Umschlag

Stephan Harbort/Andreas Fischer

Ein unfassbares Verbrechen

 
Der Fall Monika F.

Droste Verlag

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

© 2007, Droste Verlag GmbH, Düsseldorf

Gesamtgestaltung/Satz: Droste Verlag

Coverfoto: Reuters/© Arnd Wiegmann

Lektorat: Mendlewitsch + Meiser, Düsseldorf

ebook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-7700-4133-6

 

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Für Moni – unsere Sonnenblume

Vorwort

Alles begann mit einem Anruf. Es muss Mitte Februar 2007 gewesen sein, als sich mir eine Frau als Kollegin aus Frankfurt am Main vorstellte und ausführlich einen Kriminalfall beschrieb. Es ging um einen Sexualmord, verübt Anfang Oktober 2006 in Bayreuth. Ich erinnerte mich sofort an dieses Verbrechen, weil es eine tragische Besonderheit gab, die ich, als ich zum ersten Mal davon erfuhr, einfach nicht hatte glauben wollen: Der Täter sollte ausgerechnet die Ehefrau des Gefängniswärters vergewaltigt und umgebracht haben, der ihn jahrelang auch therapeutisch betreut hatte – angeblich waren sich Täter und Opfer zufällig begegnet. Marina W., die Anruferin, sagte, sie sei die Nichte des Ehemanns der Getöteten. Andreas Fischer habe sich zu den Ereignissen bisher öffentlich nicht geäußert, trage sich aber mit dem Gedanken, dies bald zu tun. Ob ich dabei behilflich sein wolle, fragte sie nach. Ich stellte ihr sofort zwei Fragen zurück: Warum ich? Was kann ich tun? Marina W. erzählte, dass Sie während des Studiums von mir gehört habe und mir ein Ruf als anerkannter Kriminalexperte vorauseile. Ich solle, so die Vorstellung von Andreas Fischer, ihn auf seine öffentlichen Auftritte vorbereiten und dabei begleiten, wenn es darum gehe, Missstände und Versäumnisse bei der Therapie von Sexualstraftätern in Deutschland aufzuzeigen. Ich bat um Bedenkzeit.

Im Internet fand ich eine Vielzahl von Zeitungsberichten zum »Fall Monika F.«; es war bundesweit und ausführlich darüber berichtet worden – ein besonders grauenhaftes Verbrechen an einer zweifachen Mutter. Ich zögerte. War ich überhaupt der richtige Mann für so ein Projekt? Und war es der geeignete Weg?

Ich dachte lange über diesen Fall nach, das Schicksal der Familie Fischer berührte mich sehr: Ein Mann verliert seine Frau, zwei Kinder im Alter von fünf und zehn Jahren verlieren die Mutter. Eine große Tragödie. Spontan entschloss ich mich, Andreas Fischer behilflich zu sein. Nach all dem, was ich über ihn und seine Familie erfahren hatte, konnte ich schon gar nicht mehr anders. Ich schrieb ihm eine E-Mail, er antwortete, später telefonierten wir. In all den folgenden Gesprächen lernte ich einen überaus sympathischen und tapferen Mann kennen, der nicht nur bereit war, sein schweres Schicksal anzunehmen, sondern das Beste daraus zu machen. Und er wollte uneigennützig dazu beitragen, ähnliche Dramen vermeiden zu helfen. Bemerkenswert.

Zunächst hielt ich eine Pressekonferenz kurz vor Beginn der Gerichtsverhandlung für den richtigen Zeitpunkt, um an die Öffentlichkeit heranzutreten. Andreas Fischer war einverstanden. Er sollte als persönlich Betroffener berichten, ich dagegen über die Frage der Kriminalprognose diskutieren. Schnell hatte mich Andreas Fischer überzeugt: Eigentlich scheute er die Öffentlichkeit. Deshalb hatte er bis dahin auch noch kein Interview gegeben, obwohl ihm einige lukrative Angebote gemacht worden waren. Er versicherte mir glaubhaft, es gehe ihm nicht darum, öffentlich als Opfer wahrgenommen zu werden, vielmehr wolle er sein persönliches Schicksal schonungslos offenbaren, um anderen Menschen in vergleichbarer Situation Mut zu machen – vor allem aber wolle er den Fokus auf Irrungen und Wirrungen bei der Therapie von Sexualstraftätern lenken.

Die Idee, lediglich eine Pressekonferenz zu veranstalten, überzeugte mich jetzt nicht mehr. Ich überlegte, wie man dem Anliegen von Andreas Fischer gerecht werden würde, wie seine leidvollen Erfahrungen wirklich wahrgenommen werden könnten. Ein Buch? Ein Buch! Ich schrieb ihm. Er antwortete, meldete Bedenken an, er wolle sich beraten und mit Familienangehörigen und Freunden darüber diskutieren. Eine Woche später kam die Antwort: Ja. Ich bat ihn, mir zunächst einen Teil seiner Tagebuchaufzeichnungen zu schicken. Ich wollte mir einen ersten Eindruck verschaffen. Einige Tage später antwortete ich ihm: »(…) Ich habe Ihre Aufzeichnungen gelesen. Es war schwer. Ich musste schlucken. Ich bekam feuchte Augen. Ich musste weinen. Und ich habe mich gefragt, woher Sie all die Kraft nehmen, wenn mich schon allein der Gedanke an ein solches Schicksal verzweifeln lässt. Ich bewundere Ihren Mut, Ihren Lebenswillen, Ihr Verantwortungsbewusstsein. Eigentlich wollte ich Sie gleich anrufen. Aber die Eindrücke waren so nachhaltig, dass ich es in diesem Moment nicht konnte. Ich wollte eine Nacht darüber schlafen. Habe ich die Ruhe und die Kraft, dieses Buch mit Ihnen zu schreiben? Mit Ihnen diese Tragödie zu durchschreiten und zu durchleiden? Ich hätte nicht gedacht, dass sie mich so angreift.«

Andreas Fischer erzählt nicht nur von jenem verhängnisvollen Tag, an dem seine Frau ermordet wurde, vom Leid seiner Familie und dem langen und ausgesprochen beschwerlichen Weg zurück in ein Leben, das sich grundlegend verändert hat. Er berichtet auch darüber, wie es ist, Opfer zu werden, zu sein, urplötzlich, vor allem aber ungewollt und unverschuldet. Er überdenkt (selbst-)kritisch das eigene Verhalten und fremde Erwartungen. Er spricht über seine berufliche Situation, eine sich anbahnende Existenzbedrohung und Zukunftsängste. Und er sagt, was er über jenen Mann denkt, der seine Frau getötet haben soll. Andreas Fischer bleibt bei all dem vorurteilsfrei, authentisch und ehrlich.

