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Albert Schweitzer

ZWISCHEN WASSER
UND URWALD

Erlebnisse und Beobachtungen
eines Arztes im Urwald Äquatorialafrikas

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Der junge Theologieprofessor Albert Schweitzer brach im Jahre 1905 seine akademische Karriere ab, studierte Medizin und schiffte sich 1913 nach Afrika ein, um im Dienst der französischen Missionsgesellschaft im Urwald Äquatorialafrikas eine medizinische Station aufzubauen. 1920 verfaßte er seinen berühmten Bericht «Zwischen Wasser und Urwald» über die ersten Jahre in Lambarene.

«Der Leser versteht, daß Schweitzer während seines hilfreichen Wirkens für seine afrikanischen Patienten viel für seine eigene Person gelernt hat. Er selbst brauchte Lambarene, um zu erproben, inwieweit er fähig war, die Idee der Solidarität mit der Bevölkerung der später so genannten Dritten Welt glaubwürdig anzuwenden. Erst durch das Bestehen der Praxis gewann er die Sicherheit und Überzeugungskraft für seine großartige ‹Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben›, die nicht nur das menschliche, sondern das Leben der Schöpfung im Ganzen meint.» Horst Eberhard Richter

Über den Autor

Albert Schweitzer (1875–1965) ist als Theologe, Philosoph, Musikwissenschaftler und Tropenarzt weltweit bekannt. 1952 wurde ihm für seine medizinische Tätigkeit in Afrika der Friedensnobelpreis verliehen.

Den Freunden, die mir das Werk gründen halfen,
den toten und den lebenden,
in tiefer Dankbarkeit

 

Die Photographien verdanke ich größtenteils der Freundlichkeit eines dankbaren Patienten. Bild 2 und 6 sind nach einem Klischee von Missionar Ottmann reproduziert worden. Das Bild 4 stellte mir Missionar Pelet, die Bilder 5 und 14 Missionar Morel zur Verfügung.

Anmerkung des Verlags zu dieser Ausgabe: Die Vorlagen der Abbildungen 1, 8, 10, 13 und 15 sind nicht mehr aufzufinden. Die «Archives Centrales Albert Schweitzer» in Günsbach stellten freundlicherweise Bilder mit gleichen Motiven zur Verfügung.

INHALT

I. Wie ich dazu kam, Arzt im Urwald zu werden/Land und Leute am Ogowe

II. Die Fahrt

III. Erste Eindrücke und Erlebnisse

IV. Juli 1913 bis Januar 1914

V. Januar bis Juni 1914

VI. Holzfäller und Holzflößer im Urwald

VII. Soziale Probleme im Urwald

VIII. Weihnachten 1914

IX. Weihnachten 1915

X. Von der Mission

XI. Schluß

I.
WIE ICH DAZU KAM, ARZT IM URWALD ZU WERDEN
LAND UND LEUTE AM OGOWE

Die Lehrtätigkeit an der Universität Straßburg, die Orgelkunst und die Schriftstellerei verließ ich, um als Arzt nach Äquatorialafrika zu gehen. Wie kam ich dazu?

Ich hatte von dem körperlichen Elende der Eingeborenen des Urwaldes gelesen und durch Missionare davon gehört. Je mehr ich darüber nachdachte, desto unbegreiflicher kam es mir vor, daß wir Europäer uns um die große humanitäre Aufgabe, die sich uns in der Ferne stellt, so wenig bekümmern. Das Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus schien mir auf uns geredet zu sein. Wir sind der reiche Mann, weil wir durch die Fortschritte der Medizin im Besitze vieler Kenntnisse und Mittel gegen Krankheit und Schmerz sind. Die unermeßlichen Vorteile dieses Reichtums nehmen wir als etwas Selbstverständliches hin. Draußen in den Kolonien aber sitzt der arme Lazarus, das Volk der Farbigen, das der Krankheit und dem Schmerz ebenso wie wir, ja noch mehr als wir unterworfen ist und keine Mittel besitzt, um ihnen zu begegnen. Wie der Reiche sich aus Gedankenlosigkeit gegen den Armen vor seiner Türe versündigte, weil er sich nicht in seine Lage versetzte und sein Herz nicht reden ließ, also auch wir.

