Martin Dornes
Die Modernisierung der Seele
Kind – Familie – Gesellschaft
FISCHER E-Books
Martin Dornes, geb. 1950, Dr. phil. habil., ist Soziologe, Entwicklungspsychologe und Gruppenanalytiker. Nach langjähriger klinischer und Forschungstätigkeit in Psychiatrie, Psychosomatik, Sexualmedizin und Medizinischer Psychologie sowie Lehrtätigkeit als Privatdozent für Psychoanalytische Psychologie ist er derzeit Mitglied im Leitungsgremium des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main.
Weitere Bücher des Autors im Fischer Taschenbuch Verlag: Der kompetente Säugling (Bd. 11263); Die frühe Kindheit (Bd. 13548); Die emotionale Welt des Kindes (Bd. 14715); Die Seele des Kindes (Bd. 17051).
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: Ron Mueck,»Big Baby #3«,1997 ©Foto: Dieter Rüchel
Originalausgabe
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401715-0
Den beeindruckenden Büchern von Radkau (1998) und Blom (2008) kann man entnehmen, dass praktisch alles, was heute als neu, bedrohlich oder krankmachend angeführt wird – wie Reizüberflutung, Beschleunigung des Lebens und des sozialen Wandels sowie Informationsüberflutung durch Medien –, schon vor 100 Jahren unter demselben Verdacht stand. Die Urbanisierung, der Telegraph, das Automobil, die Zeitungen, das Kino, das Varietétheater, der Terrorismus, der Arbeitsprozess in den Fabriken, der Starkult und, immer wieder, die Tempobeschleunigung, sollten Nervosität und Unruhe bewirken, welche die Verarbeitung von Erfahrung sowie das Erleben von Zeit beeinträchtigen und zu einer Gefühlskultur führen, in der Gefühle nur noch oberflächlich dargestellt, aber nicht mehr erlebt würden. All das wird heute ebenfalls bevorzugt den neuen Medien und der allgemeinen Beschleunigung des Lebenstempos angelastet. Zurückhaltung bezüglich dieser Diagnosen legen insbesondere solche Beispiele aus der Geschichte nahe, die uns heute abwegig erscheinen, damalige Zeitgenossen aber völlig überzeugten, etwa der ausgiebig diskutierte Zusammenhang zwischen Fahrradfahren, Beschleunigung und sexueller Erregung (Blom 2008, S. 293, 310). Shorter (1992, S. 360f.) ist deshalb skeptisch hinsichtlich aller Beschleunigungsdiagnosen: »Es darf füglich bezweifelt werden, daß das ›Lebenstempo‹ jemals wirklich wechselt. Zu allen Zeiten und allerorten glaubten und glauben Menschen, in einer besonders ›hektischen‹ oder ›nervösen‹ Welt zu leben: im Europa des ausgehenden achtzehnten und im Amerika des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts nicht weniger als heute fast überall auf dem Globus.« Und zu allen Zeiten sahen Ärzte oder andere Zeitgenossen das Nervensystem durch zu schnelles Essen, Trinken, Fahren, zu viel Geschäft, Straßengewühl, Verkehrsgetöse in Gefahr. Die Kurempfehlung war auch immer dieselbe: Entschleunigung und auf die Genussbremse treten (ebd.). Böhme (2009, S. 80f.) konstatiert ebenfalls, die derzeitige allseitige Beschleunigung drohe einerseits alle Dimensionen des Menschlichen zu sprengen, andererseits würden die Menschen das Tempo eigentümlich unberührt wegstecken. Eine gänzlich andere Auffassung vertritt Rosa (2005). Er meint, die Beschleunigung habe mittlerweile ein Ausmaß erreicht, welches das aufklärerische Projekt der Autonomie fundamental bedrohe (Kritik bei Reiche 2011).
Daten nach Fries (2002, S. 138), Spitzer (2005, S. 122), Gatterburg (2007, S. 44), Rittelmeyer (2007, S. 28ff.) und Peuckert (2008, S. 150). In der Gruppe der 15-jährigen männlichen Jugendlichen sind es knapp 16%, deren gesamter Medienkonsum (Fernsehen, DVD, Internet, Handy, Computerspiele) viereinhalb Stunden täglich übersteigt. Als computersüchtig werden in dieser Altersgruppe 3% der Jungen und 0,3% der Mädchen eingeschätzt (Dahlkamp 2009). Weitere Daten zur Mediennutzung, auch anderer Altersgruppen, finden sich bei Lampert et al. (2007). Die Autoren konstatieren unter anderem eine schichtspezifische Häufung von Vielsehern in der Unterschicht, eine geschlechtsspezifische Präferenz von Handygebrauch und Musikhören bei Mädchen bzw. Computer, Spielkonsole und Internet bei Jungen, sowie einen Zusammenhang zwischen Vielsehen und Übergewicht.
Spitzer (2005) stellt verschiedene Studien dar, die belegen, dass es auch nach Herausrechnung sozialdemographischer und sonstiger Variablen einen eigenständigen negativen Einfluss des Fernsehkonsums auf Schulleistungen und die Neigung zu Gewalttätigkeit gibt. Kunczik/Zipfel (2006) bewerten jedoch in ihrem erschöpfenden Überblick die Befunde zum Zusammenhang von gewalthaltigem Medienkonsum und späterer Gewaltneigung erheblich zurückhaltender als Spitzer. Johnson (2005) vertritt die Auffassung, dass der Anstieg der durchschnittlichen Intelligenz in den Industrieländern unter anderem auf Fernsehen und Computerspiele zurückzuführen ist. Auch andere Autoren sehen durchaus einen förderlichen Einfluss bei gemäßigtem Konsum (Kurzüberblick bei Gatterburg 2007 und Sekareva 2009). Als Standardempfehlung gilt: Zwischen null und drei Jahren kein Medienkonsum, weil die Kinder kaum verstehen, was sich auf dem Bildschirm abspielt; zwischen drei und sechs Jahren zusammen mit den Eltern und nicht mehr als eine Stunde; eine langsame Steigerung bis zum Alter von zehn Jahren ist erlaubt; mit drei Stunden täglich soll auch bei älteren Jugendlichen die Gefahrengrenze erreicht sein. Die kanadische Langzeitstudie von Pagani et al. (2010) ergab recht heterogene Ergebnisse, unter anderem folgende. Erstens: Mit steigendem Bildungsniveau der Eltern sinkt der Fernsehkonsum kleiner Kinder. Zweitens: Mehr als zwei Stunden fernsehen pro Tag im Vorschulalter wirken sich negativ auf eine Reihe von Fähigkeiten und Verhaltensweisen aus, sie beeinträchtigen beispielsweise die Aufmerksamkeit und führen zu mathematischen Minderleistungen im Alter von 10 Jahren. Drittens: Es waren keine negativen Einflüsse auf die Lesefähigkeit oder die Aggressivität nachweisbar. Die Autorinnen empfehlen, entsprechend den Richtlinien der Amerikanischen Akademie für Kinderheilkunde, Kinder in den ersten zwei Lebensjahren überhaupt nicht und im Vorschulalter nicht mehr als zwei Stunden am Tag fernsehen zu lassen.