Meinen allergrößten Respekt, Andreas!

Stephan Harbort

Düsseldorf, im Mai 2007

Prolog

»Mit dem Tod beginnt eine ganz andere Existenz.

Auch in das Erdenleben sind wir mit Tränen und Schmerzen eingegangen, auch bei diesem Neubeginn mussten wir den Schleier des Geheimnisses ablegen, der uns vorher die Zukunft verhüllte.«

Michel Eyquem de Montaigne in »Die Essais«

Harbort:  »Andreas, Du hast einen furchtbaren Verlust erlitten. Deine Frau ist beraubt, vergewaltigt und anschließend ermordet worden. Wann und warum hast Du Dich dazu entschlossen, über Dein Schicksal öffentlich zu reden?«

Fischer:  »Schon etwa eine Woche nach der Tat habe ich ein paar von den Gedanken aufgeschrieben, die mir durch den Kopf gingen. Mit meinem Tagebuch habe ich exakt einen Monat nach dem Mord begonnen. Die Vorgänge am Tattag zu rekonstruieren, das war für mich ein sehr schwieriges Unterfangen. Ich wurde dabei regelrecht von den Erinnerungen durchgeschüttelt. Erst Anfang März 2007 kam dann die Anfrage an mich, das Tagebuch zu veröffentlichen. Es folgten Abwägen und Zaudern. Mitte des Monats habe ich mich dann schließlich doch dazu durchgerungen.

  Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, warum ich mich an die Öffentlichkeit wende. Ich möchte mein Schicksal nicht einfach nur hinnehmen, sondern meine Erfahrungen aus dieser Zeit anderen Menschen mitteilen. Ich möchte nicht nur als Opfer eines furchtbaren Verbrechens gesehen werden, sondern auch jenen Trost spenden, die in ähnliche Situationen geraten – der Verlust eines geliebten Menschen muss ja nicht unbedingt mit einer Straftat zusammenhängen. Und dieses Buch soll ein Beitrag und eine Hilfestellung sein, um Trauer zu bewältigen. Das Verbrechen an meiner Frau Monika ist in dieser Form sicher einzigartig, aber mir kommt es eben nicht in erster Linie darauf an, den Menschen zu zeigen, wie schlecht es mir geht, wie sehr ich leiden muss. Ich will kein Mitleid erregen. Leid gibt es überall auf der Welt, mein Schicksal und das meiner Kinder sind nur ein Teil davon. Das Leid anderer Menschen zählt genauso wie meins, egal ob es durch den Tod eines Kindes, eine schwere Krankheit oder den finanziellen Ruin verursacht wurde.

Mein Anliegen ist es deshalb, durch dieses Buch Unterstützungen zu leisten, damit die Leserinnen und Leser bestimmte Situationen, die ich erlebt habe, nachvollziehen können, sich darin unter Umständen wiederfinden. Es soll erkennbar werden, dass man nicht allein ist in der Not, in dieser Zeit größter Verzweiflung, das ist wichtig. Auch Parallelen zu anderen Schicksalen sollen sichtbar werden. Die Menschen müssen sich in den Phasen der Trauer, der Verzweiflung, der Wut, der heftigen Stimmungsschwankungen, aber auch der Hoffnung Rat holen können – direkt oder indirekt. Vielleicht werden einige auch sagen: ›Zum Glück ist mir das nicht so passsiert.‹ Es wäre doch wunderbar, wenn es jemandem durch dieses Buch gelänge, sein eigenes Schicksal besser annehmen zu können.

Daneben ist es mir wichtig, meine fachlichen Überlegungen öffentlich zu machen. Ich möchte Veränderungen anstoßen, Impulse geben. Ich erfinde das Rad nicht neu, wenn ich sage, dass sich bei der Therapie und Begutachtung von Sexualstraftätern etwas ändern muss. Aber je mehr Menschen sich diesem Thema annehmen, desto größer wird die Chance, dass tatsächlich einmal etwas geschieht. Deshalb offenbare ich mich, spreche über die schmerzvolle Zeit nach der Ermordung meiner Frau. Wenn ein Täter rückfällig wird – mit tödlichen Folgen –, dann steht immer der Täter im Blickpunkt des Interesses. Doch kaum jemand berichtet von dem Leid all jener, die dem Opfer nahe gestanden haben. Das muss sich ändern, damit eine größere Sensibilität für diese Problematik entsteht. Auch dazu möchte ich mit meinem Buch beitragen. Vielleicht bekommt die etwas kühle und formal anmutende Kriminalpolitik so auch ein wenig Seele. Allerdings bin ich mir bewusst, dass meinem Einfluss enge Grenzen gesetzt sind. Ich will also ein Beispiel geben, dem hoffentlich weitere folgen werden.«

Harbort:  Hat Dir die Arbeit an dem Buch geholfen, Deine Lebenskrise zu meistern?«

Fischer:  »Eigentlich nicht. Diese Lebenskrise verläuft in so unberechenbaren Bahnen, dass ich mir keine Illusionen mache, sie jemals meistern zu können. Sie wird immer ein Teil von mir sein, mich auch immer wieder nach unten ziehen. Erfahrungsgemäß gerade nach den Momenten, wenn ich meine, mir geht es wieder besser. Die Erfahrungen der letzten Monate haben mich das gelehrt. Aber die Arbeit hat mir geholfen, einiges zu verarbeiten. Sie hat mich dazu animiert, mich mit meinem Schicksal auseinanderzusetzen und es anzunehmen.«

Harbort:  »Welche Reaktionen erhoffst Du Dir auf dieses Buch?«

Fischer:  »Ich wünsche mir, dass die Leserinnen und Leser verstehen, warum ich diesen Weg so gegangen bin. Wenn ich mit diesem Buch Menschen helfen kann, und nur einer sagt: ›Ja, es spendet mir Trost, es gibt mir Halt, es inspiriert mich‹, dann freue ich mich, dann hat sich die Arbeit gelohnt. Ich erhoffe mir aber auch eine neu aufflammende Diskussion, insbesondere um das Sexualstrafrecht und die Grenzen von Therapien.«

Harbort:   »Das Buch erscheint kurz vor Beginn der Hauptverhandlung am Landgericht Bayreuth. Was sagst Du jenen Menschen, die Dir nun vorhalten, Du würdest mit dem Tod Deiner Frau Geld verdienen wollen?«

Fischer:  »Ja, davor hatte ich anfangs tatsächlich Angst. Diese Angst ließ erst nach, als ich über die Verdienstmöglichkeiten aufgeklärt wurde. Für einen Co-Autor liegen die Einkünfte etwa in der Höhe einer Summe, die man für einen großzügigen Familienurlaub aufbringen muss. Wir haben aber nicht vor, einen solchen Urlaub zu machen, vielmehr werden wir das Geld als Rücklage verwenden, denn meine berufliche Zukunft ist ungewiss.