Die paar hundert Ärzte, die die europäischen Staaten als Regierungsärzte in der kolonialen Welt unterhalten, können, sagte ich mir, nur einen ganz geringen Teil der gewaltigen Aufgabe in Angriff nehmen, besonders da die meisten von ihnen in erster Linie für die weißen Kolonisten und für die Truppen bestimmt sind. Unsere Gesellschaft als solche muß die humanitäre Aufgabe als die ihre anerkennen. Es muß die Zeit kommen, wo freiwillige Ärzte, von ihr gesandt und unterstützt, in bedeutender Zahl in die Welt hinausgehen und unter den Eingeborenen Gutes tun. Erst dann haben wir die Verantwortung, die uns als Kulturmenschheit den farbigen Menschen gegenüber zufällt, zu erkennen und zu erfüllen begonnen.

Von diesen Gedanken bewegt beschloß ich, bereits dreißig Jahre alt, Medizin zu studieren und draußen die Idee in der Wirklichkeit zu erproben. Anfang 1913 erwarb ich den medizinischen Doktorgrad. Im Frühling desselben Jahres fuhr ich mit meiner Frau, die die Krankenpflege erlernt hatte, an den Ogowe in Äquatorialafrika, um dort meine Wirksamkeit zu beginnen.

Ich hatte mir diese Gegend ausgesucht, weil elsässische, dort im Dienste der Pariser evangelischen Missionsgesellschaft stehende Missionare mir gesagt hatten, daß ein Arzt dort, besonders wegen der immer mehr um sich greifenden Schlafkrankheit, sehr notwendig sei. Diese Missionsgesellschaft erklärte sich bereit, mir auf ihrer Station Lambarene eines ihrer Häuser zur Verfügung zu stellen und mir zu erlauben, dort auf ihrem Grund und Boden ein Spital zu bauen, wozu sie mir auch ihre Hilfe in Aussicht stellte.

Die Mittel für mein Werk jedoch mußte ich selber aufbringen. Ich gab dazu, was ich durch mein in drei Sprachen erschienenes Buch über J. S. Bach und durch Orgelkonzerte verdient hatte. Der Thomaskantor aus Leipzig hat also mitgeholfen, das Spital für die Neger im Urwald zu bauen. Liebe Freunde aus Elsaß, Frankreich, Deutschland und der Schweiz halfen mir mit ihren Mitteln. Als ich Europa verließ, war mein Unternehmen für zwei Jahre gesichert. Ich hatte die Kosten – die Hin- und Rückreise nicht einbegriffen – auf etwa fünfzehntausend Franken für das Jahr veranschlagt, was sich ungefähr als richtig erwies.

Mein Werk lebte also – wie der naturwissenschaftliche Ausdruck lautet – in Symbiose mit der Pariser evangelischen Missionsgesellschaft. An sich aber war es überkonfessionell und international. Es war meine Überzeugung und ist es noch heute, daß die humanitären Aufgaben in der Welt dem Menschen als solchem, nicht als dem Angehörigen einer bestimmten Nation oder Konfession nähergebracht werden müssen.

Die Führung der Bücher und die Besorgung der Bestellungen hatten aufopfernde Freunde in Straßburg übernommen. Die gepackten Kisten wurden von der Pariser Missionsgesellschaft mit den ihrigen nach Afrika gesandt.

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Skizze nach einer Karte von Herrn Missionar Haug

Ein Wort über das Land, in dem ich wirkte. Das Gebiet des Ogowe gehört zur Kolonie Gabun. Der Ogowe ist ein etwa zwölfhundert Kilometer langer, nördlicher Parallelfluß des Kongo. Obwohl er viel kleiner ist als dieser, stellt er immer noch einen stattlichen Strom dar. In seinem Unterlauf ist er ein bis zwei Kilometer breit. In den letzten zweihundert Kilometern spaltet er sich in eine Reihe von Armen, die sich bei Kap Lopez in den Atlantischen Ozean ergießen. Schiffbar für größere Flußdampfer ist er von der Küste bis nach N’Djôle, etwas über 350 Kilometer weit. Dann beginnt das Hügel- und Bergland, das zum innerafrikanischen Hochplateau führt. Hier wechseln Serien von Stromschnellen mit langen Strecken guter Schiffbarkeit ab. Die Schiffahrt ist nur noch kleinen, eigens zum Überwinden der Stromschnellen gebauten Schraubendampfern und den Kanoes der Eingeborenen möglich.