In einem anderen Sinn diskutiert Altmeyer (2003, S. 61ff.) den Zusammenhang zwischen Medien und Gewalt. Er will (manche) Gewalttaten, insbesondere die öffentlichkeitswirksamen Amokläufe, nicht aus Ursachen erklären, die sich rekonstruieren lassen, nicht aus der Vorgeschichte von Traumen, Kränkungen, Frustration, sozialer Isolierung, Schulversagen, Waffenvernarrtheit, sondern aus den vorphantasierten Wirkungen, welche die Tat auf das imaginierte Publikum hat. Die vorphantasierte Wirkung ergibt sich aus einer Allmachtsphantasie, in welcher der Täter das Drehbuch schreibt, die Requisiten, den Schauplatz, die Dramaturgie bestimmt und die Opfer für einen grandiosen Akt der allmächtigen Selbsterschaffung gebraucht. Aber wie erklärt sich die Existenz dieser Allmachtsphantasie sowie das Bedürfnis und die Bereitschaft, sie in die Tat umzusetzen? Woher kommt sie, wenn nicht aus der Lebensgeschichte und den aktuell frustranen Lebensumständen? Die Phantasie, die hier inszeniert wird, entsteht ja nicht erst mit der Tat, und selbst wenn sie durch die Medien begünstigt wird, sind die Medien nicht ihre alleinige Ursache. Entsprechend heißt es bei Groebel (2010, S. 111ff.): Erstens: Die öffentliche Aufmerksamkeit kann zu einer wichtigen Triebfeder von Amokläufen werden. Zweitens: Fast immer ist jedoch das konkrete biographische und soziale Umfeld entscheidend. Drittens: Dennoch entziehen sich manche Taten jeder Erklärung.
Untersuchungen bei Erwachsenen kommen zu ähnlichen Ergebnissen (Münker 2009, S. 87). Internet-Nutzer treiben mehr Sport, gehen öfter ins Theater, Kino oder Konzert und engagieren sich häufiger in Vereinen und Bürgerinitiativen als eine Vergleichsgruppe von Nicht-Nutzern. Die Zahl der unmittelbaren face-to-face-Kontakte ist nicht geringer, allerdings auch nicht größer (Bauernschuster et al. 2010). Die Gesamtdatenlage erlaubt den Schluss, dass elektronische Medien die Anbahnung und Aufrechterhaltung (dauerhafter) sozialer Beziehungen eher fördern als behindern (Fischer 2011, S. 96, mit weiterer Literatur).
Die These vom Bedeutungsschwund der Eltern wird in den Kapiteln 3 und 4 ausführlicher behandelt.
Angesichts der Tatsache, dass der durchschnittliche deutsche Erwachsene im Jahr 2008 über gut sechseinhalb Stunden Freizeit pro Tag verfügte und der Durchschnitt in den OECD-Ländern bei gut fünfdreiviertel Stunden lag, sollten Behauptungen über Zeitknappheit generell mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden. Es handelt sich anscheinend um eine »gefühlte« Knappheit. Auch der Rückgang der durchschnittlichen jährlichen Arbeitszeit in Europa von 2100 auf 1550 Stunden zwischen 1950 und 2000 spricht gegen arbeitsbelastungsbedingte Zeitknappheit (Daten nach FAZ2009 a und Voth 2009); zur »gefühlten« Knappheit siehe Rosa (2005, S. 200, 202, 213, 216ff.).
Als Kontrastprogramm zu diesem Deprivationspanorama wird häufig die gegenteilige These der Überbesetzung des Kindes vertreten. Dann ist das Kind wahlweise »Lebensprojekt der Eltern«, »Objekt optimaler Förderung«, »Gegenstand fürsorglicher Belagerung« oder »Adressat übersteigerten elterlichen Bildungsehrgeizes«. Ich gehe weiter unten und im sechsten Kapitel näher darauf ein.
Die Befunde über Zeitzufriedenheit streuen, wie nicht anders zu erwarten, je nach Familien- und Erwerbssituation. Der oben erwähnte Durchschnittswert von 13% 8- bis 11-Jährigen mit dem Wunsch nach mehr Zeit fächert sich je nach Familien- und Erwerbssituation wie folgt auf: Bei einem berufstätigen Elternteil empfinden 6% der Kinder elterlichen Zeitmangel, bei einem voll- und einem teilzeiterwerbstätigen Elternteil sind es 8%, bei zwei Vollzeiterwerbstätigen 17%, bei arbeitslosen Eltern 29% und bei erwerbstätigen Alleinerziehenden 35%. Die hohe Zahl von Kindern arbeitsloser Eltern, die sich mehr Zeit mit ihren Eltern wünschen, zeigt, dass es sich beim Zeitproblem keineswegs nur um einen objektiven Mangel an Zeit handelt.
Ein zweiter Grund ist, dass Teilzeitarbeit der Karrierekiller ist – bei Männern noch stärker als bei Frauen.