Der Termin der Veröffentlichung erschien mir zunächst selbst ein wenig verfrüht. Aber es ist letztlich genau der Zeitpunkt, an dem ich die meisten Menschen ansprechen kann. Nach der Gerichtsverhandlung gerät das Verbrechen an meiner Frau doch genauso schnell in Vergessenheit, wie alle anderen ähnlich gelagerten Taten auch. Dann erreiche ich kaum noch jemand, über die Medien schon gar nicht.

Noch eins: Dieser Termin ist auch deshalb gut gewählt, weil ich mich zeitnah gegen all die üblen Gerüchte wehren will, die mir zu Ohren gekommen sind. Ich möchte erzählen, wie es wirklich gewesen ist. Außerdem habe ich mit diesem Buch die Möglichkeit, meine Meinung zu sagen, ohne Gefahr zu laufen, von Journalisten falsch verstanden oder falsch zitiert zu werden. Ich will, dass in der Öffentlichkeit eben ein authentisches Bild entsteht.«

Harbort:  »Du warst eine Zeit lang unsicher, ob Du dieses Buch wirklich herausbringen willst. Warum?«

Fischer:  »Der vereinbarte Erscheinungstermin ließ mich zweifeln. Eigentlich ist so eine Geschichte doch erst nach dem Prozess komplett. Es waren daher so viele Kompromisse notwendig. Und aus dem Grund, dass ich vielleicht deshalb kritisiert werden würde, begann ich zu zögern. Ich stellte mir selbst immer wieder unangenehme Fragen. Ich hinterfragte meine Motive, überlegte, ob es überhaupt Sinn hat, so vorzugehen und ob meine Kinder Schaden nehmen könnten. Es war so ein ständiges Hin und Her. Ich glaube, viel Freude habe ich dem Verlag im Vorfeld mit meiner Wankelmütigkeit nicht gemacht. Das Projekt stand eine Zeit lang echt auf der Kippe, einmal bin ich sogar offiziell vom Vertrag zurückgetreten. Doch nach Abwägen aller Aspekte ist die Entscheidung nun doch für das Buch gefallen. Und insgesamt bin ich auch froh darüber.«

Harbort:  »Du gewährst in diesem Buch tiefe und ungeschönte Einblicke in Dein Seelenleben, scheust auch nicht davor zurück, Dich selbst zu kritisieren. Woher nimmst Du die Kraft und den Mut dazu?«

Fischer:  »Es ist einfach meine Bewältigungsstrategie. Einer singt, ein anderer schreit, der nächste wütet. Ich schreibe mir alles von der Seele. Ich will wirklich ehrlich sein – nicht der Belehrende, der Coole, der Besserwisser. Um ernst genommen zu werden – besonders wegen meiner fachlichen Denkanstöße –, ist es mir wichtig, auch ehrlich mit mir selbst umzugehen. Ich will mich nicht überschätzen, denn ich kenne meine Grenzen, weiß deshalb auch, dass ich allein verloren wäre.

Vielleicht habe ich gar nicht so viel Kraft oder Mut, aber ich war schon immer ein offener Mensch, das hat sicher auch dazu beigetragen, dass alles so ist wie es ist. Außerdem: Was habe ich zu verlieren? Meine Frau ist tot. Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Vielmehr kann ich aber einiges richtigstellen. Die Gerüchte in den letzten Monaten waren schon sehr geschmacklos und verletzend.«

Harbort:  »Menschen, die Ähnliches wie Du ertragen mussten, berichten, sie hätten in der ersten Zeit nicht darüber sprechen können. Wie war das bei Dir?«

Fischer:  »Genauso. Zuerst habe ich doch einiges ausgeblendet. Erst nach und nach konnte beziehungsweise musste ich die Fakten akzeptieren. Manches muss man eben erst annehmen und wenigstens ein Stück weit verarbeiten, bevor man darüber sprechen kann. Es fällt mir aber immer noch sehr schwer, mir diese Tat vor Augen zu führen.«

Harbort:  »Du hast auf die Beschreibung bestimmter Aspekte und Personen verzichtet. Welche sind das und warum hast Du Dich so entschieden?«

Fischer:  »Hauptsächlich musste ich meine Tätigkeit bei der Sozialtherapie in der Justizvollzugsanstalt Bayreuth aussparen. Das hat dienstrechtliche Gründe. Aspekte der Sozialtherapie habe ich deswegen nur allgemein angesprochen. Meine Partnerin, von der im Buch die Rede sein wird, wollte ich aus persönlichen Gründen nicht detailliert beschreiben und meine Privatsphäre schützen. Aber gerade, was unsere Beziehung angeht, habe ich sonst nichts weggelassen, weil dies sicher Diskussionen hervorrufen wird, und deshalb war es mir sehr wichtig zu beschreiben und zu erklären, wie es zu allem gekommen ist.

Manche Ärgernisse gab es natürlich auch, die hier unerwähnt bleiben. Die gibt es immer. Doch es wäre nicht fair, würde ich diese kleinen Unstimmigkeiten in meinem Buch zum Thema machen. Es sind auch Dinge, die für die Öffentlichkeit weniger von Bedeutung sind.«

Harbort:  »Du bist ein religiöser Mensch. Hat Dir der Glaube in Deiner schwersten Stunde geholfen oder siehst Du die Kirche jetzt mit anderen Augen?«

Fischer:  »Mit der Frage, warum lässt Gott das zu, komme ich nicht weiter. Es gibt Dinge, die können wir nicht verstehen. Gottes Wege sind mit unseren Augen nicht zu erkennen. Außerdem gibt es neben dem Guten und Göttlichen auch das Böse und Teuflische. Wer sagt denn, dass es Gottes Wille war? Ich glaube weiterhin an Gott und ich bete, dass er uns durch unser Leben führt, dass unser Leben wieder lebenswert wird.«

Harbort:  »Der Tod Deiner Frau ist nicht nur für Dich ein schlimmer Schicksalsschlag, sondern auch für Deine Kinder. Was würdest Du Menschen raten, die in eine vergleichbare Situation kommen, damit auch sie diesen Verlust ertragen und verarbeiten können?«

Fischer:  »Spontan würde ich sagen: Sie sollen mich anrufen. Ich werde ihnen zuhören, mit ihnen sprechen, versuchen, ihnen zu helfen. Das ist mein Wunsch. Momentan muss ich mich aber in erster Linie um meine Kinder und um mich selbst kümmern. Ganz sicher würde ich anderen dazu raten, sich in der ersten Zeit von den Medien fernzuhalten. Sie bräuchten sonst nämlich Profis mit großer Medienerfahrung an ihrer Seite, die das Ganze steuern. Die Polizei hilft in solchen Angelegenheiten auch.

