Michael Hübner

Todesplan

 

Thriller

 

 

Copyright © 2016 by Michael Hübner

info@michaelhuebner.de

Vertreten durch:

Dr. Harry Olechnowitz
Autoren- & Verlagsagentur
Fritschestraße 68
10585 Berlin
E-Mail: olechnowitz@agentur-olechnowitz.de

www.michaelhuebner.de

 

Umschlagillustration

© Stillfx / Fotolia.com

© mrspopman / Fotolia.com

© Pakhnyushchyy / Fotolia.com

 

PROLOG

 

 

 

Er keuchte vor Angst, während er zwischen Bauklötzen und Spielzeugautos in der dunklen Staukammer saß, die hinter der Verkleidung der Dachschräge verborgen lag. Das Licht aus dem Kinderzimmer drang durch die Ritzen der Einstiegsluke und verlieh ihr eine unheilvolle Aura. Sonst konnte er nichts sehen, nicht einmal seine nackten Füße, auf deren Haut er noch immer die Kälte der Steinplatten im Flur spüren konnte. Er hatte nicht schlafen können – wie schon seit Wochen nicht mehr. Seit dem Tag, an dem das Monster ihn zum ersten Mal heimgesucht und sich in seinen Träumen verankert hatte. Immer wieder sorgte es dort dafür, dass er nachts aufschreckte und Angst vor der Dunkelheit hatte, die ihn umgab. Doch an diesem Abend waren es keine bösen Träume gewesen, die das verursacht hatten.

Es waren Schreie.

Die Schreie seiner Mutter.

Ein durchdringendes Kreischen, wie er es manchmal nebenan aus dem Zimmer seines Bruders vernahm, wenn der sich im Fernsehen einen dieser Filme ansah, in denen Menschen getötet wurden. Seine Panik verursachte einen Harndrang, den er gerade noch rechtzeitig hatte kontrollieren können. Irgendwann waren die Schreie verstummt, und er hatte sich getraut, das Licht anzuschalten und der Dunkelheit ihren Schrecken zu nehmen. Mit zitternden Beinen war er durch den Flur im Obergeschoss in das Zimmer seines Bruders gelaufen. Niklas, den alle nur Nick nannten und der sich gut mit Computern auskannte, vor denen er die meiste Zeit verbrachte. Er war sein erster Anlaufpunkt, wenn er Angst hatte.

Oft war er schutzsuchend in das Bett seines Bruders gekrochen, der schon erwachsen war, ihn aber immer noch verstehen konnte. Bei ihm fühlte er sich sicher und kam sich nicht wie ein ungezogenes Kind vor. Doch seit einiger Zeit hatte Niklas eine Freundin, mit der er eklige Küsse austauschte und die gelegentlich bei ihm übernachtete. Auch waren öfter Freunde mit ihren tragbaren Computern bei ihm, die manchmal bis spät in die Nacht blieben. Doch das war in Ordnung. Ihre Stimmen, die durch die Wand zu ihm drangen, hielten die Schatten in Schach.

Bis die Stimme des Monsters sich hinzugesellte.

An diesem Abend war sein Bruder nicht in seinem Zimmer gewesen. Dafür hatte er Schritte gehört, die sich ihm aus dem dunklen Erdgeschoss näherten. Die Schritte des Monsters, das aus dem Schatten ins Licht getreten war und die Treppe zu ihm emporstieg. Und bei dem Gedanken, dass er hier oben ganz alleine war, war ihm fast schwindelig vor Angst geworden. Also hatte er den einzigen Zufluchtsort gewählt, der ihm eingefallen war – die Kammer in der Dachschräge, in der er normalerweise sein überschüssiges Spielzeug verstaute und in die er sich sonst nur bei Tageslicht traute. Doch er überwand seine Angst, sah in der Dunkelheit zum ersten Mal ein sicheres Versteck.

Und nun saß er hier – in dieser Finsternis, die er so sehr fürchtete –, und seine zierliche Hand umklammerte den Hörer des Spielzeugtelefons, das Niklas ihm vor zwei Wochen zu seinem achten Geburtstag geschenkt hatte. Eigentlich war er schon zu alt für diese Art von Lernspielzeug, aber Niklas hatte ihm versprochen, es würde ihm die Angst vor der Dunkelheit nehmen, wenn er nicht da wäre, um ihn zu beschützen. Denn jedes Mal, wenn er den Hörer abnahm, erklang darin die Stimme seines Bruders, die er über das eingebaute Mikrofon aufgenommen hatte und die ihm versicherte, er müsse sich nicht fürchten, denn die Dunkelheit sei nur eine schützende Decke, die ihn unsichtbar für die Monster mache. Doch in diesem Moment wusste er, dass sein Bruder sich täuschte, denn in Wahrheit war die Dunkelheit das Tor zu einer Welt des Bösen, in der die Schatten lebendig wurden.

Und einer dieser Schatten baute sich vor der Luke auf.

Er wollte die Luft anhalten, um das Wimmern zu unterdrücken, das ihn hätte verraten können. Doch sein angespannter Körper verlangte nach Sauerstoff, als wäre er hundert Meter gelaufen. Dann öffnete sich die Luke – und er sah in das Gesicht, in dem sich all seine Albträume manifestierten. Urin durchnässte seine Schlafanzughose, als die Klauen des Monsters nach ihm griffen. Er schrie aus Leibeskräften in den Spielzeughörer, schrie den Namen seines Bruders, der ihm versprochen hatte, immer für ihn da zu sein. Er schrie so laut um Hilfe, dass seine Stimmbänder schmerzten.

Doch als die Klauen ihn zu fassen bekamen, war in dem Haus niemand mehr am Leben, der ihn hätte hören können.

 

 

 

 

Drei Jahre später


KAPITEL 1

 

 

 

Das Herbstlaub raschelte unter seinen Fußsohlen, als er durch den dunklen Wald lief. Sein nackter Körper war übersät mit Wunden, in denen das Benzin wie Säure brannte. Panisch schwenkte sein Blick nach hinten, wo das spärliche Licht des Mondes nur die Schatten der Bäume umriss. Einer dieser Schatten verfolgte ihn, trieb ihn in diese Richtung. Er konnte ihn nicht sehen, aber er wusste, dass er hinter ihm war. Der Schatten, der ihn in dieser Kiste gefangen gehalten und ihn gequält und mit Benzin übergossen hatte. Und nun trieb er ihn diesen Pfad entlang durch den Wald, um sich an seinen Qualen zu erfreuen.

Die Schmerzen nahm er kaum noch wahr. Sie waren der Todesangst gewichen, die ihm die nötige Kraft verlieh, um durch diesen Wald zu laufen – getrieben von der Hoffnung, dem Schatten zu entkommen. Doch insgeheim wusste er, dass diese Hoffnung aussichtslos war.

Aus einiger Entfernung nahm er ein Rauschen wahr. Wiederholt schwoll es an, um dann wieder abzuebben – wie Meereswellen in einer Brandung. Kurz darauf erkannte er durch das dunkle Dickicht hindurch die Lichter vorbeifahrender Autos.

Eine Landstraße!

Seine Lunge schmerzte, und die Dämpfe des Benzins auf der Haut und in den Haaren benebelten seine Sinne. Bildete er sich diese Straße etwa ein?

Nein, die Geräusche waren real, ebenso die Lichter. Er würde überleben!

