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Ju Honisch

Bisse

17 ungewöhnliche Geschichten

hockebooks

Alte Freundschaft

»Ist dieser Platz noch frei?«, fragte der Mann, und Marion zuckte ein wenig zusammen. Der Stuhl war sehr offensichtlich noch frei. Drei der vier Stühle an ihrem Tisch waren noch frei. Sie saß ganz allein. Evelyn war nicht gekommen.

Wenn sie jetzt Nein sagte, würde er sie für zickig oder unhöflich halten. Das »After Hours« war gut besucht und ihr Tisch bot tatsächlich noch den meisten Platz. Marion hasste es, hier zu sitzen und zu warten, allein, den Blicken der anderen Gäste ausgeliefert. Evelyn hätte wirklich Bescheid geben können, wenn sie heute etwas anderes vorhatte. Sonst trafen sie sich immer donnerstags hier auf einen Tee, einen Wein oder einen kleinen Cocktail. Das Lokal war irgendetwas zwischen Bistro und Café und man konnte hier nett und gemütlich sitzen, an kleinen Tischchen, unbelästigt.

Weitgehend unbelästigt.

Sie musterte verstohlen den Mann, der immer noch abwartend vor ihr stand, und wurde rot. Sie konnte ihn nicht einfach da stehen lassen. Das war unhöflich. Irgendetwas musste sie ihm sagen. Und wenn Evelyn wirklich nicht kommen würde, dann gab es keinen logischen Grund, ihm den Sitzplatz zu verweigern. Jede Menge andere, aber keinen logischen.

»Bitte«, murmelte sie, machte eine undefinierbare Handbewegung und senkte ihren Blick, als könnte sie damit seine Existenz aus ihrem Bewusstsein streichen. Sie wäre lieber allein gewesen, hatte keine Lust auf Konversation mit Fremden. Das hatte sie nie. Sie war nicht gut darin, spontane Kontakte zu knüpfen, und sie wollte nicht, dass er dachte, sie säße hier, weil sie Anschluss suchte. Sie suchte keinen Anschluss.

Er setzte sich, stützte die Unterarme auf den Tisch und faltete die Hände in einer ordentlichen Bewegung, die in keiner Weise fromm wirkte, nur aufgeräumt, ruhig.

Sie fragte sich, ob ihre Hände ebenso gelassen wirkten, und ertappte sich dabei, wie sie nervös an ihrem linken Zeigefinger pulte. Mit beiden Händen umfasste sie nun die Tasse und blickte auf ihren Tee, wollte auf keinen Fall den Eindruck machen, als mustere sie ihn oder sei auch nur im Geringsten interessiert. Wildfremde Leute, die sie im Bistro anreden, hatten keinen Platz in ihrem Leben. Sie mochte keine Abenteuer.

Vielleicht war er ja ganz nett. Aber was machte er hier allein, wenn er ganz nett war? Wahrscheinlicher war es, dass er hier war, um jemanden »aufzureißen«. Am besten sagte sie ihm gleich, dass sie daran nicht interessiert war. Das würde ihr und ihm den Eiertanz um das Nichts herum ersparen.

Aber man konnte so etwas natürlich nicht sagen. Wie sagt man einem Wildfremden, dass man kein Interesse an ihm hat und dass er sich jedes weitere Wort sparen kann? Vielleicht wollte er ja gar nichts von ihr. Es war ja nicht so, dass sie eine Schönheit war, bei der die Männer Schlange standen. Das hatten sie nie getan, die Männer – Schlange gestanden. Und Marion war sich sicher, dass ihr das nichts ausmachte. Sie hatte zu viele schlechte Beziehungen gesehen, zu viele gebrochene Herzen. Ihres wollte sie nicht aufs Tablett legen. Es war einfacher, sich gar nicht erst Ärger zu machen. Es war sicherer.

Evelyn meinte allerdings, dass dreißig kein Alter war, um daheim allein zu versauern. Und Marion war erst neunundzwanzig. Evelyn war auch der Meinung, Marions Aussehen gebe genug her, um auf dem Markt der Eitelkeiten zu bestehen. Marion war da anderer Meinung, hätte Evelyn aber insgeheim gern geglaubt. »Wir sind schon so okay, wie wir sind«, sagte Evelyn immer. »Die Kerle sollen sich nicht so haben.« Wahrscheinlich wäre sie begeistert über den plötzlichen Gast am Tisch und würde enttäuscht sein, dass sie ihn verpasst hatte.

Marion hob kurz ihren Blick und senkte ihn sofort wieder. Er sah sie an. Er saß ihr gegenüber und blickte sie direkt an, als wartete er nur darauf, dass sie diesem Blick begegnete und ihm so Revierplatz freigab, für was immer er vorhatte.

Lieber nicht. Das konnte peinlich werden. Es konnte natürlich auch nett werden, aber konnte es so nett werden, dass es sich lohnte, die potenzielle Gefahr der Peinlichkeit zu riskieren?

So nett konnte es gar nicht werden.

Er sah gut aus. Der eine einzige Blick, den sie ihm gegönnt hatte, hatte es gezeigt, und sein Gesicht stand in einer ungewohnten Klarheit vor ihrem geistigen Auge. Seltsam. Normalerweise merkte sie sich Gesichter schlecht. Doch seins war wie gemalt, ein wenig außergewöhnlich, nicht in der Art und Weise wie männliche Models oder auch erfolgreiche Manager aussahen. Er war nicht besonders groß, hatte aber Präsenz, Auftreten, Ausstrahlung. Er saß nur da, ohne sich zu rühren, und doch dominierte er den Tisch. Es war auf einmal sein Tisch, nicht mehr ihrer.

Hellgraue Augen hatte er, schwarz umrandet von Wimpern. Dunkelbraune Haare von der Stirn zurückgekämmt, wellig, ein bisschen zu lang, eisgrau an den Schläfen. Die Augenbrauen sehr gerade, kein Grau hier. Der mangelnde Schwung der Brauen gab ihm etwas Ernstes und Strenges. Eine kleine Narbe auf der Stirn verlieh ihm zusätzlich etwas Markantes, so wie auch sein Profil, die fein gebogene Raubvogelnase. Sein Mund war schmal, aber nicht unsensibel. Sein Alter war undefinierbar. Grau konnte man auch schon jung sein. Aber er sah nicht so jung aus. Er sah auch nicht alt aus. Und er war auch kein gut erhaltener Mittvierziger. Das wäre zu einfach gewesen.

Sie wunderte sich mit einem Mal, dass sein Bild sich so genau vor ihrem inneren Auge manifestierte. Der kurze Blick, mit dem sie ihn gemustert hatte, war kaum dazu angetan, eine derart dezidierte Beschreibung zu ermöglichen. Beinahe sah sie hoch, um nachzuprüfen, ob er wirklich so aussah, oder ob sie ihn sich irgendwie ausgedacht hatte. In letzter Sekunde hielt sie sich von der Bewegung ab, wollte seinem tiefen, grauen Blick nicht erneut begegnen. Sie spürte diesen Blick auf sich. Seit er sich gesetzt hatte, hatte er noch nichts gesagt. Nicht einmal »Danke«. Das hätte er sagen sollen, es wäre höflich gewesen. Doch dann hätte sie nochmals »Bitte« sagen müssen. Das wäre schon fast eine Konversation. Also war es gut, dass er nichts gesagt hatte.