Ich würde außerdem dazu raten, Bücher zu lesen, die von ähnlichen Schicksalen handeln. Betroffene sollten die Ereignisse dokumentieren, sofern es ihnen liegt, alles – ihre Wut, ihre Angst, ihre Verzweiflung – niederlegen. Sie sollen sich auf diese Art davon befreien. Wenn im Freundeskreis niemand kompetent genug ist zu helfen, würde ich als Kontaktperson einen Pfarrer empfehlen. Man muss deswegen nicht gläubig sein. Menschen in solcher Not sollten sich auch umgehend an die Opferhilfeorganisation Weißer Ring wenden. Dort arbeiten sehr kompetente und verantwortungsbewusste Leute wie ich sie zum Beispiel in Brigitte W. gefunden habe. Man sollte jedenfalls niemals versuchen, ein solches Trauma allein zu bewältigen. Das geht meist nicht gut.

Allerdings muss ich auch sagen, dass jeder Mensch bei Schicksalsschlägen individuell reagiert, eben immer ein bisschen anders. Es gibt leider keinen Königsweg, kein Patentrezept.«

Harbort:  »Welche Erfahrungen hast Du im Umgang mit Polizei und Staatsanwaltschaft gemacht?«

Fischer:  »Die Polizisten, die mir zur Seite standen, waren spitze. Sie haben einen brutalen Job. Ich bin froh, dass ich so einfühlsame und verständige Polizisten um mich hatte. Ich möchte hier besonders Andi S. und Alexander K. nennen. Ich hätte auch auf ganz andere Beamte treffen können …

Mit der Staatsanwaltschaft hatte ich persönlich noch nichts zu tun. Aber Post von dort bereitete mir immer ein sehr flaues Gefühl in der Magengrube. Die Behördensprache ist sachlich, aber in diesem Fall wirkt jede Sachlichkeit, jedes Detail wie der brutale Schlag mit einer Keule. Es geht um Obduktionsergebnisse, den genauen Tatablauf, alle Einzelheiten eines schrecklichen Verbrechens. Die findet man einfach so im Briefkasten. Da steht kein Seelsorger neben Dir und sagt: ›Komm, den machen wir mal zusammen auf und sprechen darüber.‹ Und alles, was da beschrieben wird, hat nicht irgendjemand erdulden müssen. Das ist eben keine fiktive Geschichte, sondern die meiner eigenen Frau! Ich sehe bei allem ihr Gesicht vor mir und spüre ihre Schmerzen. Ob das weh tut? Es ist das Schlimmste überhaupt. Es droht Dich zu zerreißen.«

Harbort:  »Viele Angehörige von Mordopfern berichten von rüden Umgangsformen der Medien. Welche Erfahrungen hast Du gemacht?«

Fischer:  »Ich habe mich mit anderen Hinterbliebenen von Opfern in vergleichbarer Situation darüber ausgetauscht. Es ist wohl immer dasselbe Spiel: Für eine gute Story oder Schlagzeile wird übertrieben, falsch zitiert; manchmal werden Dinge auch einfach erfunden. Dagegen kann man sich kaum wehren, man ist ziemlich machtlos, man fühlt sich schutzlos, ausgeliefert. Ich möchte ein Beispiel geben: Eine Reporterin tat mir besonders weh. Sie fühlte sich so überlegen, versuchte, mich mit gemeiner Rhetorik in die Enge zu treiben und Antworten aus mir herauszupressen. So wurde ich von ihr gefragt: ›Sie stehen doch jetzt in der Pflicht, etwas zu sagen und Sie wollen doch auch, dass so etwas nicht wieder passiert?‹

Trotzdem. Ich sehe auch deren Position. Ich fand die Entschuldigung des Reporters einer Boulevardzeitung besser als gar keine. Es ist halt ihr Job. Wenn sich diese Reporter aber genau bewusst machen würden, was sie mit diesen Berichten auslösen, könnte ich mir vorstellen, dass ihre Arbeit und Umgangsformen anders ausfielen. Vielleicht würden sie dann etwas sensibler vorgehen.

Ich habe aber auch sehr nette Reporter kennengelernt. Sie weinten mit mir, legten Blumen vor die Haustür. Dem einen oder anderen schrieb ich E-Mails. Nur zur Sache äußerte ich mich dabei nie. Nachdem einige Kamerateams unser Haus schon zwei Tage lang gefilmt hatten, klingelte irgendwann mal ein Reporter und fragte tatsächlich, ob er das Haus wohl ablichten dürfe. Klar, er durfte. Wieso sollte ich es genau dem, der so höflich war und fragte, untersagen?«

Harbort:  »Welche Organisation oder Institution hat Dir wirkliche Hilfestellung geben können und wie sah sie aus?«

Fischer:  »Zugegeben, Frau W. vom Weißen Ring kannte ich schon vorher. Ich hatte bereits in vielen Fällen mit ihr zusammengearbeitet. Sie war mir nach dem Tod meiner Frau immer eine große Hilfe. Schon das Gefühl, das sie mir vermittelte, mich immer und mit allem an sie wenden zu dürfen, gab und gibt mir viel Sicherheit. Besonders erwähnenswert ist auch das Einfühlungsvermögen eines leitenden Beamten vom Versorgungsamt. Nicht zuletzt habe ich in meinem Anwalt, Herrn Beermann, einen wunderbaren Menschen und Partner gefunden. Er konnte mich immer wieder beruhigen, mir fachlich und persönlich beistehen. Ich bin dankbar, dass mir diese Menschen das Gefühl gegeben haben, nicht allein zu sein.«

Harbort:  »Viele Menschen in ganz Deutschland haben von Deinem Schicksal erfahren und Anteil genommen. Hast Du auch Berührungsängste gespürt, Menschen getroffen und erlebt, die Dir nicht zu nahe kommen wollten, die sprachlos geblieben sind?«