Das dunkle Dickicht vor ihm lichtete sich, und er konnte die Fahrbahn bereits erkennen, als der Boden unter seinen Füßen glitschig wurde und er beinahe ausgerutscht wäre. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er einen roten Lichtpunkt wahr. Ein Zischen erklang, und für den Bruchteil einer Sekunde erhellten Funken die Nacht.

Dann stand der Boden um ihn herum in Flammen, als hätte sich das Tor zur Hölle aufgetan.

Sengende Hitze umgab ihn, die mit jedem Atemzug in ihn eindrang und seine Lunge verbrannte. Er schrie, während er wie automatisiert weiterlief, um dem Schmerz zu entkommen, der mit brachialer Gewalt über ihn hereinbrach. Die Flammen loderten, fraßen sich in seine Haut und vernichteten jegliche Hoffnung, bis nur noch der Wunsch nach Erlösung übrigblieb.

Das Kreischen blockierender Reifen erklang, als er brennend über die Fahrbahn taumelte. Dann erfassten ihn die heranrasenden Lichter, und er tauchte in ewige Dunkelheit ein.

 

Noch immer zuckte der Körper in den Flammen, als er unnatürlich verdreht auf dem Asphalt lag. Es dauerte einige Sekunden, bis der völlig verstörte Fahrer des Wagens ausstieg und auf den brennenden Mann zueilte. Doch er konnte nichts mehr für ihn tun – was der Schatten am Rande des Waldes mit stoischer Gelassenheit registrierte. Das Licht des schwenkbaren Kameradisplays erhellte die Konturen einer maskenhaften Fratze. Langsam vergrößerte sich der Bildausschnitt, zoomte auf das verkohlte Gesicht der Leiche, bis es den Bildschirm ausfüllte. Erst als weitere Wagen am Straßenrand hielten, deren Insassen mit ihren Handys die Polizei verständigten, stoppte der Schatten die Aufnahme, klappte das Display ein und verschmolz wieder mit den übrigen Schatten des Waldes.


KAPITEL 2

 

 

 

Oberkommissar Chris Bertram bahnte sich seinen Weg durch uniformierte Beamte und Techniker hindurch, bis zu der Stelle, die von Scheinwerfern taghell erleuchtet wurde. Dort traf er auf seinen Kollegen Roland Koch, der neben einem verkohlten Körper auf der Fahrbahn kniete. Seine dunkelbraunen Haare standen wirr von seinem Kopf ab, und um seinen Kinnbart hatte sich ein dunkler Schatten gelegt.

»Hallo Rokko«, begrüßte er ihn. »Wie ich sehe, haben sie dich direkt aus dem Bett geholt.«

Rokko – den niemand bei seinem richtigen Namen nannte – stand auf und wandte sich ihm zu. »Na ja«, meinte er müde und kaute wie immer auf einem Kaugummi herum, »wenn ein in Flammen stehender Mann von einem Auto überfahren wird, kann man das durchaus unter unnatürliche Todesursache verbuchen, was dann ja wohl in unsere Zuständigkeit fällt.« Er musterte Chris. Seine Haare waren frisiert und er roch nach Aftershave. »Immerhin hattest du noch Zeit für eine Rasur.«

»Rebecca ist seit ihrer Schwangerschaft nur noch im Frühdienst eingeteilt«, erläuterte Chris. »Da passt man sich dem Rhythmus an.«

»So ist das, wenn man mit einer Kollegin liiert ist«, meinte Rokko. »In welchem Monat ist sie jetzt?«

Chris streckte drei Finger seiner rechten Hand nach oben.

»Dann wird ihr schon bald ihre Uniform nicht mehr passen. Du solltest mal darüber nachdenken, eure Beziehung in trockene Tücher zu legen.« Rokko deutete auf den goldenen Ehering an seiner Hand. »Ein Kind sollte in geregelten Verhältnissen aufwachsen.«

»Vielleicht sollten wir erst einmal das hier regeln.«

Chris betrachtete den verdrehten Körper am Boden, durch dessen verkohlte Haut an manchen Stellen rohes Fleisch schimmerte. Es war knapp zwei Jahre her, dass er unweit dieser Stelle einen verbrannten Leichnam gesehen hatte. Damals hatten sie es mit der brutalsten Mordserie zu tun bekommen, die diese Region jemals heimgesucht hatte – was Chris ein ungutes Gefühl bescherte. Dieses Waldgebiet bei Koblenz schien prädestiniert zu sein, um sadistischen Mördern eine Bühne für ihre Taten bereitzustellen.

»Das Opfer kam von dort aus dem Wald gelaufen.« Rokko deutete auf den holprigen Pfad, der an der Fahrbahn endete. »Der Fahrer des Unfallwagens befand sich auf dem Weg zur Arbeit. Er hat ausgesagt, dass der Mann lichterloh in Flammen gestanden hat, als er auf die Fahrbahn gelaufen ist.«

»Demnach wurde ein Brandbeschleuniger verwendet.«

Rokko nickte. »Benzin. Jedenfalls riecht dort hinten im Wald alles danach.«

»Können wir Selbstmord ausschließen?«

»Definitiv.«

»Sagst du mir auch, weshalb du dieser Ansicht bist?«

»Das solltest du dir besser von Thielmann erklären lassen.« Rokko deutete auf einen Mann im mittleren Alter, mit Brille und lichtem Haaransatz. Er trug die für Mediziner übliche weiße Kleidung und unterhielt sich mit Uwe Meißner, dem Leiter der Spurensicherung. »Die Forensiker haben im Wald einiges gefunden, was wir uns ansehen sollten.«

Chris zögerte nicht und ging auf die beiden zu. »Guten Morgen zusammen.«

»Was soll an dem Morgen gut sein?«, erwiderte Johann Thielmann mürrisch. »Ich hatte die ganze Nacht Notdienst und noch nicht einmal die Zeit zum Essen. Immerhin hat mir das erspart, mein Frühstück auf den Asphalt zu kotzen.«

»Was kannst du über das Opfer sagen?«, überging Chris diesen Kommentar und kam zum Thema zurück.

»Der Mann ist definitiv tot.«

Chris rieb sich erschöpft den Nasensattel. »Es ist eindeutig zu früh für diese Art von Sarkasmus«, erwiderte er und richtete seinen Blick auf den Arzt, der durch seine forensische Zusatzausbildung bei Tötungsdelikten für ihren Dienstbezirk zuständig war. »Rokko sagte mir, du schließt Selbstmord aus.«

»Wenn das ein Selbstmord war, hänge ich freiwillig die Tagesschicht in der Intensiven dran.« Der Arzt atmete durch, als er Chris‘ eindringlichen Blick bemerkte. »Die Leiche ist unbekleidet, also keinerlei Ausweispapiere oder sonstige Hinweise auf die Identität des Opfers«, begann er mit seinem Bericht. »Obwohl die Hitzeeinwirkung nur von kurzer Dauer war, wurde ein beträchtlicher Teil der Epidermis durch die Flammen zerstört. Dennoch konnte ich Anzeichen von massiver Misshandlung erkennen.«

»Inwiefern?«

»Aufgrund des Zustandes der Leiche mag das absurd klingen, aber es sind deutliche Merkmale von punktuellen Verbrennungen vorhanden, die bis in die Subcutis, also die Unterhaut, vorgedrungen sind und ante mortem zugefügt wurden.«

»Im Klartext: Das Opfer wurde vor dem Tod gefoltert«, übersetzte Rokko.

