Gefangen
in der Freiheit

Gefangen
in der Freiheit

Ein Leben in der religiösen Zwangsjacke

oder

wie schwer es ist,

ein totalitäres System zu verlassen

Ana Lorena

Für

Alex

Vorwort

Meine Geschichte

Russisch Roulette

Verschwundene Berge

Vernichtung als Erziehungsprogramm

Metamorphose

Endlich bin ich „normal“

Torschlusspanik

Ich darf heiraten!

Mein kobaltblaues Schloss

Ein Albtraum wird wahr

Ich habe einen Schutzengel

Mutter sein – wie geht das?

Das Leben dreht sich im Kreis

Übersinnliche Wahrnehmung

Aufgerüttelt, wach gemacht!

Krankheit als Weg

Und wieder lerne ich vom Kind

4.000 Kilometer durch die USA

Max

Jenseits der Schulmedizin

Ich will, dass Du willst

30 Jahre Täuschung

Spanien

Jetzt wird es ernst

Costa Rica

Mein Bild? Sein Bild?

Die Schweiz Lateinamerikas

Ein neues Leben organisieren

Drei Monate Klinik

Freie Bahn für den neuen Geist

Scheiden tut gut

Stufen

Neue Entwicklungen

Von etwas weg oder zu etwas hin?

Abschied

Liebe ist eine Tätigkeit

Hilfreiches für den Leser

Nachwort

Literatur

Dank

Die Autorin

Vorwort

Da glauben wir, dass das jeder weiß: Die Weichen im Leben eines Menschen werden ganz früh gestellt. Wir wissen auch, dass es später Möglichkeiten gibt, die Weichen neu zu stellen, um dem Leben eine Wendung zu geben und um notwendige Entscheidungen zu treffen. Aber, akzeptiert das auch jeder? Was ist, wenn die anderen das nicht wissen und akzeptieren wollen? Dann nistet sich klammheimlich die Angst wie eine dunkle See in uns ein, und wir werden damit belastet und beschwert, sodass wir mitten im Leben innerlich sterben können.

Ana Lorena hat die Weichen rechtzeitig neu gestellt und so die notwendige Entscheidung getroffen, ohne die Angst zu leben. In ihrer Rückschau schreibt sie über die wesentlichen Fragen ihrer Wegkorrektur: Ist mein jetziges Leben gut für mich? Wenn nicht, wie entscheide ich mich neu? Was soll aus mir werden? Was will ich wirklich? Das Wichtigste, das es für sie zu begreifen galt, war dies: Wenn das Leben, das ich führe, mir nicht gefällt, dann liegt es an mir, das zu ändern. … Ich habe die Verantwortung, es so zu gestalten, dass es zu mir passt!

Wie schwer tun wir uns oft, endlich eine Entscheidung zu treffen? Wie viele Schmerzen ertragen wir, bis wir endlich zu der wohl wichtigsten Erkenntnis über den Sinn des eigenen Lebens kommen? Als Leser dieses Buches wünsche ich mir von Seite zu Seite sehnlich, dass die Autorin endlich diese Erkenntnis in ihr Leben umsetzt, um dann festzustellen und endlich zu erkennen, dass sie mit einer Nicht-Entscheidung nur sich selbst schadet und keinem anderen nützt. Von der Irritation zur Erkenntnis ist es jedoch ein langer Weg. Den Kairos – den richtigen Zeitpunkt – nicht zu verpassen, ist ein schmerzvoller Prozess, aber wohl der einzige Weg zu einer sinnvollen Änderung der eigenen Existenz. Das Leben ist ein Marathon. Es bleiben bei manchen Entscheidungen Menschen zurück, die als Begleiter wahrlich nicht zu brauchen sind: Eltern, Partner, „wohlwollende Zeugen“. Doch das Leben ist viel mehr als nur Angst und letztlich kein Gefängnis.

Beim Lesen dieses aufschlussreichen, spannenden Berichts habe ich mich gefragt: Warum ist ein so kluger und einfühlsamer Mensch wie Ana Lorena nicht in der Lage gewesen, das Gefängnis viel früher zu verlassen? Sie hat täglich und auch des Nachts gespürt, dass sie in ein Gefängnis gesperrt war. Vielleicht hat sie sogar gesehen, dass der Schlüssel für ihre Gefängnistür innen steckte? Hätte Sie also fliehen können? Ich erinnerte mich daran, dass junge Elefanten mit schweren Ketten daran gehindert werden, sich davonzumachen. Sie gewöhnen sich an die Ketten und rennen nicht in die Freiheit, auch wenn die Ketten später durch einen leicht zerreißbaren Strick ersetzt werden. Die Angst vor der Freiheit, vor dem Verlassen des Gefängnisses ist zu groß, und wir sind auf die Freiheit – auch auf die Liebe – nicht vorbereitet worden. Wir akzeptieren – oft genug grimmig –, wenn andere die Weichen stellen und Maßstäbe setzen für unser Leben. In der Kindheit mag das ja die Regel sein. Dann aber kommen später plötzlich wildfremde oder sogar verwandte Menschen und organisieren unser Leben einfach weiter. Wir akzeptieren dies, wenn es eine gewisse Zeit lang andauert, oder wenn wir es als sinnvoll oder sogar hilfreich erachten, bis wir irgendwann entdecken, dass diese Maßstäbe uns keine Vorteile bringen. Wir beginnen uns zu fragen: Woher wissen die anderen denn überhaupt, ob das, was sie lehren und verlangen, sinnvoll, hilfreich und für unser Leben förderlich ist?