Während in der Gegend des Mittel- und Oberlaufes Prärie und Wald abwechseln, gibt es im Unterlaufe, von N’Djôle abwärts, nur Wasser und Urwald.

Diese feuchte Niederung eignet sich vorzüglich für die Kultur von Kaffee, Pfeffer, Zimt, Vanille und Kakao. Auch die Ölpalme gedeiht gut. Aber die Haupttätigkeit der Europäer gilt nicht den Pflanzungen, auch nicht der Gewinnung des Kautschuks des Urwaldes, sondern dem Holzhandel. Der Ogowe bietet den großen Vorteil, daß er in eine Bucht mündet, die eine vorzügliche Reede ohne Barre enthält. Es sind also für die Westküste Afrikas, die an guten Häfen und besonders an solchen, in die Ströme münden, so arm ist, selten günstige Voraussetzungen für die Verladung von Holz gegeben. Die großen Flöße können neben den Dampfern, die sie aufnehmen sollen, anlegen, ohne durch die Barre oder durch schweren Wellengang zerrissen und zerstreut zu werden. Auf absehbare Zeit wird der Holzhandel also für diese Gegend die Hauptsache bleiben.

Kartoffeln und Getreide lassen sich leider nicht anbauen, weil das Wachstum in der warmen feuchten Luft zu rasch vor sich geht. Die Kartoffeln schießen empor, ohne Knollen anzusetzen, und das Getreide bringt keine Frucht. Auch die Kultur des Reises ist aus verschiedenen Gründen nicht möglich. Kühe lassen sich am Unterlaufe des Ogowe nicht halten, weil sie das hier wachsende Gras nicht vertragen. Weiter nach dem Innern zu, auf dem zentralen Höhenplateau, gedeihen sie vorzüglich.

Mehl, Reis, Milch und Kartoffeln müssen also aus Europa bezogen werden, was die Lebensführung außerordentlich kompliziert und verteuert.

Lambarene liegt etwas südlich vom Äquator und hat die Jahreszeiten der südlichen Halbkugel. Es ist also dort Winter, wenn in Europa Sommer ist, und Sommer, wenn in Europa Winter ist. Der dortige Winter ist durch die trockene Jahreszeit, die von Ende Mai bis Anfang Oktober dauert, gekennzeichnet. Der dortige Sommer ist die Regenzeit, die von Anfang Oktober bis Mitte Dezember und von Mitte Januar bis Ende Mai geht. Um Weihnachten herum setzt eine etwa drei bis vier Wochen andauernde trockene Jahreszeit ein, in der die Hitze ihren Höhepunkt erreicht.

Die Durchschnittstemperatur im Schatten in der Regenzeit ist etwa 28–35 Grad Celsius, in der winterlichen trockenen Jahreszeit 25–30 Grad. Die Nächte sind fast ebenso heiß wie die Tage. Dieser Umstand und die sehr große Feuchtigkeit der Luft sind schuld daran, daß der Europäer das Klima der Ogoweniederung so schwer erträgt. Nach einem Jahr bereits beginnen sich Ermüdung und Anämie bei ihm bemerkbar zu machen. Nach zwei bis drei Jahren ist er zu richtiger Arbeit untauglich und tut am besten daran, auf mindestens acht Monate zur Erholung nach Europa zurückzukehren.

Die Mortalität unter den Weißen betrug im Jahre 1903 in Libreville, der Hauptstadt Gabuns, fast vierzehn auf hundert.