So ein Bistrotisch war rund und klein. Er schützte nicht vor dem Gegenüber, errichtete keine Barriere, kein unüberwindliches Hindernis. Ein größerer Tisch wäre ihr lieber gewesen.

Sie spürte, wie er seine Beine ausstreckte, und schlang ihre eigenen um die Stuhlbeine, um nicht in seinen Weg zu geraten. »Entschuldigung« würde er dann sagen müssen. Und sie »Bitte«. Oder er würde es nicht sagen, und sie müsste sich dann entscheiden, ob er sie absichtlich berührt hatte oder aus Versehen. Eine schwere Entscheidung. Und wahrscheinlich würde sie falsch sein.

Sie würde einfach gehen. Evelyn hatte sie versetzt, und es gab keinen Grund, länger zu bleiben. Sie nippte an ihrem Tee: zu heiß, um ihn auszutrinken. Aber was würde er denken, wenn sie jetzt aufstand und ging, während ihre Tasse noch voll war? Sicher würde er denken, dass sie seinetwegen ging. Das wollte sie nicht. Er hatte ihr ja nichts getan, war nicht einmal unhöflich gewesen. Er saß nur da.

Und blickte sie an. Sie konnte es deutlich spüren. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Er sollte sie nicht so ansehen. Er hatte keinerlei Recht dazu. Niemand hatte das.

Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, in einen enger werdenden Strudel von Emotionen gespült zu werden, hinabgezogen zu werden in die Tiefen ihrer brüchigen Gefühle, die sie so eifrig in Schranken hielt mit all den Maßnahmen, all den Tricks und Kniffen, die man ihr dazu beigebracht hatte.

Sie lauschte in sich hinein. Ihr Herz klopfte. Sie konnte es hören. Es schlug mit altbekannter, verlogener Vehemenz bis hinauf in ihren Hals. Es flatterte, kämpfte. Gleich würde ihr der Schweiß ausbrechen. Gott, wie peinlich. Wie erbärmlich.

Sie betete still immer dasselbe Wort vor sich hin. Psychosomatisch, psychosomatisch, psychosomatisch. Wenn er sie noch länger so ansah, würde ihr blödes, psychosomatisches Herz zerspringen. Sie schloss die Augen, stellte sich einen ruhigen Fluss vor, konzentrierte sich auf ihre Atmung. Sie hatte das im Griff. Sie hatte sich im Griff. Sie hatte gelernt, damit umzugehen. Es war kein Problem. Sie hatte kein Problem. Es gab überhaupt keinen Grund, ein Problem zu haben.

»Was darf ich Ihnen bringen?«

Die Stimme gehörte dem Kellner, und einen Moment lang hoffte sie, die Frage würde ihr gelten, nicht ihm. Wenn die Frage ihr galt, dann gab es die Hoffnung, dass der Gast an ihrem Tisch gar nicht da war, nur ein Produkt ihrer Einbildung.

Der Mann sah ein wenig überrascht aus. Er musterte den jungen Mann mit der großen, um die Hüften geschwungenen Tuchschürze neugierig, als habe er ihn nicht erwartet.

»Was habt ihr denn?«, entgegnete er mit dunkler Stimme.

Natürlich hatte sie ihn sich nicht eingebildet. Sie wollte auch gar nicht, dass er ein Fantasieprodukt wäre. Sie war nicht mehr fünfzehn. Sie bildete sich nicht mehr fiktive Freunde ein, oder wie in ihrem Fall, fiktive Feinde. Einen. Fiktiven. Feind. Damit war sie fertig. Das hatte sie im Griff.

Sie sah verstohlen zum Kellner. Ihn kannte sie. Er war donnerstags immer da, ein junger Mann mit wadenlanger Bistroschürze. Evelyn fand ihn knackig. Knackig oder nicht, er war ein Anker in der Realität. Marion kannte ihn. Sie hatte schon oft mit ihm gesprochen oder doch zumindest Tee bestellt oder ein anderes Getränk oder manchmal sogar einen Salat. Das machte ihn zu einem Verbündeten.

Der Verbündete deutete mit einer freundlichen Geste auf die schwarze Tafel in der Ecke, auf die im »After Hours« die Speisen- und Getränkekarte mit ebenmäßigen Buchstaben handgeschrieben war.

Der Gast an ihrem Tisch blinzelte ein wenig in dem Bemühen, die Liste zu entziffern. Seine langen, dunklen Wimpern rahmten die schmalen Augenschlitze ein. Eine steile Falte bildete sich zwischen seinen buschigen Augenbrauen, senkrecht nach oben. Vielleicht war er kurzsichtig?

Er wandte sich dem Kellner wieder zu.

»Habt ihr Wein? Ein wenig verdünnt?« Dann lächelte er für den Bruchteil einer Sekunde, seine Augen strahlten. »Bitte.«

Der Kellner nickte. »Eine Schorle?«, fragte der Kellner. »Rot oder weiß?«

Der Mann musterte ihn fasziniert.

»Einen Roten. Mit etwas Wasser.«

Nun blickte der Kellner verunsichert.

»Schon Mineralwasser, oder?«

»Ist das gutes Wasser?«

Einen Moment lang blickte der Kellner hilflos in die grauen Augen, dann hilfesuchend hinüber zu Marion und zurück zu seinem neuen Gast.

»Doch. Schon. Sie wissen schon. Ein gutes Wasser kommt aus einem tiefen Stein oder so.«

»So«, antwortete der Mann mit einem Lächeln. »So manches kommt aus einem tiefen Stein.« Er drehte seinen Kopf und blickte in Marions Augen. »Nicht wahr?«

Marion, die dem Gespräch zwischen Gast und Kellner mit mehr Interesse gefolgt war, als sie sich selbst eingestanden hatte, errötete und senkte wieder den Blick. Was für eine blöde Frage.

Doch auf blöde Fragen hatte der Gast kein Vorrecht. Der Kellner konnte das genauso gut.

»Kräftig oder lieblich?«, fragte er zurück.

Der Mann lächelte versonnen.

»Kräftig. Wein muss kräftig sein. Frauen lieblich.«

Er sah sie nicht an dabei, und doch war sie sich sicher, dass er den letzten Satz nur für sie gesagt hatte. War das ein Kompliment? Oder war es eine platte Anmache?

Egal. Sie wollte es nicht hören.

»Ich möchte dann auch zahlen, bitte«, sagte sie dem Kellner, gab sich Mühe, nur ihn anzusehen und nicht den Mann gegenüber. Zahlen. Gehen. Ganz schnell. Sie war nicht lieblich. Er hatte kein Recht, sie so zu bezeichnen.

»Gleich!«, antwortete der Kellner und verschwand in der Küche. Gleich konnte alles bedeuten. Aber es bedeutete nicht jetzt sofort, unverzüglich, in dieser Sekunde. Das sollte es bedeuten, tat es aber nicht. Kellner hatten eine andere Auffassung von gleich.

Lieblich. Vielleicht hatte er es anders gemeint. Vielleicht war der Kommentar ein Hinweis, dass er sie nicht näher kennenlernen wollte, weil er liebliche Frauen bevorzugte und sie nicht lieblich fand. Das wäre eine ziemliche Unverschämtheit, aber genauso wahrscheinlich wie alles andere.

Sie merkte, dass sie rot wurde, schalt sich ob ihrer Empfindlichkeit und wusste nicht einmal, über welche der Interpretationen sie ärgerlicher sein sollte.

