cover

Caroline Carlson

Hilary und Der Fast Ganz Ehrbare Club der Piraten

Der magische Schatz

Impressum

© KERLE in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.kerle.de

 

Titel der Originalausgabe: The Very Nearly Honorable League of Pirates;

Magic Marks the Spot

 

© Text: Caroline Carlson 2013

Dieses Werk wurde vermittelt von Rights People, London

 

Umschlagillustration: Tom Percival

 

E-Book-Konvertierung: epublius GmbH, Berlin

 

ISBN (E-Book): 978-3-451-80072-6

ISBN (Buch): 978-3-451-71222-7

 

 

Für Zach

 

Kapitel Eins

Seit der Brief von Miss Pimms Mädcheninternat gekommen war, verbrachte Hilary immer mehr Zeit mit dem Wasserspeier.

Ihre Eltern missbilligten das, wie sie sehr wohl wusste, aber die Gesellschaft des Wasserspeiers war ihr sehr viel lieber als die ihrer Eltern. Hilary und der Wasserspeier waren zwar nicht immer einer Meinung, aber seine Meinung zum Thema Internat fand sie durchaus erfrischend.

„Eine Badehaube!“, schnaubte der Wasserspeier, während Hilary die Kleider von Miss Pimm in die goldbeschlagene Reisetruhe packte, die ihre Mutter aus irgendeinem Speicher gezogen hatte. „Ein Pirat, der etwas auf sich hält, würde sich nie im Leben mit einer Badehaube erwischen lassen.“

„Ich weiß“, sagte Hilary. „Und schau dir an, was Mutter damit gemacht hat!“ Sie hielt die Badehaube hoch, um dem Wasserspeier ihren Namen zu zeigen, der mit goldenem Garn am Rand aufgestickt war. „Sie sagt, das sei modisch.“

„Mode!“, sagte der Wasserspeier. „Piraten scheren sich nicht um Mode! Obwohl“, fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu, „ich wollte immer einen von diesen spitzen schwarzen Hüten – du weißt schon, so einen mit einer Feder obendrauf …“

Hilary machte die Truhe zu und stieg darauf, damit sie an den Wasserspeier herankam, der über ihrer Zimmertür ins Mauerwerk gemeißelt war. Bevor er protestieren konnte, drapierte sie ihm die Badehaube – sehr modisch, wie sie fand – über die Steinohren.

„Aber du bist kein Pirat“, erinnerte sie ihn, „und ich habe das schreckliche Gefühl, dass ich auch keiner werde.“

„Sag das nicht.“ Der Wasserspeier schüttelte sich und wackelte mit den Ohren, schaffte es aber nicht, sich von der Badehaube zu befreien. „Nur weil dieser dumme Einbeinige Wer-auch-immer das behauptet hat – könntest du mir dieses Ding bitte endlich wieder abnehmen?“ Der Wasserspeier seufzte. „Ich wünschte, ich hätte Hände.“

„Ach, na gut“, sagte Hilary. „Aber du siehst schon sehr schneidig aus.“ Sie pflückte ihm die Badehaube von den Ohren und warf sie auf ihr Bett, wo sie auf den sieben weißen Nachthemden mit Lochstickerei und den zwanzig grauen Strumpfhosen landete, die ihre Mutter an diesem Morgen in der Stadt besorgt hatte. „Du hast Glück, Wasserspeier. Dich kann niemand zu etwas zwingen, was du nicht willst.“

„Ha!“, sagte der Wasserspeier. „Und du glaubst wohl, Westfield House zu beschützen wäre eitel Sonnenschein und Spinnenbeine? Zweihundert Jahre an einer Wand zu leben ist auch nicht das Gelbe vom Ei, weißt du? Wie würde es dir gefallen, wenn die Leute ständig zu dir hochspringen würden, um an deine Schnauze zu fassen und dir zu befehlen, sie zu beschützen?“

Hilary musste zugeben, dass ihr das überhaupt nicht gefallen würde. „Wir mögen es wohl beide nicht, wenn man uns herumkommandiert“, sagte sie. „Aber wenigstens hat Vater dich nicht ins Internat geschickt.“

„Und das soll er auch bloß nicht versuchen“, sagte der Wasserspeier finster. „Ich würde ihn beißen!“