Vor dem Kriege lebten in der Ogoweniederung etwa zweihundert Weiße: Pflanzer, Holzhändler, Kaufleute, Regierungsbeamte und Missionare. Die Zahl der Eingeborenen ist schwer anzugeben. Jedenfalls ist das Land nicht dicht bevölkert. Es sind nur noch die Trümmer von acht ehemals mächtigen Stämmen vorhanden. So furchtbar haben der Sklavenhandel und der Schnaps in drei Jahrhunderten unter ihnen aufgeräumt. Von dem Stamme der Orungu, die das Ogowedelta bewohnten, ist fast nichts mehr übrig. Von dem der Galoas, dem das Gebiet von Lambarene gehörte, sind höchstens noch achtzigtausend vorhanden. In die so geschaffene Leere drängen sich vom Innern her die von der Kultur noch unberührten anthropophagen Fan’s, auf französisch Pahouins genannt. Ohne das rechtzeitige Dazwischentreten der Europäer hätte dieses Kriegervolk die alten Stämme der Ogoweniederung bereits aufgegessen. Lambarene bildet auf dem Flusse die Grenze zwischen den Pahouins und den alten Stämmen.

Gabun wurde am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts von den Portugiesen entdeckt. Bereits 1521 siedelten sich katholische Missionare an der Küste zwischen der Mündung des Ogowe und der des Kongo an. Kap Lopez ist nach einem dieser Missionare, Odoardo Lopez, der 1578 dorthin kam, benannt. Im achtzehnten Jahrhundert hatten die Jesuiten an der Küste große Pflanzungen mit Tausenden von Sklaven. In das Innere des Landes aber drangen sie ebensowenig vor wie die weißen Händler.

Als die Franzosen mit den Engländern zusammen in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts den Sklavenhandel an der Westküste Afrikas bekämpften, wählten sie, 1849, die Bucht nördlich von der Bucht von Kap Lopez als Flottenstützpunkt und als Ansiedelungsort für die befreiten Sklaven. Daher der Name Libreville. Daß die schmalen Wasserläufe, die sich zerstreut in die Bucht von Kap Lopez ergießen, einem großen Fluß angehören, wußten die Weißen damals noch nicht. Die Neger der Küste hatten es ihnen verschwiegen, um den Handel mit dem Innern selbst in der Hand zu behalten. Erst 1862 entdeckte Leutnant Serval, zu Lande von Libreville nach Südosten vordringend, den Ogowe in der Gegend von Lambarene. Daraufhin wurde von Kap Lopez aus der Unterlauf des Flusses erkundet und die Häuptlinge zur Anerkennung des französischen Protektorates bewogen.

Als es sich in den achtziger Jahren darum handelte, von der Küste aus den für den Handel bequemsten Weg nach dem schiffbaren Teile des Kongostromes zu suchen, glaubte ihn De Brazza in dem Ogowe gefunden zu haben, da dieser nur zweihundert Kilometer nordwestlich von Stanley-Pool entspringt und von der Alima, einem schiffbaren Nebenflusse des Kongo, nur durch eine schmale Wasserscheide getrennt ist. Es gelang ihm auch, einen zerlegbaren Dampfer auf diesem Wege nach dem mittleren Kongo zu bringen. Für den Handel aber erwies sich dieser Weg als impraktikabel, der Schwierigkeiten wegen, die die Stromschnellen des Oberlaufes des Ogowe bieten. Durch den Bau der im Jahre 1898 fertiggestellten belgischen Kongobahn Matadi-Brazzaville kam der Ogowe als Weg nach dem mittleren Kongo definitiv außer Betracht. Heute vermittelt er nur noch den Verkehr nach seinem eigenen, noch ziemlich unerforschten Hinterland.

Die ersten protestantischen Missionare am Ogowe waren Amerikaner. Sie kamen um 1860 an den Strom. Da sie der Forderung der französischen Regierung, auf französisch zu unterrichten, nicht genügen konnten, traten sie später ihr Werk der Pariser Missionsgesellschaft ab. Heute zählt die protestantische Missionsgesellschaft vier Stationen: N’Gômô, Lambarene, Samkita und Talagouga. N’Gômô ist von der Küste etwa zweihundert Kilometer entfernt. Die anderen Stationen folgen aufeinander flußaufwärts in Abständen von etwa je fünfzig Kilometern. Talagouga liegt auf einer N’Djôle, dem Ende der Flußschiffahrt, vorgelagerten romantischen Flußinsel.

Auf jeder Station sind in der Regel zwei verheiratete und ein unverheirateter Missionar, wozu gewöhnlich noch eine Lehrerin kommt, was also, die Kinder nicht mitgerechnet, fünf oder sechs Personen macht.

