18

Es sieht nicht cool aus, wenn die Braut mit weißem Verband überm Nasenbein erscheint und als Erklärung angibt: »Mein Zukünftiger hat eine Tür zu heftig geöffnet.«

Natürlich hatte er mir nur das Leben retten wollen. Als er mich in seinem Telefon den Namen Kevin sagen hörte, rief er den Notruf an, raste vom Präsidium auf dem Pragsattel in die Stadt und machte vor meiner Haustür die Jungs von der Trachtengruppe wild: »Das ist ein Killer. Der sucht seine letzte Tat. Eine Psyche wie ein Amokläufer. Der verhandelt nicht. Wir müssen stürmen!« Die Polizisten als Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft hatten Mühe, den Mann zurückzuhalten. Auf Betreiben Richards beschloss man, den Täter mit einem Anruf abzulenken. Er besaß ja einen Schlüssel, bekam ihn dann aber nicht hinein, weil ich gerade von der anderen Seite schlüsselte. So hatte er sich, angestachelt von Angst und Zorn, auf die rohe Gewalt des Kraftsportlers besonnen.

»Kevin Eder hat angesichts der erdrückenden Beweislage im Beisein eines Psychologen und seines Anwalts gestern Nacht ein umfassendes Geständnis abgelegt«, raunte er mir statt einer Begrüßung zu, als ich die letzte Stufe zum Vorsaal des Trauungszimmers genommen hatte. »Meisner wird ihn wegen zweifachen Mordes anklagen. Ich hoffe nur, er verkündet vor Gericht nicht noch mal seine wirren Theorien über vegane Fanale.«

»Wie du wieder aussiehst, Kind!« Im steifen Witwenkleid materialisierte sich – jawohl – wenige Minuten später meine Mutter. Wozu hatte man eigentlich das öffentliche Aufgebot abgeschafft? Wer hatte da wieder geplaudert? Natürlich ­Richard. Er log nicht gern. »Hättest du dich nicht ein bisschen netter anziehen können, Kind? Wenigstens ein Kleid! Weiß wäre natürlich nicht gegangen, ihr lebt ja in wilder Ehe, aber ...«

Richard unterdrückte ein Grinsen und umarmte den schwarzen Prügel, der sich meine Mutter nannte. Wahrscheinlich hätte er sowieso gern ein stolzes Fest mit Kolleg*innen, Sekt an Stehtischen, Babyfotos, Holzsägen und Walzer auf Schloss Solitüde oder Monrepos gefeiert. Wenn nur die Braut nicht mit gepflasterter Nase aufgelaufen wäre.

Der Standesbeamtin, einer rundlichen Person in weißer Bluse, blauem Blazer und dunklen Hosen, entgleisten kurz die Gesichtszüge, als sie von Richard und mir die Ausweise einkassierte. Mein Outfit war eigentlich als Blickableiter gedacht: schwarze Jeans mit Rissen und Punkketten, neue Bikerstiefel mit kantiger Kuppe, weißes Shirt mit Love-Herz, dazu die alte Lederjacke. Sally hatte mir noch eine blaue Schleife in die Schnalle am Hals gepfriemelt und mir ihre Uhr ans Handgelenk geschnallt: »Was Neues, was Altes, was Blaues, was Geliehenes. Und was war das Fünfte gleich noch mal?«

»A lucky sixpence in your shoe«, sagte Richard.

Ja, auch Sally war plötzlich aufgetaucht. »Du bist mir ja eine, Lisa. Wenn mir Oma Scheible nicht was gesteckt hätte ...« Und woher wusste die es? Vom CIA ? »Ich musste nur noch schnell Ghost unterbringen. Dein Cipión sitzt übrigens ganz brav unten. Bewundernswert! Meiner würde alles zusammenbellen. Schick siehst du aus, meine Liebe. Und du erst, Richard.«

Dabei sah auch er aus wie immer in seinem cognacfarbenen Dreiteiler mit passender Krawatte, Einstecktuch und passenden Schuhen. Eigentlich hatten wir uns doch nur zu einer Vertragsunterzeichnung verabredet.

»Und Sie sind die Zeuginnen?«, fragte die Standesbeamtin. Die goldenen Knöpfe an ihrem Blazer waren mit Ankern verziert.

