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Widmung

Für unsere Familien, namentlich Gia, Mo, George, David, Barbara, Sandra, Naomi, Isabel, Sylvia, Thomas und Michael

Danksagung

Danksagung

Wir danken unseren Agenten Susan, Diane und George sowie unseren Lektoren Ben und Cisca. Unter unseren Kollegen aus der Wissenschaft möchten wir uns besonders bei Richard Battye, Fred Loebinger, Robin Marshall, Simone Marzani, Ian Morison und Gavin Smith bedanken. Besonderer Dank gebührt Naomi Baker, vor allem für ihre Anmerkungen zu den ersten Kapiteln, sowie Gia Milinovich, die die Frage gestellt hat.

Vorwort

Vorwort

In diesem Buch wollen wir Einsteins Theorie von Raum und Zeit so einfach wie möglich beschreiben und gleichzeitig ihre tiefgreifende Schönheit vermitteln. Das führt uns zu Einsteins berühmter Gleichung E = mc2, ohne dass wir kompliziertere Mathematik anwenden müssen als den Satz des Pythagoras. Und keine Sorge, falls Sie sich nicht mehr an den Satz von Pythagoras erinnern, denn wir werden auch ihn behandeln. Genauso wollen wir jedem zeigen, wie sich die moderne Physik die Natur vorstellt und wie die Wissenschaft nützliche Theorien entwickelt, die unser aller Leben verändern. Albert Einstein ebnete den Weg für das Verständnis des Leuchtens der Sterne. Er deckte die wahren Gründe auf, warum elektrische Motoren und Generatoren funktionieren und legte letztlich die Basis, auf der die gesamte moderne Physik beruht. Dieses Buch soll zudem provokant und fordernd sein. Die Physik selbst steht nicht zur Debatte: Einsteins Theorien sind sehr gefestigt und werden von vielen experimentellen Nachweisen gestützt, wie wir im Lauf des Buches feststellen werden. Zu gegebener Zeit möchten wir betonen, dass Einsteins Erkenntnisse durch ein noch genaueres Bild der Natur verdrängt werden könnten. Denn in den Naturwissenschaften gibt es keine absoluten Wahrheiten, nur Auffassungen über die Welt, deren Fehler noch nachgewiesen werden müssen. Sicher ist, dass Einsteins Theorie derzeit funktioniert. Die Provokation besteht darin, wie die Naturwissenschaften unsere Vorstellungen über die Welt strapazieren. Egal ob Wissenschaftler oder nicht – jeder von uns besitzt Intuition und wir alle ziehen unsere Schlüsse über den Lauf der Welt aus der Alltagserfahrung. Wenn wir jedoch die Beobachtungen im präzisen Licht der wissenschaftlichen Methodik betrachten, müssen wir feststellen, dass die Natur unseren Erwartungen häufig nicht folgt. So werden wir im Verlauf dieses Buches feststellen: Sobald sich Dinge mit sehr hoher Geschwindigkeit bewegen, sind die Vorstellungen von Raum und Zeit mit dem gesunden Menschenverstand nicht mehr vereinbar. An seine Stelle tritt etwas völlig Neues, Unerwartetes und Elegantes. Diese Erkenntnis ist lehrreich und macht bescheiden. Sie erzeugt bei vielen Wissenschaftlern ein Gefühl der Ehrfurcht: Das Universum ist deutlich vielfältiger, als unsere Alltagserfahrungen uns glauben machen wollen. Dabei ist vielleicht der Umstand am wunderbarsten, dass die neue Physik in all ihrer Fülle mit einer erstaunlichen mathematischen Eleganz ausgestattet ist.

So schwierig die Physik manchmal auch wirkt, in ihrem Kern ist sie keine komplizierte Disziplin. Man könnte sie als einen Versuch auffassen, unsere angeborenen Vorurteile abzubauen, um die Welt so objektiv wie möglich zu betrachten. Bei diesem Vorhaben ist sie mehr oder minder erfolgreich, doch es besteht kaum Zweifel an ihrem Erfolg, viele Aspekte des Universums zu erklären. Indem die Wissenschaft uns lehrte, sich mit der Natur abzufinden, wie sie ist, statt sie sich gemäß unserer Vorurteile so vorzustellen, wie sie sein könnte, hat uns der wissenschaftliche Ansatz die moderne technische Welt ermöglicht. Kurz gesagt: Wissenschaft funktioniert.

Im ersten Teil des Buches werden wir die Gleichung E = mc2 herleiten. Mit »herleiten« meinen wir, dass wir zeigen werden, wie Einstein zu dem Schluss kam, dass die Energie gleich der Masse multipliziert mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit ist. Genau das besagt die Gleichung. Die wohl bekannteste Form der Energie ist die Bewegungsenergie. Wenn Ihnen jemand einen Ball ins Gesicht wirft, tut es beim Aufprall weh. Ein Physiker würde sagen, es liege daran, dass der Werfer dem Ball Energie mitgegeben hat und diese Energie auf Ihr Gesicht übertragen wird, wenn es den Ball stoppt. Die Masse ist ein Maß dafür, wieviel Materie ein Körper enthält. Ein Fußball ist massereicher als ein Tischtennisball, aber masseärmer als ein Planet. E = mc2 besagt, dass Energie und Masse austauschbar sind, wie Dollar und Euro ineinander umtauschbar sind, und dass das Quadrat der Lichtgeschwindigkeit der Wechselkurs ist. Wie in aller Welt konnte Einstein zu diesem Schluss kommen, und wie konnte die Lichtgeschwindigkeit ihren Weg in eine Gleichung finden, in der es um die Beziehung zwischen Energie und Masse geht? Wir setzen kein wissenschaftliches Vorwissen voraus und wir vermeiden Mathematik so weit wie möglich. Trotzdem ist unser Ziel, dem Leser eine echte Erklärung (und nicht bloß eine Beschreibung) des wissenschaftlichen Sachverhalts zu liefern. Besonders in dieser Hinsicht hoffen wir, etwas Neues anbieten zu können.