Thielmann nickte zur Bestätigung. »Todesursache waren vermutlich massive innere Verletzungen, verursacht durch die Kollision mit dem Fahrzeug. Der Mann wäre aber ohnehin an den Verbrennungen gestorben. Da wäre jede Hilfe zu spät gekommen.« Thielmann griff nach seinem Koffer, der neben ihm auf dem Boden stand. »Alles Weitere muss die Rechtsmedizin klären. Meinen Bericht bekommt ihr, wenn ich ausgeschlafen habe.«

Chris verfolgte, wie Thielmann zu dem Ambulanzwagen ging. »Könnte sich das Opfer diese Verletzungen selbst zugefügt haben?«, fragte er in die restliche Runde und erntete argwöhnische Blicke. »Bitte entschuldigt meine Skepsis«, warf er sogleich hinterher, »aber findet ihr es nicht reichlich abwegig, jemanden auf diese Weise zu töten?«

»Was abwegige Tötungsrituale betrifft, dürfte uns nichts mehr überraschen können«, meinte Meißner und spielte damit auf die Mittelaltermorde an.

Chris gab sich geschlagen. »Na schön, dann zeig mir mal, was ihr da hinten gefunden habt.«

 

Sie hatten Overalls über ihre Kleidung gezogen und trugen Latexhandschuhe, als sie kurz darauf mit Stablampen ausgestattet dem schmalen Pfad durch den Wald folgten, bis sie nach einigen Metern zu einer weiteren, von Scheinwerfern erhellten Stelle kamen. Der Boden dort war auf einer Fläche von etwa anderthalb Quadratmetern von Ruß geschwärzt und von Absperrband umzäunt. Verteilerkabel versorgten die Scheinwerfer mit Strom. Mehrere Nummerntäfelchen der Techniker markierten relevante Bereiche der Spurensicherung. Restdämpfe drangen aus der gelockerten Erde und hingen beißend in der Luft.

»Ich nehme an, hier wurde das Opfer mit Benzin überschüttet«, schlussfolgerte Chris.

»Falsch«, widersprach ihm Meißner. »Das ist bereits weiter oben geschehen, aber dazu kommen wir noch.« Er trat um das Absperrband herum und ging vor einem flachen schwarzen Kunststoffgehäuse in die Hocke.

»Was ist das?«, fragte Chris. »Sieht aus wie eine Fernsteuerung.«

»Im weitesten Sinne trifft das auch zu. Allerdings handelt es sich hier um einen Fernzünder.« Meißner deutete auf die ausziehbare Antenne an der Seite des Kastens. »Normalerweise wird er entweder direkt über die eingebaute Taste oder per Funksender ausgelöst. Dieses Exemplar hier wurde allerdings modifiziert und per Kabel mit einem Infrarotsensor gekoppelt.« Er deutete auf eine Linse, die an der Rinde eines Baumes befestigt und über den Pfad ausgerichtet war. »Als das Opfer hier entlanggelaufen ist, wurde das Signal unterbrochen, was eine elektrische Entladung ausgelöst hat, die an den Brückenzünder übertragen wurde, der das Benzin im Boden in Brand gesetzt hat.«

Chris‘ Augen folgten einem flachen Kabel, das aus der Front des schwarzen Kastens auf die mit Benzin getränkte Fläche führte und größtenteils verschmort war.

»Offensichtlich kennt der Täter sich mit Pyrotechnik aus«, bemerkte Chris, während er die Stelle akribisch inspizierte. »Er hat den Boden aufgelockert, damit er das Benzin besser aufnimmt. Außerdem hat er den Bereich großflächig von Gestrüpp und Blättern befreit, damit sich das Feuer nicht ausbreiten konnte.«

»Also ein umweltbewusster Sadist«, bemerkte Rokko.

»Auf jeden Fall ein Sadist der schlimmsten Sorte«, ergänzte Meißner. »Wartet ab, bis ihr den Rest gesehen habt.«

 

Der Pfad schlängelte sich durch dichtes Gehölz, bis er nach einigen Gehminuten in einen von Baumwurzeln durchwucherten Waldweg mündete. Das anbrechende Tageslicht verfing sich in den herbstlich verfärbten Blättern der Bäume, reichte aber mittlerweile aus, um ihnen den Weg zu weisen. Etwas abseits des Weges, versteckt in einer Schneise gelegen, stand ein Waldarbeiterwagen, der nach seinem Zustand zu urteilen schon jahrzehntelang dort sein Dasein fristete. Die grüne Farbe war großflächig abgeblättert, das Holz darunter grau und verwittert. Beide Reifen waren platt und rissig, die Stützen, die das Gewicht des Wagens trugen, von Rost zerfressen.

Chris fiel sofort das Graffiti auf, das jemand mit roter Farbe auf die Seitenwand gesprüht hatte – ein aufwendig verschachteltes Zeichen, das seine Bedeutung nicht preisgab.

»Sieht aus wie das Symbol einer Gang«, meinte Rokko.

»Nicht gerade der geeignete Ort, um eine Signalwirkung damit zu erzielen«, entgegnete Chris. »Vielleicht irgendwas Okkultes?«

Meißner zuckte mit den Schultern. »Wir können bis jetzt nur sagen, dass die Farbe frisch ist. Das heißt aber nicht, dass es zwangsläufig mit dem Mord in Verbindung steht.«

»Ich halte das eher nicht für einen Zufall«, sagte Rokko, während sie über das Absperrband stiegen, das die Spurentechniker weitläufig um das Areal gespannt hatten. »Müssen wir auf irgendetwas achten?«

»Passt auf, wo ihr hintretet«, erwiderte Meißner. »Der Untergrund ist von Gestrüpp und Unkraut überwuchert. Wir hatten Probleme mit der Stromversorgung, daher mussten wir uns mit Handstrahlern begnügen. Außer ein paar abgeknickten Zweigen konnten wir bisher einige Blutspuren sicherstellen. Es ist davon auszugehen, dass sie vom Opfer stammen. So dornig, wie die Büsche hier sind, hätte es auch ebenso gut nackt durch Stacheldraht laufen können.«

Wie zur Bestätigung fluchte Rokko hinter ihnen, als sich der Saum seines Overalls in dem kniehohen Dornengestrüpp verfing. Vorsichtig gingen sie um die markierten Stellen herum und näherten sich der Stirnseite des Wagens, wo sich über zwei rostigen Metallsprossen die Eingangstür befand. Beißender Benzingeruch schlug ihnen entgegen, der sich in dem sperrigen Innenraum mit dem Gestank von Schimmel und Urin vermischte.

Chris hielt sich die Hand vor Mund und Nase, als er den Wagen betrat, wobei er beinahe über die beiden Kanister am Boden gestolpert wäre. Das verbliebene Inventar im Inneren bestand im Wesentlichen aus zwei eingebauten Sitzbänken und einem gusseisernen Ofen, dessen Abzugsrohr geradewegs durch das undichte Dach nach oben ragte. Die Klappe des Ofens stand offen. Auf dem Boden davor lagen ein umgekippter Blecheimer und eine Handschaufel. Beides war mit Ruß und Kohleresten bedeckt. Daneben befand sich ein leerer Sack Grillbriketts.

»Sieht nach einer gemütlichen Männerrunde aus«, bemerkte Rokko zynisch.