Hilarys Vater war Admiral in der Königlichen Flotte von Augusta, was, soweit Hilary wusste, bedeutete, dass er jeden Sonntag mit der Königin zu Abend essen und den Rest seiner Zeit in seinem Studierzimmer in Westfield House verbringen musste, wo er allen Kapitänen und Flottenadmiralen, die zufällig zu Besuch waren, schneidende und eilige Befehle hinschleuderte. Obwohl er kaum noch zur See fuhr, sah Hilary ihren Vater selten und sprach noch weniger mit ihm. Wenn sie alte Uniformen trug, die sie von ehemaligen Marineschülern geerbt hatte, hielt ihr Vater sie für eine Angestellte und befahl ihr: „Bring mir mal schnell die Skandinavien-Akte!“ Oder „Poliere diesen Sextanten, und zwar ein bisschen plötzlich!“ Wenn jemand geschickt genug gewesen war, Hilary in ein Kleid zu schnüren, küsste ihr Vater sie auf die Stirn und sagte: „Lauf los und sei ein braves kleines Mädchen.“ Hilary beabsichtigte, einiges zu sein, aber kein braves kleines Mädchen. Sie hatte nur noch nicht den Mut aufgebracht, das Admiral Westfield auch zu sagen.

Hilarys Zimmer war inzwischen nahezu kahl – die meisten ihrer Sachen waren in der goldbeschlagenen Reisetruhe oder bereits mit dem Zug ins Internat gefahren worden, mit dem Hilary am nächsten Morgen folgen sollte. Sie freute sich nicht auf die Reise. „Sechs Stunden in einem Privatabteil mit einer Gouvernante“, sagte sie zu dem Wasserspeier, während sie die Strickjacken mit den tanzenden Schafen zusammenfaltete, „und ich bin mir sicher, Miss Greyson wird mich die ganze Zeit Aufgaben machen lassen. Und sie wird diese kleinen Sandwiches ohne Rinde einpacken, die junge Damen essen sollen, und sie wird mich nicht aus dem Fenster schauen lassen, weil junge Damen nicht die Scheiben verschmieren sollen.“

„Ja, ja, das ist alles sehr traurig“, sagte der Wasserspeier. „Kleine Sandwiches und so weiter. Aber konzentrieren wir uns doch einmal auf die wahre Tragödie hier.“

„Der FGECP ist wirklich schrecklich unverschämt“, sagte Hilary. „Und was Vater angeht …“

Der Wasserspeier seufzte. „Ich meinte mich! Was wird aus mir, wenn du weg bist? Wer wird mir die Schatzinsel vorlesen? Was, wenn deine Eltern vornehme Gäste in diesem Raum unterbringen? Was, wenn die Gäste nicht mit mir sprechen wollen? Oder was, wenn es überhaupt keine Gäste gibt, nie wieder, und ich bekomme Spinnweben in den Ohren? O Hilary“, sagte der Wasserspeier, „was, wenn ich renoviert werde?“

Der Wasserspeier sah so ernst aus – Hilary merkte, dass er wirklich bekümmert war. „Du musst dir keine Sorgen machen“, sagte sie. „Ich werde in den Ferien nach Hause kommen und dich besuchen. Ich lasse nicht zu, dass dir etwas Schlimmes passiert. Du weißt doch, ich würde dich mitnehmen, wenn ich könnte.“

Der Wasserspeier rümpfte die Nase und stieß ein Geräusch aus, das halb wie ein Niesen und halb wie ein Erdrutsch klang. „Ich glaube nicht, dass mir das gefallen würde“, sagte er. „Die Piraten in der Schatzinsel mussten auch nicht ins Internat, oder?“

„Nein“, sagte Hilary, „das mussten sie sicher nicht.“

„Dann bin ich nicht interessiert“, sagte der Wasserspeier. „Und wenn du wirklich Piratin werden willst, solltest du auch nicht hingehen.“

Hilary ließ sich auf ihre Reisetruhe fallen. „Natürlich will ich Piratin werden“, sagte sie. „Das will ich schon mein ganzes Leben lang.“ Und warum hätte sie auch keine Piratin werden sollen? Sie war schon jetzt eine bessere Seglerin als die meisten Jungen in der Königlichen Flotte ihres Vaters und sie hatte viel mehr für Schwertkämpfe und Schätze übrig als fürs Sticken, für Unterröcke und gute Manieren. Sicher war sogar ihrem Vater klar, dass das Internat nicht der richtige Ort für sie war. Natürlich lehnte er die Piraterie vehement ab, doch wenn sie ihn nur ein Mal kurz sprechen könnte – wenn er erkennen würde, was für eine gute Piratin sie sein könnte –, dann wäre er vielleicht beeindruckt. Vielleicht könnte er sogar den FGECP dazu bringen, es sich noch einmal zu überlegen.