»Ich bin die Mutter!«, erwiderte meine Mutter entrüstet.

»Und ich bin nur so hier«, erklärte Sally. »Als Brautvaterersatz.«

Die Standesbeamtin bewahrte Haltung. Ob wir etwas dagegen hätten, fragte sie, wenn die Praktikantin zuschaue. Es handelte sich um eine lächelnde sehr junge Frau in einem nicht kleidsamen blauen Hosenanzug.

Da summte Richards Handy. Er zog es aus dem Jackett, nahm das Gespräch an und ging beiseite.

»Wenn Sie dann bitte die Handys ausstellen«, sagte die Standesbeamtin. »Und ich bitte Sie, während der Ansprache nicht zu fotografieren.«

»Sehr gut«, hörten wir Richard sagen. »Aber jetzt habe ich gerade ... ja, ich melde mich nachher noch mal.« In seinen asymmetrischen Augen schimmerte grüblerische Zufriedenheit. »So, und worauf warten wir noch?«

Die Standesbeamtin öffnete den Saal. Wir passierten Dutzende Reihen leerer Stühle zu den Klängen des Hochzeitsmarschs. Wer hatte den eigentlich bestellt?

»Das war eben das Jugendamt«, raunte mir Richard ins Ohr. »Denise hat vor zwei Tagen ihre Tochter in ein Klinikum in Villingen-Schwenningen gebracht.«

»Und?«

»Die Prognose ist recht gut. Hier lang, Lisa!« Mit beherztem Griff machte er meinen Impuls zunichte, mich in die dritte Reihe zu setzen. Sally und meine Mutter blieben hinter uns zurück. Und so nahm das Unheil seinen Lauf.

Die Beamtin machte den CD-Player aus, stellte sich im Kapitänsjackett hinter den Altar, nein, Tisch, schlug eine Bibel, nein, ein Scheinbuch aus künstlichem Leder auf, suchte fensterwärts einen Funken Sonnenschein, holte Luft und sagte: »Die Sonne scheint heute, aber in Ihrer Ehe wird es nicht nur strahlende Tage, sondern auch Regentage geben ...«

Auf nichts ist man im Leben so wenig vorbereitet wie auf eine amtliche Trauungsansprache.

»Dann machen wir das doch ganz einfach so«, hatte Richard vorgestern Abend erklärt, als er in Hemdsärmeln mit einem Kaffeebecher in der Hand von meiner Küche zu seiner Staats­anwaltschaft hinüberblickte. »Unter der Woche übernachte ich hier. Am Wochenende kommst du zu mir. Wenn es passt.«

»Okaaaay. Aber ... dann ändert sich doch gar nichts.«

Er hatte sich umgedreht und mich über den Kaffeebecher hinweg gemustert. »Was soll sich denn ändern?«

»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.« Unentwegt hatte ich darüber nicht nachgedacht.

Er lachte. »Lisa, entspann dich. Bei anderen Paaren lebt der eine in Berlin und der andere in Stuttgart. Wir wohnen immerhin in derselben Stadt.«

Hätte er mir nicht anbieten müssen, dass ich bei ihm einzog? Wenigstens pro forma, damit ich zickig werden konnte? Wieso ziehst du nicht zu mir? Er kniff, der Feigling. Ja, jetzt war ich irrational und ungerecht. Die Vorboten der Ehe. Eine Veränderung des Seins erzeugte eine Veränderung des Bewusstseins. Wer kein Fleisch isst, denkt wie Feldsalat, regional, grün und essigsauer. Und Ehefrauen fühlen sich ungeliebt, vernachlässigt und betrogen. Ist so.

»Nun beginnt für Sie ein neuer Lebensabschnitt«, behauptete die Standesbeamtin. »Der gemeinsame Alltag bringt es mit sich, dass Sie Eigenschaften an Ihrem Partner entdecken, die Ihnen nicht gefallen ...«

»Wir kennen uns seit fünfzehn Jahren!«, entfuhr es mir.