Ana Lorena ermutigt uns mit ihrem Buch, nicht aufzuhören, diese Fragen zu stellen, nicht aufzugeben, selbst entscheiden zu wollen, und vorgefassten Meinungen anderer nicht zu trauen. Sie ruft uns zu Geduld, Skepsis und zu neuen Beschlüssen auf. Denn jeder Mensch hat das Recht, zu jedem Zeitpunkt in seinem Leben der zu werden und zu sein, der er sein will. Nur so wird das Leben wirklich zum eigenen Weg. Nicht selten geschieht dann tiefe Heilung, und aus Wunden werden Wunder, was auch bedeuten kann, sich von Menschen zu trennen, die uns blockieren oder sogar erniedrigen. Das schließt unter Umständen ein, sich nicht zu fragen, was andere wohl über diesen Entschluss denken mögen …

Die Autorin glaubte ihr halbes Leben lang, dass die, welche ihr am nächsten standen – die Familie, die Gemeinschaft, die „seelsorgerische Instanz“ – ihr Bestes wollten. Immerhin hat sie rechtzeitig erkannt, dass das Beste ihr selbst gehört und nicht einer religiösen Organisation. Sie ist buchstäblich einer Entmündigung entronnen, denn, das Gute zu wollen und das Gute tatsächlich zu erreichen, sind zweierlei. Aus ihrer Geschichte können wir etwas lernen, das von enormer Tragweite ist: Um der Liebe und des Gehorsams willen allen Wünschen – und Befehlen – anderer nachzufolgen, kann böse Folgen haben. Es kommt unbedingt darauf an, selbstständig zu denken, zu befinden und zu entscheiden, was das Beste für einen selbst ist und sein soll. Ana Lorena hat es geschafft, auch in den Zeiten, in denen ihr Böses widerfahren ist, an das Gute zu glauben. Sie konnte dadurch die eigenen Kräfte für existenzielle Entscheidungen mobilisieren. Sie wurde als eigene Person mit eigenen Ansichten und Lebensvorstellungen möglich und wirklich. Dem Begriff der Feindseligkeit gibt sie die wundervolle Bedeutung, „trotz oder gerade wegen der Feinde selig zu sein“. Selig macht sie offensichtlich der im Buch geäußerte Gedanke, dass die Feinde ihre eigene Neuschöpfung erst ermöglicht haben. Es ist fast tragisch zu nennen, dass eine Zerstörung der eigenen Identität durch Vater und Mutter, vor allem durch die Doktrin einer radikalen religiösen Lehre, der diese ja letztlich selbst erliegen, Ana Lorena erst die Schöpfung ihres eigenen Ich ermöglichte. Dass die Zeugen Jehovas das anders sehen, ändert nichts an dieser Erkenntnis.

Selbst, wenn wir eine lange Zeit brauchen, um zu verstehen, wie die eigene Intuition mit Gelerntem verbunden werden kann, mag es uns gelingen, nach einer solch schwierigen Erfahrung echte liebevolle Beziehungen aufzubauen und frei zu leben. Das Buch ermutigt den betroffenen Leser, nicht zu lange zu warten, um für sich selbst zu entscheiden und Schöpferin oder Schöpfer des individuellen Lebens zu werden. Heute ist die Autorin fest davon überzeugt, dass alles andere nur eine billige Kopie ist, ein Konglomerat der „Schöpfungen“ anderer Menschen. Dies fördert das Unglücklichsein und die Selbst-Entfremdung. Hierin liegt nach ihrer Ansicht ein tiefer Grund für den Mangel an Selbst-Wert und Selbst-Bewusstsein, den so viele Menschen verspüren.

Prof. Dr. Dieter Strecker

Meine Geschichte

Schweigen hat seine Zeit, Reden hat seine Zeit. 15 Jahre nutzte ich nun zum Schweigen, zum Sortieren, zum Lernen und zum Heilwerden. Immer wieder in all den Jahren drängten mich Menschen, die meine Lebensgeschichte ein bisschen kennen: „Du musst ein Buch schreiben.“ Und kontinuierlich war meine Antwort darauf: „Nein, ich kann nicht, ich will nicht einmal gedanklich erneut in diesen Wahnsinn einsteigen.“ Nun aber macht es auf einmal Plopp, und in meiner Seele hat sich ein Hebel von OFF auf ON umgestellt, nun ist die Zeit zum Reden gekommen.

Im Rahmen meiner jetzigen Berufung treffe ich auf viele Menschen, die den Wunsch verspüren, an ihrer Lebenssituation ganz oder teilweise Veränderungen vorzunehmen, da sie mit den gegebenen Umständen nicht glücklich sind. Trotz intensiver Bemühung gelingt es vielen jedoch leider nicht, aus dem auszubrechen, was ihnen nicht guttut. Oft stehen dabei (meist unbewusst) tief verankerte, sehr starke und unbekannte Glaubenssätze im Weg. Viele davon stammen gar nicht von ihnen selbst, sondern aus ihrem familiären, gesellschaftlichen oder kulturellen Umfeld. Diese Überzeugungen wurden häufig schon in sehr frühen Lebensjahren fest in ihr Unterbewusstsein installiert und dann als „Wahrheit“ übernommen.

Wir sind als Kinder nicht in der Lage, diese Zusammenhänge zu erkennen, schon gar nicht, das Muster totalitärer Systeme zu durchschauen. Wenn diese, wie häufig, aus unserem vertrauten Umfeld (meist dem Elternhaus) übermittelt werden, ist diese Programmierung besonders stabil, je jünger wir sind, desto größer die Gefahr, dass diese Ideologien ein Leben lang wirken. Totalitär – dieser Begriff ist durchaus nicht nur auf politische Systeme anzuwenden. Auch im aufgeklärten 21. Jahrhundert, in Deutschland, Europa und in der ganzen Welt sind sie oft getarnt überall zu finden.

