Inhalt

Lagebeschreibung

Einleben Schritt für Schritt in die neue Funktion

Auf der Suche nach einer neuen Anrede

Paula: »Noch kann das Kind ja gar nicht sprechen«

Urs: »Hinter dem Wort Opa steht eine ganze Gedankenwelt«

Hans-Werner: »Ich habe doch das richtige Alter, um Opa zu sein«

Namen – mehr als Schall und Rauch

Aufrücken in der Generationenfolge

Nicole: »Zwei Monate später war ich Oma«

Susanne: »Ich habe ihn als Sohn einer Freundin ausgegeben«

Neu-Großeltern: Plötzlich alt und weise?

Schwiegerkinder in der Elternrolle

Hans-Werner: »Ich habe schnell gemerkt, dass er ein hoch talentierter Vater ist«

Nicole: »Noch bin ich nicht richtig warm mit ihm«

Beate: »Vielleicht erwartet man einfach zu viel«

Zwar Schwiegersöhne und Schwiegertöchter – aber keine Kinder mehr

Neue Beziehung zum eigenen Kind

Inge: »Mich macht es glücklich, meine geliebte Tochter als Mutter zu sehen«

Enkel als zweite Chance

Wenn Kinder Eltern werden und Eltern Großeltern Ein Gespräch mit Dr. Ute Benz, Psychoanalytikerin und Familientherapeutin

Einleben: Wie es in der Praxis erleichtert wird

»Großeltern wollen heute mehr sein als nur Großeltern«

Renate Schmidt, ehemalige Bundesfamilienministerin

Engagement Art und Ausmaß der Hilfe

Helfen mit Terminkalender

Luise: »Ich habe gelernt, nein zu sagen«

Eva: »Frauensolidarität ist Ehrensache«

Dorothea: »Mein Engagement bestimme ich«

Alexandra: »Einfach da sein ist wichtiger als Geschenke mitzubringen«

Die Mär vom geruhsamen Leben

Eine Großmutter für alle Fälle

Warum die Evolution die Großmutter erfand

Dr. Jan Beise, Evolutionsbiologe

Die neuen Großväter

Ulla: »Wenn Opa Jörg da ist, zählt niemand mehr«

Michael: »Ich hätte keine Lust, stundenlang auf ein Kleinkind aufzupassen«

Sind Großväter anders?

Die neuen Großväter: Anders als früher, aber auch anders als die Großmütter

Prof. Dr. Horst Petri, Psychoanalytiker

Mit Geld helfen

Nora: »Für Extraposten spreche ich meinen Vater an«

Transfers von einer Generation zur nächsten

Sparen für das Enkelkind – praktische Empfehlungen

Richtig schenken

Ruth Gall: »Oft wird der Konkurrenzkampf erbarmungslos über die Enkel ausgetragen«

Cordula: »Großeltern sollten sich erkundigen, was die Kinder brauchen«

Nützliche Geschenke: Von der Poesie des Prosaischen

Engagement: Wie es praktisch gestaltet werden kann

»Die Nähe zu meinen Enkeln macht mich einfach glücklich«

Dr. Henning Scherf, Politiker

»Meine Enkel hätten nicht viel davon, wenn ich ständig um sie wäre«

Prof. Dr. Jutta Limbach, Präsidentin des Goethe-Instituts

Eigenleben Das richtige Verhältnis zwischen Nähe und Distanz

Die neue Harmonie der Generationen

Lena: »Man investiert total viel in die Zukunft des Kindes, wenn man für sich selbst auch einmal Abstriche macht«

Auf dem Weg zum entspannten Verhältnis

Die Sicht der jungen Eltern: Wenn kleine Bemerkungen mittelgroße Krisen auslösen

Verena: »Vorschläge gehen ja gerade noch«

Ulla: »Meist halten meine Eltern sich diplomatisch zurück«

Nora: »Ich wäre viel entspannter, wenn meine Lösung akzeptiert würde«

Der Versuchung zur Einmischung widerstehen

Die Sicht der Großeltern: Schwierige Teilzeit-Zuständigkeit

Gisela: »Ich will nicht nur zu ihren Bedingungen Oma sein«

Anna und Ernst: »Wenn man keine Vorwürfe macht, kann man leichter Einfluss nehmen«

Dorothea: »Die Eltern müssen mit allem, was man tut, im Prinzip einverstanden sein«

Mehr als einen Maßstab anlegen

Wenn die Generationen dicht beieinander wohnen

Dr. Maike Bastian, Ärztin für

Psychotherapeutische Medizin

Nähe und Distanz: Wie die Balance in der Praxis gelingen kann

»Ich möchte Familientraditionen durch Freude weitergeben«

Prof. Dr. Claus Hipp, Unternehmer

Kontaktsuche Mit Entfernung leben, Wahlverwandtschaften knüpfen

Living apart together oder: Getrennt zusammenleben

Tanja Wieners: »Die Enkel wollen die Wohnwelt der Großeltern erleben«

Gerhild: »E-Mails an die Enkelkinder«

Für eine gute Fernbeziehung

Geschieden – auch von den Großeltern

Rita Boegershausen: »Die Hemmschwelle, über Streit zu berichten, ist vor allem bei Älteren sehr hoch«

Erika und Hans-Werner: »Unsere Enkelin wurde entführt«

Der Kampf um die Enkel – und seine Grenzen

»Wir versuchen, Eltern und Großeltern an einen Tisch zu bringen« Ines Richter, Erziehungsberaterin