In den späteren Kapiteln werden wir sehen, wie E = mc2 unser Verständnis vom Funktionieren des Universums stützt. Warum leuchten Sterne? Warum ist die Kernenergie so viel effizienter als die Verbrennung von Kohle oder Öl? Was ist Masse? Diese Fragen werden uns in die Welt der modernen Teilchenphysik führen, zum Large Hadron Collider am CERN in Genf und zur Suche nach dem Higgs-Teilchen, das eine Erklärung für den eigentlichen Ursprung der Masse liefern kann. Das Buch endet mit Einsteins bemerkenswerter Entdeckung, dass die Struktur von Raum und Zeit letztlich für die Schwerkraft und die sonderbare Vorstellung verantwortlich ist, dass die Erde »auf gerader Linie« um die Sonne herumfällt.

KAPITEL 1: Raum und Zeit

KAPITEL 1
Raum und Zeit

Was bedeuten für Sie die Begriffe »Raum« und »Zeit«? Vielleicht stellen Sie sich den Raum als die Leere zwischen den Sternen vor, wenn Sie Ihren Blick in einer kalten Winternacht an den Himmel richten. Oder Sie haben die Weite zwischen Erde und Mond vor Augen, die ein in Goldfolie gepacktes Raumschiff zurücklegte – herausgeputzt mit der amerikanischen Flagge, gesteuert von kahlrasierten Astronauten, die Namen wie Buzz trugen. Die Zeit könnte das Ticken Ihrer Uhr sein oder das Welken der Blätter, wenn die Erde bei ihrem Umlauf um die Sonne zum Fünfmilliardsten Mal ihre nördlichen Breiten von der Sonne weg neigt. Wir haben alle ein intuitives Gefühl für Raum und Zeit; sie sind mit unserer Existenz verwoben. Wir bewegen uns durch den Raum auf der Oberfläche unseres blauen Planeten, während die Zeit vergeht.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine Reihe von wissenschaftlichen Durchbrüchen, die scheinbar nichts miteinander zu tun hatten. Sie zwangen die Physiker nach und nach dazu, diese einfache, intuitive Vorstellung von Raum und Zeit nochmals zu überprüfen. Anfang des 20. Jahrhunderts fühlte sich Albert Einsteins Kollege und Lehrer Hermann Minkowski dazu bemüßigt, seinen inzwischen berühmten Nachruf auf die bis dahin akzeptierte Vorstellung zu verfassen: »Der Raum und die Zeit, jeweils für sich genommen, sind zu bloßen Schatten geworden, und nur die Vermischung der beiden existiert eigenständig.«

Was könnte Minkowski mit der Vermischung von Raum und Zeit gemeint haben? Um diese fast mystisch klingende Aussage zu verstehen, muss man Einsteins Spezielle Relativitätstheorie nachvollziehen – jene Theorie, die der Welt die berühmteste aller Gleichungen gebracht hat, E = mc2, und die in den Mittelpunkt unseres Verständnisses von der Struktur des Universums die Größe mit dem Symbol c, die Lichtgeschwindigkeit, gerückt hat.

Einsteins Spezielle Relativitätstheorie ist in ihrem Kern die Beschreibung von Raum und Zeit. Zentral für die Theorie ist die Vorstellung einer besonderen Geschwindigkeit – einer Geschwindigkeit, über die hinaus nichts im Universum beschleunigen kann, egal wie leistungsfähig etwas ist. Diese Geschwindigkeit ist die Lichtgeschwindigkeit: 299.792.458 Meter pro Sekunde im Vakuum des leeren Raums. Ein von der Erde ausgesendeter Lichtblitz benötigt bei dieser Geschwindigkeit acht Minuten bis zur Sonne, 100.000  Jahre, um das Milchstraßensystem zu durchqueren, und mehr als zwei Millionen Jahre, um unseren galaktischen Nachbarn zu erreichen, die Andromedagalaxie. Heute Nacht wird das größte Teleskop auf der Erde in die Schwärze des Raums blicken und das Licht von fernen, schon lange erloschenen Sonnen am Rande des beobachtbaren Universums auffangen. Deren Licht trat seine Reise vor mehr als zehn Milliarden Jahren an, mehrere Jahrmilliarden, bevor die Erde aus einer kollabierenden Wolke interstellaren Staubs entstanden ist. Die Lichtgeschwindigkeit ist schnell, aber bei weitem nicht unendlich schnell. Bei den gewaltigen Entfernungen zwischen Sternen und Galaxien kann die Lichtgeschwindigkeit entmutigend langsam sein – langsam genug, dass wir sehr kleine Körper fast bis auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen können. Möglich ist das mit Anlagen wie dem 27 Kilometer großen Large Hadron Collider am Europäischen Zentrum für Kernforschung (CERN) in Genf.