Lieblich. Ein seltsamer Ausdruck. War sie lieblich? Ihre Haare waren rotblond, strohig und kraus, strawberry nannte es Evelyn. Sie war klein und dürr. Schlank und zierlich nannte es Evelyn. Ihre Augenbrauen und Wimpern waren hell. Um Gottes willen, benutz doch Wimperntusche, sagte Evelyn. Dafür ist sie doch da.

Sie machte doch alles. Sie trug schicke Sachen, tuschte ihre Wimpern, schmierte Make-up über die Sommersprossen, trainierte ihren schmächtigen Körper in einer Frauenmuckibude und ging einmal die Woche ins »After Hours«. Und ins Kino. Ganz normal.

Ganz normal.

Gar nichts fühlen. Das war am einfachsten. Einfach alles abstellen, dann konnten sich die wirbelnden Gedanken nicht überschlagen und das Gefühls-Chaos auslösen, das unweigerlich zu noch mehr Unsicherheit führen würde. Scheiß auf lieblich.

Der Mann beugte sich leicht zu ihr nach vorn.

»Erinnerst du dich nicht an mich? Wir kannten uns mal. Es ist lange her.«

Sie zuckte zusammen. Wieder stellten sich ihre Haare im Nacken hoch. Er war kein Teil ihrer Vergangenheit. Ihre Vergangenheit war wohlverstaut in einer Akte ihres Kinderpsychiaters. Und dieser Mann kam darin bestimmt nicht vor. Die Wesen, die darin vorkamen, existierten nicht, hatten nie existiert.

Sie wollte die Frage nicht beantworten. Es war nur eine Anmache. Nicht einmal eine gute. Steinalt. Kennen wir uns nicht, kleines Fräulein? Ihre Mutter hatte schon nicht mehr auf so etwas reagiert. Abgedroschen. Am besten sagte sie gar nichts und ging einfach. Vielleicht sollte sie den Kellner bitten, ein Taxi zu bestellen, sonst kam der Mann ihr eventuell noch hinterher.

Seine Worte hingen über dem Tisch, unbeantwortet. Sie beanspruchten ihren eigenen Raum. Seine Augen lasteten auf ihr. Sie spürte, wie ihr kalt und warm wurde, die Hände eisig, das Gesicht heiß.

»Ich kenne Sie nicht«, sagte sie, ohne aufzusehen. Mit einem Mal war sie überzeugt, dass sie ihm dies klarmachen müsste. Es war wichtig, für ihn und für sie. »Wir haben uns noch nie gesehen.«

Er beugte sich vor und, ohne ihren Blick zu heben, wusste sie doch, dass sein linker Mundwinkel zuckte, ein wenig abschätzig, ein wenig amüsiert und ein wenig nachsichtig.

»Zahlen!«, rief sie nochmals durch den Raum, zu laut, zu fordernd und dann noch einmal leiser: »Zahlen bitte!«

Wo blieb nur dieser Kellner? Durfte man gehen, wenn man dreimal »zahlen« gerufen hatte und keiner kam? Evelyn behauptete das.

»Du kannst mich nicht vergessen haben«, sagte der Mann, nicht ungläubig, nicht erbost. Er sagte es sachlich, so wie man jemanden freundlich korrigiert, der gerade einen Flüchtigkeitsfehler gemacht hat. Aber sie hatte keinen Fehler gemacht. Sie kannte ihn nicht. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen. Sie hatte seine Stimme nie zuvor vernommen. Es war eine tiefe, warme Stimme, sicher und entschieden.

Sie hatte ihn nie getroffen. Der Schatten, der ihre Seele durch ihre Jugend hindurch verfolgt hatte, war nichts als ein Wahn. Das war psychiatrisch festgestellt. Paranoia. Sie hatte das überwunden.

Sie war nicht mehr so.

»Sie irren sich«, stotterte sie und kramte in ihrer Handtasche nach Geld. Was kostete noch mal ein Tee? Sie sollte es wissen. Sie trank hier so oft Tee. Jeden Donnerstag. Tee mit Evelyn. Mittwochs Muckibude, und freitags. Samstags Kino. Montags fernsehen. Alles hatte seinen festen Platz in den Schubfächern einer klinisch reinen, aufgeräumten Psyche, die für alle anfallenden Ereignisse des Lebens ein Fach gefunden hat. Ängste waren auf die Töpfe verteilt. Und jeder Topf hatte ein Deckelchen. Auch dieser; man musste ihn nur fest genug draufdrücken.

Sie würde das Geld auf dem Tisch liegen lassen. Dann konnte der Kellner es einsammeln. Hoffentlich klaute keiner das Geld. Dann würde man denken, sie sei eine Zechprellerin. Das wäre zu peinlich. Wenn man das dachte, würde sie nie hierher zurückkommen.

Sie würde überhaupt nie hierher zurückkommen. Sie wollte dem Mann nicht wieder begegnen. Er war kein Teil ihrer Vergangenheit. Sie hatte ihn noch nie gesehen.

Die Münzen klingelten auf der harten Oberfläche.

Beinahe ließ sie ihre Handtasche stehen, griff mit letzter Mühe nach ihr, als sie aufsprang.

»Wiedersehen«, murmelte sie, wünschte das Wort hätte keine Bedeutung, eilte zum Ausgang. Der Kellner sah sie an, ein wenig verdutzt. Oder war es vorwurfsvoll?

»Geld«, sagte sie, »am Tisch …«

Das war ungrammatisch, aber Hauptsache, er verstand sie.

Taxi. Sie winkte. Es hielt. Schnell. Rein. Nicht umdrehen.

Doch umdrehen. War er hinter ihr?

Nein. Er hatte das Bistro nicht verlassen. Durch das erleuchtete Fenster konnte sie ihn noch sitzen sehen. Er sah ihr nicht nach, nippte an seiner Schorle. Dann fuhr das Taxi los. Sie blickte zurück. Niemand folgte ihr. Natürlich nicht. Was für ein blöder Gedanke.

Es war ihr, als atmete sie zum ersten Mal, seit der Mann in ihr Umfeld getreten war. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Sie wühlte umständlich in ihrer Handtasche. Wo waren die Tempos? Sie zog einen Pack hervor, riss ein Papiertuch raus, tupfte sich das Gesicht ab.

Dummheit. Es war gar nichts passiert. Sie hatte an einem Tisch gesessen, und jemand hatte sich dazugesetzt und eine dumme Anmache probiert. Das sollte einen nicht so fertigmachen. Das passierte sicher dauernd, okay, nicht ihr. Aber es war normal, sprich, im Rahmen der lästigen, jedoch notwendigen Norm, in der sie sich bewegte und in der zu bleiben ihr größtes Anliegen war. Er war nicht besonders aufdringlich gewesen. Er hatte nicht eklig ausgesehen. Er war ihr nicht zu nahe getreten.

Aber er war der Meinung, sie zu kennen. Es hatte so ernst geklungen, nicht wie ein Standardspruch eines fantasielosen Menschen. Seine grauen Augen hatten nichts Gieriges gehabt.

Doch sie kannte ihn nicht.

Aus den Tiefen ihrer Tasche holte sie ein kleines, selbst abgefülltes Fläschchen mit Wasser und quetschte eine Tablette aus der mit Gummiband daran befestigten Plastikumhüllung. Baldrian, das einzige Beruhigungsmittel, das sie sich zugestand. Früher waren es stärkere gewesen.