Wahlverwandtschaften: Nicht verwandt und doch verbunden

Ellen und Tatiana: »Ich habe das Alter, um Oma zu sein, und ich habe die Rolle«

Ingrid und Kurt: »Wir wollen Großeltern sein – nicht nur Betreuungspersonen«

Partnerbörse für Großeltern und Enkel

Geliebt und doch getrennt: Was praktisch in der Macht der Großeltern liegt

»Wir sind unseren Enkeln auch unser Alter schuldig«

Prof. Dr. Fulbert Steffensky, Theologe

Großeltern anderswo. Ein Blick über die Grenzen Ein Gespräch mit Gisela Trommsdorff, Entwicklungspsychologin

Anhang

Zu den Experten

Hilfreiche Kontakte

Zum Weiterlesen

Zur Autorin

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Adelheid Müller-Lissner

Enkelkinder!

Eine Orientierungshilfe
für Großeltern

Ch. Links Verlag, Berlin

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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

1. Auflage, Juni 2012 (entspricht der 1. Druck-Auflage von September 2006)

© Christoph Links Verlag – LinksDruck GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel. (030) 44 02 32-0

Internet: www.linksverlag.de; mail@linksverlag.de

Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,

unter Verwendung eines Fotos von Norbert Schäfer, Düsseldorf

eISBN: 978-3-86284-175-2

Lagebeschreibung

»Also, im nächsten Leben werde ich gleich mit den Enkelkindern anfangen!«

(Jürgen von Manger, Kabarettist)

Enkel, (mask.), das »Kindeskind«, von mittelhochdeutsch »enikel«, ist eine Verkleinerung zu »Ahne«. Der Enkel galt vielen Völkern als der wiedergeborene Großvater, wie es auch eine germanische Sitte war, ihm den Namen, und damit Kraft und Glück, des Großvaters zu geben.

(Aus: Duden, Das Herkunftswörterbuch)

Es scheint Oma- und Opa-Alarm zu herrschen in Deutschland: Dass immer weniger Kinder geboren werden und dass die Alten länger leben und für die Gesellschaft zur Belastung werden, kann man jedenfalls täglich hören und lesen.

Dass die Geburtenrate in Deutschland seit Jahren konstant bei mageren 1,36 Kindern liegt, gibt Anlass zu Besorgnis. Den Bürgern über 50 deshalb zu vermitteln, von ihnen gebe es in dieser Gesellschaft zu viele, sie besetzten die besten Arbeitsplätze und ließen es sich später auf Kosten der Jungen mit satten Renten gut gehen, hieße jedoch, statt des Kindes nun die Älteren mit dem Bade auszuschütten. Der Geburtenrate wird das nicht aufhelfen. Stattdessen lohnt ein Blick auf den Beitrag, den die »jungen Alten« tatsächlich heute für Kinder und Enkel leisten.

Die höhere Lebenserwartung hat zum Beispiel zur Folge, dass die meisten Kinder, die heute auf die Welt kommen, vier leibliche Großeltern haben. Im Jahr 1991 wurde ermittelt, dass bei 22 Prozent der Zehn- bis 14-Jährigen noch alle vier Großeltern lebten. Und die Kinder haben viel öfter als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte auch noch lebende Urgroßeltern. Von beiden haben sie länger etwas. »Vor 150 Jahren dagegen, als die Kinderzahl vier pro Familie betrug, gehörten neben den Kindern zumeist nur noch zwei bis drei Großeltern dem Familienverband an«, schreibt die Familiensoziologin Rosemarie Nave-Herz. Und das nur zu Beginn, wenn die Kinder klein waren.

Erst nach 1950 habe die Mehrheit der Kinder überhaupt mindestens einen Großelternteil wirklich bewusst miterlebt, berichtet der Großeltern-Forscher Harald Uhlendorff von der Uni Potsdam. Die viel beschworene Idylle der Mehrgenerationen-Großfamilie, sie wurde davor nur selten Wirklichkeit. Die Forschungslage widerspreche »eindeutig dem Mythos einer angeblich schon immer existierenden Großfamilie über mehrere Generationen, in der Großeltern, inmitten einer Schar von Kindern und Enkeln, ihren beschaulichen Lebensabend verbringen«, betont Uhlendorff. Dass Großeltern und Enkelkinder ein längeres Stück Leben miteinander teilen, sei im Gegenteil eine »relativ junge gesellschaftliche Erscheinung«.

Weil die Menschen länger leben, sind inzwischen Familien mit vier oder sogar fünf Generationen keine Seltenheit mehr. Dreigenerationenfamilien jedenfalls stellen heute die Normalität dar. Und Großeltern haben heute gute Chancen, das zu erleben, was der französische Dichter Victor Hugo sich im 19. Jahrhundert sehnlichst wünschte: Die Kinder ihrer Enkel zu sehen. »Sie kommen – leider – erst, wenn wir schon am Gehen sind«, seufzte Hugo noch mit Blick auf seine zwei kleinen Enkelkinder. Wir dagegen sind zwar keine kinderreiche Gesellschaft mehr, aber unsere Kinder sind großelternreich.

