsprozesse in Gang setzen, während die Ordnung der Staaten durch einen strukturellen Konservatismus geprägt ist.

Betrachtet man die Dinge unter dieser Perspektive, so steht keineswegs fest, was unter dem Einfluss der Imperialismustheorien zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist: dass eine globale Ordnung gleichberechtigter Staaten ohne imperialen Akteur das Wünschens- und Erstrebenswerte ist. Die politische Ordnung des europäischen Raumes hat sich nach dem Untergang des Römischen Reiches so entwickelt, dass es keine dauerhafte und handlungsmächtige imperiale Macht mehr gegeben hat, wohl aber eine Fülle von Prätendenten auf diese Rolle, die jedoch alle frühzeitig gescheitert sind. Das ist – abgesehen davon, dass die Europäer in anderen Kontinenten sehr wohl Großreiche gebildet haben – andernorts nicht so gewesen. Vor allem in Asien setzte sich eine politische Ordnung durch, in der Imperien sich mit einem Kranz von Klientelstaaten umgeben haben. Infolgedessen ist die Ordnung dieser Räume stark zentriert worden, während in Europa ein vielfältiger Polyzentrismus entstand.

Unser Bild von Imperien ist durch die Vorstellung geprägt, dass die Peripherie von ihnen ausgesaugt und ausgebeutet werde: Sie verarme, und das Zentrum werde immer reicher. Tatsächlich hat es solche Imperien stets gegeben, aber sie waren nur von kurzer Dauer. Nach einiger Zeit nahm der Widerstand gegen das Zentrum überhand, und die Beherrschungskosten überstiegen die aus der Peripherie gezogenen Gewinne. Dagegen hatten diejenigen Imperien eine längere Dauer, die in ihre Randbereiche investierten und so dafür sorgten, dass die Peripherie schließlich am Fortbestand des Imperiums ebenso interessiert war wie das Zentrum.

Darum also geht es in diesem Buch: um die Typen imperialer Herrschaft, die Formen von Expansion und Konsolidierung und um die Medien, in denen sich die Imperiumsbildung vollzogen hat. Aber das Erkenntnisinteresse beschränkt sich nicht auf die Unterscheidung von See- und Landimperien, Handels- und Militärimperien, imperialen Ordnungen, die sich über die Kontrolle von Räumen entwickeln, und solchen, die im Wesentlichen in der Kontrolle von Strömen (Menschen, Waren, Kapital) bestehen, sondern zielt darüber hinaus auf die Rationalität der Akteure, eben auf die Logik der Weltherrschaft. Es geht auch darum, Prognosen über die Dauer und Stabilität des amerikanischen Imperiums zu machen und Überlegungen zu der Frage anzustellen, wie ein Europa beschaffen sein muss, das sich einerseits als selbständige politische Kraft neben den USA zu behaupten vermag und andererseits in der Lage ist, seine instabilen und hereinstürzenden Ränder zu befestigen und positiv auf seine Nachbarn einzuwirken. Ein solches Europa wird nicht umhin kommen, selbst imperiale Merkmale zu übernehmen und imperiale Fähigkeiten zu entwickeln – und wenn man genau hinsieht, hat es damit bereits begonnen. Die Voraussetzung dafür ist freilich, dass imperiales Agieren nicht von vornherein als schlecht und verwerflich wahrgenommen, sondern als eine Form von Problembearbeitung neben der des Staates und anderer Organisationsformen des Politischen angesehen wird.

Das ist nicht zu verwechseln mit einer Rehabilitierung der alten Kolonialimperien. Sich aus einem solchen Kolonialimperium in einem Unabhängigkeitskrieg hinausgekämpft zu haben ist der Gründungsmythos der USA; eine solche Form der Beherrschung außereuropäischer Räume einmal ausgeübt und dann hinter sich gelassen zu haben ist das Selbstverständnis der Europäer. Aber dass das auf Gleichheit und Reziprozität angelegte Staatenmodell in den nächsten Jahrzehnten in der Lage sein wird, die erkennbaren Herausforderungen zu bestehen, wird man eher bezweifeln dürfen. Staatsversagen, insbesondere Staatenzerfall, provoziert das Eingreifen oder die Entstehung von Imperien.