Folgende Merkmale kennzeichnen ein totalitäres System: die Unterordnung des Einzelnen unter ein Kollektiv, das nicht angefochten werden darf, und der erzwungene Verzicht auf die individuelle Freiheit, nicht selten durch Strafen. Der freiwillige Verzicht auf die individuelle Freiheit ist meistens bedingt durch permanent wiederholte Manipulation, die das Denken und Fühlen beeinflusst und alle Lebensbereiche einschließt, auch und gerade die privaten. Öffentliche Medien und alles, was aufklären könnte, werden mit Zensur oder Verbot belegt. Kontrolle, Überwachung, Bespitzelung gehören selbstverständlich dazu. Es gibt keine Gewaltenteilung, denn alle Macht liegt bei einer Person oder Personengruppe. Ein starkes äußeres Feindbild wird erzeugt und kontinuierlich genährt.

In meinem Fall war es das Aufwachsen und Leben mit den Zeugen Jehovas. Doch diese Merkmale findet man durchaus auch in Familienstrukturen, Firmen (schauen Sie beispielsweise einmal auf Youtube die Arbeitsbedingungen indischer Näherinnen an), in religiösen und politischen Organisationen. Egal, wie das System eines Einzelnen ausgesehen hat oder noch auf ihn oder sie einwirkt, möchte ich jedem Betroffenen mit diesem Buch Mut machen. Mit aller Eindringlichkeit will ich Sie auffordern, egal wo Sie gerade noch feststecken, nicht aufzugeben. Jeder kann frei werden! Die Zeit der Orientierungslosigkeit, der Angst und des Vakuums gehen vorbei, danach sind Sie stärker denn je! Jeder Mensch hat mit seiner Geburt auch das Recht erworben, „selbst zu sein“. Jeder ist ein einmaliger Ausdruck des Göttlichen, des Universums, der Schöpfung. (Bitte verwenden Sie nur den Ausdruck der zu Ihnen passt.)

Mittlerweile bin ich der Überzeugung, dass alles, was ich erlebt habe, geschehen ist, um dadurch so stark, frei und glücklich zu werden, dass ich anderen Menschen helfen kann.

Russisch Roulette

Es ist der 28. Mai 1999, unter mir weiße Wolken, um mich herum nur stahlblauer Himmel. Ich sitze am Fenster, das Flugzeug ist voll besetzt und es ist, obwohl es noch früh ist, für meinen Geschmack viel zu heiß in der Kabine. Ansonsten bekomme ich nichts mit, nicht einmal den sonst störenden Kerosingeruch. Die Turbulenzen in mir überdecken fast alles. Ich fühle so vieles gleichzeitig, Glück und Todesangst, Verwirrung und Stärke. Nein, ich leide keineswegs an Flugangst, der Airbus liegt nun auch vollständig ruhig in der Luft. Außen ist alles prima, doch innen, in mir drin, gibt es die gegenläufigen Strömungen all meiner durcheinander geratenen Gefühle. Noch vor einem Monat hätte ich diese Reise nach Mallorca nicht angetreten, schon gar nicht unter diesen Voraussetzungen. Ein Geschenk von meinem neuen Hausarzt, völlig absurd! Aber es gibt eben Wunder, kleine Dinge mit großer Wirkung. Ich glaube, erst vor drei Tagen hatte ich die letzte Seite der „Celestine“ gelesen und mir dann das Versprechen gegeben, welches den langen Aufbruch in ein neues Leben einleiten sollte. Allerdings wusste ich noch nicht, auf was ich mich in Verbindung mit diesem Versprechen eingelassen hatte. Mein Beschluss lautete: „Ab sofort mache ich nur noch das, was mein Bauch mir sagt. Egal, ob man es tut oder nicht, ob es verboten, verpönt oder sonst was ist. Egal, was Familie, Freunde, Ehemann, Nachbarn und all die Leute sagen, die meinen, in anderer Leute Leben mitreden zu dürfen. Ich werde mich an diesen Vorsatz halten, auch wenn ich es selbst nicht verstehe.“ In meiner Lebenssituation und meinem Glaubenssystem riskierte ich damit eine echt starke Lippe. Zum besseren Verständnis für Sie: Gemäß der Ideologie, in der ich verhaftet war, gehörte das Buch „Die Prophezeiungen der Celestine“ nicht in meine Hände und schon gar nicht in meinen Geist. Ich hätte mich auch nicht getraut, das Buch für mich zu kaufen. Ein Freund, der damals am Aussteigen war, ließ aber nicht locker, mir zu vermitteln: „Ana, das brauchst Du, das musst Du lesen.“ Ich bin ihm heute noch dankbar für sein Drängeln. Natürlich hatte ich es heimlich gelesen, fasziniert und beglückt, zusammen mit meinen inneren Stimmen, die pausenlos ihre Ermahnungen vor sich hin brummelten, hin- und hergerissen zwischen Wollen und Nicht-Dürfen. Ich erinnere mich gut an das Gefühl: Ich bin nicht alleine, ich bin nicht verrückt, von meiner Sorte gibt es noch mehr. Eine unglaubliche Erleichterung! Nach sehr, sehr langer Zeit fühlte ich mich von Unbekannten (!) verstanden. Hinzu kam die Aufforderung, bei allen wichtigen Entscheidungen nur auf die eigene innere Stimme zu hören, egal, was im Außen passiert. Eine unglaublich faszinierende Idee. Sie hätte gegensätzlicher nicht sein können in Bezug auf alles, was ich seit meinem sechsten Lebensjahr gehört, gelernt und trainiert hatte: Verleugne Dich selbst! Du bist nicht wichtig! Ich wollte von nun an alle Bauch-Entscheidungen akzeptieren, denn schlimmer konnte es nicht werden. Schon zwei Tage später bekam ich vom Leben einen Realtest vor die Füße gelegt, ganz nach dem Motto: Schauen wir doch mal, ob du das auch praktisch hinbekommst! Und das ging dann so:

Ganz vertieft zwischen Tausenden bunter Dahlienblüten unter traumhaft blauem Himmel konzentriere ich mich auf die passenden Farbkombinationen für die Blumensträuße, die ich gestalte. Bei einer Geräuschkulisse zwischen Flugzeugen am Himmel, Hummeln, die sich um die dicksten Blüten rangeln, und fröhlichem Vogelgezwitscher dringt das leise Pling einer SMS zu meinem Bewusstsein durch. Es ist am späten Nachmittag des 27. Mai 1999, und auf die Nachricht bin ich neugierig. Also fische ich mein Mobiltelefon aus der Jeans, klicke die SMS an und traue meinen Augen nicht. Da steht: „Hallo, bin in Mallorca, hast du Lust, herzukommen?“ Der Absender ist mein neuer Hausarzt! Muss ich das verstehen? Wir kennen uns erst seit Kurzem, ich bin seine Patientin und wir gehen in das gleiche Sportstudio. Ein dynamisch-sportlicher und sehr gepflegter Mann, der absolut an sich glaubt. Er weiß von meinen Wunsch, diese Insel einmal zu sehen. Aber das war nie Inhalt eines Gespräches zwischen uns, eher eine Art Nebensatz-Information, während wir im Studio nebeneinander trainierten. Er erwähnte, dass er dort ein Domizil habe. Ich empfinde diese Einladung als sehr irritierend. Macht man das so, da draußen in der Welt, die ich nicht wirklich kenne? Wieder schaue ich auf den Text, meine Gedanken und Gefühle purzeln wild durcheinander. Unverschämt! Hat das jemand gesehen? Ist Tim in der Nähe? Der spinnt ja wohl! Außerdem haben wir für morgen so viele Bestellungen, schließlich ist Hochsaison. Eine Weile stehe ich wie angewurzelt da, und dann kommen die heftigeren Gedanken: Das ist verboten! Was soll ich Tim, meinem Mann, sagen? Ich gerate total in Stress. Stopp! Plötzlich gelingt es mir, das wilde Gedankenkarussell anzuhalten, mich zwischen Adrenalin und Cortisol zu orientieren. Da ist sie wieder, ganz laut, die Erinnerung an mein Versprechen, nur noch nach innen zu hören. Was sagt mein Bauch? Prima Idee, mach‘ das! Der spinnt doch, mein Bauch! Ehe dieser wunderbare Wahnsinn verloren geht, tippe ich schnell ein „Ja“ zurück. So, nun habe ich mich selbst festgenagelt, guter Plan. Noch bevor ich mich von meinem eigenen Mut erholen kann, kommt die nächste SMS: „Meine Haushälterin bringt dir nachher ein Flugticket vorbei.“ Oh Gott! Wann ist nachher? Und wie soll ich sie erkennen? Zwei Stunden später steht ein fröhlicher Blondschopf – etwas älter als ich – neben mir in unserem Hof. Sie stellt sich als Nadja vor, überreicht mir die Flugunterlagen und die Adresse für den Fall, dass wir uns am Airport verpassen. Was mich echt irritiert, ist die Tatsache, dass sie das mit absoluter Selbstverständlichkeit tut. Wie kommt man denn so schnell an ein Ticket? Das ist seine Haushälterin?

Ich konzentriere mich mehr als gewöhnlich auf das Gießen meiner unzähligen Blumenkübel. Ich beobachtete besonders intensiv meine Katzen, die um mich herumwuselten, aber das sind alles Ablenkungsmanöver, um nicht wirklich registrieren zu müssen, auf was ich mich da eingelassen habe. Das Ticket ist ausgestellt auf den 28. Mai – mein Geburtstag. Mein Geburtstag? Den gibt es doch schon seit 37 Jahren nicht mehr. Ich weigere mich, an einen Zufall zu glauben! Meine Augen schweifen über unser Haus, den Hof, die Gärtnerei und rüber zu Tim, der zwischen all den duftenden Gewürzpflanzen arbeitet und nichts ahnt von der Verwandlung seiner Frau. Obwohl, dass es seit sieben Jahren in mir brodelt und ich in einem kriegsähnlichen Feldzug unterwegs bin, weiß er sehr wohl! Zumindest muss ich ihm mitteilen, dass ich morgen früh ab fünf Uhr nicht mehr zur Verfügung stehe und erst am Sonntagabend wieder zurück bin. Wie macht man so was? Erklären kann ich es ihm sowieso nicht, also muss ich ihm eine Mitteilung zukommen lassen. Ich werde mich auf keine Diskussion einlassen. Oh mann! Ich bin wirklich verrückt, und wenn Tim das glaubt, hat er wirklich recht! Ja, er wird es nur so einsortieren können. Er würde es schließlich genauso wenig verstehen wie ich selbst. Nach 25 Jahren kennt er mich gut genug, um zu wissen, das nichts auf der Welt mich von meinen Vorsätzen abbringen kann, wenn ich sie einmal gefasst habe. Als ich es ihm sage, sind wir beide traurig und spüren die Schnittstelle in Unbekanntes. Überdies hinaus habe ich kein Bedürfnis, diese Mitteilung an Schwager, Schwägerin und Schwiegermutter weiterzugeben. Wir leben alle in eigenen Häusern auf einem Hof, und die gemeinsame Arbeit in der Gärtnerei macht eine Mitteilung sehr wohl erforderlich, aber ich will nicht, dass mich eine Auseinandersetzung mit ihnen innerlich schwächt. Seitdem der Plan existiert, nur noch auf meine innere Stimme zu hören, habe ich mir eine „Flintenrohrwahrnehmung“ angeeignet, dabei konzentrierte ich mich zu 100 Prozent auf den kleinen Lichteinfall am Ende eines langen schwarzen Tunnels. Keine Ablenkung, keine Stimmen und Meinungen von außen, meine eigenen waren laut und stressig genug, nur nicht darauf hören! Nur Markus, meinem Neffen, und Randy, unserem Sohn, will ich es sagen. Wir drei sind schon lange eine feste Gemeinschaft und passen nicht so recht zum Rest der Familie.