Aber jetzt war sie gesund. Und es war nichts passiert. Und sie würde Evelyn erzählen, dass sie einen Mann kennengelernt hatte, der graue Augen hatte und mit ihr gesprochen hatte. Und Evelyn würde sich in den Allerwertesten beißen, dass sie nicht gekommen war, und alles über ihn wissen wollen.

Das Taxi fuhr bedächtig durch die Nacht. Das Autoradio spielte leise türkische Musik. Ab und zu krachte der Taxifunk und eine undeutliche Stimme gab Zahlen und Straßenamen an.

Sie hätte die U-Bahn nehmen sollen. Taxi war teuer. Das kleine Einfamilienhaus, das sie von ihren Eltern geerbt hatte, stand ganz am Rande der Stadt. Es war ein winziges Anwesen, umringt von einem wuchernden Garten, in dem die unterschiedlichsten Gewächse ein eher zufälliges Zuhause gefunden hatten. Sogar zwei Birken und eine junge Eiche wuchsen hier. Marion hatte sich an Gartenarbeit gewöhnt, verrichtete sie mit der ergebenen Selbstverständlichkeit einer Klosterfrau und unterschied nur selten zwischen Kraut und Unkraut. Was immer kam, war willkommen. Die Unterscheidung zwischen nütz und unnütz schien ihr zu flüchtig.

»Fufzehn Euro seschzisch, bitte.« Der Taxifahrer war dunkel und bärtig, aber seine Stimme klang hessisch.

Fast fiel es ihr schwer, den Wagen zu verlassen. Er hatte so sicher gewirkt, ein faradayscher Käfig gegen die irrationalen Blitze der Außenwelt. Sie zahlte und stieg aus. Das Klappen der Autotür verklang einsam in dem verschlafenen Viertel.

Die Gartenpforte quietschte. Sie musste sie endlich ölen. Am Wochenende würde sie dies tun. Das Wochenende war dafür da. Der Mond tauchte den Garten in ein unwirkliches Licht und die hellen Birkenstämme schienen zurückstrahlen zu wollen. Marion kramte in ihrer Tasche. Wo war der Schlüssel? Ihr Hang zu großen Handtaschen machte das Suchen bisweilen ärgerlich und langwierig.

Da waren sie. Sie fischte den Schlüsselbund aus den Tiefen des Lederbeutels.

»Du musst dich doch erinnern«, sagte eine geduldige Stimme genau hinter ihr, fast an ihrem Ohr.

Mit einem Klirren fielen die Schlüssel auf den Steinweg vor der Haustür. Marion erstarrte. Er stand hinter ihr. Sie konnte seine Nähe spüren, seinen Atem in ihrem Nacken. Er war viel zu nah. Er hatte sie verfolgt. Wie hatte er das bewerkstelligt? Sie hatte die Pforte nicht hinter sich quietschen hören. Er musste schon vor ihr da gewesen sein.

Er hatte auf sie gewartet.

Schreien. Sie musste schreien. Wenn sie laut genug schrie, würden Nachbarn aus dem Schlaf gerissen, würden nachsehen, was da los war, und sei es nur aus Sensationssucht oder Ärger über die Störung. Schreien konnte nicht so furchtbar schwierig sein. Als Kind hatte sie dauernd geschrien.

Aber sie hatte gelernt, nicht mehr zu schreien, denn es gab keinen rationalen Grund dafür. Außer natürlich, man wurde von einem geheimnisvollen Irren erwartet, der einem auflauerte, um – was zu machen?

Er bückte sich und hob ihre Schlüssel auf, reichte sie ihr mit einem Lächeln. Es war ein geduldiges Lächeln, nicht schadenfroh, nicht zynisch, nicht gehässig.

»Hier. Bitte«, sagte er, nickte dabei mit dem Kopf, als mache er eine kleine Verbeugung. Sie nahm den Bund automatisch entgegen, unfähig adäquat zu reagieren. Was war adäquat?

Das Mondlicht beleuchtete ihn von einer Seite, seine grauen Schläfen glänzten. Er war größer als sie. Die meisten Männer waren das.

»Möchtest du uns nicht aufschließen? Wir haben zu reden.« Er klang so vernünftig, als wäre all dies ganz normal, als wäre dies einfach Teil ihrer Welt.

»Gehen Sie weg!«, murmelte sie. »Lassen Sie mich in Frieden! Ich habe Ihnen nichts getan.«

Seine linke Augenbraue zuckte.

»Das ist Ansichtssache.«

»Ich habe Sie noch nie in meinem Leben gesehen!«

»Auch das ist Ansichtssache.«

»Ich schreie!«, drohte sie.

»Warum?«, fragte er. »Ich tue dir nichts.«

Sie stieß den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um, öffnete die Tür. Einen Moment später war sie im Haus, warf die Tür hinter sich ins Schloss. Damit hatte er nicht gerechnet. Sie war schneller gewesen als er. Sie schob den Riegel vor, lehnte sich gegen die Tür, schaltete das Licht an, um die Schatten dunkler Furcht zu besiegen. Jetzt die Polizei anrufen.

Oder besser nicht? Was würden die tun? Was konnte sie ihnen sagen? Vielleicht ging er ja einfach.

Vielleicht würde er wiederkommen. Sie blickte durch den Türspion nach draußen, aber die Nacht gab keine Geheimnisse preis. Dunkelheit, sonst nichts. Sie drehte den Schlüssel von innen im Schloss, legte die Kette vor und den zweiten Sicherheitsriegel.

Telefon. Es war im Wohnzimmer.

Sie ließ ihre Handtasche neben der Tür fallen und lief den Gang entlang, bog in das Wohnzimmer ab, machte Licht an. Die meisten Möbel ihrer Eltern hatte sie ersetzt, Eiche rustikal getauscht gegen IKEA-Kiefer. Das Telefon war noch alt, grün, mit Wähldrehscheibe. Auch das wollte sie ersetzen. Demnächst, gemeinsam mit dem neuen Router, den sie bestellt hatte, würde auch das Telefon neu und schick werden. So oft, wie sie im Netz war, lohnte sich das. Das Netz war ein sicherer Ort, freundlich anonym. Man musste sich keinem direkten Kontakt stellen, man konnte sein, wer man wollte, man brauchte keinen echten Namen zu verwenden, und wildfremde Menschen verfolgten einen nicht bis nach Hause.

Sie hob den Hörer. Die Leitung war tot. Die Stille im Hörer war erschreckend laut.

Sie schluckte, spürte eine Ladung schweres Blei im Magen. Kein Anschluss. Das war schon öfter passiert. Es musste nichts bedeuten, nur dass am Anfang der Straße gebaut wurde. Vielleicht hatte man aus Versehen die Leitung gekappt.

Vielleicht hatte er die Leitung gekappt. Konnte er das von draußen? Vielleicht hatte er dies von langer Hand vorbereitet?

Wo war ihr Handy?

Wo war ihr Handy?

Sie wühlte hilflos in ihren Taschen. Es blieb verschwunden.

Sie konnte keine Hilfe holen, nicht per Telefon. Und nichts in der Welt würde sie dazu bringen, wieder in die Nacht hinauszulaufen, um bei den Nachbarn zu klopfen. Er wartete draußen auf sie. Er wartete darauf, dass sie einen Fehler machte.

Wenn das Telefon nicht ging, brauchte sie das Internet gar nicht zu versuchen. Was nun? Was tun?

Sie rannte in die Küche, überprüfte die Hintertür. Sie war abgeschlossen. Auch die Fenster waren alle zu. Das wusste sie. Sie ließ nie Fenster offen, wenn sie nicht da war.