Dagegen werden viele einwenden, dass die Gegenüberstellung von Staat und Imperium keine erschöpfende Alternative sei – und ihre Wunschvorstellungen von guter politischer Ordnung aufzählen. Dabei werden sie sich immer weiter von dem entfernen, was der Fall ist. Der Blick auf die Geschichte zeigt, dass sich die Modelle politischer Ordnung letzten Endes doch zwischen Staat und Imperium erschöpft haben – wenn man denn beide Begriffe weit und großzügig versteht und nicht für jeden Spezialfall von Staatlichkeit und Imperialität einen eigenen Oberbegriff erfindet. Was der Imperiumsbegriff leistet, soll hier ausgelotet werden. Auf welchen Bahnen Imperien entstanden und wie sie zerfallen sind, soll dargestellt werden. Wissenschaftlich wird dabei ein Feld betreten, das lange brachgelegen hat.

Berlin, Februar 2005

1. WAS IST EIN IMPERIUM?

Die Debatten über den letzten Irakkrieg, die möglichen Hintergründe und verborgenen Ziele des erneuten militärischen Eingreifens der USA in der ölreichen Golfregion, überhaupt die Rolle der USA am Golf und in Zentralasien, dazu die tiefen Zerwürfnisse in den transatlantischen Beziehungen haben in Europa den Blick für die Entstehung einer neuen Weltordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts geschärft. Mit der notorischen Weigerung der USA, internationalen Vereinbarungen beizutreten, vom Kyoto-Protokoll bis zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, zeichnete sich eine Neudefinition der amerikanischen Position in der politischen Ordnung der Welt ab. Es kommt hinzu, dass die Beziehungen zwischen den USA und der UNO, die in den letzten Jahrzehnten nie ohne Probleme gewesen sind, grundsätzlich zur Disposition stehen, nachdem US-Präsident George W. Bush in einem denkwürdigen Auftritt vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 12. September 2002 damit gedroht hat, die USA würden einige der drängenden sicherheitspolitischen Probleme im Alleingang lösen, wenn die Weltorganisation sich dazu als unfähig erweise.

Dass dies keine leere Drohung war, hat sich im Frühjahr 2003 mit dem Dritten Golfkrieg gezeigt. Zwei Interpretationen des neuen Verhältnisses der USA zum UN-Sicherheitsrat waren möglich: Entweder die USA suchten ihn als amerikahörigen Legitimationsspender zu instrumentalisieren oder sie begannen damit, sich aus der notorischen Inanspruchnahme als militärischer Arm der Weltorganisation zu emanzipieren: Sie stellten ihren ebenso hoch entwickelten wie teuren Militärapparat nicht länger in den Dienst der Weltgemeinschaft, sondern setzten ihn gemäß eigener Interessen und Ziele ein. Die Konflikte im Vorfeld des Irakkriegs waren – auch – eine Kontroverse über die Frage, wer wen als Instrument benutzen konnte: die Vereinigten Staaten die Vereinten Nationen oder die Vereinten Nationen die Vereinigten Staaten.1

Die europäische Sicherheitsarchitektur, auf die man sich in Deutschland bis dahin verlassen hatte, schien ebenfalls brüchig geworden. Weitgehend unbemerkt hatte sich die Nato in den 1990er Jahren aus einem Bündnis auf konsultativer Grundlage in ein Instrument der USA zur Kontrolle Europas verwandelt. Und wo es sich für die amerikanische Politik als zu sperrig erwies, wurde es kurzerhand durch eine coalition of the willing ersetzt. Im Vergleich zu den Zeiten des Kalten Krieges ist die faktische Abhängigkeit der Europäer von den USA eher gewachsen als gesunken: Wer bei der Erfüllung der amerikanischen Vorgaben nicht mitmacht, muss mit politischem und wirtschaftlichem Druck rechnen oder wird mit höhnischen Bemerkungen überschüttet. Wer sich hingegen auf Seiten der Amerikaner engagieren will, kann das jederzeit tun – freilich zu amerikanischen Bedingungen und ohne Einfluss auf die politischen Grundentscheidungen, wie selbst Großbritannien, der Hauptverbündete der USA, ein ums andere Mal feststellen musste. Daran haben die Probleme, in die sich die USA im Irak verstrickt haben, im Prinzip nichts geändert. Die Ära wechselseitiger Konsultativverpflichtungen im Nordatlantischen Bündnis ist vorbei, und die Nato-Osterweiterung erweist sich im Nachhinein als ein Schritt, der den Einfluss der Verbündeten aus den Zeiten der Ost-West-Konfrontation deutlich gemindert hat.2