Fischer:  »Ja. Doch schon. In meiner Danksagung in der Tageszeitung habe ich auch diesen Menschen Aufmerksamkeit geschenkt und ihnen vermitteln wollen, dass ich diejenigen, die sprachlos geblieben sind, auch verstehe. Manche konnten mir einfach nicht in die Augen schauen, wenn ich zum Beispiel mit den Kindern einkaufen war. Diese Berührungsängste hätte ich genauso. Ich durfte aber auch Menschen kennenlernen, die von dieser Tragödie so berührt waren, dass sie Briefe schrieben, mich anriefen und einige wenige trauten sich sogar, uns zu besuchen, mit mir zu sprechen – obwohl ich für sie ein Fremder war. Sie baten mich auch, am Grab meiner Frau Blumen ablegen zu dürfen. Ich finde das rührend. Es zeigt mir, dass es auch noch Menschen mit Mitgefühl und Liebe im Herzen gibt.«

Harbort:  »Wenn spektakuläre Verbrechen passieren, wird in erster Linie über den Täter berichtet, selten über die Opfer, noch seltener über die Angehörigen und Freunde der Opfer. Hast Du ähnliche Erfahrungen gemacht?«

Fischer:  »Ich finde das eigentlich ganz gut so. Ich darf mich doch nicht einerseits beschweren, dass die Medien über uns herfallen, und andererseits sagen, über uns wird zu wenig berichtet. Trotzdem bin ich der Meinung, dass den Opfern und deren Angehörigen kaum ein Forum bleibt, um auf ihre besondere Situation und die damit verbundenen Probleme hinweisen zu können. Es kommt allerdings in erster Linie darauf an, wie berichtet wird. Ich glaube, das ist ein Punkt, über den noch viel gesprochen werden muss.«

Harbort:  »Deine Frau ist mutmaßlich das Opfer eines Täters geworden, der gerade fünf Wochen vor der Tat, vorzeitig aus der Haft entlassen und dem eine sehr günstige Legalprognose gestellt worden war. Als Betreuungsbeamter hast Du einige Jahre mit Sexualstraftätern gearbeitet. Dass die Gefährlichkeit solcher Täter verkannt wird, passiert leider immer wieder. Was sind aus Deiner Sicht die typischen Fehlerquellen bei der Prognosebegutachtung?«

Fischer:  »Die Gutachter sehen diese Menschen doch nur kurz. In dieser Zeit werden auch Befragungen mithilfe eines Computertests vorgenommen. Darin werden Fragen gestellt, die Aufschluss über die Gefährlichkeit der Gefangenen geben sollen. Doch dieser Fragenkatalog ist den Gefangenen bestens bekannt. Natürlich tauschen die sich darüber aus. Natürlich wird da manipuliert. Meiner Ansicht nach ist diese Methode kein geeignetes Mittel. Immer wieder konnten wir beobachten, wie Gefangene versuchten, systematisch die richtigen Aussagen zu treffen. Manchmal fiel schon auf, dass sie so opportun waren, dass dem Gefangenen schon aus diesem Grund nicht geglaubt werden konnte. Die gaben das teilweise auch zu.

Zu meiner Zeit durfte der Gutachter die Gruppenprotokolle – die Therapieakte – nicht einsehen, damit er unabhängig urteilen kann. So wurde es jedenfalls mir gegenüber begründet. Ich denke aber, diese Aufzeichnungen wären es schon wert gewesen, zumindest überflogen zu werden. So hätte der Gutachter auf manche Dinge stoßen können, die bei einer Exploration dann hätten thematisiert werden müssen. Ich halte das Alltagsverhalten der Täter in der Haft für einen sehr wichtigen Bereich, aus dem elementare Schlüsse gezogen werden können. In einer Gruppensitzung ist der Klient ein Anpassungsmeister. Im Alltag zeigt sich dann schon eher das wahre Gesicht. Da die Justizvollzugsanstalt aber wiederum ein geschützter, besonderer Raum ist, verstellt sich der Klient natürlich gerade in diesem künstlichen Umfeld. Die Gefahr, dass man an seinen Kern nicht herankommt, ist unweigerlich groß. Erst draußen in der Freiheit zeigt der Mensch nach einer bestimmten Eingewöhnungszeit dann wieder sein wahres Gesicht.

Eine große Gefahr birgt auch das Verhältnis Therapeut zu Klient. Genauso wie das von Vollzugsbeamtem zu Gefangenem. Durch den täglichen Umgang kommen sich die Beteiligten näher, werden vertrauter miteinander und die Objektivität geht verloren. Der Therapeut wünscht sich Erfolg beim Klienten und belügt sich mitunter selbst, gaukelt sich vermeintliche Fortschritte vor.

Ein Gutachter vergleicht den Klienten darüber hinaus mit anderen Gefangenen. Daraufhin erkennt er womöglich bei manchem eine relative Besserung, eine relativ geringe Rückfallgefahr. Dass diese aber tatsächlich immer noch immens hoch ist, kann somit in den Hintergrund geraten.«

Harbort:  »Viele Menschen werden vielleicht einwenden: Du kannst bei der Bewertung des Prognosesystems gar nicht objektiv sein – weil Du selbst Opfer geworden bist. Was kannst Du dem entgegenhalten?«

Fischer:  »Das stimmt. Ich kann vielleicht gar nichts objektiv beurteilen und urteile genauso, wie derjenige, der das System vertritt, nur aus einer anderen Sicht. Der wird alles tun, um es zu verteidigen. Auch diese Leute sind nicht objektiv. Mir ist es deshalb wichtig, das System von allen Seiten zu beleuchten, damit Fehlerquellen erkannt und eingedämmt werden können. Das sollte auch im Interesse der Fürsprecher des Systems sein. Immer nur stehen bleiben bringt nichts, wenn sich die Anzeichen verdichten, dass etwas nicht stimmt. Es darf nicht darum gehen, Gewinner oder Verlierer zu ermitteln. Es muss darum gehen, ein höchstmögliches Maß an Sicherheit für die Allgemeinheit zu garantieren. Um meine Befangenheit zu relativieren, will ich ja nicht allein für Reformen kämpfen. Doch ich liege mit meinen Beobachtungen und Ansichten wohl nicht ganz so falsch. Das bekomme ich immer wieder bestätigt. Nur vor der Tat hätte mich wohl kaum jemand ernst genommen oder mir Gehör geschenkt. Nun habe ich die Aufmerksamkeit, nun will ich dazu Stellung nehmen.«

Harbort:  »Politiker bemühen sich seit Jahrzehnten um eine spürbare Verbesserung bei der Therapie und Prognosesicherheit von Sexualstraftätern. Das Ergebnis ist immer noch unbefriedigend. Was sollte aus der Sicht des Praktikers künftig besser gemacht werden?«

Fischer:  »Die verantwortlichen Fachdienste, Pädagogen und Psychologen sollten sich regelmäßig in denselben Räumlichkeiten wie die Gefangenen aufhalten. Nur so entgehen sie dem Blendwerk der Therapiestunden. Nur so sind sie auch Herr des Geschehens.