Und die Großeltern werden wichtiger statt unwichtiger. Denn die Seitenverwandtschaft verringert sich: Weil zahlreiche Erwachsene kinderlos bleiben, und weil junge Eltern es häufig bei einem Kind belassen, sind für die Kinder die Chancen, in der Familie viel Kontakt zu Angehörigen ihrer Generation zu bekommen, beträchtlich gesunken – Geschwister, aber auch Cousinen und Cousins, gibt es einfach nicht mehr so viele. Die Kinder haben auch weniger Onkel und Tanten, die Seitenlinie der Eltern ist ebenfalls schon ausgedünnt. Umso wichtiger ist die »vertikale« Verwandtschaft, die Mehrgenerationenfamilie. Wissenschaftler haben dafür inzwischen das Bild der »Bohnenstangen«-Familie erfunden.

Dass Kinder in den Minderheiten-Status geraten, muss dabei nicht automatisch negativ gewertet werden. Minderheiten können etwas Besonderes sein. In einer oft als kinderfeindlich apostrophierten Gesellschaft werden sie mitunter zum kostbaren Gut in der Familie. Zwischen dem einzigen Kind einer Großfamilie und den Verwandten, die eine oder zwei Generationen vor dessen Eltern geboren wurden, können sich besondere Beziehungen entwickeln. Zumal die »jungen Senioren« fit und für viele Späße zu haben sind. »Heutige Kinder haben meist viel von ihren Großeltern, da sie sie nicht mit einer großen Zahl an Enkelkindern teilen müssen«, meint die Sozialpädagogin und Großeltern-Forscherin Tanja Wieners von der Universität Frankfurt / Main. Ihr Kollege Uhlendorff vermutet, dass Großeltern in Zukunft stärker um ihre wenigen Enkel konkurrieren würden. Für deren Eltern könnte das unter dem Strich mehr Unterstützung bedeuten – und möglicherweise sogar mehr Ermutigung, es nicht bei den 1,36 Kindern pro Paar zu belassen …

Dagegen steht allerdings in vielen Fällen die Instabilität der Partnerschaften. Auch sie hat wiederum Auswirkungen auf die Mehrgenerationenfamilie. »Die erhöhten Scheidungen und Wiederverheiratungen erweitern das potenzielle Verwandtschaftsnetz nochmals in großem Umfang«, stellt der Familiensoziologe Robert Hettlage fest. Sie hätten viele Omas und Opas, sagen heute immer mehr Kinder: Die leiblichen Eltern ihrer Eltern sind nicht selten geschieden und leben inzwischen mit neuen Partnern zusammen, so dass die Zahl der großelterlichen Bezugspersonen sich im Extremfall auf acht erhöhen kann. Allerdings, so fügt Hettlage hinzu, sei dieses Verwandtschaftsnetz labiler als früher, denn gerade mit den »angeheirateten« Stiefgroßeltern basiere es eher auf Freiwilligkeit. Vor allem viele Stiefgroßmütter sind noch recht jung und mit der Erziehung eigener Kinder beschäftigt, die noch längst nicht erwachsen sind. Um die Gunst ihrer Männer konkurrieren dann Kinder aus zweiter Ehe mit den Enkeln aus der ersten.

So also ist die Lage: Höhere Lebenserwartung, Geburtenrückgang und Zunahme von Scheidungen und Wiederverheiratungen führen zu komplizierten neuen Mehrgenerationenfamilien. Es gibt gute Gründe, darin auch neue Chancen für ein harmonisches Zusammenleben zu sehen, statt die Entwicklung nur zu bedauern und den – nur vermeintlich – »guten alten Zeiten« nachzutrauern.

Aus den veränderten Konstellationen ergeben sich für Neulinge in der Großeltern-Rolle allerdings auch andere Probleme als früher. Und wie man mit ihnen umgehen kann, dafür fehlen bisher weitgehend die Vorbilder. Aus der Vertikalisierung der Familien ergibt sich, dass es unwahrscheinlich ist, auf Anhieb im eigenen Umfeld viele »Betroffene« kennen zu lernen, die hier Rat geben können. In diesem Buch sind deshalb die Geschichten vieler frisch gebackener und erfahrener Großmütter und Großväter versammelt. Ihre Erfahrungen und einige Anregungen, die sich aus der – noch spärlichen – Großelternforschung ableiten lassen, sollen Hilfestellungen geben.

Im ersten Teil geht es um die neue Rolle. Natürlich ist es in der Mehrzahl der Fälle eine ausgesprochen freudige Nachricht, dass die eigenen Töchter und Söhne ein Kind erwarten. Schon allein, weil sie das Leben der Eltern offensichtlich in einem wichtigen Punkt nachahmen möchten. Manchmal jedoch finden Eltern ihre Kinder noch deutlich zu jung, um schon als Erziehungsberechtigte Verantwortung zu übernehmen. Oder der Partner, den sie sich dafür ausgesucht haben, erscheint den werdenden Großeltern als ungeeignet. Wie sollen sie reagieren?

Aber auch wenn die werdenden Eltern schon um die 30 sind, im Beruf stehen und durchaus Voraussetzungen für die Elternrolle mitbringen, fühlt man sich selbst vielleicht noch nicht so weit, um Oma oder Opa zu werden. Vor allem, wenn sie an die eigenen Großeltern und Eltern denken und an die Art, in der diese seinerzeit ihre Aufgabe verstanden, wird es werdenden Großeltern möglicherweise angst und bange. Eine Generation, die vom Lebensgefühl der Studentenbewegung, von Popkultur, sicheren Verhütungsmöglichkeiten, der Revolte gegen kleinkarierte Familienverhältnisse, enge Sexualmoral und steifer Kleidung geprägt ist, rückt auf: Da ist die Annahme nicht allzu verwegen, dass die Großelternrolle heute von vielen Menschen im mittleren Lebensalter neu interpretiert und gestaltet werden muss – ohne rundum taugliche Leitbilder. Frauen und Männer, die vor 25 bis 35 Jahren ihre Kinder anders erziehen wollten, als die eigenen Eltern das taten, und die damit den Boom der Erziehungsratgeber-Literatur anstießen, brauchen nun selbst frischen Rat für eine neue Funktion.