Oft sind Befunddivergenzen in Scheidungsfolgenstudien auch methodenabhängig. Als Faustregel gilt, dass schwerpunktmäßig sozialstatistische Umfrageuntersuchungen eher geringere Unterschiede zwischen »alternativen Familienformen« und »Normalfamilien« finden, klinische Untersuchungen eher größere. Für Stieffamilien konstatieren Martin/Le Bourdais (2008, S. 274) dasselbe Phänomen.
17% aller Minderjährigen wuchsen im Jahr 2010 in Ein-Eltern-Familien auf, die zu 90% Mutterfamilien waren. 61% der Ein-Eltern-Familien sind das Ergebnis von Scheidung oder Trennung, bei 31% waren die Mütter nie verheiratet, 8% sind das Ergebnis von Verwitwung. Bis 1980 ist die Zunahme der Ein-Eltern-Familie auf die Zunahme der Scheidungen zurückzuführen, seither stärker auf die Zunahme lediger Mütter (Peuckert 2007, S. 42). Die Zahl der Ein-Eltern-Familien steigt, aus welchen Gründen auch immer, in Deutschland schneller als in nahezu allen anderen Ländern Europas. Ein Viertel der Ein-Eltern-Familien sind allerdings nicht alleinerziehend, weil sie in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft leben, ein Drittel lebt in einer festen Partnerschaft, wenn auch nicht im gemeinsamen Haushalt mit dem Partner. Nur bei einem Viertel der Kinder ist der Kontakt zum leiblichen Elternteil völlig abgebrochen (Meyer 2008, S. 344f.).
Zur auch in der Öffentlichkeit heiß diskutierten »Kinderlosigkeit« hier noch einige Zahlen: Faktisch beträgt die Zahl kinderloser Ehen deutschlandweit derzeit 14% (die Hälfte davon freiwillig), ein knappes Drittel hat ein
Kind, 48% zwei Kinder, der Rest drei und mehr. Dominant ist also nach wie vor (seit 1920) der Familientypus mit zwei Kindern (Meyer 2008, S. 334). Entsprechend lebten nur 25% aller Minderjährigen im Jahr 2002 als Einzelkinder, 75% hatten mindestens ein Geschwister (Peuckert 2007, S. 37, 41). Die vielfach beklagte tendenzielle Abnahme der Geburtenrate ist also vor allem auf einen Rückgang der Ehen mit drei und mehr Kindern und eine Zunahme der Ehen ohne Kinder zurückzuführen. In allen entwickelten Industrieländern nimmt seit geraumer Zeit die Zahl der Geburten pro gebärfähige Frau wieder zu. Entgegen der herrschenden Meinung, dass mit dem steigenden Entwicklungsniveau einer Gesellschaft diese Zahl abnimmt, gilt dies nur bis zu einem bestimmten Punkt, danach kehrt sich die Entwicklung wieder um. In Europa war der Tiefpunkt 2003 mit 1,47 erreicht, 2008 waren es bereits wieder 1,60; in Deutschland lag der Tiefpunkt 1994 bei 1,24, 2010 waren es 1,39. Es gibt erhebliche länderspezifische Unterschiede. Irland, Frankreich, Großbritannien und Schweden haben mit 2,1–1,9 die höchste Geburtenziffer, Italien, Spanien, Polen, Deutschland und Portugal mit 1,4–1,3 die niedrigste (Daten ref. nach FAZ2010 c, 2011 d, 2011 i und Der Spiegel 2011). Natürlich sinkt die absolute Zahl der Neugeborenen trotz steigender Geburtenrate pro Frau weiter, weil die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter abgenommen hat. Die höchste Zahl an Neugeborenen war in Deutschland 1963 mit 1,3 Millionen erreicht, 2010 waren es nur noch gut die Hälfte, nämlich 680000.
Unklar ist, ob die Konflikte wirklich zugenommen haben oder nicht nur die Bereitschaft, über sie zu berichten. Wahrscheinlich ist beides der Fall. Fischer (2010, S. 304, Fn. 106) findet sogar eine Abnahme der Konflikte bei den Jüngeren.
Im Jahr 1957 waren übrigens nur 47% der Ehepaare sehr zufrieden, obwohl sie kaum Konflikte beschrieben (Coontz 2005, S. 350, 383).
Die unterschiedlichen Häufigkeitsangaben hängen von vielen Faktoren ab, von denen hier nur zwei genannt seien: das Alter der Untersuchten und Methodenprobleme. Was die Altersabhängigkeit von Konflikten angeht, so nehmen sie im Alter zwischen 12 und 16 Jahren zu, danach wieder ab – mit einem Höhepunkt zwischen 14 und 15 Jahren (Seiffge-Krenke 1997, Hofer 2003). Was Methodenprobleme angeht, so sei nur auf den Unterschied zwischen standardisierten und qualitativen Interviews hingewiesen, die oft zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. In einer Studie von Wilk/Bacher etwa (1994) gaben 85% der Kinder im standardisierten Interview an, es komme bei ihnen zu Hause nie oder selten zu Streit. Dieselben Kinder antworteten aber auf die Frage, was sie in ihrer eigenen Familie später einmal anders machen würden, dass es weniger Streit sowohl zwischen den Erwachsenen als auch zwischen den Kindern und den Erwachsenen geben solle. Dies verdeutlicht, dass bei standardisierten Fragen das Harmoniebedürfnis der Kinder die Oberhand behalten kann und man entsprechend geschönte Antworten erhält. Es bedarf also subtilerer Methoden als standardisierter Befragungen (oder zusätzlicher Methoden), um die Konfliktbelastung in Familien adäquat einzuschätzen. Dennoch sind auch standardisierte Befragungen nicht wertlos, sondern geben zumindest eine grobe Orientierung.