Dass eine solche spezielle Geschwindigkeit existiert, eine kosmische Höchstgeschwindigkeit, ist eine seltsame Vorstellung. Wie wir im Verlauf des Buches erkennen werden, wird sich die Verknüpfung dieser besonderen Geschwindigkeit mit der Lichtgeschwindigkeit als eine Art Ablenkungsmanöver herausstellen. Sie muss in Einsteins Universum eine viel grundlegendere Rolle spielen, und es gibt gute Gründe dafür, dass sich Licht mit dieser Geschwindigkeit bewegt. Wir werden darauf später zurückkommen. Für den Moment genügt es zu sagen, dass sonderbare Dinge geschehen, wenn Körper sich der Lichtgeschwindigkeit nähern. Wie ließe sich ein Körper davon abhalten, über diese Geschwindigkeit hinaus zu beschleunigen? Es wäre so, als ob es ein universelles physikalisches Gesetz gäbe, das Ihr Auto daran hindert, schneller als mit 100 Kilometer pro Stunde zu fahren, egal wie leistungsfähig der Motor ist. Anders als eine Geschwindigkeitsbegrenzung muss diesem Gesetz jedoch nicht durch eine himmlische Polizei Geltung verschafft werden. Die bloße Struktur von Raum und Zeit ist so gestaltet, dass es absolut unmöglich ist, dieses Gesetz zu brechen. Das erweist sich als sehr glücklicher Umstand, denn sonst käme es zu unerfreulichen Folgen. Wenn es möglich wäre, die Lichtgeschwindigkeit zu überschreiten, ließen sich Zeitmaschinen bauen, die uns zurück zu jedem beliebigen Punkt in der Vergangenheit befördern könnten. Wir könnten uns vorstellen, in eine Zeit vor unserer Geburt zurückzureisen und zufällig oder absichtlich verhindern, dass sich unsere Eltern jemals kennen lernten. Das ist exzellente Science-Fiction, aber keine Methode, ein Universum aufzubauen. Und Einstein fand tatsächlich heraus, dass das Universum so nicht aufgebaut ist. Raum und Zeit sind filigran miteinander verwoben, so dass solche Widersprüche nicht auftreten können. Doch die Sache hat ihren Preis: Wir müssen dafür unsere tief verwurzelte Vorstellung von Raum und Zeit aufgeben. Einsteins Universum ist eines, in dem Uhren in Bewegung langsamer ticken, Körper in Bewegung schrumpfen und wir Jahrmilliarden in die Zukunft reisen können. Es ist ein Universum, in dem sich das Leben eines Menschen fast unendlich lange verlängern lässt. Wir könnten der Sonne beim Erlöschen zusehen, dem Verdampfen der irdischen Ozeane und wie unser Planetensystem in ewige Finsternis fällt. Wir könnten Sternen bei ihrer Entstehung aus turbulenten Staubwolken zuschauen sowie der Entstehung von Planeten und womöglich dem Anfang des Lebens auf neuen, derzeit noch unfertigen Welten. Einsteins Universum lässt zu, dass wir in die ferne Zukunft reisen, während es die Türen zur Vergangenheit fest vor uns verschlossen hält.

Am Ende dieses Buches werden wir sehen, wie Einstein zu so einer fantastischen Vorstellung unseres Universums gezwungen war, und wie sich mit vielen wissenschaftlichen Experimenten und technischen Anwendungen zeigen ließ, dass diese Vorstellung richtig ist. Die Satellitennavigation in Ihrem Auto zum Beispiel muss den Umstand berücksichtigen, dass die Zeit für die Satelliten in der Erdumlaufbahn mit einer anderen Geschwindigkeit vergeht als am Boden. Einsteins Vorstellung ist radikal: Raum und Zeit sind nicht das, was sie zu sein scheinen.

Aber wir überholen uns selbst. Um Einsteins Entdeckung zu verstehen und wertzuschätzen, müssen wir zunächst sehr sorgfältig über die beiden Konzepte nachdenken, die den Kern der Relativitätstheorie ausmachen: Raum und Zeit.

Stellen Sie sich vor, dass Sie dieses Buch während eines Flugs lesen. Um 12 Uhr schauen Sie auf ihre Uhr, legen das Buch beiseite, verlassen Ihren Platz und laufen den Gang entlang, um mit Ihrem Freund zu reden, der zehn Reihen vor Ihnen sitzt. Um 12:15 Uhr kehren Sie an Ihren Platz zurück, setzen sich und greifen wieder zum Buch. Der gesunde Menschenverstand besagt, dass Sie wieder zum selben Ort zurückgekehrt sind. Sie mussten dieselben zehn Reihen zurückgehen, um Ihren Platz zu erreichen, und als Sie zurückkehrten, war Ihr Buch da, wo Sie es zurückgelassen hatten. Aber denken Sie mal etwas ausführlicher über die Formulierung »derselbe Ort« nach. Das mag etwas pedantisch wirken, weil es unmittelbar offensichtlich ist, was wir meinen, wenn wir einen Ort beschreiben. Wir können einen Freund anrufen und uns mit ihm auf einen Drink in einer Bar verabreden, und die Bar wird sich nicht bewegt haben, wenn wir beide ankommen. Sie wird am selben Ort sein, wo wir sie verlassen hatten – womöglich in der vergangenen Nacht. Viele Dinge in diesem Kapitel werden ziemlich pedantisch erscheinen, doch bleiben Sie dran! Das sorgfältige Nachdenken über diese scheinbar offensichtlichen Vorstellungen führt uns in die Fußstapfen von Aristoteles, Galileo Galilei, Isaac Newton und Albert Einstein. Wie könnten wir also präzise definieren, was wir mit »demselben Ort« meinen? Wie wir das auf der Erdoberfläche tun müssen, wissen wir bereits. Eine Kugel hat ein Koordinatensystem auf ihrer Oberfläche, Längen- und Breitengrade. Jeder Ort auf der Erdoberfläche lässt sich mit zwei Zahlen beschreiben, die für die Position in diesem Koordinatensystem stehen. Zum Beispiel liegt Manchester in Großbritannien bei 53 Grad 30 Minuten Nord und 2 Grad 15 Minuten West. Diese beiden Zahlen sagen uns genau, wo wir Manchester finden können, vorausgesetzt, dass wir uns über den Ort des Äquators und des Nullmeridians (des Meridians von Greenwich) einig sind. Analog dazu gibt es eine Möglichkeit, den Ort eines beliebigen Punktes festzulegen – egal ob er auf der Erdoberfläche liegt oder nicht: die Vorstellung eines imaginären dreidimensionalen Koordinatensystems, das über die Erdoberfläche hinaus in die Luft reicht. Tatsächlich könnte das Koordinatensystem auch nach unten durch den Erdmittelpunkt bis auf die andere Seite weitergehen. Dann könnten wir beschreiben, wo sich alles auf der Welt relativ zum Ursprung dieses Koordinatensystems befindet – egal ob in der Luft, auf der Oberfläche oder unter der Erde. Tatsächlich müsste dies nicht bei unserer Welt enden. Das Koordinatensystem könnte weiterreichen – zum Mond, zum Jupiter, zu Neptun und Pluto, selbst über das Milchstraßensystem hinaus bis in die tiefsten Tiefen des Universums. Mit unserem riesigen, womöglich unendlich großen Koordinatensystem könnten wir herausfinden, wo alles ist, oder um ein Woody-Allen-Zitat umzuformulieren: Es wäre sehr nützlich, wenn Sie zu dieser Art von Menschen gehören, die sich niemals daran erinnern können, wo Sie etwas hingelegt haben. Unser Koordinatensystem definiert daher eine Manege, in der alles existiert – eine Art von gewaltiger Kiste, die alle Dinge des Universums enthält. Wir könnten sogar versucht sein, diese riesige Manege »Raum« zu nennen.