„Oh, gut, du hast schon gepackt.“ Hilarys Mutter streckte den Kopf zur Tür herein. „Musst du unbedingt diese schäbigen Schiffsjungen-Kleider tragen? Die sind viel zu groß für dich, und dieses Dunkelblau passt nicht zu deinen Augen. Etwas in Grün vielleicht; ein hübsches neues Kleid …“

„In einem Kleid kann ich nicht in die Takelage eines Schiffes klettern, Mutter“, sagte Hilary, „und du weißt doch, dass ich Grün hasse. Abgesehen davon müssten die zwei schrecklichen Wollkleider, die ich von Miss Pimms Internat bekommen habe, eigentlich genug sein.“

„Mrs Westfield“, sagte der Wasserspeier und neigte den Kopf nach unten, um sie anzusprechen. „Habt Ihr vor, mich abzustauben, wenn Hilary in der Schule ist?“

Mrs Westfield wedelte mit der Hand durch die Luft, als wollte sie eine kleine, lästige Fliege vertreiben. „In die Takelage klettern!“, sagte sie zu Hilary. „So einen Unsinn habe ich ja noch nie gehört! Ich hoffe, man wird dir im Internat beibringen, wie man sich ordentlich kleidet, und vielleicht holen sie deine Haare endlich ein für alle Male aus diesem albernen Zopf.“ Sie tätschelte ihre eigenen, sorgfältig geformten Locken.

„Ähem“, sagte der Wasserspeier, der immer noch kopfüber hing. „Wegen dem Abstauben …“

Aber Mrs Westfield sprach weiter: „Ich habe selbst immer davon geträumt, ein Miss-Pimms-Mädchen zu werden, weißt du? Miss Pimm ist ziemlich wählerisch bei ihren Schülerinnen. Du solltest nicht vergessen, dass nicht alle Mädchen so viel Glück haben wie du.“

„Wenn es ein Glück ist, in Miss Pimms Internat geschickt zu werden“, sagte Hilary, „dann ist mir Glück ziemlich egal.“

Aber ihre Mutter lachte nur. „Sei nicht albern“, sagte sie. „Es ist sehr großzügig von deinem Vater, dir diese Erfahrung zu ermöglichen.“

Hilary seufzte; es nützte nichts, weiter zu diskutieren. „Weißt du, ob Vater gerade beschäftigt ist?“ Wenn Admiral Westfield nicht im Auftrag der Marine in der Stadt war, hatte er ständig Besprechungen hinter verschlossenen Türen; die Frage war somit eigentlich überflüssig. „Ich muss etwas mit ihm besprechen – etwas Wichtiges.“

Mrs Westfield schaute den Flur entlang. „Du weißt, dein Vater kann Diskussionen nicht ausstehen, Liebes, aber die Tür zu seinem Arbeitszimmer steht offen. Wenn du dich beeilst, erwischst du ihn vielleicht noch.“

Hilary wartete, bis ihre Mutter gegangen war, um wie üblich die Dienerschaft zu schikanieren. Dann zog sie ihr Schwert unter dem Bett hervor und schnallte es sich um die Hüfte.

„Hast du vor, deinen Vater zu durchbohren?“, fragte der Wasserspeier. „Das wäre sicherlich eine piratenhafte Lösung, aber ich würde es nicht empfehlen.“ Der Wasserspeier peitschte mit dem Schwanz. „Das gäbe eine fürchterliche Schweinerei.“

„Sei nicht albern“, sagte Hilary. „Ich will niemanden durchbohren.“ Auch wenn sie es vor dem Wasserspeier nicht zugeben wollte, fühlte sie sich mit dem Schwert ein bisschen mutiger, und wenn sie in Admiral Westfields Studierzimmer ging, brauchte sie jedes bisschen Mut, das sie zusammennehmen konnte.