Sie gingen weiter zu den beiden gegenüberliegenden Bänken. Auf der linken Seite war die Sitzfläche entfernt worden. Der Stauraum darunter, der früher zur Aufbewahrung von Werkzeugen gedient hatte, war mit einer hitzebeständigen Glasfaserdecke ausgelegt worden. An der Bretterwand dahinter, wo das Holz deutlich weniger Verwitterungsspuren aufwies, war ein massiver Eisenring angebracht, an dem eine Stahlkette befestigt war, deren Ende lose in den Stauraum hing.

»Das Opfer muss hier gefangen gehalten worden sein«, sagte Chris in Anbetracht des Vorhängeschlosses an der Kette. Angeekelt verzog er das Gesicht, als er den übrigen Inhalt des Stauraumes begutachtete. Der abgedeckte Boden der sargähnlichen Kiste war überschwemmt mit Benzin. Darin trieb neben den Resten einiger Kabelbinder auch eine Schicht aus ausgekühlten Kohleresten.

Rokko rümpfte die Nase. »Was zum Teufel hat sich hier abgespielt?«

Die Frage war rhetorisch. Jeder von ihnen konnte sich aufgrund der Fakten ausmalen, was hier passiert war. Chris war der Erste, der das Unfassbare in Worte packte.

»Das Opfer wurde zunächst in der Kiste angekettet und mit glühenden Kohlen überschüttet.«

»Das dürfte die Brandwunden erklären, von denen Thielmann gesprochen hat«, fügte Meißner hinzu.

»Offenbar hat das dem Täter aber nicht ausgereicht. Er hat den Mann auch noch mit Benzin überschüttet und durch den Wald gejagt.« Chris vermochte sich nicht vorzustellen, welchen Qualen das Opfer womöglich tagelang ausgesetzt gewesen war. Erneut ließ er seinen Blick über die verbliebenen Gegenstände gleiten. »Der Täter hat einiges zurückgelassen.«

»Ja, die Jungs im Labor werden Überstunden schieben müssen.«

»Was ist mit der Kleidung des Opfers?«, fragte Chris.

»Der Täter hat sie verbrannt. Wir haben Reste davon in dem Ofen gefunden.«

»Gibt es sonst verwertbare Spuren? Ich meine, der Täter muss ja irgendwie an diese abgelegene Stelle gekommen sein.«

»Soweit sind wir noch nicht«, sagte Meißner. »Für eine Sondierung der Umgebung war es bis jetzt zu dunkel.«

»Müssen wir das unbedingt hier drin besprechen?«, warf Rokko ein. »Auf nüchternen Magen ist dieser Gestank nur schwer zu ertragen.«

 

Sie atmeten durch, als sie wieder nach draußen vor die Absperrung traten. Die Sonne hatte sich hinter den Wolken bereits über die Baumwipfel erhoben und tauchte die vom Herbst ausgedünnten Kronen in tristes Grau. Chris hasste diese Jahreszeit. Sie war für ihn der Inbegriff von Vergänglichkeit und Verfall.

»Wozu das Benzin im Wald?«, fragte Rokko. »Der Täter hatte das Opfer bereits hier mit dem Zeug überschüttet. Warum dieser Spießrutenlauf und der Aufwand mit dem Zünder? Wieso hat er den Kerl nicht gleich mitsamt dem Wagen abgefackelt?«

Chris, der ein gewisses Talent dazu besaß, sich in die Gedankengänge eines Täters hineinzuversetzen, dachte einen Moment darüber nach, während er den Pfad entlang in den Wald starrte. »Hoffnung«, murmelte er vor sich hin.

»Hoffnung?«

»Ja. Er hat ihm die Hoffnung vermittelt, ihn laufen zu lassen, um sie ihm dann wieder zu nehmen.« Chris wandte sich seinen Kollegen zu. »Deswegen auch die Nähe zur Straße. Sie verbindet Waldesch mit Koblenz und wird um diese Tageszeit stark von Berufspendlern frequentiert.«

Rokko runzelte die Stirn. »Soll das heißen, der Täter wollte, dass er vor ein Auto rennt? Wozu dann das Feuer?«

»Er wollte ihm die Wahl lassen«, sagte Chris. »Entweder qualvoll oder schnell zu sterben. Er hat ihm Erlösung angeboten.«

 

Wieder an der Straße angekommen, war Chris damit beschäftigt, sich den Overall abzustreifen, als ihm ein alter Audi auffiel, der in einiger Entfernung hinter den Einsatzfahrzeugen parkte. Der Fahrer – ein Mann von Ende dreißig, dessen markantes Gesicht ein dunkler Vollbart rahmte – stand lässig gegen die Beifahrerseite gelehnt und verfolgte das Geschehen interessiert. Als er Chris erkannte, hob er zum Gruß die Hand.

Mit einem Lächeln näherte sich Chris der Person. »So früh schon im Dienst der Öffentlichkeit unterwegs?«

»Solche Nachrichten verbreiten sich schnell, wie Sie wissen«, entgegnete der Mann. »Und dank Ihnen sind polizeiliche Absperrungen für mich kein Hindernis mehr.« Er hielt den Sonderausweis hoch, der ihn als Journalist dazu legitimierte, bis zu einem Tatort vorzudringen.

»Den haben Sie eher dem Bemühen unserer Behörde um mehr Öffentlichkeitsarbeit zu verdanken.«

»Ohne Sie als Fürsprecher hätte man den Fetzen sicher jemand anderem verliehen.«

»Ich habe Ihre Artikel über die Historie von Koblenz gelesen. Meinen Glückwunsch zur Auszeichnung.«

Der Mann winkte ab. »Nur ein unbedeutender Journalistenpreis«, meinte er bescheiden. »Wie ist das Leben als Oberkommissar?«

»Mehr Papierkram, derselbe Mist.«

»Wenigstens bezahlt man Sie besser dafür.«

Chris beäugte ihn kritisch. »Wie ich sehe, haben Sie ihn stehen lassen.«

Der Mann rieb sich durch das dichte Barthaar. »Das verleiht mir die nötige Seriosität eines Preisträgers.«

Chris lachte und reichte Marc Bondek die Hand. »Ist ein Weilchen her.«

Bondek erwiderte die Geste. »Was unnatürliche Todesfälle betrifft, war es in letzter Zeit ziemlich ruhig.«

»Tja«, meinte Chris und blickte zu dem Toten auf der Straße, »mit der Ruhe ist es wohl vorbei.«

»Handelt es sich um Mord?«

»Ja. Das ist aber momentan das Einzige, was wir wissen.«

»Wer ist der Tote?«

»Kann ich noch nicht sagen. Aber die Tötungsart ist mehr als ungewöhnlich.«

»Kommt mir alles erschreckend bekannt vor.«

»Ja«, seufzte Chris. »Bleibt zu hoffen, dass die Sache nicht ausartet, wie vor zwei Jahren.«

»Das hoffe ich mit Ihnen«, sagte Bondek, dessen Berichterstattung über die Mordserie ihn damals beinahe das Leben gekostet hätte. »Sonst müsste ich Ihnen wieder helfend unter die Arme greifen.«

Chris bedachte ihn mit einem warnenden Blick.

»Seien Sie unbesorgt, Herr Oberkommissar«, entgegnete er gelassen. »Keine Alleingänge mehr.«

»Das will ich Ihnen auch raten, denn sonst bin ich es, der Sie Scheiße fressen lässt!«

»Diese Sache wird mir ewig nachhängen, was?«

Chris musste grinsen. »Tja, jeder hat sein Kreuz zu tragen. Auch wenn es in Ihrem Fall eine Schranke war.«

»Sie verstehen es wirklich, Salz in meine Wunden zu streuen«, meinte Bondek und stimmte in sein Lachen mit ein.