Die katholische Mission besitzt für dasselbe Gebiet drei Stationen: eine in Lambarene, eine in N’Djôle und eine in der Nähe von Samba an der N’Gounje, dem größten Nebenflusse des Ogowe. Jede ist mit etwa zehn Weißen, gewöhnlich drei Priestern, zwei Laienbrüdern und fünf Schwestern besetzt.

Die Bezirkshauptleute der Regierung sitzen in Kap Lopez, in Lambarene, in Samba und N’Djôle. Etwa fünfhundert farbige Soldaten sind als Polizeitruppen über das Gebiet zerstreut.

Dies war das Land und dies waren die Menschen, unter denen ich an die viereinhalb Jahre als Urwalddoktor wirkte. Was ich dabei erlebt und beobachtet habe, erzähle ich für die Zeit bis zum Ausbruch des Krieges nach den Berichten, die ich alle sechs Monate in Lambarene schrieb und meinen Freunden und Gebern als gedruckte Briefe zusenden ließ. Während des Krieges war diese Korrespondenz unmöglich. Für diese Zeit und für die religiösen und sozialen Probleme, die ich berühre, halte ich mich an Aufzeichnungen, die ich für mich gemacht habe.

II. DIE FAHRT

Lambarene, Anfang Juli 1913

Die Glocken hatten soeben den Karfreitagnachmittagsgottesdienst in meinem Heimatdorfe Günsbach in den Vogesen ausgeläutet. Da erschien der Zug an der Biegung des Waldrandes. Die Reise nach Afrika begann. Es galt Abschied zu nehmen. Wir standen auf der Plattform des letzten Wagens. Ein letztes Mal tauchte die Kirchturmspitze zwischen den Bäumen auf. Wann werden wir sie wiedersehen?

Als am folgenden Tag das Straßburger Münster in der Ferne versank, meinten wir schon in der Fremde zu sein.

Am Ostersonntag hörten wir noch einmal die liebe Orgel von St. Sulpice in Paris und das wundervolle Spiel von Freund Widor. Um zwei Uhr glitt der Zug nach Bordeaux aus dem unterirdischen Bahnhof des Quai d’Orsay heraus. Die Fahrt war herrlich. Überall feiertäglich gekleidete Menschen. Der Frühlingswind trug dem dahineilenden Zug den Glockenklang der aus der Ferne grüßenden Dorfkirchen nach. Dazu leuchtender Sonnenschein. Ein traumhaft schöner Ostersonntag.

Die Kongodampfer fahren nicht nach Bordeaux selbst, sondern von Pauillac ab, das anderthalb Stunden Bahnfahrt meerwärts liegt. Ich sollte mein als Fracht vorausgeschicktes großes Gepäck aus dem Zoll in Bordeaux lösen. Dieser aber war am Ostermontag geschlossen. Am Dienstag morgen hätte die Zeit zur Erledigung der Sache nicht gereicht, wenn ein Beamter, den unsere Not rührte, uns nicht der vorgeschriebenen Formalitäten enthoben hätte. So wurde es mir ermöglicht, in den Besitz meiner Kisten zu kommen.

In letzter Minute bringen uns zwei Automobile mit unseren Sachen an den See-Bahnhof, auf dem der Zug, der die Passagiere für den Kongo nach Pauillac an das Schiff fahren soll, unter Dampf liegt. Das Gefühl, mit dem wir uns nach all der Aufregung und nach Entlohnung aller hilfreichen Hände im Abteil niederlassen, läßt sich nicht beschreiben.

Trompetensignale. – Die mitfahrenden Kolonialsoldaten nehmen ihre Plätze ein. Wir gleiten ins Freie. Blauer Himmel; milde Luft; Wasser; blühender Ginster; weidende Kühe. Anderthalb Stunden später hält der Zug zwischen Ballen, Kisten und Fässern. Wir sind auf dem Quai, zehn Schritt vom Schiffe entfernt, das auf den trüben Wassern der Gironde leicht hin und her schaukelt. Es führt den Namen „Europe“. Drängen, Schreien, Winken nach Gepäckträgern. Man schiebt und wird geschoben, bis man über den engen Steg an Bord gekommen ist und auf Angabe des Namens die Nummer der Kabine erfährt, die einen drei Wochen lang beherbergen soll. Die unsrige ist geräumig, liegt nach vorn und weit von den Maschinen weg, was ein großer Vorteil ist.