 

Schon den Hauptflur von Westfield House entlangzugehen war eine ziemlich erhabene und einschüchternde Erfahrung. Der Flur war auf beiden Seiten von kunstvollen Buntglasfenstern gesäumt, auf denen die großen Helden der ruhmvollen Geschichte des Königreichs Augusta abgebildet waren. Der Gute König Albert, der erste Herrscher von Augusta, spähte von dem Fenster herab, das Admiral Westfields Studierzimmer am nächsten lag, und leuchtete dabei bedeutend smaragdgrüner und rosafarbener als im wahren Leben. König Alberts Nachbar im nächsten Fenster war Simon Westfield, ein Urahn, der das Königreich in seinem Heißluftballon erkundet hatte, seine Nachbarin gegenüber war die Zauberin des Nordens.

Die Zauberin hatte vor langer, langer Zeit über die Magie des Königreiches geherrscht, als magische Gegenstände in den Haushalten von Augusta noch so normal waren wie Kochtöpfe. Tatsächlich erzählte der Wasserspeier gerne bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, dass er von der Zauberin selbst gemeißelt worden war. Die Fensterabbildung zeigte die Zauberin mit einem langen Kleid und einem leicht amüsierten Lächeln, obwohl Hilary Letzteres für einen Fehler des Fenstergestalters hielt: Schließlich trug die Zauberin eine schwer aussehende Holztruhe, die bis zum Rand mit magischen Goldmünzen gefüllt war, und Hilary hätte es passender gefunden, wenn die Zauberin weniger vergnügt, sondern eher erschöpft ausgesehen hätte. Trotzdem war dieses Fenster Hilarys Lieblingsfenster, es wirbelte vor Orange- und Goldtönen wie ein wilder Sonnenuntergang. Admiral Westfield dagegen nannte die Zauberin „diese alte Schachtel, die sich in alles einmischen musste“ und drohte immer wieder, ihr Fenster entfernen zu lassen.

Als Hilary am Fenster der Zauberin vorbeikam, trat ein groß gewachsener Junge in der blauen Uniform der Marineschüler aus dem Studierzimmer ihres Vaters und stellte sich ihr in den Weg. Verächtlich schaute er auf Hilary herab, doch da der Marineschüler grundsätzlich auf alles und jeden herabsah, war sich Hilary nicht so sicher, ob dieser verächtliche Blick wirklich ihr persönlich galt.

„Hallo Oliver“, sagte Hilary. „Geht es dir wieder gut?“ Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, hatte er kopfüber in der Takelage eines Schiffes gehangen. Natürlich war es allein seine Schuld gewesen: Er hatte behauptet, kein Mädchen könne einen Knoten knüpfen, den er nicht lösen könne. Sicher konnte man Hilary keinen Vorwurf machen, dass sie ihm daraufhin das Gegenteil beweisen wollte, indem sie zwei solcher Knoten um seine Knöchel geknüpft hatte. Nach einer Weile hatte sie ihn mit ihrem Schwert wieder abgeschnitten, auch wenn sie es aufrichtig bedauerte, ihn befreien zum müssen. Das Gute daran war, dass sie dabei entdeckt hatte, was für ein interessantes hohles Geräusch eine Stirn macht, wenn sie auf ein Bootsdeck trifft.

„Mir geht es hervorragend, keinen Dank der Nachfrage.“ Oliver kämmte sich die Haare nach vorn, um die violette Beule über seinem Auge zu verbergen. „Was willst du?“

„Ich will mit meinem Vater sprechen.“

„Geht nicht.“ Jetzt sah Olivers höhnischer Blick triumphierend aus. „Er ist beschäftigt.“

„Nein, ist er nicht.“ An Oliver vorbei sah sie, wie Admiral Westfield Seilabschnitte zu komplizierten Seemannsknoten knüpfte.

Oliver zuckte die Achseln. „Tut mir leid. Ich kann dich nicht reinlassen.“

Hilary war um einiges kleiner als Oliver, aber sie stellte sich so aufrecht hin, wie sie konnte. Miss Greyson wäre zufrieden gewesen, dachte sie. „Geh bitte zur Seite, Mr Sanderson“, sagte sie, drängte sich an ihm vorbei und klopfte an die offene Tür.