Die Standesbeamtin fasste das Buch fester. »Sie werden lernen, Toleranz zu üben, aber auch Toleranz einzufordern, denn die Ehe ist ein Geben und ...«

»... Streiten.«

Die Beamtin ließ das Buch sinken. »Wenn Sie keine Ansprache wünschen, hätten Sie das beim Vorgespräch angeben müssen.« Ihr Blick ging zu Richard. Das fing ja gut an. War er jetzt der, der für uns gemeinsam sprach?

Richard schwieg, die Hände entspannt zwischen seinen Schenkeln gefaltet. Sein Atem ging ruhig. Er amüsierte sich. Deshalb liebte er mich. Weil ich das Chaos war. Und deshalb seufzte meine Mutter. Dabei irrten sich alle in mir. Ich hätte es auch gern flüssig und ruhig gehabt. Was konnte ich dafür, dass der ganze Konventionskram nie so recht auf mich passte?

»Also gut«, sagte die Standesbeamtin, legte das Buch nieder und nahm ein auf dem Altar, nein, Tisch liegendes Blatt hoch. »Bitte erheben Sie sich.«

Unterhalb meines Magens formierte sich ein Klumpen.

»Ich frage nun zuerst Sie, Herr Dr. Richard Weber, ist es Ihr freier Wille, mit der hier anwesenden Frau Lisa Nerz die Ehe ...«

»Moment!«, sagte ich. »Wieso fragen Sie ihn zuerst, wieso nicht mich?«

»Das ist Tradition. Immerhin hätten Sie dann das letzte Wort.« Grinste sie etwa?

»Typisch! Dieses ganze Ge-Ja-Worte ist immer noch auf den Mann ausgelegt. Hat er seinen Willen erklärt, dann darf die Frau zustimmen. Aber nicht mit mir.«

Die Standesbeamtin legte das Blatt weg. »Wenn Sie nicht wollen, dann ist die Zeremonie hiermit beendet.«

»Doch, ich will.«

»So geht das nicht. Eine Trauung ist ein hoheitlicher Akt. Da stimmen Sie mir doch zu, Herr Staatsanwalt.«

Richard überlegte kurz. »Sinn und Zweck der Trauungszeremonie ist die mündliche Willenserklärung beider Seiten. Dem ist genüge getan, wenn beide Seiten laut und vernehmlich ihre Zustimmung zur Eheschließung erklärt haben. Am Ergebnis ändert sich nichts, wenn dies zuerst die Frau und hernach der Mann tut. Insoweit ist davon auszugehen, dass die Reihenfolge der Befragung unerheblich und somit zu vernachlässigen ist.« Er beugte sich etwas vor und sagte leutselig: »Mit dem gesunden Menschenverstand betrachtet, ist es doch scheißegal, nicht? Wenn nötig, könnte ich Ihnen aber auch ein paar einschlägige Urteile nennen, etwa OLG Bochum 23.5.2002, Aktenzeichen ...«

Das hatte er jetzt erfunden, oder?

»Nicht nötig«, beeilte sich die Standesbeamtin zu versichern. In der Folge sah sie keine Notwendigkeit mehr für falsche Feierlichkeit. »Frau Nerz, Sie wollen den hier anwesenden Herrn Dr. Richard Weber zur Ehefr... zum Ehemann nehmen? Dann sagen Sie Ja.«

»Ja.«

»Herr Dr. Weber, dann frage ich Sie hiermit, ob Sie die anwesende Frau Lisa Nerz zur Ehefrau nehmen wollen. So antworten Sie mit ...«

»Ja.«

»Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau.« Ein kurzer hoffnungsloser Blick. »Ringe haben Sie keine?«

Richard müsste seinen zu oft abnehmen für seine Kraftakte an Fitnessmaschinen oder Aufschläge beim Tennis. Und ich einen Ehering tragen?

»Sie dürfen die Braut jetzt kü...« Sie riss ihren Blick von ­Richard zu mir herüber. »Sie natürlich auch den Bräutigam ... ich meine: küssen!«

Richard lachte laut heraus.

Es folgte der Akt des Unterschreibens. Richard schraubte noch den Füller zu, da hatte die Standesbeamtin mir schon Familienbuch und Urkunde überreicht und die Flucht angetreten. Die Praktikantin stolperte vor lauter »Lass mi’ au’ mit!« in die Stühle. Die Saaltür rumste ins Schloss. Richard grunzte zufrieden, zog mich an sich und küsste mich, dass mir die Luft wegblieb und die Nase schmerzvoll aufjaulte.