Kehren wir nun zurück zu unserem Beispiel mit dem Flugzeug und kommen zu der Frage, was es bedeutet, »am selben Ort« zu sein. Sie könnten annehmen, dass Sie um 12:00 und 12:15 Uhr am selben Punkt im Raum waren. Aber stellen Sie sich nun vor, wie die Abfolge der Ereignisse für eine Beobachterin am Erdboden war. Wenn das Flugzeug über sie mit 1000 Kilometer pro Stunde hinwegfliegt, würde die Beobachterin sagen, dass Sie sich zwischen 12:00 und 12:15 Uhr um 250 Kilometer bewegt haben. Anders gesagt: Sie befanden sich um 12:00 und um 12:15 Uhr an verschiedenen Punkten im Raum. Wer hat Recht? Wer hat sich bewegt und wer blieb in Ruhe?

Wenn Ihnen die Antwort auf diese scheinbar einfache Frage unklar ist, befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Aristoteles, einer der größten Denker des antiken Griechenlands, lag mit seiner Antwort völlig daneben. Er hätte unmissverständlich geantwortet, dass Sie, der Passagier an Bord des Flugzeugs, sich bewegt haben. Aristoteles glaubte nämlich, dass die Erde im Mittelpunkt des Universums stillsteht. Dagegen kreisen Sonne, Mond, Planeten und Sterne auf 55 konzentrischen Kristallsphären um die Erde, die wie eine Matrjoschka ineinander gestapelt sind. Er teilte mit uns also unsere intuitiv befriedigende Vorstellung von Raum: die Kiste oder Manege, in der sich die Erde und die Kristallsphären befinden. Für heutige Ohren klingt diese Vorstellung eines Universums, das nur aus der Erde und einer Reihe von Kristallsphären besteht, ziemlich kurios. Aber denken Sie mal darüber nach, welchen Schluss Sie ziehen könnten, wenn Ihnen niemand gesagt hätte, dass die Erde um die Sonne läuft und die Sterne ferne Sonnen sind, einige davon viele tausend Mal heller als unser nahe gelegener Stern, aber Milliarden und Milliarden von Kilometern weiter weg. Es fühlt sich gewiss nicht so an, als ob die Erde durch ein unvorstellbar großes Universum treibt. Unser modernes Verständnis der Welt ist hart erarbeitet und oft nicht eingängig. Die heutige Vorstellung des Universums haben wir im Lauf von Jahrtausenden durch Experimente und Nachdenken entwickelt. Wäre diese Vorstellung offensichtlich gewesen, dann hätten es die großen Namen der Vergangenheit, wie Aristoteles, selbst herausgefunden. Sich das bewusst zu machen, lohnt sich. Wenn Sie eine Idee in diesem Buch kompliziert finden, dann hätten Ihnen die größten Denker der Antike vermutlich zugestimmt.

Lassen Sie uns die Vorstellung von Aristoteles für einen Moment akzeptieren, um den Fehler in der Antwort zu finden. So erkennen wir, zu was diese Vorstellung führt. Gemäß Aristoteles müssen wir den Raum mit einem imaginären Koordinatensystem ausfüllen, dessen Mittelpunkt auf der Erde liegt, und dann herausfinden, wo sich alles befindet und wer sich bewegt. Wenn wir die Vorstellung des Raums als eine Kiste gefüllt mit Objekten akzeptieren und die Erde im Mittelpunkt ruht, dann ist es offensichtlich, dass Sie, der Passagier im Flugzeug, Ihre Position verändert haben. Dagegen ruht die Beobachterin, die Sie vorbeifliegen sieht, auf der Erdoberfläche bewegungslos im Raum. Anders gesagt gibt es so etwas wie eine absolute Bewegung und damit einen absoluten Raum. Ein Körper ist in absoluter Bewegung, wenn er seinen Ort im Raum verändert. Gemessen wird das im imaginären Koordinatensystem, dessen Ursprung im Erdmittelpunkt ruht, während die Zeit vergeht.

Ein Problem dieser Vorstellung ist natürlich, dass die Erde nicht bewegungslos im Mittelpunkt des Universum steht; sie ist eine rotierende Kugel, die um die Sonne kreist. In Wirklichkeit bewegt sich die Erde mit knapp 110.000 Kilometer pro Stunde relativ zur Sonne. Wenn Sie abends zu Bett gehen und acht Stunden schlafen, haben Sie beim Aufwachen fast 900.000 Kilometer zurückgelegt. Sie können sogar behaupten, dass in ungefähr 365 Tagen Ihr Schlafzimmer an den genau gleichen Punkt im Raum zurückkehren wird, weil die Erde dann einen Umlauf um die Sonne vollendet hat. Also könnten Sie bereit sein, Ihre Vorstellung ein bisschen zu korrigieren, selbst wenn Sie Aristoteles’ Sichtweise beibehalten wollen. Warum nicht den Mittelpunkt des Koordinatensystems in die Sonne verlegen? Der Gedanke ist naheliegend, aber ebenfalls falsch, weil die Sonne wiederum das Zentrum des Milchstraßensystems umrundet. Die Milchstraße ist unsere heimische Galaxie aus mehr als 200 Milliarden Sonnen. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, ist sie ziemlich groß, so dass ein Umlauf eine Weile dauert. Die Sonne, mit der Erde im Schlepptau, wandert mit 790.000 Kilometer pro Stunde um das Milchstraßenzentrum, in einem Abstand von 244.000 Billionen Kilometer zum Zentrum. Mit dieser Geschwindigkeit dauert es 226 Millionen Jahre, um einen Umlauf zu vollenden. Es wäre also ein weiterer Schritt erforderlich, um Aristoteles zu retten. Legen Sie den Ursprung des Koordinatensystems in das Zentrum der Milchstraße, und es könnte sich Ihnen ein weiterer Gedanke aufdrängen: Stellen Sie sich vor, während Sie im Bett liegen, wie die Welt ausgesehen haben könnte, als die Erde zum letzten Mal »hier« an genau diesem Punkt im Raum war. Am frühen Morgen hätte an diesem Ort, wo nun Ihr Schlafzimmer ist, ein Dinosaurier sich an prähistorischen Blättern gütlich getan. Trotzdem falsch. Denn auch die Galaxien selbst rasen voneinander weg, je weiter eine Galaxie weg ist, desto schneller entfernt sie sich von uns. Unsere Bewegung zwischen den Myriaden von Galaxien, die das Universum ausfüllen, ist anscheinend extrem schwierig festzulegen.