Aber Fenster konnte man zerbrechen. Einbrecher kamen ins Haus, auch ohne dass man ihnen bequeme Wege ebnete. Vielleicht war er schon im Haus? Sie lauschte, wartete jede Sekunde auf das Brechen von Glas, das Klirren einer Scheibe. Schritte.

Nichts. Sie rannte die Treppe hoch, machte Licht, blickte in alle Räume, schaltete alle Lampen an. Leer. Das Haus war leer, so leer wie es immer war. Nur ihre eigenen Schritte vernahm sie, wie sie über die weichen Teppichböden lief. Nur ihr eigenes Atmen hörte sie.

Sie bildete sich alles nur ein.

Sie hatte sich schon so vieles eingebildet. Früher. Vielleicht gab es ihn gar nicht. Es war nicht wahrscheinlich, dass er sie vom »After Hours« verfolgt hatte. Es war nicht plausibel, dass er vor ihr hier gewesen war. Morgen würde sie einen Termin bei ihrem Psychiater vereinbaren. Ihn hatte sie jetzt schon lange nicht mehr gebraucht. Aber bisweilen half er ihr doch, eine Abweichung von der Wirklichkeit zu bekämpfen. Die Wirklichkeit war so ein empfindliches, kleines Ding. Man musste sie immer mit beiden Händen festhalten, sonst war sie einem – Schwups! – entglitten.

Ihr Therapeut war ein geduldiger und pflichtbewusster Mann. Und er hatte ihr die Angst vor dem Bedrohlichen genommen, die ihre Jugend im Griff gehabt hatte. Er hatte ihr gezeigt, dass es nichts zu fürchten gab als das, was alle anderen auch fürchteten, den Alltag, die Gedankenlosigkeit der Menschen, die Anforderungen des Lebens. Und all dies war zu meistern mit der gleichen Ansammlung von Maßnahmen, mit denen alle anderen Menschen ihre eigenen Unsicherheiten und Ängste auch meisterten.

Im oberen Stockwerk war niemand. Sie blickte aus den Fenstern in den dunklen Garten, aber im Haus war es hell, und ihre Augen konnten in der Sommernacht nichts erkennen.

Die Holztreppe knarrte, als sie wieder hinunterlief. Es war wahrscheinlich sinnlos, aber sie musste das Telefon noch einmal überprüfen. Vielleicht ging es ja jetzt. Vielleicht musste sie nur wählen. Sie lief zurück ins Wohnzimmer, griff erneut nach dem Hörer, warf ihn einen Moment später frustriert wieder auf die Gabel, einen weinerlich enttäuschten Schrei auf den Lippen.

»Du musst nicht weinen«, sagte er, und sie fuhr herum. Er hatte direkt hinter ihr gelauert, jetzt standen sie sich gegenüber, so nahe, dass sich ihre Fußspitzen fast berührten. Mit dem Rücken stieß sie an das Telefontischchen. Er blockierte ihren Weg. Sie konnte nicht an ihm vorbei, ohne ihn zu berühren, ohne ihn aus dem Weg zu stoßen. Sie würde es nie bis zur Eingangstür schaffen. Selbst wenn es ihr gelang, die Tür zu erreichen, würde er sie einholen, noch bevor sie die Tür aufgeschlossen und vollends entriegelt hatte.

So blieb sie stehen, regungslos, starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Sie spürte Tränen auf ihrem Gesicht.

»Du sagst, du erinnerst dich nicht an mich«, sagte er. »Vielleicht tust du das wirklich nicht. Es ist möglich. Doch du kennst mich, es ist nur schon lange her.«

Seine Hand berührte ihre Wange, ein Finger wischte eine Träne fort. Sie erschauerte bei seiner Berührung, obwohl diese sanft war und nicht brutal oder aggressiv. Doch er hatte sie nicht zu berühren, ebenso wenig wie er hier im Haus sein sollte. Sie überlegte sich, ob sie die Augen schließen sollte und sich konzentrieren. Ob er einfach weg sein würde, wenn sie die Augen wieder öffnete mit dem Willen, ihn nicht mehr zu sehen. Aber sie konnte die Augen nicht schließen, konnte nicht die Angst abschütteln. Und deshalb blieb er vor ihr stehen, unangezweifelt und mächtig, in unauffälliger, dunkler Kleidung, dunklen Turnschuhen, ohne Kopfbedeckung auf seinen dunklen Haaren.

»Du siehst genauso aus wie damals«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Zart und schön. Erinnerst du dich wenigstens daran, wie sehr ich dich geliebt habe? Daran solltest du dich noch erinnern.«

Als sie nicht antwortete, nahm er sie bei der Hand und zog sie zum Sofa.

»Setz dich«, sagte er. »Früher warst du nicht so ängstlich. Aber deine Angst spricht dafür, dass du sehr wohl weißt, wie außerordentlich hinterlistig du mich hintergangen hast. Ich hätte es wissen müssen. Aber ich bin auch nur ein … was immer ich bin, auch ich bin nur Untertan von Glaube, Liebe und Hoffnung. Ich habe dich geliebt, dir geglaubt und gehofft, gegen jedes bessere Wissen gehofft, dass du mich nicht verraten würdest. Doch du hast es natürlich getan. Natürlich hast du es getan. Sag mir, hat es dir viel Befriedigung gebracht? Bist du so mächtig geworden, wie du wolltest? So reich? So glücklich?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden!«, stieß sie hervor. »Bitte lassen Sie mich endlich in Ruhe!«

Er lächelte leise.

»In Ruhe? Ruhe kann schrecklich entnervend sein, wenn sie zu lange andauert. Ich hatte sehr viel Ruhe. Du hast sie mir verschafft. Absolute, einsame Ruhe. Und das hast du nicht getan, um mir etwas Gutes zu tun. Hätte ich dasselbe mit dir gemacht, du hättest die Ruhe nicht genossen.«

Sie spürte den Sitz des Sofas als unbeugsame Wirklichkeit unter sich, klammerte sich mit den Händen daran, als könnte sie die Realität damit festhalten. Während ihre Gedanken flogen und flohen, war sie außerstande, eine Entscheidung zu treffen, und so saß sie einfach nur da, unbeweglich, steif, zu Eis gefroren.

Er streichelte ihr sanft über die Hand.

»Hast du mir denn gar nichts zu sagen? Die Welt ist voller Worte und du findest nicht eins, um dich zu entschuldigen? Oder bereust du nichts? Das kann natürlich sein. Ich denke aber, dass du dich verändert hast. So wenig, wie du damals vor mir weggelaufen wärst, so wenig würdest du heute meinen Untergang planen. Oder irre ich mich?«

Sie blickte ihn nicht an, unfähig auch nur den Kopf zu drehen. Ihre Augen waren fixiert auf immer die gleiche Stelle des Teppichs, eines plektrumförmigen, dunkelblauen Läufers, auf den sie so stolz gewesen war, als sie ihn gekauft hatte, weil er anders war und weil er keine rechten Winkel hatte. Und weil er ihr das Gefühl vermittelt hatte, dass auch sie anders sein konnte, mit einer Welt zurechtkam, die mehr Facetten hatte als nur die wiederkehrenden neunzig Grad eines Käfigs.

»Liebes, du musst dich jetzt zusammennehmen. Ich kann mir gut vorstellen, dass mein Auftauchen dich verunsichert. Aber wenn ich dich töten wollte, wärst du jetzt schon tot. Und wenn ich dich schänden wollte, dann lägst du jetzt schon auf dem Rücken, und ich würde mir die Befriedigung von dir holen, die du mir so unendlich lange verweigert hast.«

Sie merkte, wie sie zu zittern begann.