In dieser Situation mehrten sich die Appelle an die USA, sie sollten sich mit der Rolle eines wohlwollenden Hegemon begnügen, die sie bislang innegehabt hätten, und nicht die einer imperialen Macht anstreben. Um solchen Warnungen Nachdruck zu verleihen, wurde auf die unkontrollierbaren Risiken von Imperien, auf die Gefahr ihrer Überdehnung und schließlich auf den unvermeidlichen Zusammenbruch aller bisherigen Imperien hingewiesen. «Während in der Vergangenheit», so Michael Mann, ein in den USA lehrender Brite, «die Macht Amerikas hegemonial war, also in der Regel vom Ausland akzeptiert und häufig als legitim betrachtet wurde, kommt sie jetzt aus den Gewehrläufen. Das untergräbt die Hegemonie und den Anspruch, ein ‹wohlwollendes Empire› zu sein.»3 Wer versuche, die hegemoniale gegen eine imperiale Position auszutauschen, riskiere nicht bloß, mit diesem Projekt zu scheitern, sondern laufe Gefahr, auch die Hegemonie zu verlieren. Hegemonie und Imperium wurden in zahllosen Varianten gegeneinander ausgespielt, fast immer verbunden mit dem Hinweis, es sei besser, Hegemon zu bleiben als die imperiale Herrschaft anzustreben.

Mit einem Mal wurde die Debatte, die als eine über die Interessen und Absichten der USA in der Golfregion begonnen hatte, mit einer Fülle von historischen Argumenten und Vergleichen geführt, die allesamt dazu dienten, das irritierend Neue an der Politik der USA sowie den weltpolitischen Konstellationen durch Analogien mit früheren Entwicklungen ins Vertraute und Überschaubare zurückzuholen. Die Geschichte des Imperium Romanum wurde zur Folie, vor der die Chancen und Risiken der amerikanischen Politik beurteilt wurden; die Struktur des British Empire diente als Modell, an dem die imperialen Herausforderungen und die zu ihrer Bewältigung erforderlichen Fähigkeiten der USA gemessen wurden; und schließlich wurde der ein gutes Jahrzehnt zurückliegende Zusammenbruch der Sowjetunion als Beispiel für die Folgen imperialer Überdehnung bemüht, wie sie auch den USA drohe, wenn sie den eingeschlagenen Weg fortsetzten.4 Aber die historischen Verweise und Beispiele wurden eher assoziativ als systematisch bemüht, und fast durchweg sollten sie längst zuvor bezogene Positionen stützen. Sie dienten eher der historischen Illustration von Argumentationen als der empirisch gehaltvollen Vergewisserung dessen, was wir aus der Geschichte früherer Weltreichsbildungen lernen können.

Nun ist die Parallelisierung zwischen der amerikanischen und der römischen Geschichte schon darum nahe liegend, weil sich die USA von ihrer Gründung an auf die römische Republik berufen und sich selbst in deren Tradition gestellt haben.5 Es handelt sich hierbei also um die kritische Überprüfung einer Parallele, die im Selbstbewusstsein und Selbstverständnis der amerikanischen politischen Elite von jeher einen zentralen Platz eingenommen hat. Der Vergleich mit dem Britischen Weltreich wiederum liegt nahe, weil die USA überall dort, wo sich die Briten nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzogen, deren Nachfolge angetreten und die vormals britischen Positionen übernommen haben – dazu gehört nicht zuletzt der Mittlere Osten, der in jüngster Zeit einen Großteil der politischen Aufmerksamkeit und des militärischen Potenzials der USA gebunden hat. Der Vergleich mit der Sowjetunion schließlich ist schon deshalb unvermeidlich, weil die USA und die Sowjetunion über gut vier Jahrzehnte Konkurrenten um die weltpolitische Vorherrschaft gewesen sind, bis die Russen unter Gorbatschow – erschöpft von den Rüstungswettläufen und entkräftet durch die Kosten, die für die Aufrechterhaltung des Imperiums angefallen waren – aus dem Wettstreit ausgeschieden sind.6