Weltläufige Ästheten aus der viel zitierten »Toskana-Fraktion« denken mit Schaudern an die Kurzanreden Oma und Opa und ersinnen für sich alternative Bezeichnungen. Oder sie sind schon einen Schritt weiter – und bekennen sich offensiv zu den guten alten Verwandtschaftsbezeichnungen. Einige von ihnen berichten, wie sich die neue Rolle und die neue Anrede anfühlen. Wie es ist, im Rollenpluralismus einen weiteren Part zu übernehmen und die Großmutter- oder Großvater-Rolle in die moderne »Bastelbiographie« einzuarbeiten, von der die Soziologen Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim so treffend sprechen.

Der zweite Teil des Buches widmet sich der Frage nach Art und Ausmaß des Engagements, das die Großelternfunktion heute verlangt. Das Durchschnittsalter für den Antritt der neuen Rolle hat sich etwas erhöht und liegt in der Untersuchung der Soziologin Ingrid Herlyn, die Ende der 90er Jahre endet, für die Großmütter bei etwa 50 Jahren. Für einige Frauen geht Kindererziehen also immer noch nahtlos ins Enkelbetreuen über. Zwei von drei Frauen, die zum ersten Mal Großmutter werden, stehen heute mitten im Arbeitsleben. Ihre eigenen Mütter waren dagegen meist Hausfrauen, sie konnten ihr Engagement lückenlos auf die Enkelkinder übertragen. Wie viel Hilfe können die jungen Eltern aber heute von ihren Müttern erwarten, die einen anstrengenden Job und womöglich auch andere Ansprüche an ihre Freizeit haben, als das frühere Frauengenerationen kannten?

In Deutschland sind die Großeltern bei der Kinderbetreuung immer noch besonders wichtig, weil es nach wie vor an Betreuungsangeboten für die Allerkleinsten hapert, vor allem im Westen des Landes. Und weil auch Teilzeitjobs immer häufiger mit atypischen Arbeitszeiten einhergehen. Die engen Verwandten werden in Umfragen von einer klaren Mehrheit auch heute als wichtigste Helfer in der Not genannt. Soziologen sprechen von der »Regenwetter-Verwandtschaft«: »Hilfe wird am ehesten von den Eltern, insbesondere von der Mutter, und dann erst von den Geschwistern und im Einzelfall von den eigenen Kindern beansprucht«, sagt Hettlage. Am wichtigsten scheinen also die »rüstigen« Großmütter zu sein. Wo aber soll eine Großmutter bei ihrem Engagement Grenzen ziehen – weil sie Zeit und Energie auch für ihren Job und ihre Hobbys braucht?

Wenn die Hilfe-Zeit neu ausgehandelt wird, bedeutet das in manchen Familien einen Bruch mit einem (ungeschriebenen) Generationenvertrag: Heutige Großmütter, die ihrerseits viel Hilfe von der eigenen Mutter bekamen, können oft nicht dasselbe für ihre Kinder und Enkel leisten. Möglicherweise quälen sie sich deswegen mit schlechtem Gewissen. Zugleich treten sie dennoch selbstbewusster auf als ihre Eltern in derselben Rolle. Es sind schließlich die berühmten »68er« und ihre jüngeren Geschwister, die Älteren unter den »Babyboomern« der Nachkriegszeit, die jetzt Großeltern werden.

In seiner Kolumne in der »Berliner Zeitung« bringt der Journalist Maxim Leo die Auswirkungen des veränderten Lebensgefühls auf den Punkt: Da bittet ein junger Vater seine Eltern, ein Wochenende lang auf die Enkeltöchter aufzupassen, damit er mit seiner Frau verreisen kann. Das sei zu anstrengend, sagt sein Vater, und er wolle »nicht diese Opa-Rolle spielen«. Seine Mutter, etwas konzilianter, bietet an, einen Tag mit einer Enkeltochter zu verbringen. »Es muss auch Spaß machen, es darf nicht wie eine Pflicht sein, verstehst du?«

Eine Glosse darf überzeichnen, in der Realität ist die Grenze zwischen vergnüglichem und pflichtbetontem Engagement schwerer zu ziehen. Einige Beispiele in diesem Buch sollen Großeltern helfen, mehr Klarheit darüber zu gewinnen, wie viele Pflichten sie wirklich übernehmen möchten.

Dabei muss ausdrücklich auch von den Großvätern die Rede sein. Das Selbstverständnis der Väter hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Kommen nach den »neuen Vätern«, die ihre Kinder ganz selbstverständlich gefüttert und gewickelt haben, nun die »neuen Großväter«? Haben sie besondere Aufgaben? Lassen ihre Frauen ihnen Raum zur Entfaltung?