Aristoteles hat wohl ein Problem, weil die Definition »still zu stehen« unmöglich ist. Anders gesagt scheint eine Festlegung des Koordinatenursprungs unmöglich zu sein, um so zu entscheiden, was ruht und was sich gerade bewegt. Aristoteles selbst stand nie vor diesem Problem, da seine Vorstellung einer stationären Erde, umgeben von rotierenden Sphären, fast 2000 Jahre lang nicht ernsthaft hinterfragt wurde. Vielleicht hätte das geschehen sollen, aber wie bereits gesagt, sind solche Dinge selbst für die größten Denker bei weitem nicht offensichtlich gewesen. Claudius Ptolemäus arbeitete in der großen Bibliothek von Alexandria in Ägypten im zweiten Jahrhundert. Er war ein sorgfältiger Beobachter des Nachthimmels und zerbrach sich den Kopf über die scheinbar sonderbare Bewegung der fünf damals bekannten Planeten am Himmel – den »Wandelsternen«, von denen das Wort »Planet« abgeleitet ist. Von der Erde aus betrachtet beschreiben die Planeten im Lauf der Monate keine flache Bahn vor dem Hintergrund der Sterne, sondern scheinbar Loopings am Himmel. Dieses sonderbare Verhalten wird als rückläufige Bewegung bezeichnet und war tatsächlich schon viele Jahrtausende vor Ptolemäus bekannt. Bereits in der ägyptischen Hochkultur wurde der Mars als »der rückwärts Wandernde« beschrieben. Ptolemäus stimmte mit Aristoteles darin überein, dass die Planeten um eine stationäre Erde kreisten. Um die rückläufige Bewegung zu erklären, sah er sich daher gezwungen, die Planeten auf kleine exzentrische Scheiben zu setzen, die wiederum auf den rotierenden Sphären saßen. Mit diesem ziemlich komplizierten Modell ließ sich die Bewegung der Planeten am Nachthimmel beschreiben, auch wenn sie bei weitem nicht elegant war. Die richtige Erklärung der rückläufigen Planetenbewegung lieferte erst Nikolaus Kopernikus in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Er schlug die elegantere (und richtige) Erklärung vor, wonach die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums ruht, sondern in Wirklichkeit zusammen mit den anderen Planeten die Sonne umrundet. Kopernikus’ Arbeit zog Kritik auf sich und wurde erst 1835 von der Katholischen Kirche aus dem »Verzeichnis der verbotenen Bücher« gestrichen. Präzisionsmessungen von Tycho Brahe und die Arbeiten von Johannes Kepler, Galilei und Newton zeigten letztlich nicht nur, dass Kopernikus Recht hatte, sondern mündeten in einer Theorie der Planetenbewegung durch Newtons Bewegungsgesetze und das Gravitationsgesetz. Diese Gesetze blieben bis 1915 unangefochten unsere beste Vorstellung von der Bewegung wandelnder Planeten und überhaupt der Bewegung aller Körper unter dem Einfluss der Schwerkraft – von rotierenden Galaxien bis zu Artilleriegeschossen. Dann kam Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie hinzu.

Diese sich kontinuierlich verändernde Vorstellung von der Position der Erde, der Planeten und ihrer Bewegung am Himmel sollte jedem als Warnung dienen, der absolut davon überzeugt ist, etwas zu wissen. Es gibt viele Dinge in der Welt, die auf den ersten Blick offensichtlich wahr sind – eines davon ist, dass wir gerade stillstehen. Künftige Beobachtungen können uns jederzeit überraschen und tun das oft auch. Vielleicht sollten wir nicht zu überrascht sein, wenn die Natur nicht eingängig zu sein scheint für einen Stamm beobachtender, kohlenstoff-basierter Nachfahren von Affen, die auf der Oberfläche eines Gesteinsplaneten leben, der einen durchschnittlichen Stern mittleren Alters umrundet und in den Randbereichen des Milchstraßensystems liegt. Die Theorien von Raum und Zeit, die wir in diesem Buch diskutieren, werden sich eventuell – eher wahrscheinlich – als Näherungen einer bislang unbekannten, umfassenderen Theorie erweisen. Die Wissenschaft ist eine Disziplin, die Unsicherheit zelebriert. Das zu erkennen, ist der Schlüssel zum Erfolg.