Für eine fundierte Analyse der Chancen und Risiken des amerikanischen Empire ist die Vergleichsbasis dieser drei Weltreichsbildungen jedoch zu schmal. Das Reich der russischen Zaren, das Osmanische und das Chinesische Reich – die imperiale Macht mit der bei weitem längsten Dauer – sind auf jeden Fall in eine vergleichende Betrachtung mit einzubeziehen. Die mongolische Reichsbildung des 13. Jahrhunderts sollte in einer Untersuchung über imperiale Handlungslogiken und -imperative ebenfalls nicht übersehen werden. Sie zerfiel zwar rasch wieder, aber ihre territoriale Ausdehnung machte sie zu einer der größten der Geschichte: Mit einer Fläche von 25 Millionen Quadratkilometern wurde das Mongolische Weltreich nur von dem der Briten übertroffen, das auf seinem Höhepunkt 38 Millionen Quadratkilometer umfasste, allerdings auf fünf Kontinente verteilt, während sich das Mongolenreich als territorial geschlossene Einheit über fast ganz Eurasien erstreckte. Auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung reichte es vom Gelben Meer im Osten bis an die Ränder der Ostsee im Westen; lediglich Vorder- und Hinterindien sowie West-, Mittel- und Südeuropa blieben von der mongolischen Besetzung frei.7 Was die Antike anbetrifft, so sollten neben dem Römischen Reich auch die hellenistischen Großreiche im Osten ins Auge gefasst werden, und unter den seaborn empires ist außer dem britischen und dem spanischen Weltreich auch das portugiesische zu berücksichtigen, zumal es von den europäischen Kolonialreichen das erste war und als letztes von der politischen Landkarte verschwunden ist – seit dem 18. Jahrhundert freilich eher ein Protegé des Britischen Empire als eine eigenständige politische Macht.8

Diese Zusammenstellung zeigt ein grundsätzliches Problem vergleichender Untersuchungen zur Handlungslogik von Imperien: Zunächst muss die Frage beantwortet werden, was unter einem Imperium zu verstehen ist. Man könnte sie auch dahingehend zuspitzen, dass es um die Differenz zwischen Großreichen und Weltreichen geht. Womöglich ließe sich leichter eine Antwort darauf finden, wenn es in den vergangenen Jahrzehnten eine sozialwissenschaftlich ausgerichtete Imperiumsforschung gegeben hätte, die verlässliche Kriterien für Imperialität entwickelt hätte. Das ist jedoch nicht der Fall. Zwar sind eine unüberschaubare Fülle historiographischer Darstellungen zu einzelnen Imperien sowie bemerkenswerte komparative Arbeiten zum Imperialismus entstanden9, aber die Frage, was ein Imperium ist und worin es sich von der in Europa ausgebildeten politischen Ordnung des Territorialstaates unterscheidet, ist so gut wie unbearbeitet geblieben. Das erklärt auch, warum der Imperiumsbegriff in der jüngsten Debatte über die US-amerikanische Politik eine eher beliebige, häufig bloß denunziatorische Bedeutung angenommen hat. Die Politikwissenschaft hat ihn nicht definitorisch umrissen und exemplarisch ausgefüllt, sondern der Beliebigkeit des publizistischen Alltagsbetriebs überlassen.

Was in langfristig angelegter wissenschaftlicher Arbeit nicht geleistet wurde, kann nicht auf einmal nachgeholt werden. Solange allerdings nicht klar ist, was Imperien sind und was sie nicht sind, was sie leisten müssen und worin sie sich von anderen Ordnungsstrukturen des Politischen unterscheiden, ist es nicht möglich, aus der vergleichenden Betrachtung von Weltreichsbildungen einen nennenswerten Gewinn für die Analyse der neuen Weltordnung und die Rolle der USA in ihr zu ziehen. Die Handlungslogik von Imperien ist nur zu verstehen, wenn annähernd klar ist, wodurch sich ein Imperium auszeichnet.

Eine knappe Merkmalsbeschreibung der Imperien

Was ein Imperium ist, soll zunächst vorsichtig gegen das konturiert werden, was es wahrscheinlich nicht ist. Ein Imperium ist erstens zu unterscheiden von einem Staat, genauer: vom institutionellen Flächenstaat, der gänzlich anderen Imperativen und Handlungslogiken unterliegt als ein Imperium. Das beginnt bei der Art der Bevölkerungsintegration im Innern und reicht bis zur Konzeption dessen, was als Grenze angesehen wird. Die für Staaten typische Grenzziehung ist scharf und markant; sie bezeichnet den Übergang von einem Staat zu einem anderen. Solche präzisen Trennungslinien sind im Falle von Imperien die Ausnahme. Zwar verlieren sich die Grenzen eines Imperiums heute nicht mehr in der Weite eines Raumes, in dem Stämme und Nomadenvölker das eine Mal imperialen Vorgaben folgten und sich ihnen das andere Mal widersetzten, aber auch seit dem Verschwinden der herrschaftsfreien Räume, in die hinein sich die klassischen Imperien ausdehnen konnten, sind imperiale von staatlichen Grenzen deutlich unterschieden.