Vor der rot gerahmten Tür auf dem Gehweg hielt Sally schon die Tüte bereit. Richard deutete auf die Schrift im Türrahmen: Bitte in und vor dem Haus keinen Reis o. Ä. streuen. »Ich streue nicht«, sagte Sally und bewarf uns mit Reis.

Cipión schüttelte sich, als ich ihn vom Geländer am Grünbeet losmachte, und zerrte an der Leine. Nur fort.

»Wo habt ihr denn den Tisch bestellt?«, erkundigte sich meine Mutter.

Ich schaute mich um. »Wie wär’s mit dem Block House da drüben?«

Sally machte große Augen. »Haben die denn ein veganes Gericht?«

Schauen konnte man ja mal.

»Wiener Rindsgulasch«, las Sally die Speisekarte an der Tür vor, »dafür holzen sie den argentinischen Urwald ab. Und Paprika-Zitronen-Hähnchen. Die kommen ...«

Sag’s nicht! »Schau doch: Grüne Küche!«, unterbrach ich sie und las vor. »Unsere beliebte Potato mit Sour Cream, Spinat Gratiné mit Edamer ... Was für ein Deutsch!«

»Nicht vegan.«

»Ist das nicht auch etwas düster?«, befand meine Mutter.

»Und wenn wir zum Goldenen Adler fahren?«, schlug Richard vor. »Der hat einen Zwiebelrostbraten, der seinesgleichen ...«

»Vielleicht gehe ich dann doch besser jetzt nach Hause«, sagte Sally.

So verlor man Freundinnen. »Nicht gleich die Flinte ins Korn werfen, Sally. Wir finden was.«

Um die Ecke stießen wir zwischen Call Shop und Erotikkino auf den vegi voodoo king. Neben der Tür hing eine beschriebene Tafel.

»Falafel mit Yoghurt. Auch noch falsch geschrieben«, stellte ich fest.

»Aber die haben eine vegane Gemüsesuppe.« Sally schaute uns einkehrbereit an.

Meine Mutter versuchte krampfhaft, das Erotikkino aus ihrem Sichtfeld zu schieben. »Habt ihr in Stuttgart nicht was Feierlicheres?«

»Okay, dann schauen wir jetzt am Hans-im-Glück-Brunnen.«

Wir betraten das Plätzchen der vor hundert Jahren neu gebauten Jugendstilaltstadt des Bankiers Eduard Pfeiffer. Ein Mittagstischparadies in der Frühlingssonne. Tische und Stühle wuchsen von den Rändern auf den Brunnen zu. Kellnerinnen eilten, Geschirr und Besteck klirrten. Auf der Brunnenschale unter einer Art großem Vogelkäfig aus Eisen stand Hans breitbeinig über einem goldenen Schwein, das Wasser spuckte.

»Wie hübsch!«, sagte meine Mutter.

»Vorbild für den Künstler war ein Bauernbursche von den Fildern, den er im Schlachthaus getroffen hatte«, erklärte Richard. »Und nun?«

Wir studierten die Speisekarten in den Kästen an den Türen und auf den Schiefertafeln. Bunter Salatteller mit hausgemachten Frühlingsrollen ...

»Gensoja!«, sagte ich.

Tortellini ...

»Hartweizen braucht Unmengen Herbizide, weil er so langsam wächst. Außerdem nicht regional, muss eingeführt werden.«

... mit Basilikumcremesoße im Deli. Das Kottan hatte nur eine Getränkekarte. Rinderleber mit Bratkartoffeln und Gemüseeintopf mit Wursteinlage gab es im Almdudler, gebackenen Schafskäse mit frischen Feigen, Kalbssteak in Rahmsoße bot der Platzhirsch an. »Die Milchindustrie tötet Kühe und Menschen!«

»Und seine Jünger fragten ihn«, sprach Richard: »Willst du, dass wir fasten. Und von welchen Speisen sollen wir uns fernhalten?«

Meine Mutter kramte in ihrer Bibelerinnerung.