Galileo Galilei wurde 20 Jahre, nachdem Kopernikus sein Modell des Universums mit der Sonne im Mittelpunkt vorschlug, geboren. Galilei dachte intensiv über die Bedeutung der Bewegung nach. Seine Intuition war wahrscheinlich dieselbe wie die unsrige: Die Erde wirkt auf uns, als ob sie stillsteht, obwohl die Bewegung der Planeten am Himmel ziemlich stark die Vorstellung stützt, dass die Erde nicht ruht. Galileis große Erkenntnis war, aus diesem scheinbaren Widerspruch einen fundierten Schluss zu ziehen. Es sieht aus, als ob wir ruhten, obwohl wir wissen, dass wir uns auf einer Umlaufbahn um die Sonne bewegen, denn es gibt – selbst prinzipiell – keine Möglichkeit, festzulegen, was ruht und was sich bewegt. Anders gesagt macht es immer nur Sinn von Bewegung zu sprechen, wenn es sich um eine Bewegung relativ zu etwas anderem handelt. Das ist eine unglaublich wichtige Vorstellung! In gewisser Weise mag sie offensichtlich sein, aber um ihre Tragweite vollständig zu verstehen, ist Nachdenken erforderlich. Die Vorstellung ist natürlich offensichtlich, wenn Sie mit Ihrem Buch im Flugzeug sitzen: Relativ zu Ihnen bewegt sich das Buch nicht. Wenn Sie es vor sich auf den Tisch legen, bleibt es dort in unveränderlicher Entfernung. Und natürlich bewegt sich das Buch aus der Perspektive eines Betrachters am Boden zusammen mit dem Flugzeug durch die Luft. Die wahre Bedeutung von Galileis Erkenntnis ist, dass die getroffenen Aussagen die einzigen sind, die man treffen kann. Und wenn Sie über das Buch nur sagen können, wie es sich relativ zu Ihnen im Flugzeugsitz bewegt, oder relativ zum Boden, oder relativ zur Sonne, oder relativ zur Milchstraße, dann ist die absolute Bewegung eine überflüssige Vorstellung.

Diese ziemlich provokante Behauptung klingt vordergründig so profund, wie das bei kryptischen Äußerungen von Wahrsagern häufig der Fall ist. Diesmal erweist sie sich jedoch als große Erkenntnis; Galilei gebührt Anerkennung. Um zu verstehen warum, nehmen wir an, dass wir ergründen wollen, ob das bestimmte Koordinatensystem von Aristoteles, mit dem wir unterscheiden könnten, ob sich etwas absolut bewegt, aus wissenschaftlicher Sicht nützlich ist. Nützlich in wissenschaftlichem Sinne heißt, dass die Vorstellung beobachtbare Folgen hat. Das bedeutet, dass es eine Auswirkung hat, die sich experimentell feststellen ließe. Mit »experimentell« meinen wir irgendeine Messung von überhaupt irgendetwas – das Schwingen eines Pendels, die Farbe des Lichts, das eine brennende Kerze abstrahlt, oder die Kollisionen subatomarer Teilchen im Large Hadron Collider am CERN (auf dieses Experiment werden wir später zurückkommen). Wenn es von einer Vorstellung keine beobachtbaren Folgen gibt, dann ist diese Vorstellung nicht erforderlich, um das Funktionieren des Universums zu verstehen – auch wenn sie eine Art von fantastischem Wert hätte, durch den wir uns besser fühlen.

Das ist in einer Welt voller unterschiedlicher Vorstellungen und Meinungen eine ziemlich wirkungsvolle Methode, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Mit seiner Analogie von der chinesischen Teekanne verdeutlichte der Philosoph Bertrand Russell, wie sinnlos es ist, an Auffassungen festzuhalten, die keine beobachtbaren Folgen haben. Russell behauptete in der Analogie, er glaube, dass eine kleine chinesische Teekanne zwischen Erde und Mars um die Sonne kreise, die zu klein sei, um sie selbst mit dem leistungsfähigsten Fernrohr entdecken zu können. Nachdem ein größeres Fernrohr gebaut wurde und eine erschöpfende, zeitaufwändige Suche am gesamten Himmel keine Hinweise auf die Teekanne lieferte, würde Russell behaupten, dass die Teekanne etwas kleiner als erwartet sei – aber immer noch da. Landläufig nennt man das »die Spielregeln nachträglich verändern«. Selbst wenn die Teekanne niemals beobachtet wird, wäre es laut Russell »eine unerträgliche Anmaßung« seitens der Menschheit, die Existenz der Teekanne zu bezweifeln. Gewiss sollte der Rest der Menschheit diese Sichtweise respektieren, egal wie grotesk sie wirkt. Der Punkt ist: Russell will niemandem verbieten, mit einer persönlichen Täuschung zu leben, vielmehr hält er das bloße Formulieren einer Theorie in dem Sinne für zwecklos, weil es einen nichts lehrt, egal wie leidenschaftlich man daran glaubt. Sie können nach eigenem Gutdünken einen beliebigen Gegenstand oder eine beliebige Idee erfinden, aber wenn es keine Möglichkeit gibt, seine oder ihre Folgen zu beobachten, haben Sie keinen Beitrag zum wissenschaftlichen Verständnis des Universums geleistet. Ebenso würde die Vorstellung einer absoluten Bewegung in einem wissenschaftlichen Zusammenhang nur etwas bedeuten, wenn wir ein Experiment ersinnen, mit der wir die absolute Bewegung nachweisen könnten. Zum Beispiel könnten wir ein Physiklabor in einem Flugzeug aufbauen und hochgenaue Messungen an jedem denkbaren physikalischen Phänomen durchführen – in einem tapferen letzten Versuch, unsere absolute Bewegung nachzuweisen. Wir könnten ein Pendel schwingen lassen und messen, wie lange es dafür benötigt, wir könnten Experimente mit Akkus, elektrischen Generatoren und Motoren durchführen oder wir könnten Kernreaktionen beobachten und die ausgesandte Strahlung messen. Im Prinzip könnten wir mit einem ausreichend großen Flugzeug so ziemlich jedes Experiment durchführen, selbst solche, die noch nie in der Geschichte der Menschheit durchgeführt wurden. Der springende Punkt, der sich durch dieses ganze Buch zieht und einen der wesentlichen Eckpfeiler der modernen Physik bildet: Solange das Flugzeug weder beschleunigt noch bremst, wird keines dieser Experimente zeigen, dass wir uns bewegen. Selbst der Blick aus dem Fenster besagt nichts, weil die Aussage, dass der Boden an uns mit 1000 Kilometer pro Stunde vorbeifliegt und wir in Ruhe sind, genauso richtig ist. Das Beste, was wir sagen können, ist: Wir ruhen relativ zum Flugzeug. Oder: Wir bewegen uns relativ zum Boden. Das ist Galileis Prinzip der Relativität; es gibt nicht so etwas wie eine absolute Bewegung, weil es experimentell nicht nachzuweisen ist. Das mag uns womöglich nicht sehr schockieren, weil wir es tatsächlich intuitiv bereits wussten. Ein Beispiel ist die Erfahrung, in einem stehenden Zug zu sitzen, während der Zug am benachbarten Bahnsteig den Bahnhof verlässt. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkt es so, als ob wir uns gerade bewegten. Für uns ist es schwer, eine absolute Bewegung zu erkennen, weil es so etwas nicht gibt.