»Bitte …«, flüsterte sie und konnte dann doch nicht weitersprechen.

»Ich will nur mit dir reden. Wir haben nicht viel Zeit dazu. Du musst eine Entscheidung fällen. Und es muss die richtige sein. Um deinet- und um meinetwillen muss es die richtige sein. Versuch dich zu erinnern!«

Seine warme Hand hielt ihre kalte. Es war eine schmale Hand und doch kräftig. Auf der Unterseite ihrer Seele regte sich ein Gefühl, das ihr neu war und doch vertraut. Für den Bruchteil eines Momentes glaubte sie, dass er ihre Hand schon einmal so gehalten hatte.

Aber das konnte nicht sein. Ihr Leben war nicht einfach gewesen, nicht geradlinig und normgetreu. Sie hatte mit fünfzehn nicht Händchen gehalten, mit siebzehn keine Erfahrungen auf dem Rücksitz eines Autos gemacht, mit achtzehn nicht den ersten Freund in die Wüste geschickt. Sie hatte keinerlei Erfahrungen mit Männern. Sie war eine alte Jungfer, so hätte man das früher genannt. Und so hätte man auch Evelyn bezeichnet, die so verbissen nach einem Mann in ihrem Leben suchte, unbedingt einen wollte, beinahe um jeden Preis.

Darin unterschieden sich Marion und Evelyn. Marion brauchte niemanden. Sie wollte niemanden, wenn er nicht der ideale Mann war, den sie sich manchmal vorstellte, und den gab es nicht. Sie hatte ihn nie getroffen, niemandem hinterhergeweint, keine Frau um ihren Partner je beneidet. Sie hatte gelernt, in sich selbst zu ruhen. Diese Fähigkeit hatte eines langwierigen und schmerzhaften Studiums bedurft und war so zerbrechlich in ihrer falschen Sicherheit, dass jeder Einfluss von außen nur stören konnte.

Abrupt stand sie auf. Er hielt immer noch ihre Hand, stand jetzt auch, stellte sich vor sie, nahm sie in die Arme. Sie konnte seine Hände auf ihrem Rücken spüren. Er zog sie zu sich heran, sanft, ohne Gewalt. Und sie stand wie eine steifgliedrige Puppe in seiner Umarmung, spürte seinen warmen Körper.

Eine Hand griff nach ihrem Kinn hob es an, gab ihr Gesicht seinem Blick frei.

»Wir müssen uns immer entscheiden, ohne alles zu wissen. Das ist unser Los. Wenn das nicht so wäre, wären wir wie die Götter. Aber so nah wir der Macht auch kommen, und du weißt, dass ich ihr immer sehr nah war, kennen wir doch nur einzelne Stücke der Unendlichkeit, und aus diesen und aus der Kraft unserer Seelen heraus müssen wir endlich entscheiden, was wir tun. Wir fällen eine Entscheidung wie wir einen Baum fällen. Wir suchen uns den richtigen aus und schlagen ihn dann um mit einer scharfen Axt. Und wenn er erst liegt, dann wächst er nicht wieder an. Als du dich damals gegen mich entschieden hast, hast du nicht gewusst, dass ich wiederkommen könnte. Vielleicht hast du wirklich geglaubt, ich würde sterben. Vielleicht war mein Überleben dir auch gänzlich gleichgültig. Und vielleicht hast du auch nicht an dein eigenes Überleben geglaubt. Letzteres wäre dann ein Fehler im Glauben gewesen, ein Frevel fast.«

Er zog sie enger an sich und sie sperrte sich gegen die intime Berührung, wusste nicht, wo sie ihre Hände lassen sollte, spürte irritiert, dass ihre Brüste ihn berührten.

»Ich könnte dir alles erklären, aber wie soll ich in der kurzen Zeit, die uns vergönnt ist, mein Leben und deines verständlich machen? Mein eines Leben und alle deine Leben. Das würde zu weit führen. Ich habe dir vertraut, als du mich verraten hast. Und Vertrauen ist es, das ich als Gegenleistung von dir fordere. Vertrauen in mich. Es gab eine Zeit, da hättest du es vielleicht gehabt. So wie ich Vertrauen in dich hatte.«

Sein Atem roch nach Pfefferminz. Das war irgendwie falsch. Es passte nicht zu ihm, doch sie wusste nicht, warum sie das dachte. Sie spürte eine Erinnerung aufsteigen. Regen. Und Rauch von offenem Feuer. Der Klang von Eisen auf Eisen. Und graue Augen, die sie eindringlich musterten. Eine eher zierliche Gestalt unter Männern, die alle größer und breiter waren. Und lauter. Und bewaffnet.

Sie stieß ihn zurück, riss sich los und stürmte aus dem Zimmer. Um die Ecke, die Treppe hoch. Nichts davon sah sie. Ihre Füße kannten den Weg auswendig, während ihr Geist damit beschäftigt war, die Tür zum Wahnsinn zuzuschlagen und zu verrammeln. Nichts blieb vom Geruch brennenden Reisigs übrig. Nichts von den vertrauten Bewegungen von Menschen, die sie nicht kannte und nie gesehen hatte.

Sie rannte in ihr Schlafzimmer, schloss die Tür hinter sich, versuchte, die Kommode zu verschieben. Doch das Möbelstück war zu schwer. Und sie stöhnte und weinte, als sie es zu bewegen versuchte.

»Du willst sicher nicht, dass ich dir dabei helfe«, sagte er, und sie fuhr herum. Er lag auf ihrem Bett, seitlich ausgestreckt, den Kopf in eine Hand gestützt. Es war nichts Erotisches in der Pose, nur die Ruhelage eines Mannes auf einer römischen Liege. Sie hatte ihn oft genug so gesehen.

Sie hatte ihn nie so gesehen.

»Komm her!«, befahl er, doch sie wich zurück an die Wand, krallte ihre Hände in die Tapete. Würde es etwas nützen, zum Fenster zu laufen, es zu öffnen und in die Nacht hinaus um Hilfe zu rufen? Wie schnell wäre er bei ihr? Wie rasch würde er sie zum Schweigen bringen? Und was würde er dann mit ihr machen?

Ihr Blick flog über ihn, suchte nach Anzeichen von sexueller Erregung, fand keine, fand nichts außer dem Gefühl unendlicher Peinlichkeit ob ihres forschenden Blickes.

»Hm«, sagte er, lächelte fein. »Was erwartest du nur von mir? Dass ich die Gesetze breche, die ich geholfen habe zu machen? Vielleicht könnte ich das. Gesetze ändern sich. Aber deshalb bin ich nicht hier. Ich bin hier wegen unserer Zukunft und unserer Liebe. Und die Zeit, die dir bleibt, um dich zu entscheiden, wird immer kürzer. Verlange ich denn so viel? Ich würde dir verzeihen, ohne Buße zu erwarten, wenn du nur um Verzeihung bätest. Ich will deine Reue, nicht meine Rache. Ich habe dich geliebt. Und ich liebe dich noch. Keine Liebe hat je so viele Jahre überdauert. Jahrzehnte. Jahrhunderte. Mehr sogar. Findest du nicht, dass das Anerkennung verdient?«

Es wäre ganz einfach. Sie musste nur zugeben, gefehlt zu haben. Sie musste sagen, dass es ihr leidtat. Doch sie kannte den Mann nicht und hatte ihn nie gesehen. Er lag in ihrem Schlafzimmer wie ein Herrscher. Er sprach mit einer Überlegenheit, die ihm nicht zustand. Er machte ihr das Revier ihrer Realität streitig. Er gehörte nicht hierher. Er gehörte weit weg, irgendwo in einen Kerker, den man abschließen, eine Höhle, die man zumauern konnte.