»Heißt es im Thomas-Evangelium.«

Sie verzog den Mund. Teufelszeug.

»Was ist das denn für einer?«, wunderte sich Sally. »Ich kenne nur Markus, Lukas und Johannes und ... wer war der Vierte?«

»Matthäus«, antwortete Richard. »Aber die sind vergleichsweise spät. Das Thomas-Evangelium gehört zu den ältesten überhaupt. Es war lange Zeit verschollen, man kannte es nur aus Notizen der Kirchenväter. Erst 1945 wurden die Papyri am Nil mitten in Ägypten gefunden, auf Koptisch geschrieben, nicht auf Griechisch wie die anderen, womöglich teilweise schon dreißig Jahre nach Christi Geburt verfasst. Damit besteht eine große Chance, dass einige Sprüche wirklich O-Ton Jesus sind.«

»Und was antwortet Jesus seinen Jüngern?«, erkundigte ich mich.

»Lügt nicht! Tut nicht, was ihr hasst!«

»Ich hasse Töten und Fleischessen«, verkündete Sally.

»Und Jesus sprach: Selig ist der Löwe, den der Mensch isst, und der Löwe wird Mensch werden. Und verflucht sei der Mensch, den der Löwe frisst ...«

»Sind Löwen lecker?«, fragte ich.

»Verstehe ich jetzt nicht«, sagte Sally.

»Meistens ist der Löwe eine Metapher für den König«, erklärte Richard, »hier aber ist er das Symbol für die aggressive und gewalttätige Materie, für weltliche Interessen und sexuelles Verlangen.«

»Dann möchte ich bitte Löwe sein!«

»Und der Mensch steht hier wiederum für das gute, das reflektierende Wesen. Wenn er den Löwen isst, dann unterwirft er Kraft und Wildheit der menschlichen Vernunft.«

»Also doch bloß Triebkontrolle. Öde!«

»Wenn es wenigstens funktionieren würde«, sagte Sally und blickte auf Cipión hinunter, der in den Düften der Lokale schwelgte. »Die unvernünftigen Tiere sind immerhin keine Massenmörder. Das schafft nur der Mensch.«

»Weil er sich vom Löwen fressen lässt«, sagte ich.

Richard nickte. »Der, der isst – also in sich aufnimmt –, bestimmt die Ausrichtung des Verinnerlichten. Das ist die Aussage. ›Und Jesus sprach: In den Tagen, in denen ihr aßet von dem, was tot ist, machtet ihr daraus, was lebendig ist.‹«

»Sag ich’s nicht? Das tote Huhn ist froh, dass es noch eine sinnvolle Verwendung findet und gegessen wird. Und wir dominieren unser Gegacker.«

»So ist das sicher nicht gemeint«, sagte Sally streng.

Und meine Mutter stellte fest: »Das ist sowieso Irrglaube.«

»Wie ist das denn nun gemeint, Richard?«, fragte ich.

»Schwer zu sagen. Diese Sammlung von Jesusworten, Logien genannt, ist eine Art Code. Um ihn zu entschlüsseln, müssen wir unsere Denkgewohnheiten umwerfen. Wir müssten uns in die Sätze versenken, bis sich plötzlich eine Erkenntnis bildet. Genau hinhören, genau hinschauen, Herz und Verstand naiv machen, alles über Bord werfen, was wir bisher für absolut richtig hielten, alles neu denken, frei denken, gut denken. Vielleicht heißt es: Lebe in der Welt, aber lerne und verhalte dich vernünftig.«

»Also keiner Weltanschauung folgen«, stellte ich freudig fest. »Wissen, aber nicht glauben, was andere dich glauben machen wollen. Sonst wirst du von fremden Interessen bestimmt, vom Löwen.«

Sally war nicht zufrieden. »Aber an Gott glauben soll ich. Das ist doch das Interesse von diesen alten Evangelisten.«

Richard lächelte. »Das von Johannes schon. Er sagt: Glaube an Gott, dann geht es dir gut. Der unsichtbare Gott da oben, der Mensch hier unten im Korsett von Verhaltensregeln. Ganz anders Thomas. Die Logien sagen: Gott ist überall, in allen, im Licht, im Holzscheit, den man spaltet, im Stein und in jedem Menschen. Sei Mensch und du bist Gott! Denn Gott und wir, die Menschen, sind uns halt verdammt ähnlich.«