Admiral Westfield blickte auf. „Ah, Hilary.“ Er fegte die Seilenden in eine Schreibtischschublade. „Bitte, mein Schatz, komm doch herein!“

„Es heißt Leutnant Sanderson“, zischte Oliver ihr nach, aber sie gab vor, ihn nicht gehört zu haben, und knallte die Tür zwischen ihnen zu.

„Guter Bursche, dieser Oliver“, sagte Admiral Westfield und legte die Füße auf den Tisch. „Wie der Sohn, den ich nie hatte. Natürlich auch ein guter Seemann.“ Er schaute zu Hilary auf, als erwarte er eine Antwort.

„Natürlich“, murmelte Hilary. Es war schwierig, im Studierzimmer des Admirals laut genug zu sprechen, da dicke Webteppiche aus fernen Ländern den Boden bedeckten und jedes Geräusch aufsogen. Darüber hinaus übertönten die tickenden Räder von nautischen Instrumenten an den Wänden sowieso alles. In der Wand hinter Admiral Westfields Schreibtisch befand sich eine Reihe von Fenstern in Bullaugenform; nach so vielen Jahren auf See behauptete der Admiral, dass er sich mit viereckigen Fenstern unwohl fühle. Mit Büchern fühlte er sich auch nicht wohl, denn auch die gab es normalerweise auf See nicht. Die meisten fand er sowieso unsachlich. Folglich waren Bücher aller Art im Studierzimmer strikt verboten. Und so nahmen Schubladen über Schubladen mit Karten und Schaubildern den gesamten Platz ein. Ein Globus drehte sich langsam in seinem Holzgestell neben dem Schreibtisch. Ansonsten schien in diesem Raum alles strammzustehen: die Möbel an den Wänden, das Teleskop neben einem der Bullaugen – ja, sogar Hilary, da es außer Admiral Westfields Schreibtischstuhl keine Sitzgelegenheit gab. Das ganze Ambiente bewirkte, dass Hilary sich leicht seekrank fühlte.

„Also, Hilary“, sagte Admiral Westfield. Er strahlte sie an und ihre Knie wurden weich. Ihr Vater hatte sie tatsächlich beim Namen – und zwar bei ihrem korrekten Namen – genannt und jetzt lächelte er auch noch! Hilary überlegte, ob es ihm wohl gut ging. „Was kann ich für mein Miss-Pimms-Mädchen tun?“

Das war es also. „Tatsächlich“, sagte sie, „geht es um das Internat.“ Sie starrte fest auf das Bullauge über dem Kopf ihres Vaters. „Ich will nicht hingehen.“

„Es tut mir leid, mein Schatz“, sagte Admiral Westfield. „Ich kann dich nicht hören; du musst schon lauter sprechen.“

Hilary holte tief Luft. „Ich will nicht in Miss Pimms Internat.“

„Aber jedes Mädchen will zu Miss Pimm!“

„Ich nicht, Vater. Ich will Piratin werden.“ „Ach ja.“ Der Admiral nahm ein neues Stück Seil und begann, einen halben Schlag zu knüpfen. „Was du dir da geleistet hast, mein Liebes, war ziemlich frech, und deine Mutter hat mir gesagt, sie hat dich deshalb schon geschimpft. Aber ich kann mich im Moment mit derlei Spielchen nicht aufhalten. Ich plane eine wichtige Reise, und Zeit ist von höchster Bedeutung.“

Hilarys Beine gaben unter ihr nach und das Schwert in seiner Scheide prallte seitlich an ihr Knie. „Das hier ist kein Spiel“, sagte sie. „Ich bin ein guter Seemann – sehr viel besser als Oliver, um genau zu sein.“

Der Admiral öffnete den Mund, aber Hilary sprach schnell weiter, bevor er widersprechen und behaupten konnte, dass so etwas einfach unmöglich sei. „Ich weiß, du hast mich nie segeln sehen, aber ich übe seit Jahren. Ich kann genauso schnell rudern wie deine Marineschüler und ich weiß, was ich tun muss, wenn ein Sturm aufkommt oder ein Halunke angreift. Ich wäre ein furchtbar schlechtes Schulmädchen, Vater, aber ich glaube, ich wäre eine sehr gute Piratin.“ Sie zögerte. „Wenn du einfach mit mir zum Hafen kommen würdest – nur ganz kurz –, dann könnte ich es dir vielleicht zeigen.“