Die These vom Bulimie-Lernen und zunehmendem Leistungsdruck hat nach Einführung der Bachelor-Studiengänge an der Universität auch dort weite Verbreitung gefunden. Es scheint jedoch, dass Studierende heute weniger arbeiten als noch in den 1960er und 1970er Jahren, nämlich 26 Wochenstunden im Durchschnitt plus 6,4 Stunden im Nebenerwerb. Die gefühlte Überlastung
rührt nicht vom wirklichen Aufwand her, sondern von einer schlechten Organisation der Arbeit und einer chaotischen Fülle des Stoffs, die zum Nichtstun als Bewältigungsform verführt (Dworschak 2010 c, S. 156f.). Diese Befunde beziehen sich auf geisteswissenschaftliche Studiengänge. Die Forscher erwarten für Betriebswirte und Juristen ähnliche Ergebnisse, nicht aber für Mediziner und Naturwissenschaftler. Eine Studie der Universität Hamburg hat diese Erwartung mittlerweile bestätigt. Sie fand sogar nur 22 Stunden durchschnittliche Arbeitsbelastung in den Bachelor-Studiengängen. Der gefühlte Zeitdruck rührte von großen zeitlichen Abständen zwischen einzelnen Veranstaltungen her sowie von einer Übergeneralisierung der für Prüfungsvorbereitungen aufgewandten Zeit auf das ganze Studium (Hamburg-Journal/NDR3, Ausstrahlung v. 14. 7. 2011). Auch amerikanische College-Studenten arbeiteten 2003 im Durchschnitt weniger als 1987, bekamen aber bessere Noten (Twenge 2006, S. 62f.). Ramm (2011) verweist hingegen auf Studien, denen zufolge der Aufwand für Bachelor- und Diplom-Studiengänge nur minimal differiert, für ein Studium in Deutschland wöchentlich im Durchschnitt 36 Wochenstunden beträgt und in der letzten Dekade um drei Stunden zugenommen hat. Für die unterschiedliche Datenlage verantwortlich sind wahrscheinlich die jeweilige Stichprobenzusammensetzung und die Art der Zeitaufwandserhebung (detailliertes Tagesprotokoll im Stundentakt versus andere Formen der meist irrtumsanfälligeren Selbsteinschätzung). Was das sogenannte Turbo-Abitur angeht, also die gymnasiale Abschlussprüfung nach acht statt bisher neun Jahren, so hat die einzige mir bekannte Vergleichsstudie ergeben, dass G-8 -Absolventen weder gestresster sind noch häufiger Kopfschmerzen haben als G-9 -Absolventen. Der einzige feststellbare statistisch signifikante Unterschied bestand in der Häufigkeit von Schluckbeschwerden (ref. nach Kleinhubbert 2011, S. 39).
Weitere Daten zur Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen in und außerhalb der Familie finden sich bei Langness et al. (2006, S. 77ff.) und Peuckert (2008, S. 148ff.). Mittlerweile wird Freizeitstress trotz gewachsener Freizeit postuliert. Rosa (2005, S. 213ff.) etwa argumentiert, das Gefühl von Zeitstress könne auch in der freien Zeit entstehen und sogar mit ihrem Ausmaß wachsen. Als Begründung wird angeführt, dass in der Freizeit immer mehr erlebt werden soll, so dass die verfügbare Zeit dafür nicht bzw. nie ausreiche. Zum anderen verändere sich die Umwelt auch in Zeiten der Muße weiter, so dass wir, aus Muße- oder Freizeit zurückgekehrt oder sogar noch während derselben, das Gefühl hätten, erhöhte Anpassungsleistungen erbringen zu müssen, weil wir bereits an die zukünftig zu erledigenden Aufgaben denken, die sich schon während unseres Urlaubs wieder verändert haben könnten. Mit diesem Argumentationstypus kann immer Zeitstress gefunden werden, ähnlich wie immer zunehmender Arbeitsstress gefunden werden kann, auch wenn die Arbeitszeit sinkt. Das einschlägige Argument lautet hier, der Stress rühre von der zunehmenden Arbeitsverdichtung her. Einerseits ist das alles in gewissem Umfang plausibel, andererseits verkehrt es Zeitgewinne in Stresszuwächse, was zu dem eigenartigen Resultat führt, dass sich die Situation immer verschlechtert: Arbeitszeitreduzierung führt zu Arbeitstress, Arbeitslosigkeit zu Desorientierungstress, Freizeitzuwachs zu Freizeitstress und die enorme Wohlstandszunahme durch Massenkonsumgüter zu Konsumstress.
Ähnliche Zahlenangaben finden sich in folgenden Publikationen: Oswald/Boll (1992), Schneewind (1999), Bucher (2001), Noack (2001), Hofer (2003), Salzburger Kinderpanel und LBS-Kinderbarometer Nordrhein-Westfalen (ref. in Fuhrer 2005), Shell-Jugendstudien (2006 und 2010), Hessisches Kinderbaro
meter (2006), 1. und 2. World-Vision-Kinderstudie (2007, 2010), ZDF-Glücksstudie (Kurzreferat in Hanfeld 2007, ausführlich Bucher 2009), Familienreport der Bundesregierung (ref. in Siems/Wiedemann 2010), Andresen/Hurrelmann (2010). Am Rande sei bemerkt, dass für Erwachsene in Bezug auf ihre persönliche Lebenssituation ungefähr dieselben Zahlen gelten. 85% der Westdeutschen und 70% der Ostdeutschen, insgesamt also etwas mehr als 80%, waren im Jahr 2006 mit ihr zufrieden (Winterhoff-Spurk 2008, S. 134), im Jahr 2010 waren es sogar 86% (FAZ2010 b). Ähnliche Zufriedenheitszahlen (> 81%) gibt es für alle Länder mit einem Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 35000US-Dollar, aber auch für einige ärmere wie Brasilien oder Indonesien (Snowdon 2010, S. 52ff.; dort auch eine Kurzdarstellung verschiedener Erhebungsmethoden).
Das Thema des Autoritätsabbaus und Vorbildverlustes wird im vierten Kapitel ausführlicher behandelt. Ebenso die derzeit verbreitete Kritik an liberalen Erziehungspraktiken als zu permissiv, kleine Tyrannen züchtend etc.
Sekundärliterarische Darstellungen dieser Theorien finden sich bei Häsing et al. (1979), Eberlein (2000, S. 218ff.) und Diamond (2006, S. 190ff.).