Sie beobachteten, wie der Leichnam abtransportiert wurde.

»Ich gehe davon aus, Sie haben sich schon ein Bild der Sachlage gemacht«, wurde Chris wieder ernst.

»Einer Ihrer uniformierten Kollegen war so nett, mich aufzuklären.«

»Ich muss sicher nicht erwähnen, dass Sie die Details erst einmal für sich behalten.«

»Mein Chefredakteur würde mich ohnehin für verrückt erklären, wenn ich über einen verbrannten Toten berichte, der vor ein Auto gelaufen ist.«

Chris nickte ihm zu. »Halten Sie es allgemeiner Natur. Ich melde mich bei Ihnen, wenn wir mehr wissen.«

»Also das Übliche.« Bondek ging um den Wagen herum und öffnete die Fahrertür. »Verraten Sie mir dennoch Ihre inoffizielle Einschätzung?«

»In Bezug auf den Fall?«

»In Bezug darauf, ob sich unsere Wege in nächster Zeit wieder öfter kreuzen werden.«

Chris zuckte mit den Schultern. »In unser beider Interesse hoffe ich das nicht«, erwiderte er, als er zu den anderen zurückging. Und das meinte er nicht, weil er Bondek nicht leiden konnte.


KAPITEL 3

 

 

 

Zwei Tage später

 

Dr. Marina Hoffmann schaute auf die Wanduhr im Sprechzimmer ihrer Praxis. Noch zwölf Minuten. Sie atmete durch und beobachtete weiter den Patienten, der ihr stumm im Sessel gegenübersaß. Es war bereits die zweite Sitzung, die sie mit ihm abhielt, und genau wie beim ersten Mal schien er auch heute nicht sehr gesprächig zu sein. In sich gekehrt sah der Mann auf seine Hände herab, die er im Schoß verschränkt hielt. Seine Daumen wippten nervös auf und ab, und hin und wieder strich er sich über seinen Vollbart. Nur vereinzelt richtete er seine Augen direkt auf sie, schien sie mit seinem Blick regelrecht zu erforschen, als wollte er sie zu etwas herausfordern. Der Name des Mannes war Thomas Reuter. Laut seinen Unterlagen war er zweiundvierzig Jahre, wirkte auf sie aber deutlich jünger. Er hatte eine makellose Haut, die eine gesunde Bräune aufwies, und seine Hände zeigten keinerlei Gebrauchserscheinungen. Dennoch ließ sein Äußeres Anzeichen von Vernachlässigung erkennen. Er schien übermüdet zu sein, und seine dunkelblonden Haare hingen ihm strähnig in die Stirn. Überhaupt passte die Frisur nicht zu seinem kantigen Gesicht, wirkte irgendwie aufgesetzt, wie überhaupt alles an ihm. Der braune Designeranzug, die teuren Lederschuhe, die aufwändigen Ringe an seinen Fingern. All das machte den Eindruck einer schlecht sitzenden Verkleidung.

Marina Hoffmann wechselte die Sitzposition und räusperte sich verhalten. »Herr Reuter, Sie müssen sich mir schon öffnen, sonst kann ich Ihnen nicht helfen.«

Er reagierte nicht, blickte weiter auf seine Hände.

Sie beugte sich zu ihm nach vorn. »Sie wollen doch, dass ich Ihnen helfe, oder?«

Er nickte kaum merklich.

»Dann müssen Sie mit mir reden.«

Reuter ließ seinen Blick durch den Raum gleiten, dessen Wände in einem cremigen Braun gestrichen waren und von einigen Kunstdrucken mit surrealen Motiven geschmückt wurden. Zwei buschig gewachsene Areca Palmen säumten die weiß gerahmten Fenster.

»Dieser Raum ist sehr geschmackvoll eingerichtet, ohne dabei aufdringlich zu wirken«, stellte er fest. Seine Stimme wirkte kräftig und sehr männlich. »Es befindet sich nichts darin, was die Aufmerksamkeit von Ihnen ablenken könnte.« Der Blick seiner Augen ruhte wieder auf ihr. »Liege ich richtig, wenn ich Sie als sehr effizient und von sich selbst überzeugt einschätze? Als jemand, der in seinem tiefsten Inneren an das Gute im Menschen glaubt? Ich denke, das ist eine Grundvoraussetzung in Ihrem Beruf, nicht wahr?« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Dennoch wirken Sie auf mich irgendwie argwöhnisch, als hegen Sie ein gewisses Misstrauen gegen andere. Das ist vermutlich auch der Grund, weshalb Sie von zu Hause aus praktizieren, in dieser beschaulichen Wohngegend, und keine Angestellten beschäftigen.«

Sie versuchte, Haltung zu bewahren. »Wir sind nicht hier, um über mich zu sprechen.«

Reuter nickte. »Ach ja, richtig«, meinte er überzogen. »Sie wollen mir helfen.« Er schürzte die Lippen. »Das Problem dabei ist: Ich glaube nicht, dass Sie mir helfen können.«

»Und wie kommen Sie darauf?«

Wieder dieser durchdringende Blick. »Weil es dafür bereits zu spät ist.«

Sie lehnte sich zurück. »Wenn Sie dieser Meinung sind, aus welchem Grund sind Sie dann hier?«

Eine kurze Pause. »Neugier.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Ich war noch nie zuvor in therapeutischer Behandlung. Und ich war gespannt darauf, wie so etwas abläuft.«

»Sie meinen, Sie sind auf der Suche nach einer Bestätigung dafür, dass Ihnen niemand helfen kann.«

Reuter zuckte mit den Schultern. »Bis jetzt haben Sie wenig dazu beigetragen, mich vom Gegenteil zu überzeugen.«

»Wie gesagt, dazu müssen Sie mit mir reden.«

Er wirkte erstaunt. »Das tue ich doch gerade.«

»Dann nennen Sie mir den wahren Grund Ihrer Anwesenheit.«

Erneut musterte er sie mit seinem stechenden Blick. »Es zwingt mich dazu.«

Marina Hoffmann wurde hellhörig. »Was zwingt Sie?«

»Mein Gewissen.«

Sie schrieb in ihr Notizbuch: Neigung zur Schizophrenie. Dahinter setzte sie ein Fragezeichen. »Zwingt Ihr Gewissen Sie auch zu anderen Dingen?«

Ein kaum merkliches Grinsen legte sich um seine schmalen Lippen. »Das muss für Sie ziemlich verrückt klingen.«

»Das Wort verrückt existiert für mich nicht.«

»Nur weil es für Sie eine andere Bezeichnung hat, bedeutet es im Grunde dasselbe.«

»Es bedeutet, dass es behandelbar ist. Dazu müsste ich allerdings wissen, was Sie so wütend macht.«

»Wer sagt denn, dass ich wütend bin?«

»Man muss kein Therapeut sein, um das zu erkennen.«

»Ach ja? Dann verschreiben Sie mir einfach ein paar Pillen.«

»So einfach ist das nicht. Zunächst muss ich der Ursache auf den Grund gehen, dann kommt die Therapie.«