Admiral Westfield sog zischend Luft ein und stieß sie laut wieder aus. „Meine Liebe“, sagte er, „man sollte solche Entscheidungen nicht von seinen Launen abhängig machen. Ich will mich klar ausdrücken: Du bist eine junge Dame. Darüber hinaus bist du eine Westfield. Du wirst keine albernen Geschichten erzählen, du wirst deine gesellschaftlichen Perspektiven nicht ruinieren und du wirst niemals Piratin werden.“

„Aber Vater …“

„Du weißt sehr gut, dass die Piraterie schändlich ist“, fuhr Admiral Westfield fort. „Von einem Moment auf den anderen in Abenteuer segeln, Schätze heben, ohne sie der Königin zu übergeben, meine Befehle ignorieren – das Königreich wäre wirklich weit besser dran ohne diese ganzen Piraten, die darin herumsegeln.“ Er knallte die Füße auf die Tischplatte. „Warum solltest du einer werden wollen? Ist das der Einfluss dieser Gouvernante oder von diesem elenden Wasserspeier? Hast du das etwa in Büchern gelesen?“

Hilary hatte genauso viel Freude an gutem Seemannsgarn wie der Wasserspeier, aber Piratin wollte sie schon werden, solange sie denken konnte – na ja, fast so lange. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie sie vor langer Zeit an der Hand ihrer Mutter über das Kopfsteinpflaster zu den Docks von Queensport gegangen war und den geblähten Segeln der Flotte ihres Vaters zum Abschied gewinkt hatte, als er zu einem großen Abenteuer aufbrach. Damals hatte sie ihrer Mutter gesagt, dass sie zur Marine gehen wolle, wenn sie alt genug sei, und dass sie selbst auch zu großen Abenteuern auf hoher See aufbrechen wolle. Ihre Mutter hatte nur gelacht. Sie hatte es auch ihrem Vater erzählt, als er von seiner Reise zurückgekehrt war, aber der hatte sehr ernst dreingeblickt und sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Marine kein Ort für kleine Mädchen sei und ganz sicher nicht für seine Tochter.

Und damit hatte Admiral Westfield vielleicht sogar recht gehabt, denn eine Laufbahn in der Marine mit ihren ermüdenden Regeln und langweiligen Aufgaben war wohl kaum so interessant wie das Leben auf einem Piratenschiff. Auf einem Piratenschiff konnte Hilary alle grandiosen Abenteuer haben, die sie wollte. Sie würde Marineschüler wie Oliver in deren feinen Lederstiefeln zum Zittern bringen, und ihr Vater würde endlich sehen, was seine Tochter konnte. Sie wäre die gefürchtetste Piratin der Hohen See, egal, was der Einbeinige Jones und Admiral Westfield dazu sagten.

Admiral Westfield dagegen hatte Hilary überhaupt nicht mehr viel zu sagen. „Und jetzt“, sagte er, als er die Füße vom Schreibtisch nahm und aufstand, „will ich nichts mehr von diesem Unsinn hören. Ich glaube nicht, dass man in Miss Pimms Internat Unsinn duldet. In dem FGECP übrigens auch nicht – sie hatten schon recht, als sie dich abgelehnt haben.“ Er legte Hilary die Hände auf die Schultern und streifte ihr einen flüchtigen Kuss über die Stirn. „Und jetzt lauf los und sei ein braves kleines Mädchen!“

Hilary rührte sich nicht. Sie starrte die Wand hinter dem Kopf ihres Vaters an. Dann rieb sie sich die Augen und starrte noch einmal hin, nur um sicherzugehen, dass sie sich nicht irrte.

Admiral Westfield räusperte sich. „Lauf los“, sagte er noch einmal, diesmal etwas lauter, „und sei …“

„Vater“, sagte Hilary, „du solltest dich besser umdrehen. Mit deinem Fenster passiert etwas ganz Komisches.“

Sie konnten zusehen, wie eines der Bullaugen hinter Admiral Westfields Schreibtisch größer und größer wurde. Es verschluckte die umgebenden Fenster und dazu die halbe Wand. Die nautischen Instrumente des Admirals fielen von ihren Haken, und die Karten der Hohen See flatterten zu Boden, aber das Fenster schien entschlossen zu sein weiterzuwachsen, bis es die Teppichkante am Boden erreicht hatte. So etwas hatte Hilary noch nie gesehen. Sie eilte zum Fenster und versuchte, die Hand dagegenzudrücken, aber ihre Finger gingen direkt durch den Rahmen hindurch.