Fairerweise sollte hinzugefügt werden, dass das Buch in anderer Hinsicht durchaus lesenswert und außerdem elegant geschrieben ist. Eine Lektüre lohnt sich trotz der angemeldeten Bedenken allemal.
Reemtsma (2005) vertritt ebenfalls die Auffassung von einem fortschreitenden Verlust der Symbolisierungsfähigkeit, befasst sich aber nicht mit seiner Psychogenese, sondern führt ihn auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zurück. »Symbolisieren zu können, bedeutet auch, an der Realität mehr wahrnehmen zu können als bloß diese« und »etwas sehen zu können, was man nicht sieht« (ebd., S. 22f.). Der Schwund dieser Fähigkeit zeige sich in Fernsehen, Theater und Kunst als Verlust des Konjunktivs und Triumph der Unmittelbarkeit (ebd., S. 26, 30). Reemtsma will nicht den »Mob« anklagen, »der sich in den Fernsehstudios ankeift« oder vor den Bildschirmen zusieht, sondern diejenigen an ihre Pflicht erinnern, die das zu verhindern oder dabei nicht mitzuspielen hätten, auch wenn die Theater dann leer bleiben und die Einschaltquoten sinken (ebd., S. 30, 39f.). Der fortschreitende Verlust der Symbolisierungsfähigkeit soll sich in Medien wie Fernsehen und Theater deshalb kundtun oder durch sie hervorgerufen werden, weil diese ihrer Aufgabe, nicht platt auf die Realität zu zeigen, sondern Distanz und Selbstreflexion zu kultivieren, mit dem Einverständnis ihrer Betreiber nicht mehr nachkommen. Dadurch fördern sie nicht nur die Unmittelbarkeit der Konfrontation mit Realität – und damit Desymbolisierung –, sondern rechtfertigen sie auch noch. Ob das wirklich stimmt und inwieweit dadurch die Symbolisierungsfähigkeit der Individuen beeinträchtigt wird, ist zumindest fraglich. Den »Mob« hat es nämlich schon immer gegeben, er war früher nicht symbolisierungsfähiger als heute, er hat sich nur nicht im Fernsehstudio angekeift, sondern zu Hause. Deshalb steht die Steigerungsbehauptung (»fortschreitend«) auf schwankenden Beinen, denn das immer schon vorhandene Ankeifen wird jetzt zwar öffentlich, nimmt aber nicht unbedingt zu. Darüber hinaus ist es, gerade weil es im Fernsehstudio stattfindet, kein bloßes Ankeifen mehr, sondern eine Inszenierung des Ankeifens und enthält insofern, bei aller Problematik, die man zu Recht darin sehen kann, auch eine symbolische Dimension, die das häusliche Ankeifen nicht hat. Deshalb könnte man in dem beklagten Phänomen sogar eine Symbolisierungssteigerung und keine Desymbolisierung sehen: Der Mob lernt, wie man Sich-Ankeifen darstellt.
An diesem Problem laborieren auch die komplexen Überlegungen von Ehrenberg (1998; 2010 a, b). Er leitet die angeblich zunehmende Häufigkeit depressiver Erkrankungen aus den gestiegenen Autonomieanforderungen moderner Lebens- und Arbeitsbedingungen ab. Ein persönlichkeitspsychologischer oder charakterologischer Unterbau der wachsenden Erkrankungsneigung fehlt weitgehend, so dass auch seine Theorie letztlich auf eine Aktual- bzw. Traumatogenese von (Zeit-)Krankheiten hinausläuft. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem und verwandten Ansätzen (s. z.B. Rosa 2005, S. 386ff.; Han 2010) ist in Arbeit (Dornes in Vorb.).
Viele Kinderpsychiater sind übrigens der Auffassung, dass ADHS gar nicht zugenommen hat, sondern nur die Diagnose ADHS, weil unsere Aufmerksamkeit für diese Störung größer geworden ist. Haubl (2009, S. 263) stellt dennoch die Frage, ob ADHS nicht einen Wandel des Sozialcharakters anzeige. Er argumentiert so: Bis in die 1960er Jahre habe im westlichen Kulturkreis das Modell des »homo clausus« (Elias 1939) vorgeherrscht, der seine Affekte/Triebe unterdrückte. Seit den 1970ern sei dieses Modell durch das emotionalere der »Informalisierung« (Wouters 1999, 2007) abgelöst worden. In Asien herrsche nach wie vor das »alte« Modell. Entsprechend gebe es dort niedrigere Prävalenzzahlen für ADHS. Daraus kann man schließen: ADHS ist das Ergebnis gelockerter Disziplinierungszumutungen. Soweit der sozialisationstheoretische Teil. Im nächsten Schritt wird er gesellschaftsdiagnostisch erweitert und lautet dann: Wir leben in einer Konsumgesellschaft, die ständig unbefriedigte Wünsche als Bedingung ihrer Existenz produzieren muss. Dies und die Allgegenwart der Medien führt zur Zerstreuung. Gleichzeitig leben wir aber auch in einer Leistungsgesellschaft, die Konzentration erfordert. Daraus ergibt sich eine Art struktureller Widerspruch zwischen Zerstreuungsunvermeidbarkeit und Konzentrationsnotwendigkeit, an dem die ADHS-Kinder scheitern, der aber indikativ für eine Problemkonstellation ist, die alle betrifft. Man kann Einzelheiten dieser Erklärung bezweifeln, etwa die Zusammenhangsbehauptung von ADHS und gelockerten Disziplinierungszumutungen, weil von Harnack schon 1958 (S. 9, 72, 85), also in einer Zeit hoher Disziplinierungszumutungen, eine weite Verbreitung von Hyperaktivität und Konzentrationsproblemen festgestellt hat. Dennoch ist dieser Versuch den bisher dargestellten insofern überlegen, als nicht gesagt wird, die Eltern-Kind-Beziehung würde schlechter, sondern nüchtern konstatiert wird, sie sei anders geworden. Ich teile diese Auffassung und werde die Abnahme der Disziplinierung und Zunahme der Emotionalisierung, die den Kern der Veränderung ausmacht, hinsichtlich ihrer charakterologischen Auswirkung unter dem pathologiefreien Titel der »postheroischen Persönlichkeit« im sechsten Kapitel genauer beschreiben. Dieser Persönlichkeitstypus ist zugleich die »Lösung« der von Haubl andernorts diagnostizierten »Krise des innengeleiteten Sozialcharakters« (2008, S. 90). Dort favorisiert Haubl eine Erklärung, die ADHS aus Mängeln in der frühen dyadischen Emotionsregulierung ableitet, welche ihrerseits aus übermäßigen gesellschaftlichen Flexibilitätsanforderungen resultieren soll. Diese Junktimsbehauptung zwischen veränderten sozialen Verhältnissen und veränderter Emotionsregulierung in der Mutter-Kind-Interaktion unterschätzt jedoch die Eigendynamik der Letzteren, die noch von vielen anderen Faktoren abhängt als von sozialen Flexibilitätsanforderungen, beispielsweise von der Persönlichkeitsstruktur der Mutter. Außerdem werden weder für die behauptete Zunahme unsicherer Bindung noch für die ebenfalls behauptete Abnahme elterlicher Aufmerksamkeit in Bezug auf die Kinder als Folge sozialer Flexibilisierung oder medialer Absorption Belege angeführt. Mir sind auch keine bekannt. Schließlich sollte noch erwähnt werden, dass ADHS in der Häufigkeit kindlicher Störungen allenfalls den fünften Platz einnimmt (Ängste 10%, Soziale Verhaltensstörungen 7,6%, Adipositas 6,3%, Depressionen 5,4%, ADHS2–5%; s. Kurth/Schaffrath-Rosario 2007, Ravens-Sieberer et al. 2007, Schlack et al. 2007 sowie die einschlägigen Überblicksartikel in Herpertz-Dahlmann et al. 2008).