Im dritten Teil heißt das Thema Balance zwischen Nähe und Distanz. Kindeskinder sind keine eigenen Kinder – auch wenn alle zu einer Familie gehören. Erziehungsberechtigt sind die Eltern. Traditionell werden Großeltern zwei gegensätzliche Erziehungssünden vorgehalten: Verwöhnung und zu große Strenge. Wie steht es damit heute? Die gute Nachricht: Nach Ansicht von Soziologen gab es in kaum einer Zeit so wenige Generationenkonflikte wie heute. »Vom viel zitierten ›Krieg der Generationen‹ kann keine Rede sein«, sagt der Soziologe Hans Bertram von der Berliner Humboldt-Universität. Die 68er Generation Westdeutschlands, aber auch zahlreiche Mittfünfziger, die in den neuen Ländern groß geworden sind, haben vor 25 bis 30 Jahren heftig mit ihren Eltern gestritten – und erleben nun eher Harmonie mit ihren eigenen Kindern.

Alle Mitglieder der modernen »Verhandlungsfamilie« eint offensichtlich das Bestreben, es sich gut gehen zu lassen. Grundsätzlich. Ohne Achtsamkeit ist das allerdings schwerer zu realisieren. Enge Kontakte ganz ohne Konflikte bilden ja nicht nur in Familien den Ausnahmefall. In Fragen der Erziehung können durch Enkel neue, unerwartete Probleme und neue, eigentlich zu erwartende Empfindlichkeiten auftreten. Wo lauern die gefährlichsten Fallen für familiäre Zerwürfnisse in Erziehungsfragen? Wie viel Einmischung der Großeltern darf sein? Wie viel Enthaltung ist nötig – auch wenn sie finden sollten, dass die jungen Eltern gravierende Fehler machen? Vor allem in diesem Teil ist auch die Meinung der mittleren Generation maßgeblich – deshalb kommen einige junge Eltern zu Wort.

Im letzten Teil des Buches geht es um den umständehalber größer werdenden Abstand zwischen den Generationen. Die meisten Großeltern und Enkel wohnen auch heute noch nah beieinander. Nur in jeder fünften Familie wohnen Großeltern und Enkel mehr als eine Fahrstunde voneinander entfernt. Von den Großeltern und Enkeln, die Tanja Wieners befragte, wohnt etwa ein Drittel im selben Stadtteil, ein Viertel in einer Entfernung von einer halben Autostunde. Die Mehrheit der Enkelkinder lebt heute aber nicht im selben Haus oder gar Haushalt wie die Großeltern. In der Forschung ist deshalb längst von »Intimität auf Abstand« und »innerer Nähe durch äußere Distanz« die Rede. Der Wandel der Beziehungsmuster sei lange übersehen worden, weil die Wissenschaftler immer nur auf die Kleinfamilie schauten, die zusammen in einem Haushalt lebt, meint Familienforscher Bertram. »Für die Forschung endete die familiäre Entwicklung mit dem Auszug der Kinder aus dem Haushalt. Mittlerweile aber spielen Kinder und Enkel für die sozialen Bindungen der Eltern im Alter eine wichtige Rolle.« Mit anderen Worten: Heute findet keineswegs die viel beklagte »Auflösung der Familie« statt, sondern ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln, als »örtlich verteilte Mehrgenerationenfamilie mit lebenslangen Kontakten«.

Je besser die Ausbildung der erwachsenen Kinder, desto größer ist dabei die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich weiter von ihrem Herkunftsort entfernen. Dann leben sie häufig gleich in großer geographischer Distanz, nämlich oft durch Ländergrenzen getrennt. Wo so viele Kilometer zwischen Großeltern und Enkeln liegen, ist es oft harte Arbeit, sich trotzdem nah zu bleiben. Leidgeprüfte Großeltern geben Tipps.

Dazu kommt die in vielen Fällen schwer zu ertragende erzwungene Distanz zu den Enkelkindern, zu der viele Großeltern heute nach Trennungen und Scheidungen ihrer Kinder verurteilt sind. Was kann man tun, um trotzdem in Kontakt zu bleiben? In Frankreich ist ein Besuchsrecht zwischen Enkeln und Großeltern gesetzlich festgeschrieben. Man geht davon aus, dass diesen beiden Generationen etwas zusteht, das die zwischen ihnen stehende Generation ihnen nicht verwehren darf. In Deutschland kämpft eine BundesInitiativeGroßEltern von Trennung und Scheidung Betroffener« noch um ein solches Recht. Selbstbewusst um ihr Recht kämpfende Großeltern: Auch das ist neu und ungewohnt.

Erfahrungen mit Kindern sind manchen älteren Menschen, die nicht mit Enkeln gesegnet sind oder die ihre Enkel nicht (oft) sehen können, so wichtig, dass sie sich heute sogar zu Wahl-Verwandtschaften im Rahmen von »Wunschgroßeltern-Diensten« entschließen. Menschen, die das gewagt haben, berichten.

Wissenschaftliche Ergebnisse aus verschiedenen Fachgebieten und die Erfahrungen professioneller Berater sollen helfen, die persönlichen Erzählungen in einen Rahmen einzubetten: Was wissen Psychologie und Soziologie über die Veränderung der Familienstrukturen und -rollen? Was sagen Pädagogen über die Rolle der Großeltern in modernen Familien? Welchen Beitrag messen Evolutionsbiologen speziell den Großmüttern zu? Was weiß der Psychoanalytiker über die Bedeutung der Großväter? Wann schafft zu viel räumliche Nähe nach der Erfahrung von Therapeuten Probleme? Wie lange darf man nach Ansicht der Erziehungsberaterin um Enkelkinder kämpfen? Wie gestaltet sich Großelternschaft in anderen Kulturen?