„Das Glas – es ist irgendwie verschwunden.“ Hilary pikte mit der Schwertspitze nach dem Fensterrahmen. „Und ich glaube, der Rahmen wächst immer noch weiter.“ Sie drehte sich um und starrte ihren Vater an. „Ich verstehe das nicht. Bewegen sich deine Fenster immer von selbst?“

„Geh da weg, mein Liebes“, sagte Admiral Westfield, „und steck um Himmels Willen diese lächerliche Waffe weg! Ich werde mich darum kümmern.“ Er zerrte Hilary aus dem Weg und marschierte auf die Wand zu, die jetzt eher aus Luft als aus Stein bestand. „Hör zu, Fenster!“, schrie er. „Ich lasse mir diese Unverfrorenheit nicht bieten! Ich bin hier der Herr im Haus und ich verlange, dass du sofort wieder zusammenschrumpfst!“

Hilary rieb sich den Arm an der Stelle, wo ihr Vater daran gezerrt hatte. Eigentlich freute es sie zu sehen, dass das Fenster im Gegensatz zu fast allem anderen im Königreich sich weigerte, den Befehlen ihres Vaters zu gehorchen. Es streckte sich nur noch weiter und gab den Blick auf zwei Gestalten frei, die vor Westfield House auf dem Rasen standen. Sie waren zu weit weg, als dass Hilary sie richtig hätte sehen können, aber sie schienen ganz in Schwarz gekleidet zu sein, mit schwarzen Masken um die Augen und schwarzen Handschuhen. Hilary schluckte trocken und zeigte mit dem Schwert in ihre Richtung.

Das Fenster zögerte kurz, als wäre es besorgt, dass es unhöflich wäre, noch größer zu werden. Es schwankte hin und her. Dann flogen gleichzeitig alle Schubladen im Studierzimmer des Admirals auf und sämtliche Schranktüren platzten aus ihren Angeln. Hilary schrie auf und hob das Schwert, um die Türen abzuwehren, die wild über ihrem Kopf herumschwangen. Admiral Westfield stieß nautisch klingende Flüche aus, als seine Schreibtischschublade ihn im Magen traf und umwarf.

Eine Papierrolle flog aus der offenen Schublade und segelte über Admiral Westfields Kopf. Er schnappte nach der Rolle, aber sie sauste an seinen Fingern vorbei, und bevor Hilary zu Hilfe eilen konnte, war die Rolle aus dem riesigen Fenster in die wartende, schwarz behandschuhte Hand der großen Gestalt auf dem Rasen geflogen.

„Halt, ihr Halunken!“, schrie Admiral Westfield, aber die große Gestalt winkte nur fröhlich. Dann schrumpfte das Bullauge mit einem großen Schaudern wieder auf seine normale Größe zusammen, und alle Schubladen und Schranktüren knallten zu.

Hilary rannte zu Admiral Westfield hinüber und half ihm vom Boden auf. „Geht es dir gut?“, fragte sie. Ihr Vater war ein bisschen rot im Gesicht, aber das war er eigentlich immer. „Was in aller Welt ist gerade passiert?“ „Magie!“, schrie Admiral Westfield. „Und Diebstahl noch dazu! Diese Schurken haben ein höchst wichtiges Dokument direkt aus meinem Haus gezaubert!“ Er zog seine Schreibtischschublade auf und wühlte darin herum. „Und was nützt eigentlich dieser verflixte Wasserspeier?“, grollte er. „Er soll uns beschützen, aber er tut überhaupt nichts, solange wir nicht zu ihm laufen und ihn anflehen – und ich weigere mich, diese Kreatur um irgendetwas zu bitten! Wie die Westfields an diesen nutzlosesten aller magischen Gegenstände geraten sind, wird mir immer ein Rätsel bleiben.“ Der Admiral fluchte unterdrückt vor sich hin und knallte die Schublade zu. Dann blickte er zu Hilary auf. „Tut mir sehr leid, dass du das alles sehen musstest, mein Liebes. Mit Magie in Berührung zu kommen ist dem Ruf einer jungen Dame wohl kaum zuträglich. Du gehst besser sofort in dein Zimmer, während ich dieses Chaos hier regle.“