Diese Halt- und Orientierungslosigkeit ist der gemeinsame Nenner fast aller Erklärungen von Phänomenen vermehrter zeitgenössischer Körperbesetzung. Sie zeigt sich darin, dass nicht nur Körperbewusstsein und Fitnessorientierung zunehmen, sondern angeblich auch Körperpathologien wie Anorexie, Bulimie und Selbstverletzung.
Eine historisch beispiellose Steigerung der Bedeutung des Körpers einschließlich dessen kosmetischer Korrektur, die vor keinem Körperteil Halt machte, wurde schon in den 1920er Jahren festgestellt. Als Erklärung dienten oft ähnliche Argumente wie heute: Die Zeiten würden immer schnelllebiger, Fitness oder zumindest deren optische Suggestion sei notwendig, um in der modernen Arbeitswelt überhaupt noch einen Platz zu finden; die Mystifizierung der Jugend zwinge die Älteren zum Schritthalten; die veränderte Berufstätigkeit der Frau führe dazu, dass sie jetzt als Sekretärin öffentlich sichtbar sei (nicht wie früher als Dienstmädchen im Verborgenen wirke), weshalb sie immer attraktiv sein müsse; der wachsende Konkurrenzdruck bevorzuge schöne Menschen und mache Korrekturen für die weniger Schönen zu einer Notwendigkeit (die deshalb auch von der Krankenversicherung zu bezahlen seien; für weitere Details siehe Ramsbrock 2011).
All das war aber bereits in den 1920er Jahren Realität (siehe vorige Fußnote), nur wurde es damals von der Bewegung der »Sozialen Kosmetik« gefordert, nicht kritisiert. Alle sollten aus Gründen sozialer Gerechtigkeit und zur Vermeidung von Konkurrenznachteilen an den Verschönerungsmöglichkeiten teilhaben (Ramsbrock 2011, Kap. 5).
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass auch dies keine neue Errungenschaft ist. Schon um 1800 war es nicht ungewöhnlich, dass Eltern gerichtliche Schritte erwogen, wenn Lehrer beispielsweise empfahlen, unbegabte Kinder vom Gymnasium zu nehmen (R. Habermas 2002, S. 127). Die Zahl der Klagen soll allerdings in den letzten Jahren zugenommen haben. 90% werden abschlägig beschieden (Der Spiegel 2008). Ebensowenig ist die Diagnose der Gegenwartsorientierung und mangelnden Verzichtsbereitschaft auf Psychoanalytiker beschränkt. Der Pädagoge und Jugendsoziologe Ferchhoff (1997, S. 71f.) formuliert ähnliche Gedanken. Er führt die Gegenwartsorientierung der heutigen Jugend allerdings nicht auf den fehlenden Dritten zurück, sondern auf eine Mischung von Privilegien (Freistellung vom Arbeitsmarkt, Konsumchancen, große Möglichkeiten der Freizeitgestaltung) und Benachteiligungen (schlechte berufliche Zukunftsaussichten, leere Rentenkassen, Verlust des Jugendalters als einer Übergangsphase, die auf eine zu gewinnende Zukunft vorbereitet). Die Mischung von Sofortbefriedigungsmöglichkeiten und Zukunftspessimismus führt nach Ferchhoff zu einer Kombination von Gegenwartsfixierung und Zukunftsschwund, die der Sehnsucht nach dem Erwachsenwerden ihre treibende Kraft raubt. »Jugend ist heute Gegenwartsjugend.« Auch diese Diagnose ist indes nicht neu, sondern schon mehr als hundert Jahre alt (s. Savage 2008, S. 71). Wie immer – und vielleicht auch unausweichlich – werden hier Ideale und Befürchtungen der Erwachsenen auf die Kinder projiziert und dann dort gefunden.
Wie das in den 1950er Jahren aussah, als das erste Anti-Psychotikum (Thorazine) und das erste Anxiolytikum (Miltown) auf den Markt kamen, schildert der Medizinjournalist Whitaker (2010, S. 58f.). Praktisch alle Zeitungen und Magazine in den Vereinigten Staaten berichteten begeistert über diese Wundermittel, Apotheken hängten Schilder aus, auf denen zu lesen war: »Auch wir führen diese Medikamente.« Ein bekannter Komiker mit dem Vornamen Milton wollte sich vor lauter Begeisterung in Miltown umtaufen lassen und sogar Salvador Dalí wurde für eine PR-Kampagne gewonnen. Kurz: »The public went gaga.«
Fallgeschichte und Studie ref. nach Lehrer (2010); weitere einschlägige Studien werden von Bohleber (2010, S. 775f.) dargestellt.; für eine grundsätzliche Kritik an der Wirksamkeit medikamentöser Therapie von Depressionen siehe Kirsch (2010) und Whitaker (2010); freundlicher ist die Beurteilung bei Bondy (2010, S. 43ff.).