Die Forschung hat von der Existenz der Großeltern bisher erstaunlich wenig Kenntnis genommen. Großeltern, vor allem Großmütter, kommen in Märchen vor, in Soziologie und Psychologie weniger. Liegt es am »kulturell verkitschten« Bild dieser Frauenrolle, dass nüchterne empirische Wissenschaftler sich bisher kaum für sie interessierten? Immerhin gibt es einige Ausnahmen, über die in diesem Buch berichtet werden soll.

Ich danke den Fachleuten, die im Gespräch bereitwillig über ihre Arbeit Auskunft gegeben oder selbst darüber einen Beitrag verfasst haben.

Ich danke allen Großmüttern und Großvätern, Müttern und Vätern, die mir ihre Geschichten anvertraut und dabei auch die heikleren Punkte im Kontakt zwischen den Generationen nicht ausgespart haben – meist unter dem Schutz eines anderen Namens. Unter meinen Gesprächspartnern sind auch einige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die sehr freundlich in ihr familiäres Leben Einblick gaben. Alle diese Gespräche waren für mich, jedes in seiner besonderen Art, sehr spannend und auch persönlich bereichernd.

Alle meine Gesprächspartner haben mich aber auch in meinem Vorhaben, dieses Buch zu schreiben, ermutigt, indem sie mir versicherten: Das Thema »Großeltern« hat es in sich. Es ist, kurz gesagt, zukunftsträchtig.

Den deutlichsten Hinweis auf die Bedeutung des Themas gibt mir seit zwei Jahren mein Enkel Linus Quentin – dem ich allerdings ebenso wenig wie den übrigen Gesprächspartnern eine Verantwortung für das fertige Buch in die Schuhe schieben möchte.

Berlin, Juli 2006

Adelheid Müller-Lissner

Einleben

Schritt für Schritt in die neue Funktion

»Get ready, little sweet one, Your life will be just great. I’m going to be your grandpa, and … I can hardly wait.«

(Billy Crystal, US-Schauspieler und werdender Großvater)

»Seit unsere Kinder da sind, wehren sich meine Eltern dagegen, Großeltern zu werden.«

(Maxim Leo, Journalist und Vater)

Auf der Suche nach einer neuen Anrede

Paula: »Noch kann das Kind ja gar nicht sprechen«

Das Gespräch auf dem Balkon wird die 52-jährige Münchner Kunstlehrerin Paula wahrscheinlich nie vergessen. »Wir müssen dir etwas erzählen«, sagte ihre 26-jährige Tochter. Am Ende hatte Paula erfahren, dass sie in sieben Monaten Großmutter sein würde. Verständlich, dass ihr da tausend Gedanken im Eiltempo durch den Kopf gingen sowie neue, verwirrende und durchaus freudige Gefühle. Die Tochter und deren Lebensgefährte hatten beide vor kurzem ihren ersten Job angetreten, sie waren erwachsen, kannten sich schon eine Weile, konnten für sich sorgen, standen auf eigenen Füßen. Trotz aller Überraschung schien der Zeitpunkt also gut gewählt. Es war normal, dass die beiden gerade jetzt eine Familie gründen wollten.

Trotzdem war für Paula alles noch sehr ungewohnt. War es nicht überhaupt erst wenige Jahre her, dass ihre kleine Tochter mit den Freundinnen und ihren Puppen Familie gespielt hatte? Nun sollte ihr Kind also schon selbst Mutter werden. Noch hatte Paulas Mann die Neuigkeit gar nicht erfahren.

»Wie wollt Ihr denn von Eurem Enkel genannt werden?« fragte da auch schon die Tochter. Die Großmutter in spe fühlte sich schlecht vorbereitet – auf eine Funktion, mit der sie doch hätte rechnen müssen. Etwas Zeit blieb immerhin noch. »Bis das Kind sprechen kann, müssen wir ja wohl noch ein bisschen warten«, so begründete sie ihre Bitte um Aufschub.

Aber nachdenken musste sie über die Frage, zweifelsohne. Paula suchte also nach Modellen für die richtige Anrede. »Im Freundeskreis boten sich nur wenige Präzedenzfälle an, denn die meisten Freunde hatten noch keine Enkelkinder.«

»Oma« war ihr fremd – schon weil diese Anrede in ihrer Herkunftsfamilie nicht in Gebrauch war. Doch das Unbehagen hatte auch andere Gründe. »Es sind vielleicht die hinter diesen Anreden stehenden gesellschaftlichen Klischees, die mich stören«, überlegt sie. »Oma und Opa, das sind ja immer noch lieblose Sammelbezeichnungen, fast schon Synonyme fürs hilflose Alter.« Sie denkt an den »alten Opa«, der nicht allein über die Straße kann, die »wirre alte Oma« im Altenheim. Ihre eigene Großmutter, eine elegante Dame, die diesem Bild so gar nicht entsprach, hieß Omama. »Inzwischen habe ich mich schlau gemacht und gelernt, dass das eigentlich eine kindliche Abwandlung des schönen alten Wortes Großmama ist, und diese Vorstellung gefällt mir ganz gut. Trotzdem kommt Omama für mich nicht in Frage. Meine Geschwister und ich, meine Cousinen und Cousins, wir alle können uns noch sehr gut an unsere Großmutter erinnern. Sie war eine beeindruckende Frau, in der Großfamilie hat sie sich sehr engagiert. Und wir haben alle das Gefühl, dass die Bezeichnung Omama immer noch für sie reserviert ist.« In die neue Rolle hineinzuwachsen, erscheint Paula auch so schon als nicht gerade kleine Aufgabe.