Hilary runzelte die Stirn. Eine wahre Piratin würde sich nach einem Kampf sicherlich nicht in ihrem Zimmer verstecken. Nein, eine wahre Piratin würde den Feind verfolgen, egal, was ihr Vater dazu sagte. „Aber ich kann den Dieben nachjagen!“, protestierte sie. „Vielleicht fange ich sie nicht, aber ich kann sicher herausfinden, wohin sie geflohen sind.“

„Nein, mein Schatz, sei nicht albern. Du kannst nichts tun. Und wo hast du überhaupt dieses Schwert her?“

Tatsächlich hatte Hilary das Schwert einer Rüstung geklaut, die im Ballsaal von Westfield House stand, weil sie annahm, dass sie mehr Verwendung dafür haben würde als die Ritterrüstung – aber jetzt war wohl kaum der richtige Zeitpunkt, ihrem Vater das zu erklären. „Sag mir, was ich tun kann, um zu helfen“, sagte sie, „und ich werde es tun.“

„Du kannst helfen“, sagte Admiral Westfield, „indem du niemandem auch nur ein Wort davon verrätst. Je schneller du bei Miss Pimm in Sicherheit bist, desto besser. Übrigens, mein Liebes, ist diese Art von skandalösem Betragen genau das, was man an Bord eines Piratenschiffes erwarten würde.“ Er spuckte die Worte auf den Teppich. „Schrecklich, nicht wahr?“

In Wahrheit hatte Hilary alles eher aufregend gefunden, aber Admiral Westfield ließ ihr keine Zeit zu antworten. „Wenn du mich jetzt entschuldigen möchtest, ich muss ein paar meiner Männer zusammenrufen und sie auf die Spur dieser Gauner schicken.“ Er wandte sich wieder zu Hilary um. „Und gib mir um Himmels Willen dieses Schwert! Es ist gefährlich, und du wirst es im Internat sicher nicht brauchen.“

Er streckte die Hand nach dem Schwert aus, aber Hilary zog es weg. „Ich glaube, ich behalte es, wenn es dir nichts ausmacht, Vater“, sagte sie. „Ich habe gehört, die Mädchen in Miss Pimms Internat können ziemlich gemein sein.“

„Hilary, ich habe keine Zeit für diesen Unsinn. Schwert hin oder her, ich will nur, dass du morgen früh um zehn Uhr sicher im Zug ins Internat sitzt. Versprich mir das.“ Hilary versuchte, ernst dreinzuschauen. „Ja, Vater“, sagte sie. „Ich verspreche, ich werde in den Zug steigen.“

Admiral Westfield nickte und entließ Hilary aus seinem Studierzimmer. Wenigstens hatte er ihr nicht das Versprechen abgenommen, den ganzen Weg zum Internat im Zug zu bleiben, denn das hatte sie nicht vor.

 

Hilary eilte den Korridor entlang, an den Königen und Forschern und den ganzen anderen Buntglashelden vorbei, die für immer in den Fluren von Westfield House gefangen waren. Als sie endlich ihr Zimmer erreichte, knallte sie die Tür hinter sich zu.

„Also“, fragte der Wasserspeier, „hast du deinen Vater doch noch durchbohrt? Du kannst nicht sagen, dass ich dich nicht vor der Schweinerei gewarnt habe … He! Was hast du mit diesem Ding vor?“

„Ich nehme dich mit“, sagte Hilary, während sie mit der Schwertspitze auf die Steine um den Wasserspeier herum einhackte. „Ich bin mir sicher, Vater wird dich kein bisschen vermissen.“

„Was?“ Der Wasserspeier wand sich, und kleine Stücke von der Türöffnung fielen auf den Boden. „Bist du verrückt? Ich will nicht ins Internat! Du kannst mich nicht zwingen! Ich lerne kein Wasserballett, das ist mein letztes Wort!“

„Pst, keine Sorge. Wir gehen nicht ins Internat.“

Der Wasserspeier spitzte die Ohren. „Nicht?“

„Nein“, sagte Hilary. „Wir fahren zur See.“