Es darf nicht schlichtweg als schlechtes Arbeitsergebnis, als erfolglose Therapie, als persönliche Fehlleistung gewertet werden, wenn bei 20 zu behandelnden Gefangenen in genau 20 Fällen keine Besserung eintritt. Es liegt doch vielmehr an den begrenzten Möglichkeiten, therapeutisch überhaupt erfolgreich arbeiten zu können. So wird aber zwangsläufig jede noch so geringe Besserung im Verhältnis zum Status quo der anderen überbewertet. Das darf nicht sein. Hier muss man erkennen, dass es enge Grenzen der Therapierbarkeit gibt.

Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Therapie auch Gefahren birgt. So findet sich zum Beispiel der Kindesmissbraucher in der Masse von anderen Tätern, die Kinder missbrauchen, wieder. Er wird dabei von seinem Gegenüber mit derselben Neigung akzeptiert. In solchen Grüppchen legitimieren die Straftäter ihre Taten, vor allem auch sich selbst gegenüber.

Ich halte es für bedenklich, dass beispielsweise Gefangene mit sadistischen Neigungen in der Sozialtherapie einen regen Gedankenaustausch haben können. Durch den Austausch besteht die Gefahr, dass die perversen Fantasien neue Nahrung erhalten und der eine oder andere Gefangene einem Rückfall näher ist als einer Besserung.

Das Ködern mit vorzeitiger Entlassung ist überdenkenswert. Ermuntert zum Aktivwerden wird der Klient schon dadurch, dass er erfährt, dass er ohne Therapie gar keine vorzeitige Entlassung bekommen kann. Er durchläuft damit praktisch eine Zwangstherapie. Er lernt schnell, was er sagen muss, was ihn weiter bringt, welche Tricks er anwenden muss. Die Lösung, auch mit Therapie den ursprünglichen Entlassungstermin einzuhalten, finde ich richtig. Die Therapie muss freiwillig erfolgen und sollte nicht an Vergünstigungen geknüpft werden.

Wenn der Gefangene beim Entlassungstermin noch eine Gefahr darstellt – ob mit oder ohne Therapie –, dann sollte die Möglichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung in Betracht gezogen werden. Die Hürden dazu erscheinen mir aber bei der derzeitigen Rechtslage zu hoch. Wenn nach Ablauf der Haftzeit noch ein Risiko besteht, dann müssen die Verantwortlichen alles neu überdenken und abwägen, ob die getroffenen Maßnahmen ausreichend sind. Nach meiner bisherigen Erfahrung bezweifle ich, dass das geschieht. Und: Das Strafmaß wird allgemein zu niedrig angesetzt, zum Beispiel bei Tätern, die Kinder missbrauchen. Jede Zeit der Verwahrung bedeutet letztendlich auch einen Schutz für die Allgemeinheit. Kinder müssen Sperma schlucken, den Onkel oder Stiefvater befriedigen und sind fürs Leben gezeichnet. Sie werden manipuliert und mit Schuldgefühlen beladen. Das ganze Leben wird von so einer Tat geprägt sein. Die begrenzten Freiheitsstrafen empfinde ich in dem bisherigen Umfang als nicht angemessen. Die Opfer werden wohl ähnlich denken. Hier sollten Politiker zusammenarbeiten und bessere Lösungen anstreben. Sie sollten sich der Verantwortung besser bewusst werden.«

Harbort:  »Eine Frage, die gestellt werden muss, die aber auch unbeantwortet bleiben darf. Der mutmaßliche Mörder Deiner Frau war einer derjenigen Gefangenen, die Du im Rahmen einer Sozialtherapie begleitet hast. Wie denkst Du jetzt über diesen Menschen?«

Fischer:  »Ich habe keine Rachegedanken, keine Hassgefühle. Ich habe gar keine Empfindungen, was den mutmaßlichen Täter betrifft. Er hat so gehandelt, wie es verwerflicher nicht sein kann. Er muss dafür selbst Verantwortung übernehmen. Nur er alleine war es. Der Gutachter war es nicht. Der Psychologe war es nicht. Seine Mutter oder sein Vater waren es auch nicht. Ich möchte mich an dieser Stelle mit persönlicher Kritik zurückhalten und den Gang der Hauptverhandlung abwarten. Dort soll Recht gesprochen werden und der Täter eine gerechte Strafe erhalten, wenn ihm seine Schuld nachgewiesen worden ist.«

Harbort:  »Was würdest Du Menschen raten, die in vergleichbare Situationen kommen und keinen Ausweg sehen?«

Fischer:  »Ich würde ihnen gerne helfen wollen. Da ich diesen Alptraum schon durchlebt habe, könnte ich ihnen vielleicht schon durch verständnisvolles Zuhören eine Stütze sein. In mir würden sie vielleicht einen Ansprechpartner finden, von dem sie überzeugt sein können, dass er weiß, wie und was sie fühlen. Aber das ist nur die Theorie. Ich muss dazu selbst erst wieder stabil genug sein und ich habe keine Ahnung, wie sehr mich eine solche Aufgabe selbst wieder runterziehen könnte.«

Harbort:  »Was wünschst Du Dir für die Zukunft?«

Fischer:  »Neben einem sorgfältigen Umgang mit diesem Buch gerade in unserem näheren Umfeld, einen gewissenhaften und sensiblen Umgang mit jedem einzelnen Familienmitglied. Ich wünsche mir, dass dieses Buch auf offene Ohren in der Politik stößt. Ich selbst möchte mich möglichst bald aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Ich habe mir dieses Schicksal nicht ausgesucht. Ich wurde zu einer für die Medien interessanten Figur. Darum muss ich nun in diesem Spiel mitmachen. Ein Spiel, dass ich nie wollte, dessen Spielregeln ich nicht kannte, über dessen Ausgang ich mir bis heute nie sicher sein kann.

Ich wünsche meinen Kindern, der gesamten Familie und mir ein lebenswertes Leben. Jeder kann dazu beitragen, indem er uns nicht wider besseren Wissens angreift, Gerüchte schürt und uns bei jeder Gelegenheit mit unserem Schicksal konfrontiert. Wunden müssen heilen dürfen. Für dieses Verständnis bedanke ich mich.«

»Drei Dinge überleben den Tod.