»Tja, dann werden wir uns wohl weiter anschweigen müssen.«

Marina Hoffmann legte ihre Notizen auf dem kleinen Beistelltisch ab. »Herr Reuter«, begann sie mit Bedacht. »Ich denke, Sie wissen, dass ich alles, was Sie mir sagen, vertraulich behandeln muss. Sollten Sie diesbezüglich Bedenken haben, so kann ich Ihnen versichern, dass nichts davon je diesen Raum verlassen wird.«

Er grinste sie hintersinnig an. »Sie sollten vorsichtig mit Ihren Versprechungen sein.«

»Wenn Sie mir nicht vertrauen, steht es Ihnen jederzeit frei, die Therapie abzubrechen. Sie sind nicht hier, weil jemand das angeordnet hat. Sie sind aus freien Stücken zu mir gekommen.«

»Das weiß ich selbst.«

»Weshalb habe ich dann das Gefühl, Sie wollen hier nur Ihre Zeit absitzen, um dabei meine zu verschwenden? Was versprechen Sie sich davon?«

Reuter sah sie eine Weile an. Dann atmete er durch. »Wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich schlimme Dinge getan habe, was würden Sie dann tun?«

»Meinen Job«, antwortete sie nüchtern. »Dazu müssen Sie mir aber mehr erzählen.«

»Das ist sehr schwer für mich.«

»Wie wäre es, wenn Sie es trotzdem versuchen? Das würde mir meine Arbeit sehr erleichtern, denn üblicherweise sind meine Patienten dazu bereit, mir Antworten zu geben.«

»Na schön«, sagte er nach kurzer Bedenkzeit. »Dann stellen Sie mir schon die üblichen Fragen nach meiner Kindheit und meinen Eltern.«

»Würde uns das weiterbringen?«

Er schwieg, schien mit etwas in seinem Inneren zu kämpfen, etwas, das Macht über ihn hatte. Schließlich fing er sich und atmete durch. »Ich ...«, begann er zögerlich. »Ich habe schlimme Dinge getan.«

Sie griff langsam nach Stift und Notizbuch. »Inwiefern?«

»Da ... da ist dieser Drang in mir. Ich kann ihn nicht kontrollieren, er ist einfach zu stark.«

Sie notierte: Zwanghaftes Verhalten / triebgesteuert. Dabei stellte sie fest, dass ihre Hand zu zittern begann. »Und seit wann haben Sie diesen Drang?«

Er überlegte einen Moment. »Seit etwa drei Jahren.«

Sie schluckte nervös. »Und was hat diesen Drang ausgelöst?«

Er schwieg.

»Sie müssen schon etwas konkreter werden«, sagte sie und wunderte sich selbst über den fordernden Tonfall ihrer Stimme. Sie musste ihre Neugier im Zaum halten.

»Sie werden mich hassen, wenn ich das tue.«

Sie notierte: Geringes Selbstwertgefühl. »Meine Aufgabe ist es nicht, über Sie zu urteilen oder Sie freizusprechen. Betrachten Sie mich einfach als einen neutralen Ansprechpartner.«

»Wie neutral könnten Sie gegenüber einem Monster sein?«

Ein kalter Schauer durchfuhr sie, während sie sich Gesprächsnotizen machte. Sie wollte etwas erwidern, doch er kam ihr zuvor.

»Sie sollen wissen, dass ich bereue, was ich bin und was ich getan habe.«

»Ich kann Ihnen keine Absolution erteilen«, erwiderte sie ruhig. »Dafür bin ich die falsche Person. Ich betreibe nur Ursachenforschung.«

»Aber vielleicht hat nicht alles eine Ursache.« Er schlug die Beine übereinander. »Manchmal sind die Dinge eben einfach, wie sie sind. Man kann sie nicht erklären. Und auch nicht ändern. Also akzeptiert man sie, auch wenn man dabei riskiert, dass dieser Drang einen beherrscht.«

»Und dieser Drang ist es, der Sie schlimme Dinge tun lässt?«

»Ja.«

»Verspüren Sie diesen Drang ständig?«

»Nein. Er kommt in Wellen.«

»Was löst ihn aus?«

Kurzes Zögern. »Erregung.«

Ihr Puls beschleunigte sich. »In welcher Form?«

»Etwas zu tun, was man nicht tun darf«, wich er aus.

»Dann ist es das Verbotene, dass Sie reizt?«

Er machte eine kurze Pause, in der er sie betrachtete. »Kann es etwas Verlockenderes geben?«

Offenbar schien Reuter seinen Spaß an diesem Frage- und Antwortspiel zu haben. Aber immerhin hatte sie es damit geschafft, ihn aus der Reserve zu locken.

»Wie würden Sie diesen Drang beschreiben?«

»Als elementar.«

»Das heißt, er bestimmt Ihr gesamtes Denken und Handeln?«

Er schien einen Moment darüber zu grübeln. »Stellen Sie sich vor, Ihr Verlangen nach etwas wäre so groß, dass es Sie innerlich auffrisst, sie förmlich verschlingt. Könnten Sie das einfach ausblenden und zur Tagesordnung übergehen?« Er beugte sich nach vorn. »Dieses Verlangen unterdrückt jeden rationalen Gedanken. Es ist wie ein Pol, der das gesamte Denken auf ein bestimmtes Ziel ausrichtet. Beruf, Familie, soziales Umfeld ... all das verschwimmt, wird bedeutungslos, und man riskiert ohne zu zögern, das alles zu zerstören, um dieses eine Ziel vor Augen zu haben.«

»Und hat dieses Ziel etwas mit Rache zu tun?«, fragte sie gespannt.

Er schwieg.

»Was passiert, wenn Sie dieses Ziel erreicht haben?«, wich sie aus.

Er ließ sich in den Sessel zurückfallen. »Genugtuung. Totale innere Ruhe.« Der Glanz in seinen blaugrauen Augen verblasste. »Aber auch Reue und die Angst vor Entdeckung, vor Bestrafung und Ausgrenzung.«

»Sind es nicht eher diese Gefühle, die Sie innerlich auffressen?«

»Kann sein«, sagte er nach kurzem Zögern. »Aber sie sind nicht die Ursache, sondern das Resultat meines ... Problems, falls Sie darauf anspielen.«

»Eigentlich wollte ich darauf hinaus, dass Reue ein gutes Ansatzmittel zur Therapie ist. Denn wo Reue ist, ist auch das Verständnis, etwas Falsches getan zu haben. Und wenn es uns gelingt, dieses Schuldbewusstsein im Vorfeld zu stärken, könnten wir dem Drang damit seine Macht nehmen.«

»Einen Instinkt kann man nicht einfach unterdrücken. Ebenso gut könnten Sie versuchen, einem Raubtier die Suche nach Beute auszutreiben.«

»Das ist durchaus möglich«, meinte sie. »Man muss letztendlich nur dafür sorgen, dass das Raubtier gesättigt ist.«

»Und wie wollen Sie das in meinem Fall erreichen?«

Sie sah wieder zur Uhr. »Darüber unterhalten wir uns beim nächsten Mal. Bis dahin habe ich Zeit, mir eine Strategie zu überlegen.«

Er nickte. »Also gut«, sagte er und zwang sich zu einem Lächeln. »Wenn Sie zuversichtlich sind, bin ich es auch.«