Ähnlich Bohleber (2009), der in einer informativen Überblicksarbeit neuere »postmoderne« psychoanalytische Identitätskonzeptionen kritisch sichtet und bewertet.
Die Generation wird »X« genannt, weil sie im Unterschied zu anderen, etwa der Kriegsgeneration, durch kein historisches Großereignis geprägt wurde und insofern namenlos bleibt. Bei Coupland ist sie durch ein diffuses Verlorenheitsgefühl gekennzeichnet. In der einschlägigen Forschung bezeichnet der Generationsbegriff eine abgrenzbare Alterskohorte, deren Mentalität und Charakter durch gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Erfahrungen in ähnlicher Weise beeinflusst wird. Die mittlerweile eingetretene Inflation dieses Begriffs (Generation Golf, Generation Porno, Generation Praktikum, Generation Rollator) zeigt, dass er umso trivialer wird, je weniger er sich auf politisch existentielle oder historisch fundamentale Erfahrungen bezieht.
Diese Idee wurde von Parsons schon vor mehr als 40 Jahren angedeutet. Er befürchtete, die Bewältigungskompetenzen des Einzelnen würden mit der steigenden Komplexität von Rollenanforderungen nicht Schritt halten, was zu Überforderungen führe (Parsons 1968; Schroer 2000, S. 211). Die Lösung lag für Parsons in einer liberalen Erziehung, die flexibel möglichst allgemeine Werte vermittelt, die dann von den Individuen je nach Anforderung interpretiert werden können. Für Luhmann hingegen ist die Vorstellung allgemeingültiger Werte, wie flexibel auch immer sie vermittelt werden, in Gesellschaften mit hohem sozialen Wandlungstempo und ausgeprägter funktionaler Differenzierung alteuropäisch und dysfunktional. Gefordert ist anpassungsgeschickte, situative Flexibilität (s. dazu Schroer 2000, S. 235, sowie die luzide Darstellung bei Schimank 2002 a, Kap. 13 und 14).
Rorty ist insoweit der liberalen Tradition zuzurechnen, als er wichtige Teile des Lebens im Bereich der privaten Selbstvervollkommnung ansiedelt und der öffentlichen Sphäre die Funktion zuweist, die besten Bedingungen für die persönliche Selbstentfaltung sicherzustellen. Im Unterschied dazu geht die republikanische Tradition davon aus, dass ein erfülltes Leben nur oder vor allem in der Teilhabe an öffentlichen Angelegenheiten besteht. Ihre Standardkritik am Liberalismus lautet, dass Politik nicht nur die Voraussetzungen für die individuelle Gestaltung eines guten Lebens schaffen sollte, sondern notwendiger Bestandteil davon ist. Bei Kierkegaard wiederum ist das Umgekehrte der Fall. Die Teilnahme an einer »konformisierenden Öffentlichkeit« führt zu einer »Nivellierung«, die den Einzelnen von sich selbst entfremdet; bei Heidegger findet sich ebenfalls die Denkfigur der Entfremdung durch Verfallenheit an die »öffentliche Wir-Welt« (s. Jaeggi 2005, S. 25ff., 35ff.).
Andere Autoren hingegen meinen, es handle sich beispielsweise beim wachsenden Körperbewusstsein nur um eine neue Form des Konformismus oder der Normerfüllung. Man »hat« heute seinen Körper zu kultivieren. Körpergestaltung ist in dieser Sichtweise nicht Ausdruck freier Selbstwahl, sondern Befolgung neuer Körpernormen. Bezogen auf den Bobo hieße das: Auch er ist nicht stärker Autor und Gestalter seines Lebens, als der Yuppie es früher war. Wer Arbeit und Gewinnstreben mit ökologischer Verantwortung oder Berufstätigkeit mit Sorge für die Kinder verbinden will, gehorcht nur neuen und vielleicht sogar schwieriger zu erfüllenden Normen. Selbst wenn das zuträfe, sollte der Freiheitsgewinn nicht übersehen werden, der darin besteht, dass die neuen Normen sowohl flexibler als auch weniger sanktionsbewehrt sind als die alten. Um ein Beispiel zu nennen: Früher war es eine Norm für die Frau, zu Hause zu bleiben und sich um die Kinder zu kümmern, heute wird von ihr erwartet, berufstätig zu sein. Die frühere Norm wurde jedoch stärker sanktioniert als die heutige, etwa in der Form, dass die Ehefrau für ihre Berufstätigkeit die Genehmigung des Ehemannes einholen musste, während sie heute sanktionsarm Hausfrau bleiben kann. Auch die Befolgung von Körpernormen ist, wie die weite Verbreitung des Übergewichts zeigt, nicht besonders zwingend. Die gegenteilige Auffassung vertritt Junge (2010), der auch den neuen Normen eine starke Geltung zuschreibt. Bei Nichtbefolgung soll »lebensweltliche Exklusion« drohen.