Es sind Mut, Erinnerung und Liebe.«

Anne Morrow Lindbergh in »Verschlossene Räume, offene Türen«

Diese Geschichte ist wahr. Sie basiert auf Tatsachen und schildert das subjektive Erleben von Andreas Fischer. Die Namen verschiedener Personen sind verändert worden und bei erstmaliger Nennung mit * gekennzeichnet. Diese Verfahrensweise ist dem Schutz der Persönlichkeitsrechte geschuldet.

Teil I

»Die Gewalt besitzt nicht halb so viel Macht wie die Milde.«

Samuel Smiles in »Charakter«

Der Tag, der alles verändert

»Da war eine Frau, gesichtslos. Und da waren einige Männer, auch gesichtslos. Keiner wollte sich mit der Frau abgeben. Ich fand sie sympathisch, reizend. Gerne hätte ich mit ihr geflirtet. Doch irgendwie konnte ich sie nicht erreichen.«

Es ist der 7. Oktober 2006, ein Samstag, gegen 6.10 Uhr. Andreas schreckt aus dem Traum hoch. Es braucht einige Zeit, bis er versteht. Jetzt hört er das Schellen. Schlaftrunken schleppt sich der 38-Jährige eine Etage tiefer ins Wohnzimmer. Er beeilt sich. Das muss Monika sein, sie hat bestimmt etwas vergessen, vermutet er. Sie sollte eigentlich schon im Krankenhaus sein. Seine Frau arbeitet im Klinikum Bayreuth, Station 35, Gefäßchirurgie, fünf bis sieben Tage Schichtdienst im Monat. Damit man über die Runden kommt. Für Monika ist es aber auch eine willkommene Abwechslung – mal raus aus dem Familienalltag.

Dann hat er den Hörer in der Hand. Es ist die Stationsschwester. Monika sei noch nicht da, sagt sie. Ob sie wohl verschlafen habe?

Andreas läuft mit dem Hörer in der Hand wieder hoch, vorbei an den Zimmern der Kinder. Lea* und Nico* schlafen noch. Beim Hasten zum Telefon hat er nicht darauf geachtet, ob Monika vielleicht noch neben ihm liegt. Vielleicht hat sie verschlafen. Vielleicht hat der Wecker nicht geschellt. Vielleicht! Er braucht Gewissheit.

Das Bett ist ordentlich zurückgeschlagen. Er legt seine linke Hand aufs Bett, tastend, prüfend. »Nicht mehr warm«, denkt er. Monika muss schon eine Weile weg sein. Das sagt er ihrer Kollegin. Die sorgt sich. Monika sei doch sonst so zuverlässig. Andreas weiß das. Gerade er.

»Moni plante für den Weg zur Arbeit stets ein Übermaß an Zeit ein, sodass sie schon vor Dienstbeginn die Arbeitsstelle erreichte. Sie war auch sonst sehr verlässlich, genoss bei anderen großes Vertrauen. Jeden Termin hielt sie peinlich genau ein.«

Er sagt noch, dass er versuchen wolle, sie über Handy zu erreichen. Dann legt er auf und wählt Monikas Nummer. Die Verbindung baut sich auf, es klingelt, fünfmal, zehnmal. Er ist ungeduldig und unterbricht die Verbindung, prüft die eingetippte Zahlenreihe, wählt neu. Doch wieder hebt niemand ab. Ein unangenehmes Gefühl versucht von ihm Besitz zu ergreifen: Angst. Er legt sich ins Bett, denkt nach.

»Wo bist du? Was machst du? Warum bist du nicht in der Klinik? Warum gehst du nicht ans Telefon? Moni, was ist los?«

Andreas wehrt sich gegen dieses unangenehme Kribbeln im Bauch. Dass Monika sich mal verspätet hat oder nicht zu erreichen gewesen war, das ist ja schon mal vorgekommen. Einerseits. Andererseits ist so etwas erst drei Mal passiert, in all den Jahren.

»Das war bei Shoppingausflügen mit Freundinnen. Anschließend gab es ein spontanes Kaffeetrinken oder sie ging mit den Frauen etwas essen. Einmal war sie mit den Kindern unterwegs. Da hat es einfach etwas länger gedauert. Als sie dann damals später kam und ich ihr erzählte, dass ich mir große Sorgen um sie gemacht habe, sagte sie nur: ›Was soll denn schon passiert sein?‹ Genau: Was soll denn schon passiert sein? Jetzt nur nicht nervös werden, dachte ich mir. Was soll schon passiert sein …«

Gerade, als er glaubt, sich wieder freigeschwommen zu haben, schlägt ein Gedanke wie eine Welle über ihm zusammen: »Moni ist doch nie zu spät zur Arbeit gekommen. Noch nie!« Andreas wählt abermals ihre Handynummer. Wieder meldet sie sich nicht. Jetzt wird es ihm zu viel. Er will Gewissheit. Wo ist Monika?

Er ruft die Polizei an, erzählt, dass seine Frau überfällig sei, sie habe über die A 9 fahren müssen. Er erkundigt sich, ob denn ein Unfall passiert sei oder man etwas von einem Stau wisse. Der Beamte verneint. »Und im Stadtgebiet, hat es vielleicht da einen Unfall gegeben?«, fragt Andreas nach. Er wird an die Stadtpolizei in Bayreuth verwiesen. Die können aber auch nicht weiterhelfen. Andreas teilt Monikas Autokennzeichen und seine Telefonnummer mit. Vorsichtshalber, für alle Fälle.

Jetzt schält sich aus den ihn heimsuchenden Gedanken und Befürchtungen eine Überlegung heraus, die von Minute zu Minute realistischer und somit auch wahrscheinlicher wird: »Es muss etwas passiert sein.« Er schaut auf die Uhr. 6.30 Uhr. »Jetzt wird sie doch wohl endlich in der Klinik angekommen sein. Sie muss!« Hoffnung keimt auf. Er ruft an. »Jetzt doch. Geh ran.« Wieder nur die Stationsschwester. Wieder dieselbe Auskunft. Beunruhigend. Niederschmetternd.

»Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam mich, so eine Wut, eine Situation nicht bestimmen oder wenigstens beeinflussen zu können.«

Andreas hält es nicht mehr aus. Er will Monika hinterherfahren, nach ihrem Auto suchen, sie finden. Er will etwas unternehmen, er muss. In der Küche findet er ein Stück Papier und schreibt: »Bin kurz weg, komme gleich wieder. Papi.« Die Kinder sollen sich keine Sorgen machen. Wenigstens sie nicht.

