Dr. Daniel 37 – Sie verschwieg ihr Leiden

Dr. Daniel –37–

Sie verschwieg ihr Leiden

Roman von Marie-Francoise

  »Du willst was?« fragte Manfred Klein und starrte seine Freundin dabei völlig entgeistert an.

  Ines Holbe blieb kühl.

  »Ich gehe für ein halbes Jahr nach Japan«, wiederholte sie gelassen. »Oder glaubst du vielleicht, ich hätte in den vergangenen Jahren diese Sprache nur zum Spaß gebüffelt?«

  Fassungslos schüttelte Manfred den Kopf. »Damit setzt du alles aufs Spiel, was zwischen uns war und noch immer ist.«

  Ines seufzte. Genau mit diesem Argument hatte sie schon gerechnet, dabei war ihre Beziehung zu Manfred in den vergangenen Wochen ziemlich abgekühlt, und diese Tatsache hatte für sie schließlich den Ausschlag gegeben, das Angebot aus Japan anzunehmen.

  »Hör mal, Manfred, ich will ja deswegen nicht gleich auswandern«, entgegnete sie in besänftigendem Ton. »Es ist nur ein halbes Jahr, und diese Zeit könnte doch uns beiden guttun. Vielleicht würde uns ein bißchen Abstand helfen, wieder zu dem zu finden, was wir einmal gehabt haben.«

  Manfred betrachtete seine außerordentlich attraktive Freundin und hatte plötzlich den unbändigen Wunsch, durch ihr dichtes, dunkles Haar zu streicheln und ihren sanft geschwungenen, sinnlichen Mund zu küssen. In letzter Sekunde beherrschte er sich aber, weil er genau wußte, daß jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für solche Zärtlichkeiten war. Ines hätte das vermutlich gar nicht gewollt – ganz im Gegenteil. Sie war ja gerade im Begriff, eine ziemlich große Entfernung zwischen sich und Manfred zu legen.

  »Du glaubst also, daß wir Abstand voneinander brauchen«, murmelte Manfred niedergeschlagen. »Warum machst du dann eigentlich nicht gleich Schluß? Im Endeffekt zielt es doch sowieso darauf hinaus.«

  »Nein, Manfred, absolut nicht«, entgegnete Ines in etwas aggressiverem Ton. Diese Diskussion begann allmählich, ihr auf die Nerven zu gehen. »Ich arbeite an meiner Karriere als Dolmetscherin, das mußt du akzeptieren, wenn du behauptest, mich zu lieben. Schließlich habe ich dir auch keine Steine in den Weg gelegt, als du dich entschlossen hast, die Fortbildungsseminare zu besuchen.«

  »Das ist ja wohl ein kleiner Unterschied«, begehrte Manfred auf. »Immerhin fahre ich für meine Seminare nur nach München. Du aber willst gleich bis nach Japan. Und nicht nur für ein paar Wochen, sondern ein halbes Jahr lang.«

  Ines wurde jetzt wirklich wütend. »Du redest Unsinn! Wie soll ich denn in ein paar Wochen meine Sprachkenntnisse verbessern. Ein halbes Jahr ist doch das mindeste!« Sie zwang sich zu einem ruhigeren Ton. »Bitte, Manfred, stell dich doch nicht so an. Hast du noch nie gehört, daß eine Trennung auch ein neuer Anfang sein kann?«

  Mißmutig winkte Manfred ab. »Ein neuer Anfang! Daß ich nicht lache! Für dich vielleicht. Schließlich wirst du ja neue Eindrücke gewinnen und andere Menschen kennenlernen. Vielleicht sogar die große Liebe.« Die letzten Worte hatten ziemlich sarkastisch geklungen.

  Ines reckte sich hoch. »Du redest jetzt wirklich Unsinn, Manfred. Ich gehe nicht nach Japan, um mich zu verlieben. Ich will meine Sprachkenntnisse verbessern – sonst nichts.« Wieder zwang sie sich zu einem sanfteren Ton, denn sie wollte Manfred ja nicht ganz verlieren – wenn er ihr im Moment auch ziemlich auf die Nerven ging. Aber sie hatten eben auch eine schöne Zeit gehabt. »Wenn ich zurückkomme, dann können wir vielleicht ganz von vorn beginnen.«

  »Ja, vielleicht«, stimmte Manfred zu, doch seiner Stimme war anzuhören, daß er nicht mehr daran glaubte.