Imperiale Grenzen trennen keine gleichberechtigten politischen Einheiten, sondern stellen eher Abstufungen von Macht und Einfluss dar. Zudem sind sie – im Gegensatz zu staatlichen Grenzen – halbdurchlässig: Wer in den imperialen Raum will, muss anderen Bedingungen genügen als der, der ihn verlässt. Das hängt mit der wirtschaftlichen wie kulturellen Attraktivität von Imperien zusammen; es wollen mehr hinein als heraus, und das hat Konsequenzen für das Grenzregime. US-Amerikaner reisen und arbeiten in aller Welt. Wer jedoch nicht die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt, darf die USA nicht ohne weiteres betreten. Darin zeigt sich auch ein Statusunterschied: Die an Imperien grenzenden politischen Gemeinschaften haben nicht dieselbe Dignität wie das Imperium.

Der Halbdurchlässigkeit imperialer Grenzen entsprechen radikal verschiedene Interventionsbedingungen. So haben die USA seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts im mittelamerikanischen und karibischen Raum immer wieder in die Politik anderer Staaten eingegriffen, ohne damit rechnen zu müssen, dass diese ihrerseits auf US-amerikanischem Staatsgebiet intervenierten, weder wirtschaftlich noch politisch und schon gar nicht militärisch. Vor allem diese Asymmetrie unterscheidet imperiale von staatlichen Grenzen. Imperien kennen keine Nachbarn, die sie als Gleiche – und das heißt: als gleichberechtigt – anerkennen; bei Staaten hingegen ist das die Regel. Mit anderen Worten: Staaten gibt es stets im Plural, Imperien meist im Singular. Diese tatsächliche oder auch bloß behauptete Einzigartigkeit der Imperien bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Art ihrer inneren Integration: Während Staaten nicht zuletzt infolge der direkten Konkurrenz mit den Nachbarstaaten ihre Bevölkerung gleichermaßen integrieren – und das heißt vor allem: ihnen gleiche Rechte gewähren, ob sie nun im Kerngebiet des Staates oder in den Grenzregionen lebt –, ist dies bei Imperien nicht der Fall: Fast immer gibt es hier ein vom Zentrum zur Peripherie verlaufendes Integrationsgefälle, dem zumeist eine abnehmende Rechtsbindung und geringer werdende Möglichkeiten korrespondieren, die Politik des Zentrums mitzubestimmen. Im Fall der USA zeigt sich dies an all jenen Gebieten, die unter amerikanischem Einfluss stehen, aber nicht die Chance hatten, als Bundesstaat in die USA aufgenommen zu werden. Im karibischen Raum sind einige Beispiele dafür zu finden.

Imperiale Grenzen können alternativ zu denen von Staaten sein. Die europäischen Kolonialreiche waren innerhalb Europas durch Staatsgrenzen getrennt, während sie in Afrika und Asien imperiale Grenzen zu ihren Nachbarn – meist lockeren Herrschaftsverbünden – hatten. Beide Arten von Grenzen unterschieden sich deutlich voneinander, und durch sie war erkennbar, was jenseits ihrer begann: ein Staat oder ein Imperium. Imperiale können staatliche Grenzen aber auch überlagern und auf diese Weise verstärken: Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR verlief einst eine Staatsgrenze, die gleichzeitig die Außengrenze des Sowjetimperiums war; erst diese Bündelung hat ihr den eigentümlichen Charakter verliehen, mit dem sie in die Geschichte eingegangen ist. Seitdem die gesamte bewohnbare Erdoberfläche politisch in Gestalt von Staaten geordnet ist, gibt es nur noch ein komplementäres, kein alternatives Verhältnis mehr zwischen beiden Arten von Grenzen: Imperiale Strukturen überlagern die Ordnung der Staaten, aber sie stehen nicht mehr an deren Stelle. Das macht es mitunter so schwer, Imperien zu identifizieren. Wer Imperialität lediglich als Alternative zu Staatlichkeit denkt, wird zu dem Ergebnis kommen, dass es heute keine Imperien mehr gibt. Wer dagegen von einer Überlagerung der Staaten durch imperiale Strukturen ausgeht, wird auf Macht- und Einflussgefüge stoßen, die nicht mit der Ordnung der Staaten identisch sind. Dass sich imperiale Strukturen eher im informalen Bereich ausmachen lassen, ist auch eine Folge der eigentümlichen Grenzsituation von Imperien. Staatengrenzen stellen häufig eine Bündelung von politischen und wirtschaftlichen, sprachlichen und kulturellen Grenzen dar. Das verleiht ihnen ihre Stärke und macht sie zugleich hart und inflexibel. Imperiale Grenzen dagegen lassen sich als ein Geflecht beschreiben, in dem politische und wirtschaftliche Grenzziehungen voneinander getrennt sind, kulturelle Differenzen gestuft werden und sprachliche ohnehin irrelevant sind. Das nimmt Imperiumsgrenzen an Formalität und erhöht ihre Flexibilität.