Er hat noch die besorgte Stimme der Stationsschwester im Kopf: »Das ist doch noch nie vorgekommen. Sie war doch immer pünktlich. Wir machen uns große Sorgen.« Er wählt den Notruf, will Monika als vermisst melden. Der Polizist erklärt, dass so etwas häufiger vorkomme und dass sich alles bald aufklären werde, wahrscheinlich sogar sehr schnell. Das sei eben nicht wie bei einem vermissten Kind, man habe bei Erwachsenen andere Vorgaben und Richtlinien. Man wolle aber einen Streifenwagen zur Klinik schicken, der die Gegend abfahre. Wenigstens das. Andreas hat Verständnis. Doch er versteht immer noch nicht. »Was geht da vor sich? Ist Monika in Gefahr? Oder noch schlimmer?« Er verweigert sich diesem Gedanken.

Wenig später verlässt er das Haus und fährt los: durch die Wohnsiedlung und das direkt angrenzende Gewerbegebiet bis zur Autobahnauffahrt Himmelkron, Richtung Bayreuth, von dort etwa zehn Kilometer weiter bis zur Ausfahrt Bayreuth-Nord. Nach etwa einem Kilometer erreicht er die Nordtangente, eine Umgehungsstraße. Noch ein paar Straßen, dann ist er am Klinikum. Dort ist ein großer Parkplatz, er fährt alle Straßen ab. Sein Blick wandert von links nach rechts, von rechts nach links. In Gedanken sieht er Monikas grauen Ford Focus. Doch er kann ihn nicht finden. Er ist ratlos. Er kann sich nicht einmal vorstellen, was passiert sein könnte. Noch nicht.

Andreas fährt den Parkplatz ein zweites Mal ab. Wieder nichts, Monikas Wagen ist wie vom Erdboden verschluckt. »Es muss etwas passiert sein«, durchzuckt es ihn.

»›Ihr muss etwas passiert sein!‹ Ich blickte von dem hochgelegenen Parkplatz des Klinikums über ganz Bayreuth. Ich dachte, ›Irgendwo da unten muss sie sein.‹ ›Mein Gott, Monika ist Krankenschwester!‹ durchfuhr es mich. Da kam mir ein furchtbarer Verdacht. Ich erinnerte mich an einen Gefangenen aus meiner Abteilung, der war fünf Wochen vorher entlassen worden. Er hatte sieben Jahre zuvor eine Frau in deren Auto entführt, beraubt und vergewaltigt – eine Krankenschwesterschülerin, vor dem Klinikum Bamberg. Er hatte das Opfer mit einer Pistole bedroht, die junge Frau gezwungen, bei einem Bankautomaten Geld abzuheben. Anschließend war er über die Frau auf einem Waldweg hergefallen.«

Er kennt den Mann persönlich. Jochen S. ist Gefangener der Justizvollzugsanstalt Bayreuth gewesen und Andreas hatte ihn betreut, mit ihm sogar über einen längeren Zeitraum hinweg eine Sozialtherapie gemacht. »Der? Der und Monika? Der soll Monika …« Er wehrt sich gegen diese absurde Überlegung, vergräbt sie unter anderen Gedanken. Andreas hat gute Gründe.

»Ihm habe ich eine solche Wiederholungstat wirklich nicht zugetraut, zumal die Entlassungssituation prima war: Er hatte eine Arbeitsstelle, Kontakt zu der geschiedenen Frau und dem gemeinsamen Kind. Ich hatte nicht das Gefühl, dass der dazu fähig sein könnte. Er machte im Vergleich zu den vielen anderen Verbrechern, die ich kannte, mit denen ich arbeiten musste, einen relativ vernünftigen Eindruck.«

Es ist jetzt 6.50 Uhr. Andreas fährt zu einer Telefonzelle. Er besitzt kein eigenes Handy. Monika hat eins, das genügt. Er ruft im Klinikum an, ob sie inzwischen angekommen sei. Nein. Die Antwort trifft ihn genauso hart wie ein dumpfer Schlag in die Magengrube. Er bittet die Schwester, vom Klinikum aus die Polizei anzurufen.

»Ich dachte, wenn Anrufe verschiedener Leute bei der Polizei eingehen, nehmen sie die Angelegenheit ernster.«

Andreas fährt zurück, im Klinikum kann er nichts ausrichten, und es hat für ihn auch keinen Sinn, blindlings und planlos durch Bayreuth zu kurven. Und die Kinder warten vielleicht schon.

Mittlerweile sind 70 Minuten seit diesem Anruf vergangen, den er lieber nicht bekommen hätte. Andreas lässt nicht locker. Denn er weiß es besser als die Polizei, er kennt doch Monika, seine Monika. Jetzt ruft er bei der Polizei in Stadtsteinach an, wenig später in Bayreuth. Ob denn etwas Besonderes vorgefallen sei, wollen die Beamten wissen.

»›Jetzt mal ganz unter uns‹, meinte der Beamte aus Bayreuth, ›hatten Sie in der letzten Zeit Stress, wollte sie vielleicht ausziehen? Hat sie vielleicht einen Freund?‹ Ich antwortete: ›Nein, wir haben gerade in letzter Zeit eine gute Ehe geführt. Und sie ist auch nicht der Typ, der fremdgeht. Glauben Sie mir, ich wäre froh, wenn sie jetzt fremdgehen würde und ich dafür Gewissheit hätte, ihr wäre nichts passiert.‹«

Andreas beschreibt seine Frau als zuverlässig und pflichtbewusst, es sei eine harmonische Ehe mit Höhen und Tiefen, wie sie immer mal vorkämen.

»Manchmal stritten wir über meine Unordnung und Schludrigkeit, wenn ich mal wieder die Küche nicht aufgeräumt hatte oder Klamotten herumlagen. Verstimmungen gab es auch, wenn ich so eine ganz spontane Idee hatte. Das ist halt so meine Art. Wenn ich zum Beispiel einen Ausflug machen wollte, dann konnte Moni sich nicht so schnell darauf einlassen. Sie wollte alles lieber von langer Hand planen.«

Wieder lässt er die bohrenden und unangenehmen Fragen bereitwillig passieren, antwortet, stets um Haltung bemüht, obwohl ihm ganz anders zumute ist. All das kostet so viel Zeit, so viel Kraft. Er ist unruhig, alle berechtigten Hoffnungen haben sich aufgelöst wie ein Schwarm Sardinen, der nach und nach von Raubfischen gefressen wird.

»Meine Zuversicht war ja, dass Moni doch irgendwann in der Klinik auftauchen würde und sie einen plausiblen Grund für ihr Nichterscheinen hätte, auf den ich einfach nicht gekommen war. Dann stieg in mir mehr und mehr die Wut auf, weil ich einfach nichts machen konnte. Ich war so unglaublich hilflos.«