*

  Es war für Ines nicht ganz einfach, sich an die Lebensverhältnisse und die Mentalität ihrer japanischen Gastfamilie zu gewöhnen. Alles war hier so anders als zu Hause, und

Ines gestand sich ein, daß sie niemals so hätte leben wollen wie Fujiko Nakashida. Sie lebte nur für ihren Haushalt und ihre Kinder, pflegte ihre kranke Schwiegermutter und sorgte für die Uroma, deren Alter sich in astronomischen Höhen bewegen mußte. Noch nie im Leben hatte Ines eine so alte Frau gesehen, und sie erstarrte beinahe vor Ehrfurcht, wenn sie von der Greisin angesprochen wurde.

  Den Herrn des Hauses, Hiraga Nakashida, hatte Ines in den Wochen, seit sie hier lebte, nur ein- oder zweimal gesehen. Für ihn

schien es hauptsächlich die Firma in Kyoto zu geben, in der er seit vielen Jahren arbeitete.

  »Morgen hast du deinen freien Tag«, erklärte Katsumata, der älteste Sohn der Nakashidas, und bemühte sich dabei, langsam und deutlich zu sprechen. »Ich würde dir gern ein bißchen was von Kyoto zeigen.«

  Ines lächelte. »Das Angebot nehme ich natürlich an. Kyoto ist eine faszinierende Stadt.«

  Davon war sie nach dem Tag, den sie mit Katsumata verbrachte, wirklich überzeugt. Er zeigte ihr den kaiserlichen Palast, führte sie zum Kamo, wo sich das Nachtleben abspielte, und fuhr mit ihr schließlich in den Nordwesten Kyotos nach Kitayama, wo sich die schönsten Zen-Tempelbauten der Stadt befanden.

  Besonders beeindruckt war Ines vom Ryoanji mit seinem Steingarten und dem Goldenen Pavillon.

  »Im 14. Jahrhundert war das die Sommerresidenz eines Ashikaga-Shoguns«, erklärte Katsumata. »Allerdings ist das jetzige Gebäude nur eine exakte Nachbildung des Originals, das durch den Brand von 1955 zerstört worden ist.«

  Bewundernd sah Ines ihn an. »Was du alles weißt.«

  Katsumata lächelte. »Du bist gut. Das hier ist schließlich meine Heimat.«

  »Weißt du auch, weshalb ganz Kyoto nach diesem eigenartigen Gittermuster aufgebaut ist?«

  Diese Frage hatte Ines auch Fujiko einmal gestellt, ihre Antwort jedoch nicht richtig verstanden, weil die Hausherrin in einem Dialekt sprach, mit dem Ines selbst jetzt noch nicht richtig zurechtkam.

  »Du kennst die Tatami-Matten, die in unserem Haus am Boden liegen«, erklärte Katsumata. »Eine solche Matte ist etwa ein mal zwei Meter groß, und mit dieser Größe ist der Grundriß Kyotos eng verknüpft.«

  »Wie bitte?« Ines schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«

  »Die Maße eines jeden Hauses werden nach der Zahl der Tatami-Matten, die darin liegen, genommen. Dadurch wird die Länge und Breite jedes Raumes und somit schließlich der gesamten Wohnung festgelegt. Unser Haus beispielsweise ist acht Meter breit und vierzig Meter lang. Fünf dieser Häuser bilden ein goningumi, und zu einem cho gehören vierzig Häuser. Auf diese Weise können die Maße eines ganzen Bezirks, sogar der gesamten Stadt bis zur Größe einer einzigen Tatami-Matte zurückverfolgt werden.«

  »Meine Güte«, stöhnte Ines, dann schüttelte sie wieder den Kopf. »Tut mir leid, Katsumata, aber das ist mir denn doch zu hoch.«

  Der junge Mann lachte. »Du solltest dein bezauberndes Köpfchen auch gar nicht so anstrengen.«

  Mit kokettem Augenaufschlag sah Ines zu ihm auf. Sie hatte schon ein paarmal gemerkt, daß Katsumata ihr sehr zugetan war, und sie hatte gegen einen kleinen Flirt auch nichts einzuwenden. Katsumata war ein äußerst gutaussehender junger Mann, und der Umstand, daß er Asiate war, reizte Ines ganz besonders. Es dauerte nicht lange, bis sich zwischen Ines und Katsumata eine heimliche Beziehung anbahnte. Heimlich deswegen, weil die Naka-shidas natürlich nichts davon erfahren sollten.