Kaum daß man Zeit hat, sich die Hände zu waschen, so läutet es zum Mittagessen. Wir bilden einen Tisch mit etlichen Offizieren, dem Schiffsarzt, einem Militärarzt, zwei Damen von Kolonialbeamten, die sich, nach einem Erholungsurlaub, zu ihren Männern zurückbegeben. Unsere Tischgenossen sind, wie wir alsbald erfahren, schon alle in Afrika oder in anderen Kolonien gewesen. Wir fühlen uns als arme Neulinge und Stubenhocker. Ich muß an die Hühner denken, die meine Mutter jeden Sommer von dem italienischen Geflügelhändler zu den alten hinzukaufte und die dann einige Tage verschüchtert unter dem übrigen Volk einhergingen. Was mir an den Gesichtern der Mitreisenden auffällt, ist ein gewisser Ausdruck von Energie und Entschlossenheit.

Da das Schiff noch viel Ladung einzunehmen hat, fahren wir erst am Nachmittage des folgenden Tages ab. Unter trübem Himmel zieht es langsam die Gironde hinunter. Während das Dunkel anbricht, stellen sich die langen Wogen ein, die anzeigen, daß wir auf dem Ozean angelangt sind. Um neun Uhr verschwinden die letzten Schimmer der Blinkfeuer.

Vom Golf von Biscaya erzählten sich die Passagiere viel Böses. Hätten wir ihn nur schon im Rücken, sagte man an allen Tischen. Wir sollten seine Tücke erfahren. Am zweiten Tage nach der Ausfahrt setzte der Sturm ein. Das Schiff bewegte sich wie ein großes Schaukelpferd über die Fluten dahin und wälzte sich mit Behagen nach beiden Seiten. Die Kongodampfer rollen bei hohem Seegang mehr als andere Ozeanschiffe. Um den Kongo bei jedem Wasserstande bis Matadi hinauffahren zu können, sind sie für ihre Größe verhältnismäßig sehr flach gebaut.

Als Neuling im Reisen auf dem Meer hatte ich vergessen, die beiden Kabinenkoffer gut mit Stricken zu befestigen. In der Nacht fingen sie an, hintereinander herzujagen. Auch die große Hutschachtel mit den Tropenhelmen beteiligte sich an dem Spiel, ohne zu bedenken, wie schlecht es ihr dabei ergehen könnte. Als ich die Koffer einfangen wollte, wäre mir fast ein Fuß zwischen ihnen und der Kabinenwand zerquetscht worden. Ich überließ sie also ihrem Schicksal und begnügte mich damit, mich auf dem Lager festzuhalten und zu zählen, wie viel Zeit zwischen den einzelnen Schwankungen des Schiffes und dem Aufeinanderprallen meiner Gegenstände verging. Zuletzt kam zu dem entsprechenden Gepolter aus anderen Kabinen noch das Klirren des in der Küche und dem Eßsaal in Bewegung gekommenen Geschirrs. Am Morgen unterwies mich der Steward, wie man Kabinenkoffer kunstgerecht festmacht.

Drei Tage dauerte das Unwetter mit unverminderter Heftigkeit an. An Stehen oder Sitzen in den Kabinen oder in den Sälen war nicht zu denken. Man wurde in allen Ecken umhergeworfen, und mehrere Personen trugen ernstliche Verletzungen davon. Am Sonntag gab es nur kalte Speisen, weil die Köche die Herde nicht mehr bedienen konnten. Erst in der Nähe von Teneriffa kam der Sturm zur Ruhe.

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1. Holzbearbeitungsplatz in N’ Eschengué

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2. Die Wellblechbaracke und die Hütten des Spitals in Lambarene
Im Vordergrunde Kaffeesträucher

Auf den ersten Anblick dieser Insel hatte ich mich sehr gefreut, da er als herrlich gerühmt wird. Ich verschlief ihn und erwachte erst, als das Schiff in den Hafen einfuhr. Kaum hatte es die Anker fallen lassen, als es auch schon von beiden Seiten von Kohlenbunkern umgeben war, aus denen die Säcke mit der Nahrung für die Maschine emporgehißt und durch große Luken in den Schiffsraum entleert wurden.