All das mag ziemlich philosophisch klingen, aber tatsächlich haben solche Grübeleien zu einer fundierten Schlussfolgerung über die Eigenschaften des Raumes geführt und ermöglichen uns nun, den ersten Schritt auf dem Weg zu Einsteins Relativitätstheorien zu gehen. Was lässt sich also aus Galileis Argumentation über den Raum folgern? Das Ergebnis lautet: Wenn es prinzipiell unmöglich ist, eine absolute Bewegung nachzuweisen, dann folgt daraus, dass es keine Größe in einem bestimmten Koordinatensystem gibt, die den Begriff »in Ruhe« definiert – und daher gibt es keinen absoluten Raum.

Das ist wichtig. Lassen Sie uns diese Feststellung daher genauer untersuchen. In einem Koordinatensystem, das sich über das gesamte Universum erstreckt, ließe sich eine Bewegung relativ zu diesem Koordinatensystem als absolut bezeichnen. Da es aber nicht möglich ist, mit einem Experiment festzustellen, ob wir in Bewegung sind, müssen wir die Vorstellung von diesem Koordinatensystem aufgeben – weil wir nie herausfinden könnten, woran wir diese Bewegung festmachen sollten. Doch wie sollten wir dann die absolute Position eines Körpers festlegen? Anders gefragt: Wo sind wir im Universum? Ohne das aristotelische Koordinatensystem haben diese Fragen keine wissenschaftliche Bedeutung. Alles, worüber wir reden können, sind die relativen Positionen von Körpern. Daher gibt es keine Möglichkeit, absolute Positionen im Raum festzulegen. Deshalb hat die Vorstellung eines absoluten Raums keine Bedeutung. Die Vorstellung eines Universums als riesige Kiste, in der sich die Dinge bewegen, ist aus experimenteller Sicht nicht erforderlich. Wir können gar nicht überbetonen, wie wichtig dieser Teil der Argumentation ist. Der bekannte Physiker Richard Feynman sagte einst, es sei egal, wie schön eine Theorie wirkt, wie klug man ist und wie man heißt: die Theorie ist falsch, wenn sie nicht mit dem Experiment in Einklang steht. In dieser Aussage steckt der Schlüssel zur Wissenschaft. Drehen wir sie um: Wenn sich ein Konzept nicht experimentell überprüfen lässt, können wir nicht entscheiden, ob es richtig oder falsch ist, und es wäre so oder so einfach bedeutungslos. Natürlich können wir immer noch annehmen, eine Vorstellung sei gültig, selbst wenn sie nicht überprüfbar ist. Aber die Gefahr beruht dann darin, dass wir riskieren, den künftigen Fortschritt zu behindern, weil wir an unnützen Vorurteilen festhalten. Ohne die Möglichkeit, ein besonderes Koordinatensystem zu erkennen, haben wir uns daher von der Vorstellung eines absoluten Raums befreit, so wie wir uns vom Konzept der absoluten Bewegung befreit haben. Die Befreiung vom Mühlstein des absoluten Raums spielte eine entscheidende Rolle, damit Einstein seine Theorie von Raum und Zeit entwickeln konnte (mehr dazu im nächsten Kapitel). Für den Moment haben wir unsere Freiheit gewonnen, aber wir haben noch nicht als emanzipierte Wissenschaftler gehandelt. Als Appetitanreger stellen wir nur fest, dass es ohne einen absoluten Raum auch keinen Grund gibt, warum sich zwei Beobachter zwangsläufig über das Ausmaß eines Körpers einig sein sollten. Das sollte Ihnen wirklich grotesk vorkommen – natürlich würde eine Kugel mit vier Zentimetern Durchmesser die Diskussion beenden, doch ohne absoluten Raum muss das nicht so sein.

Bislang haben wir die Verbindung zwischen Bewegung und Raum diskutiert. Was ist dann mit der Zeit? Eine Bewegung wird als Geschwindigkeit ausgedrückt, und die Geschwindigkeit lässt sich in Kilometer pro Stunde messen – als eine Entfernung, die man im Raum in einer bestimmten Zeit zurücklegt. So gesehen hat die Auffassung von der Zeit bereits Einzug in unsere Überlegungen gehalten. Was ist über die Zeit zu sagen? Gibt es ein Experiment, mit dem sich beweisen lässt, dass die Zeit absolut ist, oder sollten wir diese noch tiefergehende Idee ebenfalls aufgeben? Auch wenn Galilei die Vorstellung eines absoluten Raums verworfen hat, können wir aus seiner Argumentation nichts über die absolute Zeit lernen. Gemäß Galilei ist die Zeit unveränderlich. Eine unveränderliche Zeit bedeutet, dass man sich kleine perfekte Uhren vorstellen kann, die alle untereinander synchronisiert sind, so dass sie dieselbe Zeit zeigen und an jedem Punkt im Universum vor sich hin ticken. Die eine Uhr könnte an Bord eines Flugzeugs sein, eine andere am Boden, eine (robuste) auf der Saturnoberfläche und eine in der Umlaufbahn um eine ferne Galaxie. Vorausgesetzt, diese Uhren sind perfekte Zeitmesser, werden sie für jetzt und alle Ewigkeit alle dieselbe Zeit anzeigen? Erstaunlicherweise erweist sich diese scheinbar offensichtliche Annahme als ein direkter Widerspruch zu Galileis Aussage, nach der kein Experiment zeigen kann, ob wir uns absolut bewegen. So unglaublich es klingen mag: Der experimentelle Nachweis, der letztlich die Auffassung von einer absoluten Zeit widerlegte, ging von solchen Experimenten aus, an die sich viele von uns aus ihrem Physikunterricht erinnern – mit Akkus, Drähten, Motoren und Generatoren. Um sich mit der Vorstellung der absoluten Zeit befassen zu können, müssen wir zunächst einen Umweg über das 19. Jahrhundert nehmen, jener goldenen Phase der Entdeckungen in Elektrizität und Magnetismus.