Markus ist 27 und Randy 20 Jahre alt, sie sind wie Brüder zusammen aufgewachsen, verstehen sich blendend, und beide sind mir sehr wichtig! „Spinnst du, pass auf, der will was von Dir!“, kommentiert Markus, als ich damit herauskomme, dass ich kurzfristig Urlaub mache. Randy meint: „Mum, du hast ein Scheiß-Timing!“ Nun gut, dann muss es eben ohne die Unterstützung der zwei gehen, zumindest leiht mir Markus seine schöne Reisetasche und bricht zum ersten Mal die Regel, mir nichts zum Geburtstag schenken zu dürfen. Er überrascht mich mit einem wunderschönen Parfüm – „Red“ von Gucci. Dieser Duft wird sich noch tief in mir verankern. Für mich riecht er nach der Freiheit! Außerdem riecht er nach Meer und Pinien, verbunden mit dem Geräusch der starken Brandung, wie ich es nun, in wenigen Stunden schon erleben werde. Das Meer wird an seine Begrenzungen donnern und den Weg nach oben nehmen in die Luft, mit Ohren betäubendem Lärm wird es seinen Protest kundtun.

Es ist soweit, ich habe es tatsächlich getan! Es ist sieben Uhr morgens, ich fliege in ca. 10.000 Meter Höhe und führe gedankliche Selbstgespräche. Mein 42. Geburtstag, ein Flugticket als Geschenk von einem fast Fremden, der nicht einmal weiß, dass ich Geburtstag habe. Er hat keine Ahnung von meinem inneren Sturm, er kennt mich gar nicht, bis auf die aktuelle Krankengeschichte und dass ich mir vor ein paar Wochen das rechte Daumengelenk rausgerissen hatte, er musste für die Krankenhauseinweisung sorgen. Die gemeinsamen Interessen zum Thema Sport gehen zwar darüber hinaus, aber das war es auch schon, nicht gerade üppig. Ich kann ihm doch jetzt nicht sagen, dass ich komme, weil mein Bauch das will? Nein, dann hält er mich für verrückt. Schließlich ist er Arzt, die ticken sowieso komisch. Und überhaupt, kann ich denn wirklich alles hinschmeißen? Wenn ausgerechnet jetzt Harmagedon kommt, dann habe ich all die vielen Jahre umsonst die ganzen Opfer gebracht. Aber es könnte genauso gut noch ein oder zwei Jahre dauern, dann hätte ich noch Zeit, nur so zu leben, wie ich es will. Was für eine Vision, was für ein Gefühl! Ein paar Jahre Freiheit gegen ewige Vernichtung! Will ich das wirklich? Ich habe Angst.

Meine Eltern und Freunde werde ich sofort verlieren, die Firma und auch das Haus. Und die Trennung von Tim wird schwer werden. Kann ich das aushalten, eine Ausgestoßene zu sein? Komme ich zurecht ohne soziale Kontakte? Was wird aus Markus und Randy? Werden sie mit mir diesen Weg gehen? Ich werde schuld sein an ihrem Tod! Mein eigener Sohn – tot! Will ich das? STOPP! An dieser Stelle darf ich nicht weiterdenken! Ich weiß auch nicht, wie die Welt da draußen überhaupt „geht“? Wo kann ich denn wohnen? Was soll ich arbeiten? Ich verspreche mir in diesem Augenblick selbst – hier über den Wolken –, dass ich am 28. Juni meine Entscheidung getroffen haben werde. Entweder füge ich mich endlich brav und still ein in das System, oder ich akzeptiere meine Vernichtung. Das sind vier Wochen Bedenkzeit!

Beide Alternativen sind extrem unerfreulich für mich. Ich bin nicht gerade die Spitzenkandidatin für „still und brav“, aber die Vernichtung steht ja wohl wirklich auf keines Menschen Wunschliste. Dennoch, es gibt nur diese beiden Vorstellungen, keinen Mittelweg. Ich stehe an einer Weggabelung und empfinde beide Wege als scheußlich. Na ja, der „Freiheitsweg“ ist natürlich der, den ich ersehne, aber der Preis ist so verdammt hoch, dass es sich unerträglich anfühlt. Obwohl mein Lebensweg nicht selbst gewählt ist, bin ich ihn 37 Jahre lang so gegangen und nie davon abgewichen. Ich habe immer gehofft, irgendwann, wenn ich mir nur mehr Mühe gäbe, würde er mir gefallen. Dann, wenn ich endlich so sein würde wie meine Umgebung, dann, wenn ich meine innere Proteststimme endlich zum Schweigen gebracht hätte, wenn ich endlich die Freiheit fühlen könnte, von der die anderen sprachen: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird Euch frei machen.“1 So mühevoll und schwer es für mich ist, in dieser „Wahrheit“ zu leben, so deutlich scheint die Freiheit immer nur zu den anderen zu kommen. Oder irre ich mich, wenn ich glaube, Freiheit ist Glücklichsein? Ich erinnere mich daran, dass ich als Jugendliche all meine zornigen Ohnmachtsgefühle in wilden, aggressiven, abstrakten Bildern untergebracht habe, die außer mir wirklich niemand mochte. Es war ein gutes Ventil für mich, denn ein Tagebuch wäre viel zu gefährlich gewesen. Hätte meine Mutter es in die Finger bekommen, hätte sie es natürlich sofort gelesen. Die Inhalte hätte sie umgehend den „Ältesten“ vorgetragen, damit diese sich meiner vermeintlichen Verirrungen annähmen. Irgend etwas an dem Freiheitsversprechen funktionierte jedenfalls bei mir nicht. Und die Erklärung dafür war immer die gleiche: Es liegt an mir! Ich bin verrückt! Ich bin nicht demütig genug! Meine Gefühle sind falsch! FALSCHE GEFÜHLE, das war das Schlimmste. Da ich ständig so viel fühlte, fühlte ich auch rund um die Uhr, dass es nicht zu dem passte, was mein Umfeld fühlte. Diese Gefühle permanent wegzudrücken, war ein enorm energieaufwendiger Prozess. Ich muss meine Augen schließen bei diesem Erinnerungsschwergewicht. Doch nun rutschen die inneren Bilder noch tiefer, in meine Kindheit zurück …