  Gerade das wurde mit der Zeit aber immer schwieriger, vor allem weil sich Katsumatas Verhältnis zu Ines allmählich änderte. Die Blicke, die er ihr zuwarf, waren nun zu begehrlich, als daß sie seiner Mutter hätten entgehen können. Und schließlich bat Hiraga Ines zu einem Gespräch unter vier Augen.

  »Ines, ich möchte, daß du dir eine andere Unterkunft suchst«, erklärte er ohne Umschweife.

  Die junge Frau war völlig perplex. »Ich verstehe nicht…«

  »Doch, ich glaube, du verstehst sehr gut«, fiel Hiraga ihr ins Wort. Unter normalen Umständen hätte er einen Gast niemals unterbrochen, denn dazu war er viel zu höf-ich.

  »Es ist… weil Katsumata und ich…«, begann Ines, dann stand sie auf. »Ich werde Ihr Haus verlassen, Herr Nakashida, aber ich weiß nicht, ob sich Katsumata davon abhalten lassen wird, sich weiterhin mit mir zu treffen.«

  Auch Hiraga erhob sich. »Er wird seinem Vater gehorchen, verlaß dich darauf.« Mit kurzen, energischen Schritten ging er zu der strenggegliederten Papierschiebetür, doch bevor er sie öffnete, drehte er sich noch einmal zu Ines um. »Du hast eine Woche Zeit, um dir eine andere Unterkunft zu suchen.«

  Ines nickte. »Danke, Herr Naka-shida.«

  Er bedachte sie mit einem letzten Blick, dann verließ er den Raum und kurz darauf auch das Haus. Wie betäubt blieb Ines zurück. Sie hatte zwar schon gehört, daß eine Beziehung, wie sie sie mit Katsumata eingegangen war, in diesem Land einem groben Mißbrauch der Gastfreundschaft gleichkam, allerdings hatte sie gedacht, daß japanische Familien inzwischen etwas moderner eingestellt wären. Doch das war zumindest bei den Nakashidas offensichtlich nicht der Fall.

  »Mein Vater hat mir verboten, dich zu sehen.«

  Ines fuhr erschrocken herum, als hinter ihr so unerwartet Katsumatas Stimme erklang.

  »Ist das, was wir getan haben, denn so schlimm?« wollte sie wissen. »Meine Güte, Katsumata, wir sind doch jung. Was ist dabei, wenn man ein bißchen Spaß zusammen hat?«

  Katsumata schüttelte den Kopf. »Die Liebe ist niemals nur ein Spaß, Ines – für uns jedenfalls nicht. Wenn ich dich nach unserem ersten gemeinsamen Ausflug damals nach Kyoto meinem Vater offiziell als meine Braut vorgestellt hätte, dann wäre alles in Ordnung gewesen.«

  Völlig fassungslos starrte Ines den jungen Mann vor sich an. »Als deine Braut?«

  Katsumata nickte. »Mein Vater ist noch sehr konservativ eingestellt. Eine Beziehung zwischen Mann und Frau ohne die Absicht zu heiraten, das ist für ihn das Verwerflichste, was es gibt. Du mußt aus diesem Grund das Haus verlassen, und ich…« Er senkte den Kopf. »Ich wurde schwer bestraft.«

  Ines hatte das Gefühl, in der Zeit um Jahrzehnte zurückversetzt worden zu sein. Konnte es eine solche Einstellung denn heute überhaupt noch geben?

  »Heißt das, ich war dein erstes Mädchen?« wollte Ines wissen.

  »Nein, natürlich nicht. Ich war ziemlich oft im Pontocho. Das ist eines der Haupt-Geisha-Viertel Kyotos«, fügte er erklärend hinzu.