Sie begleitete ihn zur Tür. »Würde Ihnen nächste Woche Dienstag passen?«

»Wie wäre es mit morgen?«

Sie zögerte kurz. »Das ist sehr kurzfristig. Wieso diese plötzliche Eile?«

»Sagen wir, es passt mir im Moment ganz gut.«

»Na schön«, meinte sie nach kurzer Bedenkzeit. »Morgen um die gleiche Zeit?«

Er grinste. »Ich denke, das lässt sich einrichten.«

 

Sie atmete durch, nachdem Reuter die Praxis verlassen hatte. Dieser Kerl war unheimlich, und er verursachte ihr eine Gänsehaut. Seine Blicke, mit denen er sie regelrecht abgetastet hatte, seine Art zu reden, ohne zu viel von sich preiszugeben. Aber genau das machte ihn aus therapeutischer Sicht wiederum interessant, denn damit hob er sich deutlich von ihren üblichen Patienten mit ihren Neurosen und stressbedingten Schlafstörungen ab. Dennoch mahnte sie etwas zur Vorsicht. Sie hatte ihre Erfahrungen auf diesem Gebiet gemacht. Schlimme Erfahrungen, die sie selbst in therapeutische Behandlung gebracht und ihre Ehe zerstört hatten. Sie hatte sich geschworen, nie wieder so weit zu gehen, sich nie wieder in solch seelische Abgründe ziehen zu lassen. Andererseits hatte sie diesen Beruf nicht ergriffen, um wegzusehen. Sie wollte etwas bewirken, Menschen helfen. Aber sie wusste mittlerweile auch, dass es Menschen gab, denen nicht zu helfen war. Diesbezüglich musste sie Reuter zustimmen. Nicht immer lag eine erkennbare Ursache für ein bestimmtes Verhalten vor. In manchen Menschen schlummerte einfach das Böse, das nur darauf wartete, nach draußen zu drängen.

Manchmal sind die Dinge eben einfach, wie sie sind.

Sie ging zurück zu ihrem Sessel und überflog ihre Notizen. Hinter Zwanghaftes Verhalten / triebgesteuert hatte sie noch weitere Begriffe notiert: Stalker? Vergewaltiger? Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, als ihr Blick auf dem letzten Begriff haften blieb, den sie doppelt unterstrichen hatte:

Mörder?


KAPITEL 4

 

 

 

Chris und Rokko standen in Uwe Meißners Büro, auf dessen Schreibtisch der Laborbericht lag. Meißner, der mit seinen fast ein Meter neunzig Körpergröße die beiden um einen halben Kopf überragte, erläuterte ihnen die Ergebnisse.

»Es konnten weder Fingerabdrücke noch DNA-Spuren des Täters gesichert werden«, sagte er mit der typischen Nüchternheit eines Forensikers.

»Überraschung«, spottete Rokko.

»Was ist mit den Gegenständen, die am Tatort zurückgelassen wurden?«, fragte Chris.

»Alles handelsübliche Ware. Die Kanister, die feuerfeste Decke, die Kohlebriketts ... Das alles kann man in jedem Baumarkt kaufen. Auch der Fernzünder wird im Internet in dutzenden von Shops angeboten. Normalerweise wird er für das sichere Zünden von Feuerwerkskörpern eingesetzt und erfreut sich daher auch im privaten Bereich ziemlicher Beliebtheit. Ist unmöglich zurückzuverfolgen.«

»Totale Überraschung.«

Meißner bedachte Rokko mit einem abfälligen Blick. »Wir haben dennoch etwas Interessantes gefunden«, fuhr er fort und hielt einen nummerierten Plastikbeutel hoch, in dem sich ein rötlicher Gegenstand befand, der wie die kindgerechte Version eines altertümlichen Handys aussah.

»Ein Spielzeug?«, fragte Chris skeptisch und beäugte das Kunststoffgehäuse, an dessen Front neun bunte Nummerntasten angebracht waren.

Meißner öffnete den Verschluss des Beutels. »Es handelt sich um ein sogenanntes Lerntelefon, geeignet für Kinder bis zu einem Alter von vier Jahren.« Er nahm das Spielzeug aus dem Beutel und legte es auf den Tisch.

Chris betrachtete es genauer. Das angedeutete Display darauf zeigte einen blauen Bären mit erhobener Tatze, so als wollte er ihm zuwinken. Er betätigte eine der Tasten. Ein Klingelton erklang, gefolgt von einer kindlichen Stimme: »Hallo, ich bin Tobi der Bär und will mit dir spielen.«

»Wo habt ihr es gefunden?«, fragte Chris.

»Im Stauraum der zweiten Sitzbank.«

»Das muss nicht heißen, dass es vom Täter stammt.«

»Haben wir zuerst auch gedacht, zumal es in diesem Zusammenhang keinen Sinn ergab. Bis wir auf das hier gestoßen sind.« Er deutete auf einen kleinen roten Knopf, in der rechten oberen Ecke des Displays. Daneben befand sich eine fächerförmige Öffnung. »Das Gerät hat eine Aufnahmefunktion. Man drückt diesen Knopf, und alles, was man in das eingebaute Mikrophon spricht, wird gespeichert. Das Ergebnis kann man einer bestimmten Taste zuordnen, über die man die Aufnahme abrufen kann. Drück mal die eins.«

Chris drückte die erste Nummerntaste. Das typische Rauschen einer einfachen Aufnahme erklang, das in ein Keuchen überging.

»Was soll das? Warum tun Sie mir das an?«, erklang die wimmernde Stimme eines Mannes, die sich ziemlich nah und deutlich anhörte. »Wieso halten Sie mich hier fest? Wollen Sie Geld, ist es das?«

Ein Scheppern erklang im Hintergrund. Vor seinem geistigen Auge sah Chris den Täter, wie er den Blecheimer füllte.

»Wollen Sie, dass ich etwas sage? Reden Sie mit mir, verdammt!« Ein leises Quietschen ertönte. Dann ein Geräusch, das an das Schließen eines Riegels erinnerte.

Die Ofentür, kam es Chris in den Sinn.

»Was ... was haben Sie vor?« Die Stimme klang nun ängstlicher. »O Gott, nein ... Hilfe! Hört mich denn niemand? Helft mir!« Donnernde und trampelnde Geräusche waren zu hören, dann das Rasseln einer Kette. Das Opfer versuchte, sich von seinen Fesseln zu befreien. »Bitte ...«, flehte die Stimme nun weinerlich. »Tun Sie das nicht. Reden Sie mit mir. Ich tue alles, was Sie wollen, aber bitte ...«

Wieder dieses Scheppern. Dann drangen markerschütternde Schreie aus dem kleinen Lautsprecher. Wieder und wieder schrie die Stimme aus Leibeskräften. Dann brach die Aufnahme abrupt ab.

»Weiter reicht der Speicher nicht«, kommentierte Meißner die plötzliche Stille.

Chris atmete aus. »Der Täter hat uns also eine Nachricht hinterlassen.«

»Ja«, meinte Rokko. »Anscheinend wollte er uns an seiner Art von Vergnügen teilhaben lassen.«

»Er will uns etwas mitteilen.«

»Dass er ein zurückgebliebener Irrer ist, der anstatt mit Puppen zu spielen lieber Menschen foltert und tötet?«

»Ich denke, es hat eher etwas mit seinem Motiv zu tun«, erwiderte Chris.