Weiterhin ist das Imperium – zweitens – zu konturieren gegen die Dominanzstrukturen der Hegemonie, wobei jedoch hinzuzufügen ist, dass die Übergänge zwischen hegemonialer Vorherrschaft und imperialer Herrschaft fließend sind. Dennoch ist es sinnvoll, beide voneinander zu unterscheiden. Hegemonie ist danach Vorherrschaft innerhalb einer Gruppe formal gleichberechtigter politischer Akteure; Imperialität hingegen löst diese – zumindest formale – Gleichheit auf und reduziert die Unterlegenen auf den Status von Klientelstaaten oder Satelliten. Sie stehen in einer mehr oder weniger erkennbaren Abhängigkeit vom Zentrum.

In den zurückliegenden Jahrzehnten ist die Stellung der Sowjetunion im Warschauer Pakt und die der USA in der Nato durch die Kontrastierung von Imperium und Hegemonie beschrieben worden: Die Sowjetunion sei von Satellitenstaaten umgeben gewesen, deren Bewegungen vom Zentrum bestimmt wurden10, die Nato dagegen galt als ein System prinzipiell gleicher Alliierter, innerhalb dessen den USA als dem bei weitem größten und stärksten Partner eine herausgehobene Bedeutung zukam – etwa dadurch, dass sie grundsätzlich den Oberbefehlshaber der Streitkräfte stellten, während die anderen Mitgliedsstaaten den Posten des Generalsekretärs besetzen durften. In der Kontrastierung von Nato und Warschauer Pakt zeigt sich auch, dass die Unterscheidung zwischen Hegemonie und Imperium in der Ost-West-Konfrontation politisch-ideologisch aufgeladen wurde.

Eine andere, aufgrund der großen zeitlichen Distanz politisch eher unverfängliche Exemplifizierung des Unterschieds zwischen Hegemonie und Imperium ist die Verwandlung des Delisch-Attischen Seebundes in die athenische Thalassokratie. Danach handelte es sich bei dem ursprünglichen Seebund um ein gegen die persische Dominanz an der kleinasiatischen Westküste und im ägäischen Raum gerichtetes Bündnis, in dem alle Partner gleiche Rechte besaßen. Freilich leisteten sie von Anfang an sehr unterschiedliche Beiträge: Manche zahlten nur Geld, andere stellten einige Schiffe, aber das Hauptkontingent der Kriegsflotte kam stets aus Athen.11

Die faktische Ungleichheit der Beiträge und Fähigkeiten blieb nicht ohne Folgen für die innere Verfassung des Bundes, der sich zunehmend aus einer hegemonía in eine arché verwandelte: Aus der Vorherrschaft wurde Herrschaft.12 Athen stellte den Befehlshaber der Streitkräfte und den Schatzmeister des Bundes, es legte die Höhe der Beiträge fest, dominierte die Handelsgerichtsbarkeit und setzte durch, dass seine Gewichte und Maße im gesamten Bundesgebiet verbindlich waren. Obendrein unterhielt es Garnisonen in den Städten der Bündnispartner und erlangte so Einfluss auf deren innere Verhältnisse. Schließlich verlegte es die Bundeskasse von Delos nach Athen, ließ den Treueid nicht länger auf «Athen und seine Bündner», sondern auf «das Volk von Athen» ablegen und verlagerte die Entscheidung über Krieg und Frieden von der Bundesversammlung auf die athenische Volksversammlung. Aus dem Hegemon war ein Despot geworden, wie die Korinther erklärten, als sie den Lakedämonischen Bund zum Krieg gegen Athen aufstachelten.13