  »Du hattest nie eine Freundin?« fragte Ines beinahe entsetzt. Wie konnte es so etwas im zwanzigsten Jahrhundert noch geben?

  »Meine erste Freundin muß ich heiraten«, antwortete Katsumata ernst. »Tue ich das nicht, so werde ich aus der Familie verbannt.«

  Ines erschrak. »Hat dein Vater das jetzt etwa getan? Ist das die schwere Strafe, von der du vorhin gesprochen hast?«

  »Nein«, entgegnete Katsumata. »Mein Vater hat noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen, allerdings nur, weil du kein japanisches Mädchen bist.«

  Ines schüttelte den Kopf. »Wie kannst du nur so leben, Katsumata?«

  »Ich wurde so erzogen«, erklärte er schlicht. »Sollte ich aber jemals eigene Kinder haben, dann werde ich offener… freier denken. Eine Liebe muß langsam wachsen. Man kann nicht nach einem Beisammensein wissen, ob man die Frau fürs Leben gefunden hat.« Für einen Augenblick berührte er ihren Arm. »Du wärst es vielleicht gewesen,

Ines.«

  »Nein, Katsumata. Ich werde nach Deutschland zurückkehren.« Sie sah sich in dem karg eingerichteten Raum um. »Hier könnte ich auf Dauer nicht leben. Für ein paar Monate war es sehr interessant, aber für ein ganzes Leben…« Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nicht heiraten, Kinder bekommen und den Haushalt führen – zumindest jetzt noch nicht. Ich habe Japanisch gelernt, um als Dolmetscherin zu arbeiten… ich will auf der Karriereleiter nach oben steigen, so weit es geht. Für ein Hausfrauendasein, wie deine Mutter es führt, ist in meinem Leben kein Platz.«

  Katsumata nickte. »Du wirst dir also keine neue Unterkunft suchen, sondern gleich abreisen?«

  »Ja, wahrscheinlich. In den vier Monaten, die ich jetzt hier war, habe ich viel gelernt.«

  Wieder nickte Katsumata, dann drehte er sich um. Im selben Moment begann er zu taumeln und griff wie haltsuchend um sich. Rasch eilte Ines zu ihm, um ihn zu stützen.

  »Was ist los, Katsumata?« fragte sie besorgt.

  »Nichts von Bedeutung«, wehrte er ab. »Ein leichter Schwindelanfall. Sicher vom Streß in der Universität. Das haben im Moment mehrere von meinen Freunden. Es wird schon wieder vergehen.«

  »Vielleicht solltest du zum Arzt gehen«, riet Ines, während sie ihn noch immer festhielt.

  Im nächsten Moment riß Katsumata sie in seine Arme, beugte sich über sie und küßte sie voller Leidenschaft.

  »Katsumata, nein«, murmelte

Ines, doch ihr Widerstand war nicht sehr stark. Zu groß war die Versuchung, sich noch ein letztes Mal von Katsumatas Glut mitreißen zu lassen, und der Nervenkitzel war um so größer, weil es diesmal im Haus seiner Eltern geschah. Doch auf einmal ging in Katsumata eine Veränderung vor. Er wich zurück, und

Ines sah, wie er wieder taumelte, dann begann er plötzlich zu keuchen, und der Schweiß brach ihm aus. Von einer Minute auf die andere begann sein ganzer Körper wie im Fieber zu glühen.

  »O mein Gott!« stieß Ines erschrocken hervor. »Was ist mit dir?«

  »Geh!« stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Es ist nichts! In einer halben Stunde ist alles vorbei.«

  Ines zögerte. Sie hatte das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen.

  »Soll ich nicht lieber einen Arzt holen, Katsumata?«

  Heftig schüttelte er den Kopf. »Nicht nötig. Geh jetzt.«

  Ines wandte sich zu der Papierschiebetür und öffnete sie, doch bevor sie den Raum verließ, blickte sie noch einmal zurück. Katsumata hatte sich auf einer der Tatami-Matten, mit denen das ganze Haus ausgelegt war, zusammengerollt. Sein ganzer Körper bebte wie im Schüttelfrost, und Ines fragte sich, ob es wirklich richtig sei, den jungen Mann in diesem Zustand allein zu lassen. Aber er hatte es ja ausdrücklich so gewollt.