1  Johannes Evangelium 8:32

Verschwundene Berge

Plötzlich waren alle Berge fort – unglaublich! Mit wachsendem Unbehagen beobachtete ich während der Fahrt, dass sie immer kleiner und weniger wurden, und dann waren sie ganz weg. Dass es Landschaften ohne Berge gibt, wusste ich gar nicht. Das hatte mir niemand gesagt, wahrscheinlich hatte es auch keinen interessiert. Aber hätte ich es mir vorstellen sollen, dann wäre ich erst recht dagegen gewesen. Schließlich aber war nur die Rede von einer größeren Wohnung und einem Kinderzimmer für meinen Bruder und mich. Doch selbst mit dem Versprechen eines Zimmers für mich ganz allein hätte ich diesen Deal nicht machen wollen. Nun, in den frühen Sechzigern war es nicht gerade an der Tagesordnung, Kinder in Familienentscheidungen mit einzubeziehen. Ich glaube, diese Idee galt damals generell noch als ausgesprochen abwegig, in meiner Familie auf jeden Fall. Wir fuhren in unserem ersten Auto, der ganze Stolz meines Vaters, auf der Autobahn Richtung Norden. Ich beobachtete alles. Meinen großen, schlanken Vater, der es irgendwie geschafft hatte, sich zusammenzuklappen, damit er in dieses Auto passte. Für meine Mutter, zwei Köpfe kleiner als er, war das Fahrzeug viel besser geeignet. Ich konnte sie natürlich nur von hinten sehen, aber wären sie erschrocken oder so beunruhigt gewesen wie ich, hätte zumindest meine Mutter dies aufgeregt kundgetan. Offensichtlich war dies wieder ein Gefühl, das es nur bei mir gab. Mein Bruder Rainer und ich saßen auf der Rückbank des Autos, einem Lloyd. Und da wir noch klein genug waren, sozusagen gut stapelbar, hockten wir dort oben auf dem Gepäck. Rainer war knapp zwei Jahre jünger als ich und nahm das Ganze ziemlich gelassen. Sein Autoquartett sorgte für die nötige Ruhe, verschwindende Berge zu beobachten, war wirklich nicht sein Ding. Überhaupt waren wir beide sehr unterschiedlich. Im Gegensatz zu mir lebte er gerne im Haus, mochte aber keine Spaziergänge im Wald. Letzteres löste bei ihm die gleichen tränenreichen Aktionen aus wie bei mir tote Tiere auf dem Esstisch. Er benötigte für seine Seelenruhe keinen Garten, liebte dafür jedoch kräftiges Essen. Überhaupt war er schlicht und ergreifend ein Stubenhocker. Es war einfach nicht zu verstehen, weshalb sich unsere Eltern den Stress machten, uns einander angleichen zu wollen. Hätten sie auf mich gehört, hätte mein Bruder zu Hause bleiben, spielen und essen dürfen, und ich wäre im Wald und Garten geblieben. Allen wäre es gut ergangen. Aber nein, sie hatten einen Gerechtigkeitstick! Wir beide mussten unbedingt gleich behandelt werden. Wie blöd ist das denn? Gibt man einem Seehund und einem Kolibri etwa das gleiche Futter? Diese Frage stellte ich mir häufig, ich besaß nämlich ein wunderschönes Buch über Tierkinder aus aller Welt, und da gab es riesige Unterschiede! Warum musste man ausgerechnet Menschenkinder gleich machen? Doch das waren meine üblichen Standardgedanken, auf die es auch nur Standardantworten gab, meine Mutter pflegte in der Regel zu mir zu sagen: „Mensch, nimm doch das Leben nicht so schwer und kompliziert!“