Urs: »Hinter dem Wort Opa steht eine ganze Gedankenwelt«

Als Urs zum ersten Mal Großvater wurde, war er 58 Jahre alt. Heute ist er 64, seine beiden Enkeltöchter sind sechs und drei Jahre alt. Da sie in derselben Stadt wohnen, sehen sie sich sehr häufig.

Eines war für den Leipziger Grafiker von Anfang an klar: »Opa« wollte er von seinen Enkeln nicht genannt werden. Diese Anrede erinnerte ihn zu sehr an seinen eigenen Großvater. »Das Wort ist für mich verbunden mit der dumpfen Bewusstlosigkeit, in der er seine familiären Rollen lebte, wie überhaupt alle in der Familie das taten. Dahinter steht für mich eine ganze Gedankenwelt. Ich habe mich von dieser Gedankenwelt entfernt, es ist nicht die meine.«

Die Entfernung begann früh. Als Urs seinerzeit das wurde, was er heute einen Halbstarken nennt, beschloss er, seine Mutter nicht mehr »Mutti« zu nennen, sondern »Mutter«. »Das hat sie damals sehr gekränkt. Aber für mich war es ein Akt der Bewusstwerdung, ich wollte nicht mehr einfach etwas nachplappern, was alle sagten.«

Nun »Opa« zu heißen, erschien ihm schon deshalb wie ein Rückfall in eine Welt, die er schon früh hinter sich lassen wollte. »Unsere Kinder haben uns immer mit Vornamen angeredet, das war damals noch ziemlich exotisch, vor allem im Osten. Die Kindergärtnerinnen bezeichneten uns denn auch als antiautoritär. Diese Anrede mit den Vornamen hat sich dabei ganz zwanglos ergeben, weil auch wir Eltern uns gegenseitig immer mit Vornamen angesprochen haben. Unsere Söhne haben das angenommen, wir haben sie sicher darin unterstützt.«

Urs glaubt nicht, dass eine eigene Anrede nötig ist, um die Besonderheit der Rolle deutlich zu machen. »Ich habe mein Vatersein auch so voll ausgelebt«, sagt der Grafiker. Weil er vorwiegend zu Hause arbeitete, war er tagsüber der Hauptansprechpartner seiner beiden Söhne. Jetzt freut er sich, zur Abwechslung einmal zwei kleinen Mädchen beim Aufwachsen zusehen zu können. Mit der Großvaterrolle, so versichert er, hat er keine Probleme. »Ich freue mich darüber, dass ich Kinder erleben kann, für die ich nicht selbst verantwortlich bin. Das ist wie ein Geschenk: Man kann man gewissermaßen empfangen, ohne zu bezahlen.«

»Großvater«, das wäre auch eine Anrede, die ihm gefallen würde. Aber ist es denn so wichtig, wie die Enkeltöchter ihn nennen? »Eine Anrede, das erscheint wie eine Kleinigkeit, und es ist ja wirklich keine weltbewegende Sache. Trotzdem lohnt es sich, sich darüber ein paar Gedanken zu machen«, findet er.

In der korrekten Bezeichnung Großvater steckt für Urs »wesentlich mehr Kultur. Mir ist auch aufgefallen, dass in vielen bürgerlichen oder adligen Familien Enkel die Großeltern mit Großvater und Großmutter anreden.« »Opa« wirkt dagegen auf ihn eher kleinbürgerlich oder proletarisch. Und als bildender Künstler möchte er auch mit dem Material Sprache sensibel umgehen. »Es sind ja die Feinheiten, die das Leben ausmachen.«

Urs ist der Großvater – aber er ist für die kleinen Kinder, denen das sperrige Wort noch nicht gut über die Lippen geht, auch gern einfach »der Urs«. »Da sehe ich kein Problem. Sie wissen ja, dass ich ihr Großvater bin, auch wenn sie mich beim Vornamen nennen.« Sein Sohn findet es dagegen schade, wenn Eltern oder Großeltern nicht so angesprochen werden, dass man ihre Funktion erkennt. Er hätte schließlich schon früher lieber Papa gesagt, weil es davon nur einen gibt. »Diese Anreden sind eher Orientierungshilfen für Außenstehende«, meint dagegen Urs. Deshalb hat er auch nicht viel dagegen, wenn die Kindergärtnerin bei seinem Anblick der Enkelin zuruft: »Dein Opa kommt!«. Oder wenn die beiden Mädchen ihn vor Freundinnen Opa nennen, damit die seine Funktion sicherer zuordnen können. »Im richtigen Moment kann ich meinen Enkelinnen ja dann erklären, dass ich es netter finde, wenn sie Urs oder Großvater sagen. Das Wort darf uns aber auf keinen Fall trennen. Dafür ist das Thema nun auch wieder nicht wichtig genug!«