KAPITEL 2: Die Lichtgeschwindigkeit

KAPITEL 2
Die Lichtgeschwindigkeit

Michael Faraday war der Sohn eines Schmieds aus Nordengland und wurde 1791 in Londons Süden geboren. Er war Autodidakt, mit 14 verließ er die Schule, um eine Ausbildung als Buchbinder anzufangen. Sein Wechsel in die Wissenschaft vollzog sich, nachdem er 1811 einen Vortrag des Wissenschaftlers Sir Humphry Davy in London gehört hatte. Faraday schickte seine Notizen, die er sich während des Vortrags gemacht hatte, an Davy. Dieser war so von Faradays sorgfältiger Mitschrift beeindruckt, dass er ihn zu seinem wissenschaftlichen Assistenten ernannte. Faraday entwickelte sich zu einem der einflussreichsten Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Er gilt vielen sogar als einer der größten Experimentalphysiker aller Zeiten. Davy wird die Aussage zugeschrieben, dass Faraday seine größte wissenschaftliche Entdeckung war.

Ein Wissenschaftler des 21. Jahrhunderts kann beim Blick zurück auf das frühe 19. Jahrhundert neidisch werden. Faraday musste nicht mit 10.000 anderen Forschern und Ingenieuren am CERN zusammenarbeiten oder Weltraumteleskope von der Größe eines Doppeldeckerbusses in eine hohe Erdumlaufbahn bringen, um weitreichende Entdeckungen zu machen. Faradays »CERN« passte bequem auf einen Labortisch, und trotzdem war Faraday zu Beobachtungen in der Lage, mit denen sich unmittelbar die Vorstellung einer absoluten Zeit widerlegen ließen. Die Maßstäbe der Wissenschaft haben sich im Lauf der Jahrhunderte gewiss gewandelt. Zum Teil, weil jene Bereiche der Natur, die sich ohne technisch fortgeschrittene Geräte beobachten ließen, bereits ungemein detailliert untersucht worden waren. Das soll nicht heißen, dass es in der heutigen Wissenschaft keine Beispiele für einfache Experimente gibt, die wichtige Ergebnisse lieferten, oder dass ein Zugewinn an Erkenntnis grundsätzlich komplizierte Anlagen erfordert. Im damaligen viktorianischen London benötigte Faraday jedoch nichts Exotischeres oder Teureres als Drahtspulen, Magnete und einen Kompass, um die ersten experimentellen Hinweise darauf zu finden, dass die Zeit nicht das ist, was sie zu sein scheint. Er gewann diese Erkenntnis, indem er das tat, was Wissenschaftler am liebsten tun. Er baute den ganzen Krimskrams auf, der mit der neu entdeckten Elektrizität zu tun hatte, spielte damit herum und beobachtete sorgfältig. Sie können den dunkel lackierten Labortisch förmlich riechen, auf dem aufgewickelte Drähte verstreut herumlagen, erleuchtet vom flackernden Licht einer Gaslampe. Denn obwohl bereits Davy seinem Publikum 1802 in der Royal Institution elektrisches Licht demonstriert hatte, musste die Welt noch bis zu einem viel späteren Zeitpunkt im Jahrhundert warten, bevor Thomas Edison eine brauchbare elektrische Glühbirne vollendet hatte. Anfang des 19. Jahrhunderts war die Elektrizität physikalisches und technisches Neuland.

Faraday entdeckte, dass beim Schieben eines Magneten durch eine Drahtspule ein elektrischer Strom durch die Drähte fließt, solange der Magnet in Bewegung ist. Er beobachtete auch, wie ein kurzer Stromstoß durch einen Draht eine in der Nähe stehende Kompassnadel gleichzeitig mit dem Stromstoß bewegt. Der Kompass war ein Detektor: Floss keine Elektrizität durch den Draht, dann richtete sich die Nadel am Magnetfeld der Erde aus und zeigte zum Nordpol. Der Stromstoß muss daher ein Magnetfeld erzeugen, stärker als das der Erde, denn die Kompassnadel wird für die Kürze des Pulses förmlich aus der Nordrichtung weggerissen. Faraday schloss daraus, dass er gerade eine tiefe Verbindung zwischen Magnetismus und Elektrizität beobachtete – zwei Phänomene, die auf den ersten Blick überhaupt nicht zusammenzuhängen schienen. Was hat der elektrische Strom, der durch eine Glühbirne fließt, wenn Sie im Wohnzimmer den Lichtschalter drücken, mit der Kraft zu tun, die kleine magnetische Buchstaben an Ihrer Kühlschranktür haften lässt? Diese Verbindung ist gewiss nicht offensichtlich, und trotzdem hatte Faraday durch sorgfältiges Beobachten der Natur festgestellt, dass elektrische Ströme Magnetfelder erzeugen und sich bewegende Magnete elektrische Ströme. Diese beiden einfachen Phänomene, die heute als elektromagnetische Induktion bezeichnet werden, bilden die Grundlage der Elektrizitätserzeugung in allen Kraftwerken der Welt und in allen elektrischen Motoren, die wir täglich verwenden – vom Gebläse im Haarfön bis zum Auswurfmechanismus am DVD-Spieler. Faradays Beitrag zum Wachstum der industrialisierten Welt ist unermesslich.