Meine Mutter strich sich vom Schoß abwärts über den schwarzen Witwenrock und grummelte: »Das ist Gotteslästerung.«

Richard legte den Arm um ihre knochigen Schultern. »Deshalb gehören diese Sprüche auch nicht zum Kanon der Bibel. Die Kirchenväter wollten ihre Gemeinde sammeln. Ein eigenständig denkender Mensch, der Gott in sich trägt, ist nicht beherrschbar. Er lässt sich nicht mehr fressen.«

»Aber ich muss doch kein Fleisch essen, wenn ich das für falsch halte«, protestierte Sally.

»Es gibt keine Dos and Don’ts, Sally. Das heißt das. Entscheidend ist, dass man wahrhaftig und gerecht lebt, nicht gegen seine Überzeugungen handelt, nicht lügt.«

Ein Ding der Unmöglichkeit, abgehakt. Aber das musste jetzt nicht gesagt werden. Zumal wir damit in Sachen Hochzeitsessen keinen Schritt weiterkamen. Carpaccio vom Oktopus oder der erste Spargel aus Spanien (selbst wenn er mit einer Sauce hollandaise aus Seidentofu und Olivenöl gereicht worden wäre) hieß den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.

»Oktopusse gehören zu den intelligentesten Wassertieren«, sagte Sally. »Sie können Flaschen aufschrauben. Und die töten wir für fünf Minuten Kaugenuss wie auf Fahrradschläuchen!«

»Und die Spanier treiben Schindluder mit der Natur und den Billigarbeitskräften in der Landwirtschaft. Spargel kann ich nicht verantworten.«

»Kinder!«, mahnte meine Mutter. »Müsst ihr an allem etwas aussetzen? Früher bei uns daheim hatten wir nur, was auf den Äckern wuchs und im Stall stand. Wenn es Hagel oder Maul- und Klauenseuche gab, hat man gehungert. Das war nicht besser. Heute gibt es alles, und man kann alles überall hinbringen. Niemand müsste mehr hungern.«

»Aber ...«, sagten Sally und ich unisono.

Richard steckte sich eine Zigarette an. »Tja, wie ich die Lage sehe, werden wir wohl auf Nahrungspflanzen und synthetisches Eiweiß aus recycelbaren Nullenergie-Gewächshochhäusern warten müssen.«

Meine Mutter ließ den Blick mit katholischem Verzichtgesicht über die Mittagstischparty rund um den Hans-im-Glück-Brunnen schweifen. »Was ist nur aus der Welt geworden, dass wir uns so sehr vor unserem Essen fürchten müssen?«

 

Christine Lehmann

 

Allesfresser

 

Der 12. Lisa-Nerz-Krimi

 

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

cover

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Über das Buch

Der zwölfte Fall ist für Lisa Nerz eine besondere Herausforderung. Ein berühmter Koch ist verschwunden. Im alten Rosensteintunnel taucht eine grausige Leiche auf. Lisa begibt sich zuerst online auf Spurensuche. Sie soll die Identität der Person herausbekommen, die im Netz ein anonymes Veganblog verfasst. Denn die Stuttgarter Staatsanwaltschaft hegt einen schrecklichen Verdacht.

 

Schnell merkt sie: In den sozialen Medien ist das Thema Ernährung sehr präsent. Da tobt der reinste Glaubenskrieg um die Frage, was wir essen sollten, vielstimmig, aggressiv und giftig. Doch um das weite Feld der Spielarten zwischen veganer Lebensweise und politischem Veganismus kennenzulernen, muss Lisa Nerz die Lederjacke ausziehen, den Computer ausschalten und sich in die Schlacht zwischen Omnivoren und Veganern begeben. Und wieder zeigt sich: Es ist alles ganz anders, als gedacht ...