Wenn sie nur die Augen schließen und ihn ignorieren könnte. Dann wäre er weg. Dessen war sie sich sicher. Er war nicht real. Er konnte gar nicht real sein. Er war fleischgewordener Spiegel ihrer eigenen Ängste. Er war das Gefühl im Nacken, das sie durch ihre ganze Jugend verfolgt hatte. Er war der Schatten auf ihrer Seele, der sie von einem Therapeuten zum nächsten gejagt hatte.

»Sie sind nicht real«, sagte sie, hielt ihn fest mit ihrem Blick.

»Aber du siehst mich doch.«

»Ich brauche nur die Augen zuzumachen, dann sind Sie nicht mehr da.«

»Warum tust du das dann nicht?«

»Weil …«

Weil man ihm nie blind hatte trauen dürfen. Weil man ihn immer im Auge behalten musste, um zu sehen, was er als Nächstes tat. Weil sie nur sicher war, wenn sie ihre Ängste in dem tiefsten Kerker vergrub, den Schlüssel wegwarf und eine Schutzmauer aus rationalen Richtlinien gegen sie errichtete.

»Du kannst mir nicht vertrauen«, sagte er und hielt ihren Blick mit seinen schönen grauen Augen, »weil du dir selbst nie getraut hast. Dir nicht und auch keinem anderen. Du hast mich verraten aus keinem anderen Grund als dem, einem Verrat von mir zuvorzukommen. Aber Liebe ist anders. Und ich biete dir meine Liebe. Und mein Vertrauen. Und Hoffnung. Doch ich kann nicht für dich entscheiden. Ich habe dich lange gesucht. Vielleicht hast du meine Gegenwart schon vor Jahren gespürt. Vielleicht haben meine Gefühle dich geängstigt. Aber es hat dir früher nie an Mut gemangelt, zu keiner Zeit. Nur an Vertrauen. Komm zu mir. Die Zeit läuft aus.«

Er streckte seine Arme in einer Willkommensgeste nach ihr aus. Sie brauchte nur zu ihm gehen, in seine Umarmung sinken, vielleicht an seiner Schulter weinen. Er würde sie halten und lieben.

Sie blickte auf die wartenden Arme, stieß sich von der Wand ab, rannte am Bett vorbei zum Fenster, hielt nicht an, sondern sprang direkt durch die Scheibe. Während sie durch die Luft glitt und die Schwerkraft als einzigen Gott spürte, den sie anerkannte, wurde ihr klar, dass sie feige gewesen war. Sie hätte lügen sollen. Und betrügen. Hätte ihn in Sicherheit wiegen sollen und einen Plan schmieden, ihn loszuwerden. Ihn zu verraten war so einfach.

Sie schlug hart auf dem Boden auf und einen Moment lang verschlug es ihr den Atem. Die Welt drehte sich um sie. Sie versuchte sich zu konzentrieren und stellte fest, dass das glitzernde Funkeln um sie herum nicht der sommernächtliche Sternenhimmel war, sondern das Licht, das sich im Kristall der Höhle brach. An einer Seite war eine Lagerstatt aus alten Decken und Reisig errichtet. Eine kleine Harfe stand daneben. Ein Korb mit schrumpeligen Früchten, ein irdener Krug mit Wasser.

In den spiegelnden Rhomben des Steins war ein Name eingeritzt, wieder und wieder. Es war einst ihr Name gewesen: Sie nahm das Messer auf, das im Korb mit den Früchten steckte. Aus Gnade hatte sie es ihm damals gelassen, aber er hatte es nicht gegen sich benutzt. Sie setzte die Spitze gegen den Stein und begann seinen Namen in den harten Fels zu kratzen. Sie wusste ihn jetzt.

Neben der nächtlichen Menge, die sich um den Rettungswagen und die Beamten der Polizei scharte, stand ein Mann, der den Nachbarn nicht bekannt war und ihnen doch nicht unangenehm auffiel. Seine Vertrautheit siegte über das Wissen, dass er nicht hierher gehörte.

»Sie war immer schon seltsam«, sagte eine Frau in Morgenrock und Schlappen. »Aber wer hätte das gedacht?«

Der Mann nickte und seufzte. Dann wandte er sich ab und schritt gemächlich die Straße entlang. Merlin, denn das war sein Name, sah ein bisschen traurig aus.

Aber nur ein bisschen.

Wassermusik

»Ja, Mama«, sagte Heinz-Konrad. Und dann gleich noch mal: »Ja, Mama.«

Er merkte nicht, dass er es sagte. Hatte nicht gemerkt, dass er sprach. Seine Stimme formte das »Ja, Mama«, ohne dass sein Bewusstsein zustimmen musste. Das »Ja, Mama« hatte sich verselbstständigt, ein eigenes Dasein angefangen. Es lebte in ihm wie ein langjähriger Mieter, der seine Miete nicht zahlt. Die Worte schwangen in dem engen Frequenzbereich zwischen Tonlosigkeit und Resignation. Wachte er nachts auf von einem Geräusch, so formten seine Lippen »Ja, Mama«, bevor er noch ganz wach war.

Heinz-Konrads Hände führten ungeschickt den Schraubenzieher. Seine Gedanken waren auf seine Aufgabe konzentriert. Fahrrad reparieren. Das war wichtig. Er fuhr mit dem Rad täglich zur Arbeit und zurück. Im Sommer wie im Winter, den ganzen weiten Weg bis in die Stadt. Er brauchte das Rad, denn schließlich trug auch sein Gehalt mit zum Leben bei. Nur von der – zugegeben – üppigen Pension seiner Mutter zu leben, das hätte er nicht gewollt. Fahrrad reparieren musste man also, einigermaßen ungestört, wenn’s ging. Es war keine Vernachlässigung seiner Mutter, wenn er es tat. Er hatte einfach keine Wahl dabei, außer der, den ganzen Tag zu Hause zu bleiben. Eigentlich hätte sie das verstehen müssen.

Natürlich hatten sie ein Auto. Es war ein weißer Opel Kapitän, gut seine vierzig Jahre alt. Er stand in der Garage, abgedeckt mit einer Schmutz abweisenden Plane. Blank polierte Radkappen blitzten unterhalb der Plane hervor. Die Reifen waren sauber und schwarz, als hätte man sie eben vom Regal geholt.

Heinz-Konrad putzte und wachste das Auto regelmäßig. Mama hasste Schmutz. Nie würde sie sich in einem schmutzigen Wagen fahren lassen. Sie ließ sich jedoch nur noch selten ausfahren. Eigentlich nur zum Arzt und einmal im Monat zum Kränzchen ins Café Seltmann. Dort traf sie sich mit ihren Freundinnen. Die alten Damen saßen dann immer am gleichen Tisch, dem großen Schaufenster zugewandt. Worüber sie sprachen, wusste Heinz-Konrad nicht. Er wurde dann weggeschickt. Zwei Stunden dauerte das Kaffeetrinken zumeist. Die beiden Stunden gehörten ihm. Es konnte tun und lassen, was er wollte. Und er hatte sogar das Auto dabei.