Mein Unbehagen wurde immer größer, denn fehlende Berge in der Landschaft machten mir Angst. Diese Situation – ganz ohne Oma und Opa – mit einem unbekannten Ziel war ganz und gar nicht in Ordnung für mich. Den Abschied von meinen Großeltern, mit denen ich meine ersten sechs Lebensjahre verbracht hatte, empfand ich als sehr schmerzhaft. Früher lebten wir alle im gleichen Haus, allerdings in verschiedenen Wohnungen. Wir lebten nur eine Etage tiefer, und ich konnte die Großeltern jederzeit erreichen. Für mich war das optimal, für meine Mutter wohl eher schwierig, da sie und meine Oma nicht wirklich kompatibel genannt werden konnten. Beide Frauen erhoben Anspruch auf denselben Mann, meinen Vater. Sehr früh entwickelte ich dadurch eine tiefe Abneigung gegen Eifersucht. Nun war es mein größter Schmerz, dass mein Opa für mich nicht mehr greifbar war, er war nämlich mein unantastbarer Held. Er mochte fast alles, was mir wichtig war. Mit ihm war ich draußen in der Natur, wir werkelten im Garten, und auf langen Wanderungen im Schwarzwald beobachte er mit mir die Tiere. Mein Opa liebte mich ohne Wenn und Aber. Ich musste nichts dafür tun, sondern für ihn durfte ich einfach nur SEIN. Den Rest der Familie zurückzulassen, die Freunde und meine erste Schulklasse, fand ich nicht so dramatisch, aber doch nicht meine Großeltern! Das fühlte sich scheußlich und schmerzhaft an. Es war zwar gemischt mit der Vorfreude und Neugier auf das Neue, aber kein besonders schönes Gefühl. Allerdings habe ich solche Querulanten-Gedanken meist nicht kommuniziert, denn es hätte unerquickliche Belehrungen zur Folge gehabt. Mitzuteilen, dass ich mich – im Gegensatz zu allen anderen – nicht freute, hätte mit Sicherheit wieder „eine überkandidelte Extrawurst“ aus mir gemacht. Das konnte ich schon singen. Sehr früh schon hatte sich mir eingeprägt, dass meine Empfindungen allem widersprachen, was andere fühlten. Es schien mir selbst, dass meine eigenen Gefühle meine Umwelt terrorisierten, und das machte mir große Sorgen. Denn grundsätzlich empfand ich es als unverschämt, dass andere Menschen glaubten, ich teile ihnen vermeintlich störende oder mindestens Aufregung erzeugende Gefühle mit. Nichtsdestoweniger wollte ich – nur noch umso dringender - endlich „richtig“ fühlen lernen. Andererseits konnte ich mir nur schwer von Erwachsenen etwas vorschreiben lassen, da ich immer das Gefühl hatte, nur körperlich kleiner, aber „in Wirklichkeit“ viel älter als sie zu sein. Natürlich war ich schlau genug, dies nie auszusprechen, es machte dennoch viele Situationen schwierig. Das Zusammenleben mit meiner Familie empfand ich (außer mit Oma und Opa) als sehr anstrengend. Ich wollte dauernd draußen leben und nur zum Schlafen in die Wohnung zurück kommen, ich wollte nur essen, wenn ich Hunger hatte, und nicht nach einer blöden Uhr, die über mich bestimmte. Essen war überhaupt ein Dramen-Thema. Wieso sollte ich an einem Tisch essen, wenn ich doch alles im Garten fand und dabei nicht sitzen musste. Das wirklich Allerschlimmste aber waren die toten Tiere, die in Form von Wurst oder Fleisch auf meinem Teller landeten. Ich fand es widerlich und litt tränenreich darunter. Meine Oma erbarmte sich dann und gab mir alternativ Streichkäse und manchmal ein Ei. Bei dem hatte ich zwar den Verdacht, dass es ein unfertiges Tier war, hütete mich aber, das zu fragen, sonst hätte ich es mir bestimmt mit der Oma auch verdorben. Und das wäre keine gute Idee gewesen, denn Oma war zwar klein, aber energisch und willensstark, sie wäre mit jedem in den Ring gestiegen. Zum Thema Essen hatte sie zwar eine entspannte Haltung, aber ich wollte sie auch nicht reizen. Meine Mutter dagegen unterlag dem irrsinnigen Glauben, dass man zum Aufwachsen und Gesundbleiben Fleisch benötigt. Für diese Überzeugung kämpfte sie unermüdlich mit mir, bis ich 18 Jahre alt war. Sie hatte letztlich den Kampf gewonnen: Ich aß Fleisch und Fisch, verzichtete auf eine für meine Umwelt wahrnehmbare Pubertät, und vor allem war ich freundlich und pflegeleicht. Ihr Erziehungsprogramm war gelungen.