Hans-Werner: »Ich habe doch das richtige Alter, um Opa zu sein«

Der 55-jährige Journalist Hans-Werner sieht die Anrede-Frage ganz anders als Urs. Hans-Werner, der mit 53 Großvater wurde, findet es »triefig und unsäglich, wenn sich Großeltern von ihren Enkeln Hans-Werner oder Annerose nennen lassen«. Hans-Werner möchte sich zu seiner Rolle bekennen, auch in der Anrede. Dabei kam es schon ein wenig überraschend, dass seine jüngere Tochter, die gerade erst vom beschaulichen Oberbayern nach Berlin gezogen war und dort mit dem Studium begonnen hatte, so schnell schwanger wurde. Erfahren hat er das, als er den Anrufbeantworter abhörte. »Meine Tochter Lisa rief an und sprach auf den Anrufbeantworter. Man könnte auch sagen, sie schniefte auf den Anrufbeantworter. Ich habe das Dokument auf eine Kassette überspielt und es Lisa zur Geburt ihrer Tochter Marie geschenkt.« Die Art der Übermittlung lässt fast den Eindruck entstehen, die Studentin habe Scheu gehabt, ihren Vater mit der Nachricht zu konfrontieren. Doch der versichert, mit einer abweisenden Reaktion habe sie nie und nimmer rechnen müssen. »Ich habe mich gefreut. Und das habe ich auch im ersten Anruf zum Ausdruck gebracht.«

Hans-Werner selbst ist mit 29 Jahren zum ersten Mal Vater geworden. Auch seine damalige Frau war erst 22, als Lisas ältere Schwester auf die Welt kam. Schon deshalb kann er der Vorstellung viel abgewinnen, dass seine Tochter eine junge Mutter ist. Mit seiner zweiten, deutlich jüngeren Frau hat Hans-Werner keine Kinder. »Für eine klassische Oma-Rolle ist sie wirklich zu jung«, sagt Hans-Werner. »Aber das hindert sie ganz offensichtlich nicht daran, eine direkte, liebevolle Beziehung zu meiner kleinen Enkeltochter Marie zu haben. Mal davon abgesehen, dass für ein Kleinkind eine Dreißigjährige ebenso alt ist wie eine Fünfzigjährige.« Hans-Werners Frau ist für seine Enkeltochter nicht »Oma«, sondern ganz einfach »Rebekka«.

Hans-Werner aber hat sich dafür entschieden, sich von seiner Enkeltochter als »Opa« ansprechen zu lassen. Mit 55, so findet er, »hat man doch das Alter, um Opa zu sein. Warum soll man versuchen, das zu kaschieren, indem man ein unschuldiges Wesen irreführt?« Ist das nicht ein bisschen stark ausgedrückt? »Nun ja«, sagt der Mann, dessen Metier die Sprache ist, »ich stelle mir das entsprechende Kindergartengespräch vor: ›Wo wohnt denn dein Opa?‹, wird da ein Kind gefragt. Und es kann nur antworten: ›Nein, ich habe keinen Opa. Ich habe nur einen Hans-Werner!‹ Ist das nicht ein bisschen wenig?«

Namen – mehr als Schall und Rauch

Großeltern, die von ihren Enkeln gern mit ihrem Vornamen angesprochen werden wollen, haben derzeit keine gute Presse. Man argwöhnt, hinter der Weigerung, sich »Opa« nennen zu lassen, könne sich in Wirklichkeit ein Problem mit der neuen Rolle verbergen. »Da hat einer seine liebe Not mit dem Lauf der Zeit, reagiert verletzt, wenn sein Wunsch ignoriert wird, und erschwert die Kommunikation«, diagnostiziert etwa Buchautorin Gertrud Ennulat. Sie meint sogar, zu einem solchen »eitlen« und sogar »inkompetenten« Großvater würden die Enkel nicht mehr gern zu Besuch kommen. Wenn der andere Großvater sich im Unterschied zu diesem bedauernswerten Opfer einer späten Midlife-Crisis anstandslos Opa nennen lasse, sei in der kindlichen Wahrnehmung sogar eine Spaltung zu befürchten: »Hier der gute Opa, wie er sein soll, weil er die Beziehungsangebote seines Enkels voll beantwortet, und dort der böse Opa, der zum Stein des Anstoßes geworden ist. Ob aus solchen Beziehungen Hypotheken für die jüngste Generation werden?«

Es stimmt schon: Vornamen haben alle, Großeltern sind aber nur wenige, selbst in Patchwork-Familien. Das macht die Anreden kostbar. Wenn ein Großvater oder eine Großmutter aber lieber mit Vornamen angesprochen werden will, geht davon die familiäre Welt nicht unter. Man darf voraussetzen, dass ein aufgewecktes Kindergarten-Kind weiß, in welcher verwandtschaftlichen Beziehung es zu dem Mann steht, den es mit Hans-Werner anredet. Funktionen werden ja in Anreden auch sonst nicht immer mit genannt. Warum sollte das Kind seinen Freunden den Großvater also nicht so vorstellen: »Das ist mein Opa, der Hans-Werner!« Mögen sie ihn weniger gern, weil er nicht Opa heißen will? Man darf eher vermuten, dass Enkel pragmatisch genug sind, um den Kontakt zu einem Großvater zu suchen, mit dem sie etwas anfangen können, der sie mag und den sie mögen. Anreden sind da zweitrangig. Sie spielen mit Opa – oder eben einfach mit Holger, wenn der Großvater lieber so genannt werden will.

Kinder, die ihre Eltern mit Vornamen anreden, kennen deren Funktion ja auch ganz gut. Man wirft diesen Erziehungsberechtigten selten im Ernst vor, sie würden ihre Elternrolle ablehnen. Also gibt es auch keinen Grund, pauschal allen Großmüttern und Großvätern, die die Anrede mit dem Vornamen vorziehen, Probleme mit dem Älterwerden oder der neuen Rolle zu unterstellen.