Es ist nahe liegend, die Neupositionierung der USA innerhalb «des Westens» vor dem Hintergrund der Verwandlung des Delisch-Attischen Seebundes in die athenische Thalassokratie zu beschreiben. Zwar war sie weder von der räumlichen Ausdehnung noch der zeitlichen Dauer her ein wirkliches Imperium, aber viele Elemente imperialer Politik sind bei ihr wie durch ein Brennglas zu beobachten – nicht zuletzt, weil diese Entwicklung von dem Historiker Thukydides Schule machend beschrieben worden ist. Deswegen wird nachfolgend immer wieder von der athenischen Seeherrschaft die Rede sein, auch wenn sie nur eingeschränkt unter dem Oberbegriff des Imperiums verbucht werden kann.

Schließlich ist das Imperium – drittens – gegen das zu konturieren, was seit dem 19. Jahrhundert als Imperialismus bezeichnet wird. Die Unterscheidung zwischen Imperiums- und Imperialismustheorien ermöglicht es zunächst, die normativ-wertende Perspektive so gut wie aller Imperialismustheorien zu verlassen und einen stärker deskriptiv-analytischen Blick auf die Handlungsimperative von Imperien zu werfen. Obendrein fassen der Imperialismusbegriff sowie die zugehörigen Theorien die Entstehung von Imperien grundsätzlich als einen vom Zentrum zur Peripherie hin verlaufenden Prozess, womit eine Einsinnigkeit der Entwicklungsrichtung unterstellt wird, die bei der Beobachtung realer Imperien eher hinderlich ist.

Imperialismus heißt, dass es einen Willen zum Imperium gibt; gleichgültig, ob er aus politischen oder ökonomischen Motiven gespeist wird – er ist die ausschlaggebende, wenn nicht die einzige Ursache der Weltreichsbildung. Dagegen steht das bekannte Bonmot des englischen Historikers John Robert Seeley, der 1883 erklärte, das Britische Empire sei «in a fit of absence of mind», einem Augenblick der Geistesabwesenheit, entstanden.14 Gerade in ihrer strategischen Einseitigkeit – Seeley wollte damit zu einer bewusst imperialistischen Politik aufrufen, da er befürchtete, das Britische Weltreich werde sonst zwischen den neuen Großmächten USA und Russland zerrieben – verweist diese Formulierung darauf, in welchem Maße die Imperialismustheorien die Zielstrebigkeit und Bewusstheit jener Akteure überzeichnen, die auf irgendeine Weise in die Entstehungsgeschichte von Imperien verwickelt waren. Eine grand strategy hat kaum einer Imperiumsbildung zugrunde gelegen. Die meisten Imperien verdankten ihre Existenz einem Gemisch von Zufällen und Einzelentscheidungen, die oftmals auch noch von Personen getroffen wurden, welche dafür politisch gar nicht legitimiert waren. So gesehen ist fast jedes von ihnen «in a fit of absence of mind» entstanden.

Der Blick aufs Zentrum, wie er in den Imperialismusvorstellungen dominiert, muss durch den Blick auf die Peripherie ergänzt werden – auf die dortigen Machtvakuen und wirtschaftlichen Dynamiken, die Interventionsbitten der in Regionalkonflikten Unterlegenen und die Entscheidungen der vor Ort Verantwortlichen. In der Formel vom «Imperium auf Einladung», die in jüngster Zeit für die Ausdehnung der amerikanischen Macht- und Einflusssphäre geprägt worden ist15, soll vor allem die Initialfunktion der Peripherie bei der Entstehung von Imperien zum Ausdruck kommen. Es gibt zweifellos eine imperiale Dynamik, die aus dem Zentrum zur Peripherie drängt und den eigenen Machtbereich immer weiter expandiert; daneben ist jedoch ein von der Peripherie ausgehender Sog zu bemerken, der ebenfalls zur Ausdehnung des Herrschaftsbereiches führt. Welche von beiden Wirkungen die stärkere ist, kann nur von Fall zu Fall entschieden werden. Während Imperialismustheorien voraussetzen, dass die Dynamik des Zentrums maßgeblich sei16, wird hier davon ausgegangen, dass die genauere Beobachtung der Peripherie nicht nur im Hinblick auf vergangene Imperien bedeutsam ist, sondern auch für die Analyse der US-Politik in den letzten Jahrzehnten.