Teneriffa liegt auf einer Anhöhe, die ziemlich steil zum Meere abfällt. Es trägt ganz den Charakter einer spanischen Stadt. Die Insel ist vorzüglich bebaut und liefert die Kartoffeln für die ganze Westküste Afrikas und Frühlingskartoffeln, Frühgemüse und süße Bananen für Europa.

Gegen drei Uhr lichteten wir den Anker. Ich stand auf dem Vorderteil und beobachtete, wie er sich langsam losriß und durch das durchsichtige Wasser heraufkam. Dabei bewunderte ich einen bläulichen Vogel, der elegant über der Flut schwebte. Ein Matrose belehrte mich, daß es ein fliegender Fisch sei.

Als wir uns von der Küste nach Süden zu entfernten, stieg langsam der schneebedeckte Gipfel des höchsten Berges, den man im Hafen nicht sehen konnte, über der Insel empor und verschwamm in den Abendwolken, während wir auf mäßig bewegten Wellen dahinfuhren und das zauberhafte Blau des Wassers bewunderten.

Erst auf dieser Strecke der Fahrt machten die Insassen des Schiffes miteinander Bekanntschaft. Vertreten waren hauptsächlich Offiziere, Militärärzte und Zivilbeamte. Überrascht hat mich die geringe Zahl der Kaufleute.

Die Beamten wissen gewöhnlich nur den Ort, an dem sie landen werden. Wohin sie kommen, erfahren sie erst dort.

Zu unseren näheren Bekannten gehören ein Leutnant und ein Verwaltungsbeamter. Der letztere geht nach dem mittleren Kongo und muß für zwei Jahre Frau und Kinder verlassen. Der Leutnant ist in derselben Lage und kommt wahrscheinlich nach Abescher hinauf. Er war schon in Tonkin, in Madagaskar, am Senegal, am Niger und am Kongo und interessiert sich für alle Verhältnisse der Kolonien. Sein Urteil über den Mohammedanismus, wie er sich unter den Negern ausbreitet, ist nicht günstig. Er sieht in ihm eine große Gefahr für die Zukunft Afrikas. „Der mohammedanische Neger“, sagte er zu mir, „ist zu nichts mehr zu gebrauchen. Sie können ihm Eisenbahnen schaffen, Kanäle graben, Hunderttausende für die Bewässerung der von ihm zu bebauenden Ländereien ausgeben: nichts macht ihm Eindruck, da er grundsätzlich gegen alles Europäische, mag es noch so vorteilhaft und segensvoll sein, indifferent ist. Aber lassen Sie einen Marabut – einen islamitischen Reiseprediger – auf tänzelndem Pferd, mit grellem Mantel behangen, ins Dorf kommen, dann wird die Gesellschaft lebendig. Alle drängen sich an ihn heran und bringen ihm ihr Erspartes, um für schweres Geld Amulette gegen Krankheit, Verwundung im Kampfe, Schlangenbiß, böse Geister und böse Nachbarn zu erstehen. Wo die Negerbevölkerung islamitisch geworden ist, gibt es keinen Fortschritt, weder in kultureller noch in wirtschaftlicher Hinsicht. Als wir in Madagaskar die erste Eisenbahn bauten, standen die Eingeborenen tagelang um die Lokomotive herum, staunten sie an, jubelten, wenn sie Dampf ausstieß, und suchten sich gegenseitig zu erklären, wie das Ding laufen könne. In einer afrikanischen Stadt mit mohammedanischer Negerbevölkerung hatte man die Wasserkraft benutzt, um die elektrische Beleuchtung anzulegen. Man erwartete, daß die Einwohner von der Helligkeit überrascht würden. Am ersten Abend, an dem die Lampen brannten, blieben sie aber auf Verabredung alle in ihren Häusern und Hütten, um ihre Gleichgültigkeit gegen die Neuerung zu bezeigen.“

Sehr wertvoll ist mir die Bekanntschaft eines Militärarztes, der schon zwölf Jahre Äquatorialafrika hinter sich hat und nun als Leiter des bakteriologischen Instituts nach Grand-Bassam geht. Auf meine Bitten widmet er mir jeden Morgen zwei Stunden, spricht die gesamte Tropenmedizin mit mir durch und berichtet mir von seinen Versuchen und Erfahrungen. Er hält es für sehr notwendig, daß unabhängige Ärzte in möglichst großer Zahl sich der Eingeborenenbevölkerung widmen.