Meißner stimmte ihm zu. »Ich habe eine Kopie meines Berichts an das BKA weitergeleitet. Vielleicht finden die einen Zusammenhang.«

Rokko nahm das Spielzeugtelefon in die Hand und begutachtete es. »Lass mich raten«, meinte er an Meißner gerichtet. »Nicht zurückzuverfolgen.«

Meißner nickte. »Dieses Modell ist schon seit Jahren im Handel.«

»Unglaubliche Überraschung!«

»Neben Resten von Kohlestaub haben wir darauf Fingerabdrücke sicherstellen können. Und zwar die gleichen, wie wir sie auch in dem Bauwagen gefunden haben, hauptsächlich um die Kiste herum und auf der Kette.«

»Dann stammen sie vom Opfer«, sagte Rokko.

»Davon ist auszugehen. Aufgrund der starken Verbrennungen der Leiche fehlt uns allerdings ein direkter Vergleich.«

»Er hat es ihm in die Hand gedrückt«, murmelte Chris vor sich hin.

»Was?«

»Das Telefon. Er wollte, dass das Opfer es festhält. Es muss eine Bedeutung für ihn haben.«

»Bist du mal wieder im Tätermodus?« Rokko schüttelte den Kopf. »Manchmal könnte man glatt meinen, du bist genauso krank wie diese Typen.«

»Ich kann mich nur gut in andere Menschen hineinversetzen, das ist alles.«

»Mit der Masche hast du früher bestimmt eine Menge Mädels dazu gebracht, dir ihr Herz auszuschütten, was?« Er schlug ihm gegen die Schulter.

»Lass den Quatsch«, meinte Chris, dem es deutlich leichter fiel, sich in die Psyche eines Täters hineinzuversetzen, als in die Logik einer Frau, was seine gescheiterte Ehe vor einigen Jahren belegte. »Hat die Überprüfung der Fingerabdrücke etwas ergeben?«

»Kein Treffer in unserer Datenbank«, sagte Meißner.

»Dann wissen wir immerhin, dass Werner Möbius nicht vorbestraft war«, schlussfolgerte Chris.

Meißner sah ihn fragend an. »Ihr wisst bereits, wer das Opfer ist?«

»Möbius wurde von seiner Frau vor fünf Tagen als vermisst gemeldet. Alter und Größe stimmen laut Rechtsmedizin mit seinen Daten überein. Wir warten noch auf den zahnmedizinischen Abgleich. Aber nachdem, was du uns gerade gezeigt hast, dürfte das reine Formsache sein.«

»Wie meinst du das?«, fragte Meißner.

»Möbius war von Beruf Kinderarzt.«

Alle Augen richteten sich auf das Spielzeugtelefon.


KAPITEL 5

 

 

 

Am nächsten Tag

 

»Frau Möbius«, sprach Chris sanft auf die Frau ein, die ihnen gegenüber am Tisch saß und seit fünf Minuten in ihr Taschentuch weinte. So lange war es her, das Rokko und er ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht hatten. Seitdem saß sie zusammengesunken auf dem Stuhl im Wohnzimmer ihres Hauses. Chris verabscheute solche Situationen. Er hielt sich lieber an einem blutigen Tatort auf, wo er eine gewisse emotionale Distanz zu den Opfern aufbauen und sachlich und analytisch an den Fall herangehen konnte. In Momenten wie diesem empfand er die Gabe, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können, mehr denn je als Bestrafung.

»Frau Möbius«, versuchte er erneut zu der Frau durchzudringen, die sichtlich darum bemüht war, ihre Fassung wiederzugewinnen. Sie schluchzte und wischte sich die Tränen von den Wangen.

»Ich ... ich muss meinen Sohn anrufen«, sagte sie apathisch. »Er studiert in Hamburg, will auch Mediziner werden, genau wie sein ...« Sie stockte, kämpfte gegen weitere Tränen an. »Mein Gott, wie soll es denn jetzt weitergehen? Ich habe doch sonst niemanden mehr.«

Chris gab sich Mühe sachlich zu bleiben. »Wenn Sie wollen, stellen wir Ihnen psychologischen Beistand zur Verfügung.«

Clara Möbius schüttelte den Kopf. »Nein. Ich komme schon irgendwie zurecht.«

»Sind Sie sicher?«

Sie nickte kaum merklich. »Wie ist mein Mann gestorben?«

Chris zögerte. »Er wurde von einem Auto erfasst.«

»Aber sagten Sie nicht, er wäre ermordet worden?«

Chris tauschte einen kurzen Blick mit Rokko aus. Dann lehnte er sich über den Tisch nach vorn. »Frau Möbius, ich weiß, das ist jetzt nicht einfach für Sie, aber wir hätten noch ein paar Fragen, bezüglich Ihres Mannes.« Chris verabscheute sich selbst für dieses unsensible Verhalten, aber sein Beruf war nun mal nicht der des Seelsorgers. Und über die schrecklichen Details des Mordes würde man Clara Möbius noch früh genug aufklären. Es würde ihm seine Arbeit nicht erleichtern, wenn er ihr sagte, unter welchen Umständen ihr Mann gestorben war.

Sie schnäuzte in ihr Taschentuch. »Ich will nur den Grund dafür wissen.« Sie blickte die beiden mit rotunterlaufenen Augen an. »Ich will verstehen, warum jemand meinem Mann so etwas antut.«

»Das wollen wir auch«, versicherte ihr Rokko. »Aber dafür benötigen wir Informationen von Ihnen.«

Erneutes Schluchzen. »Was wollen Sie wissen?«

»Inwieweit hat Ihr Mann mit Ihnen über Berufliches gesprochen?«, fragte Chris.

»Was meinen Sie?«

»Hätte er Ihnen von Problemen in der Praxis erzählt?«

Sie schien verwirrt. »Ich verstehe nicht.«

»Hatte Ihr Mann vielleicht Streit mit den Eltern eines Kindes, das bei ihm in Behandlung war?«

Sie betrachtete Chris entsetzt. »Nein, wie kommen Sie auf so etwas? Mein Mann war ein guter Arzt und seine Praxis immer gut besucht.«

»Es gab nie Konflikte? Eine falsche Diagnose vielleicht?«

Sie schluckte. »Worauf wollen Sie hinaus?«

Erneut warf Chris seinem Kollegen einen Blick zu, als suche er Rat bei ihm. Doch Rokko zuckte nur mit den Schultern und hielt sich zurück. Er war mehr der direkte Typ, der die Dinge beim Namen nannte. Durch die Blume zu reden, gehörte nicht zu seinen Stärken. Es war ihm schon hoch anzurechnen, dass er auf sein Kaugummi verzichtet hatte.

»Frau Möbius«, begann Chris, »leider sterben auch hin und wieder Kinder an tödlichen Krankheiten. Und obwohl Ihr Mann in solch einem Fall sicher alles in seiner Macht Stehende getan hätte, könnte es doch durchaus sein, dass ihm jemand die Schuld am Tod eines solchen Kindes gibt.«

Clara Möbius betrachtete ihn, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Wollen Sie damit etwa andeuten, mein Mann hätte einen schwerwiegenden Fehler vertuscht?«

»Wir sind nur auf der Suche nach einem Motiv für den Mord. Und dieses erscheint uns naheliegend. Wir wollen Ihrem verstorbenen Mann nichts unterstellen, glauben Sie mir. Aber Menschen machen Fehler. Und vielleicht ist Ihrem Mann ein solcher Fehler zum Verhängnis geworden.«

»Oder jemand hat ihm ungerechtfertigt einen solchen Fehler unterstellt«, ergänzte Rokko.