Den mühsamen Weg zu diesem grandiosen Erfolg kannte ich allerdings noch nicht, als die Berge hinter den Fensterscheiben unseres Lloyd verschwanden. Als wir an unserem Bestimmungsort ankamen, betrat ich das platteste Land, das ich je gesehen hatte. Es stresste mich auf Anhieb und auf ganz unerklärliche Weise. Es war ein Samstag, als wir die neue Wohnung in Besitz nahmen. Das große Kinderzimmer für Rainer und mich gab es wirklich. Hinter dem Haus, in dem noch fünf andere Familien lebten, lag ein Spielplatz. Herrlich, dahinter nur Wiesen und ein Bachlauf, das war wirklich vielversprechend. Mein erster beängstigender Eindruck verflog für ein Weilchen. Die nächsten dunklen Wolken zogen aber schon am Sonntag auf. Kisten auszuräumen und die Zimmer einzurichten, (das war wirklich nachvollziehbar wichtig) war nicht das Einzige, was mich interessierte, ich wollte es auch gerne gemütlich haben. Aber die Arbeit wurde plötzlich unterbrochen, und wir mussten uns „schön“ anziehen, was bedeutete, einen unbequemen Rock zu tragen, und das ließ nichts Gutes ahnen. Wir gingen zu einer Veranstaltung, die sich „Versammlung“ nannte und in der Altstadt von Bad Kreuznach stattfand. Schon aus Freiburg kannte ich das seit zwei Jahren, aber dort handelte es sich um einen sogenannten „Königreichsaal der Zeugen Jehovas“, der viel größer war als hier. Es waren dort viel mehr Leute, und wir fielen nicht so auf, außerdem war Oma immer dabei. Die Bad Kreuznacher Altstadt gefiel mir wirklich gut, und die Erbsengasse, unsere Zieladresse, hätte ich gerne mehr erkundet. Aber das war natürlich nicht der Grund, weshalb wir dort waren. Der „Königreichsaal“ lag hier in einem sehr kleinen Häuschen, man musste ihn über eine Art Hühnerleiter erreichen, was mich ein wenig an ein Baumhaus erinnerte. Ein Saal muss anders aussehen, dachte ich, das Schild war doch falsch! Es gab nur einen Raum, so etwas wie eine kleine Bühne mit einem Rednerpult, einem Tisch und zwei Stühlen. Ansonsten schmucklose, kahle Wände und vielleicht 30 alte Kinostühle, die laut schnappten, wenn man zu schnell aufstand. Das war alles. In der hinteren Ecke an einem Tisch wurden Bücher und Zeitschriften verkauft. Keine Bilder von Heiligen, keine Abbildungen von biblischen Geschichten, kein Kreuz, wie man es aus Kirchen kennt. Solche Darstellungen sind bei den Zeugen Jehovas verboten, sie zählen zum „abtrünnigen heidnischen Brauchtum“. Das würde für die nächsten Jahre eine wichtige Formulierung werden, stets kombiniert mit der Bemerkung: „Das ist verboten!“ Fast alles, was Spaß machte oder zu unserem Kulturkreis gehörte, war auf einmal ein heidnischer Brauch. Ob das Beten morgens in der Schule, das Singen eines Geburtstagliedes für einen Mitschüler, der Religionsunterricht und vieles mehr, mit dem ich als Schülerin zwangsläufig dauernd in Berührung kam, all das musste ich meiden. Meinen Eltern erging es allerdings prima in dieser Versammlung. Sie wurden überschwänglich von den anderen 22 (!) Fremden begrüßt, denn als neu Zugezogene waren wir die ersehnte Unterstützung in einem sogenannten „Hilfe-Not-Gebiet“. Das hieß, in dieser Gemeinschaft gab es zu wenig Leute, um in der Region zu predigen. Nun, mit meinen Eltern gab es jetzt zwei mehr.

Ich fühlte mich dagegen wie ein Regenschirm im Ständer nebenan. Es war bestimmt schlau, mich vorerst unauffällig zu verhalten. Ich sah auch auf den ersten Blick niemanden, den ich vertrauenswürdig und nett fand, obwohl alle sehr freundlich zu uns waren. Doch alle meine Sinne waren in Alarmbereitschaft, und das fühlte sich gar nicht gut an. Überhaupt war das für mich ein „Un-Ort“. Es gab zwar noch drei oder vier andere Kinder, aber auch die waren wie Regenschirme. Spielen, Lachen, Reden, Sich-Bewegen auf den Stühlen, das war nicht erlaubt. Unendlich lange seltsame Reden musste ich mir anhören, danach fühlte ich mich schlecht und schuldig, wusste aber nicht, weshalb. Mein Bedarf war gleich beim ersten Mal gedeckt, das war absolut kein Ort für mich! Eine fantasievolle Siebenjährige mit den ausgeprägten Eigenschaften eines Zappelphilipp, Outdoor-Sehnsüchten und ohne Großeltern zum Ausgleich, wie sollte das gut gehen? Dabei war das nur die Ouvertüre für eine 37 Jahre lange Oper! Samstag Ankunft, Sonntag Versammlung, und ein paar Tage später war meine Mutter im Predigtdienst verschwunden. Sie hatte eine Bibel und verschiedene Werbeheftchen in der Tasche und klingelte an fremden Haustüren, um für diesen Glauben zu missionieren – schrecklich! Wenn das hier so weiter ging, hätte ich lieber kein Kinderzimmer und keinen Spielplatz hinter dem Haus gehabt, wenn ich nur wieder zurück gedurft hätte. Und es ging so weiter, und zwar täglich! Mein Vater ging ganz in seiner neuen Rolle als leitender Meister einer Druckerei auf, er liebte seinen Beruf und die damit verbundene Anerkennung. Meine Mutter ging auf in ihrer neuen Aufgabe, und sie verwandelte sich vor meinen Augen bis zur Unkenntlichkeit. Dabei muss ich zugeben, dass meine ersten Lebensjahre mit ihr wunderbar gewesen sind. Ich fand es fantastisch, eine so schöne und gepflegte Mutter zu haben. Oft verglich ich sie mit den anderen Frauen, die ich sah, und war sehr stolz auf sie. Für Rainer und mich erfand sie Geschichten von Hasen, Rehen und Sperbern, von Kindern, die in Trauerweiden lebten, und einiges mehr. Obwohl wir den ständigen Zirkus um das Essen hatten und mein Wald- und Gartendrang ihr nicht passte, war ich einfach verliebt in sie. Das änderte sich nun gründlich. Nach meinem Gefühl hatte sie bei der Ankunft im Land ohne Berge ihre eigenen Kinder einfach weggeschmissen. Sie schien etwas viel Besseres gefunden zu haben und war glücklich damit. Mit Rainer und mir konnte sie nicht mehr viel anfangen. Wir waren für sie überhaupt nicht mehr in Ordnung und passten nicht in ihr neues Leben. Hatte mich mein erstes durchschattetes Gefühl im Königreichsaal am ersten Sonntag vielleicht doch nicht getrogen? Aber nein! Das richtige Gefühl hätte Glück und Dankbarkeit sein sollen! Immerhin gehörten wir jetzt zu den Auserkorenen, die als Einzige die Wahrheit dieser Welt kannten … Es war eine grauenvolle Wahrheit! Und dann fing es an: Ich wollte tot sein!