Natürlich sollte er die Zeit nutzen, um Einkäufe zu erledigen. Aber er war schlau. In seinen einundvierzig Lebensjahren hatte er genug Erfahrung gesammelt, um zu wissen, was einzukaufen war. Das besorgte er dann immer in der Mittagspause vor dem Tag des Kränzchens. Er versteckte die Einkäufe im Kofferraum des Wagens. In den sah Mama niemals. Kofferraum, Motor oder Tank waren Dinge, die nur Männer etwas angingen. Eine Dame konnte ihre Existenz und auch ihre Bedürfnisse ignorieren. Mama wusste sehr genau, was eine Dame tat und was nicht. Und auch Heinz-Konrad wusste es genau. Sein Leben definierte sich weitgehend um den Begriff herum.

Nach dem Kränzchen, wenn er Mama nach Hause gefahren hatte, holte er die Einkäufe aus dem Kofferraum. Seine Mutter überprüfte zu Hause immer, ob er auch alles eingekauft hatte. Die Vorausplanung der Einkaufsliste war ihm längst zum Schachspiel geworden, zur herausfordernden Denkübung. Nichts vergessen, sonst musste er es noch während der zwei Stunden Freiheit holen.

Aber auch nicht zu viel kaufen. Das eine oder andere konnte man vielleicht noch erklären, aber Mama mochte es nicht, wenn er von ihrem akribischen Plan abwich, den sie in ordentlichem Sütterlin nach Sachgruppen geordnet auf ein DIN-A5-Ringblockblatt, unliniert, aufschrieb. Gott sei Dank wurde sie doch manchmal vergesslich, und da nun auf der penibel erstellten Einkaufsliste mitunter auch schon mal etwas Wichtiges fehlte, konnte er in zunehmendem Maße seine Eigenmächtigkeit rechtfertigen.

Natürlich durfte er es nicht übertreiben. Mama mochte es nicht, wenn er unnütz Geld ausgab, und über den Nutzen einer Sache bestimmte allein sie. Auch war dies einer gewissen Varianz unterworfen. Trüffelleberwurst mochte im einen Monat Luxus sein, im anderen notwendiges Grundnahrungsmittel für Menschen, die aus Kreisen mit gehobenen Ansprüchen stammten.

Diese Dinge im Voraus zu erahnen, hatte ihn für viele Nuancen menschlichen Verhaltens sensibel gemacht. Manchmal reichte es, sich intensiv mit der vorherrschenden Fernseh- oder Radiowerbung auseinanderzusetzen, um zu wissen, welches Produkt auf einmal im nächsten Monat schon immer für einen gepflegten Haushalt selbstverständlich war. Heinz-Konrad hatte gelernt, auf Zwischentöne zu hören.

»Heinzi!«, zog der scharfe Ruf durch die Wände, durch die geöffnete Tür zur Garage. Zweite Stufe des Tonfalls. Heinz-Konrad hatte den ersten Ruf mit schlechtem Gewissen ignoriert, etwas, das er so gut wie nie tat.

»Ja, Mama«, rief er und dann »Sofort, Mama«. Das passierte ihm nur noch selten. Er biss sich auf die Lippen, hörte die Antwort schon, bevor sie noch ausgesprochen war.

»Sofort heißt soo-forrt, Heinzi. Nicht in ein paar Stunden.«

Er war schon unterwegs, seine Füße trugen ihn, ohne seine Entscheidung abzuwarten, bereits dem Klang der unausweichlichen Stimme entgegen, als er an seine Hände dachte. Sie waren schmutzig. Fahrradreparaturen gingen eben nicht spurlos an einem vorüber. Er hatte sich extra eine Schüssel mit Wasser und Seife und ein Handtuch in der Garage zurechtgelegt, um nicht mit dreckigen Händen zu Mama zu müssen.

Zurückgehen? Nein. Sie war schon zu ungeduldig. Am besten erst einmal entschuldigen und dann Hände waschen gehen. Er atmete tief durch, formte die Worte, die er sagen wollte, in seinem Kopf. Sie waren nicht schwierig. Sie waren nicht umfangreich. Nur: Einen Moment noch, Mama, ich wasch mir gerade noch die Hände.

Er bog vom Flur ein ins Wohnzimmer. Am großen Fenster saß Mama in ihrem rosengemusterten Ohrensessel. Ihre Füße waren auf einem farbgleichen Polsterschemel abgelegt. Auf ihren Knien lag die Häkeldecke und darauf thronte vorwurfsvoll die Wärmflasche, gleich einem Beweisstück in einer Gerichtsverhandlung. Wahrscheinlich war sie kalt geworden. Heinz-Konrad holte Luft: »E…e…e…e…«

»Du liebe Zeit, Heinzi, wie siehst du aus. Hände wie ein Schornsteinfeger. Dass du dich nicht richtig pflegst, ist sicher ein Fehler von mir. Ja, es ist gewiss mein Fehler, offenbar habe ich dir die Grundwerte zivilisierten Zusammenlebens von gebildeten Menschen nicht eindringlich genug vermittelt. Ich mache mir große Vorwürfe. Dabei bin ich sicher, dass ich mir Mühe gegeben habe. Große Mühe. In der Tat war mein Leben immer mit großen Mühen verbunden, die ich natürlich gerne für dich auf mich genommen habe. Nun steh nicht so da wie die Katze, wenn es donnert. Und mach den Mund zu. Du siehst ja aus, als wärst du beschränkt. Also geh schon. Wasch dir die Hände. Gründlich. Nimm Seife. Und benütz deine Nagelbürste. Dafür ist sie da. Wir sind doch hier nicht bei ›Arbeiters‹! – Ich werde eben auf dich warten müssen. In der Kälte.«

Mama drehte sich ans Fenster und fröstelte deutlich trotz Häkeldecke. Heinz-Konrad suchte nach einer Entschuldigung mit einem einfachen Konsonanten am Anfang, fand wie immer keine und trottete eilig und mit rotem Kopf ins Badezimmer.

Es war nicht fair. Er war nicht schmutzig. Eigentlich nie. Nur eben, wenn er sein Fahrrad reparierte oder den Wagen säuberte. Dabei wurde jeder dreckig. Wenn Mama ihm den Kauf eines neuen Fahrrads erlauben würde, müsste er das alte nicht so oft reparieren. Wenn Mama nicht so gegen Autowaschanlagen wäre, müsste er auch das Auto nicht zu Hause selbst reinigen.

Sein Magen stieg wieder seinem Hals entgegen und drückte darauf, quetschte die Stimmbänder ab. Kein Wunder, dass er bisweilen schlecht sprach. Er konnte den physischen Druck des Organs deutlich spüren. Egal, was Dr. Zimmermann sagte. Er wusste es besser.

Mit seinem Ellenbogen öffnete er die Badezimmertür. Er ließ sie offen hinter sich. Mama mochte es nicht, wenn er sich im Bad einschloss. Sie fragte ihn dann immer, was er denn so lange dort trieb, und sah ihn strafend an. Deshalb ließ er, wenn er sich wusch, die Tür jedes Mal weit offen stehen. Natürlich auch, damit er sie hörte, wenn sie etwas benötigte.

Der Wasserhahn ließ sich mit zwei Fingern aufdrehen, aber er würde ihn anschließend putzen müssen, denn die schwarzen Fingerabdrücke waren doch ein wenig zu sehen. Er hielt die Hände unters Wasser.

Und entspannte.