Am Tage nach der Abfahrt von Teneriffa erhielten die Truppen Befehl, außerhalb der gedeckten Räume ständig den Tropenhelm zu tragen. Die Maßregel kam mir merkwürdig vor, da es noch ziemlich frisch war, kaum wärmer als bei uns im Juni. An demselben Tage wurde ich aber von einem „alten Afrikaner“ gestellt, als ich ohne Kopfbedeckung die untergehende Sonne genoß. „Von heute an“, sagte er mir, „haben Sie, und wenn es auch noch gar nicht warm ist, die Sonne als Ihren schlimmsten Feind zu betrachten, ob sie aufgeht, in Mittagshöhe steht oder untergeht, ob der Himmel klar oder bedeckt ist. Worauf ihre Wirkung beruht, kann ich Ihnen nicht erklären. Aber Sie dürfen mir glauben, daß gefährliche Sonnenstiche vorkommen, noch ehe man in die Nähe des Äquators gelangt ist, und daß die scheinbar so milde Morgen- und Abendsonne noch heimtückischer ist als das in Mittagsglut strahlende Gestirn.“

Als wir uns das erste Mal ganz in Weiß kleideten und den Tropenhelm aufsetzten, kam es uns seltsam vor. Wir hatten zwei Tage lang das Gefühl, in Verkleidung umherzulaufen.

In Dakar, dem großen Hafen der Senegalkolonie, betraten meine Frau und ich zum ersten Mal die afrikanische Erde, der wir unser Leben widmen wollen. Es war uns feierlich zumute.

Ich werde Dakar kein gutes Andenken bewahren, weil ich immer an die Tierquälerei denken muß, die dort geübt wird. Die Stadt liegt auf einem großen Abhang, und die Straßen sind zum Teil noch in sehr üblem Zustande. Das Los der armen, den Negern ausgelieferten Zugtiere ist schrecklich. Ich habe nirgends so abgetriebene Pferde und Maultiere gesehen wie hier. Als ich dazukam, wie zwei Neger auf einem schwer mit Holz beladenen Wagen, der in der neubeschotterten Straße steckengeblieben war, mit Schreien auf ihr armes Tier einschlugen, brachte ich es nicht über mich weiterzugehen, sondern zwang sie abzusteigen und zu schieben, bis wir zu dritt den Wagen frei hatten. Sie waren sehr verdutzt, aber gehorchten, ohne zu widersprechen. „Wenn Sie keine Mißhandlung der Tiere mitansehen können, gehen Sie nicht nach Afrika“, sagte mir der Leutnant auf dem Rückweg; „Sie werden hier in diesem Punkt viel Schreckliches schauen.“

In diesem Hafen haben wir Schwarze, größtenteils senegalesische Tirailleure mit Weib und Kind, an Bord genommen. Sie liegen auf dem Vorderdeck und kriechen am Abend bis über den Kopf in große Säcke, da sie unter freiem Himmel schlafen. Weiber und Kinder sind schwer mit Amuletten, die in Lederbeutelchen eingeschlossen werden, behangen. Sogar das Kind an der Mutterbrust ist davon nicht verschont.

Ich hatte mir das Gestade von Afrika öde vorgestellt und war überrascht, als wir auf dem Wege nach Konakri, der auf Dakar folgenden Station, an der Küste dahinfuhren, lauter herrlich grünen, von den Wellen bespülten Wald zu sehen. Mit dem Fernglas erblickte man auch die spitzen Zelte der Negerdörfer. Der Wasserstaub der Barre stieg wie ein Rauch davor auf. Dabei war das Meer ziemlich ruhig und die Küste erschien mir flach.