Bohleber (1999, S. 508) kritisiert, dass die Psychoanalyse in dieser Sichtweise nur noch als kulturelle Tradition oder Lebensstil verstanden wird, der um schulenspezifisch verschiedene Ideale von Individualität kreist: das Freud’sche Ideal der stoischen Selbstkontrolle, das Winnicott’sche der Spontaneität, das Bion’sche der Fähigkeit, Nicht-Wissen zu ertragen. Damit werde sowohl die entwicklungspsychologische Idee menschlicher Reife aufgegeben als auch die psychobiologische Verankerung menschlichen Erlebens unterschätzt, die in Gestalt von Menstruation, Erektion und Geburt untrennbar mit dem Körpergeschlecht verbunden sei. Auch wenn das Körpererleben durch kulturelle Wandlungsprozesse überformt werde, seien diese Überformungen doch immer Überformungen von etwas, das in sie eingehe, aber nicht in ihnen verschwinde (ebd., S. 526). Ich teile diese Auffassung, vermute aber, dass Strenger ihr gar nicht widersprechen würde, weil sich für ihn Psychoanalyse als Lebensform nicht substantiell von einem Leben unterscheidet, das durch Weisheitslehren angeleitet oder in glaubensspezifischen Ordenstraditionen geführt wird. Dafür braucht man weder ein Entwicklungsmodell menschlicher Reife noch eine psychobiologische Grundlagentheorie des Erlebens. Die Rechtfertigung für die Betrachtung der Psychoanalyse als Schule der Lebenskunst liegt nicht in der Berufung auf »Wissenschaft« oder »wissenschaftliche Krankenbehandlung«, sondern in der Berufung auf »existenztragende Wahrheiten«. Diese kommt ohne Wissenschaft aus, auch wenn sie ihr bei einem aufgeklärten Menschen nicht widersprechen sollte (siehe dazu die Andeutungen bei Strenger 2006).
Die Idee der Umarbeitung steht im Gegensatz zu Foucaults Vorstellung eines »Selbst ohne Wesen« bzw. einer »anarchischen Subjektivität«, der die Vorstellung eines Tiefenselbst fremd ist (s. Biebricher 2005, S. 210, 215, 221ff.).
Immerhin betrachten in Westdeutschland noch 15% aller unter 45-jährigen Frauen die Existenz als Vollzeithausfrau und Mutter als beste Lebensform, 18% wollen Vollzeitberufstätigkeit und Mutterschaft kombinieren, 13% zugunsten der Vollzeitberufstätigkeit auf Kinder verzichten und 59% die Mutterrolle mit Teilzeitbeschäftigung verbinden. Weder ist also das Ideal der Vollzeitmutter verschwunden, noch wird Vollzeitberufstätigkeit von einer Mehrheit angestrebt (Köcher 2011). Für die Vereinigten Staaten berichtet Fischer (2010, S. 140) ähnliche Daten. Bei einer Befragung im Jahr 2007 gaben 20% der berufstätigen Frauen mit Kindern an, einen Vollzeitjob zu bevorzugen, ebenso viele wären am liebsten Vollzeithausfrau, die anderen präferieren das »neotraditionale« Modell der mütterlichen Teilzeit- bei männlicher Vollzeitarbeit.
Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit für eine gute Ehe wiederum nicht einfach ein glücklicher Zufall, obwohl auch das hin und wieder vorkommt, sondern in der Regel von den Beziehungserfahrungen und der daraus resultierenden Persönlichkeitsstruktur abhängig, die jemand im Laufe seiner Lebensgeschichte erworben hat.
Das Festhalten an der bedeutenden Rolle der Kindheit für die Persönlichkeitsentwicklung ist keine psychoanalytische Besonderheit, sondern wird von Bindungsforschern wie Sroufe et al. (2005; Kurzfassung: Suess/Sroufe 2008), Hirnforschern wie Singer (2002), Hüther (2004) und Roth (2003, 2007) sowie Entwicklungspsychologen wie Schneider geteilt. Schneider etwa kam in der von ihm geleiteten Längsschnittstudie an 4- bis 23-Jährigen zu folgendem Ergebnis: »Wir hätten nicht erwartet, daß so viel in der Entwicklung bereits sehr früh festgelegt ist. Wir haben die intellektuellen Fähigkeiten der Kinder ebenso untersucht wie ihr soziales Verhalten, haben die Feinmotorik geprüft und nach dem Moralverständnis gefragt. Und über fast alle Persönlichkeitsbereiche hinweg stellte sich heraus, daß die Unterschiede zwischen den Kindern, die wir mit drei oder vier Jahren gemessen haben, mit 23 Jahren immer noch weitgehend bestanden« (2006, S. 3; ähnlich Schneider/Bullock 2008, S. 215, sowie Asendorpf et al. 2008, S. 139). Bei Roth (2003, S. 552) heißt es: »Persönlichkeit und Charakter des Menschen und damit die Grundstrukturen der Beziehung zu sich selbst und zu seiner Umwelt werden biographisch sehr früh festgelegt.«
Und Ferguson (2010), ein klinischer Psychologe mit verhaltenstherapeutischer Ausrichtung, hält es auf Grund seiner 47 Langzeitstudien mit 31000 Teilnehmer umfassender Metaanalyse für erwiesen, dass die Persönlichkeit nur in der Kindheit (moderat) veränderlich ist, danach jedoch immer weniger.
Jaeggi (2005, S. 139ff., 200ff.) kritisiert die Idee eines unverfügbaren Kerns, an anderer Stelle jedoch auch die der Selbsterfindung (ebd., S. 221ff.). Gegen Letztere führt sie das Konzept eines »Vorgängigen« ins Feld, das angeeignet werden kann, sich im Prozess der Aneignung aber wiederum so verändert, dass es in seiner Originalgestalt nicht mehr rekonstruierbar ist. Das Vorgängige ist hier ein recht inhaltsarmer Platzhalter für das unter der Essentialismuskritik verdampfte Selbst geworden und hat die theoriestrategische Funktion, einer Vorstellung von Selbsterfindung als creatio ex nihilo oder creatio ohne creator vorzubeugen. Weitere philosophische Begriffsklärungen finden sich bei Thomä (1998) und Menke (2005). Für eine elaborierte psychologische Analyse des Problems von Findung versus Erfindung des Selbst siehe Kuhl (2007 a, b). Bei ihm wird die Idee eines »Kernselbst«, von dem man sich entfremden kann, sowohl dynamisiert als auch rehabilitiert. Zu post-winnicottianischen Ideen über das wahre Selbst, wie sie beispielsweise in Sterns (1985) Theorie der Affektabstimmung oder dem Affektspiegelungsmodell von Fonagy et al. (2002) enthalten sind, siehe Dornes (1993, S. 155ff.; 2000, S. 210ff., 2006, S. 172f., 201er199224