 

»Lehmann legt ihre Bücher an wie Backsteine, die gefälligst Fensterscheiben zu zerschmettern haben. Nerz ist provokant, reizbar und schredderzüngig, trotz ihrer Schläue agiert sie reflexhaft antiautoritär. Allerdings schreibt Christine Lehmann nie in zittrigen Tönen deprimierter sozialer Schadensvermessung. Die Streitlust von Lisa Nerz drückt sich in der Dynamik, Frechheit, Wendigkeit ihrer Sprache bestens aus.« Stuttgarter Zeitung

 

»Sehr vergnüglich, wie Lehmann Handlungspartikel und Motiv-Optionen aufmarschieren und dann abservieren lässt ... mit viel, viel Spielwitz.« Deutschlandradio Kultur

 

Über die Autorin

Christine Lehmann lebt in Stuttgart und Wangen (Allgäu), ist als Nachrichten- und Aktuellredakteurin beim SWR tätig und schreibt Romane, Kurzkrimis, Kriminalhörspiele (Radio Tatort) und Glossen. Mehr Informationen finden Sie auf ihrer Homepage.

 

Weitere Lisa-Nerz-Krimis finden Sie auf CulturBooks.

 

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Argument Verlag 2016

Lektorat: Else Laudan

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 15.04.2016

ISBN 978-3-95988-040-4

Vorwort

Richtig essen wird immer schwieriger. Allergien nehmen zu, ebenso chronische Krankheiten und zivilisatorische Verschleißleiden, die auf Essgewohnheiten beruhen oder auch nicht – je nachdem, wem man glaubt. Schon 1982 schrieb Rohkostfreund Werner Sonntag in der Zeit, »dass über die Hälfte aller Krankheiten in der Bundesrepublik ihre Ursache in der Ernährung haben. Das Nachdenken beginnt aber erst, wenn es einem mal dreckig gegangen ist. Wieso Allergie? Was ist los mit den Zähnen? ... Der Chefkoch [einer ›Gesundkost‹-Fabrik, die Industriezucker verwendet] spricht von wirtschaftlichen Zwängen. Die Reformhäuser, denen es – als einzigen im Einzelhandel – glänzend geht, sind gefüllt mit ›wirtschaftlichen Zwängen‹. ... Der Suchende hat es schwer. Und viele suchen.«

Das war vor 34 Jahren. Seitdem hat sich die Lage weiter zugespitzt. Heute ist alles bio, was nicht billig ist, auf meinem Pestogläschen steht plötzlich ›vegan‹, die beteiligten Lobbys sind kaum überblickbar, von Ethikfragen ganz zu schweigen. Genau der richtige Zeitpunkt für die kriminalliterarische Lästerexpertin Lisa Nerz, ihre virtuelle Wahrheitenverkostung auf die Glaubenskämpfe um Ernährung auszudehnen.

Und wie das so ist mit ideologisch aufgeladenen Themen, scheint es wenig gesichertes Wissen zu geben, sondern vor allem jede Menge Widersprüche und Grauzonen. Sowie auf allen Seiten reichlich Frontmache, Rechthaberei, Gier und Missionsdrang. Ganz besonders im Netz, wo mittels Social Media eine Kultur des Verkündens blüht. Information ist billig und wildwüchsig. Es herrscht eine grelle Kakophonie aus Exhibitionismus, Aggression, Schmähungen und Da-geht’s-lang-Parolen.

Wieder einmal nutzt Christine Lehmann das Genre Krimi als kulturellen Spiegel. Oder ist es doch ein Zerrspiegel?

Wie auch immer: Ich lasse mich gern in eine Küche setzen, durch die Brutzelgeräusche und appetitliche Düfte ziehen, während parallel eine unbekannte, tief ernste Stimme philosophische Gruselzenarien entwirft. Das tolle an Lisa-Nerz-Romanen ist, dass ich in jedem einzelnen so viel über unsere Welt lerne, wobei zugleich das Gefühl vorherrscht, ›bloß‹ locker unterhalten zu werden. In dieser Hinsicht leisten Christine Lehmanns Krimis bei aller Flapsigkeit genau das, was zu den vornehmsten Aufgaben von Literatur gehört: Sie beleuchten ein Stück Wahrheit. Und sei es nur die, dass Entscheidungen rund ums Essen folgenreicher sind, als wir uns tagtäglich klarmachen. Guten Appetit!

Else Laudan