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eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2013
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Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten.
Printausgabe: © Ariadne Verlag 2013

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
Erscheinungsdatum: 1.10.2013
ISBN 978-3-944818-15-3

Über das Buch
»Am 6. Mai wird von einem Friedhofsgärtner ein winziger Schädel ausgehoben. Die Polizei sucht tagelang und findet drei weitere Skelette. Ein Pressefoto zeigt in Lappen geschlagene Haufen halb unter Gebüsch. Das sind die Leichen. Auf einem anderen sehe ich ein langgestrecktes Reihenhaus mit Birken. Ein weiteres Foto zeigt ein verschrecktes kleines Kind. Das soll ich sein.«

 

Dies ist die Story einer mutmaßlichen Täterin, die ihre Unschuld beteuert, während sie im Knast sitzt. Camilla Feh ist eine normale junge Frau, kühl, zurückhaltend, klug, ein wenig konfliktscheu. Schreibend rekonstruiert sie ihr Leben und müht sich, Licht ins Dunkel zu bringen. Wir erfahren, dass Camillas Mutter bezichtigt wurde, vier ihrer Neugeborenen getötet zu haben. Kurz vor ihrer Verhaftung tauchte sie unter und wird seitdem per internationalem Haftbefehl gesucht. Camilla, ihr fünftes Kind, ist bei Pflegeeltern aufgewachsen. Sie hat in Tübingen Soziologie studiert, am Stuttgarter Zoo Wilhelma über Bonobo-Affen geforscht und dabei etwas beobachtet, was den Erkenntniskonsens in Frage stellte. Daraufhin entzog ihr Professor und Mentor ihr das Vertrauen. Beschämt und verunsichert brach Camilla das Studium ab, trennte sich von ihrem politisch aktiven Freund und vergrub sich, um ein stilles, unauffälliges Leben zu führen.

Doch dann, fünf Jahre später, holt ihre Vergangenheit Camilla ein: Im gut gesicherten Bonobo-Gehege der Wilhelma wird die zerfleischte Leiche ihres Exfreunds gefunden!

Eine übergriffige Journalistin, die Camilla verführt und sich ihr Vertrauen erschlichen hat, liefert sie prompt ans Messer und wer glaubt schon der gehemmten Tochter einer gesuchten Kindsmörderin, dass sie unschuldig ist?

Und wer ist verantwortlich für den Toten im Affenhaus? Hat Camilla den ihr zur Last gelegten Mord vielleicht doch begangen oder Anteil daran gehabt? Oder ist es der Schatten ihrer Vergangenheit, der den Ermittlern den Blick auf ihre Unschuld verstellt? Und Tag für Tag gärt in ihr der Hass auf ›die Hyäne‹, die ihr Vertrauen missbraucht und sie in diese Lage gebracht hat …

 

Christine Lehmanns neuer Roman erzählt von Affen und Menschen, von Verbrecherinnen und ihren Motiven sowie von Gefängnissen aller Art.

 

Über die Autorin
Christine Lehmann lebt in Stuttgart und Wangen (Allgäu), ist als Nachrichten- und Aktuellredakteurin beim SWR tätig und schreibt Romane, Kurzkrimis, Kriminalhörspiele (Radio Tatort) und Glossen.

Stürmischer Nachhall im Kopf

Ein Vorwort von Else Laudan

Christine Lehmann ganz anders: Dies ist kein Lisa-Nerz-Abenteuer, wo die schlagfertige Heldin den Bürokratenschurken und Strippenziehern kräftig einheizt und mit den Vorurteilen in unser aller Köpfen Domino spielt. Es ist vielmehr die Story einer mutmaßlichen Täterin, die ihre Unschuld beteuert, während sie im Knast sitzt. Camilla Feh ist eine normale junge Frau, kühl, zurückhaltend, klug, ein wenig konfliktscheu. Eine vorsichtige, aber nicht besonders argwöhnische moderne Bürgerin. »Bisher habe ich mich sicher gefühlt in meinem Staat«, sagt sie zu der Vollzugsbeamtin, die sie filzt. Und dann beginnt die Einförmigkeit der Haft. Woran hält man sich fest, wenn die bürgerlichen Gewissheiten bröckeln?

 

Im Wechselspiel aus Erinnerungsarbeit und Gefängnistagebuch erscheint der Weg einer Frau, die mit Legenden und Vorurteilen ringt: Als Forscherin beobachtet Camilla im Zoo die im Matriarchat lebenden Bonobos. Sie sucht den Mythos von der Wirklichkeit zu trennen, stößt jedoch auf Widerstand – und weicht dem Konflikt aus. Als Gefangene in U-Haft kann sie nicht ausweichen. Eingesperrt wie die Menschenaffen, die sie aus sicherem Abstand studiert hat, bleibt ihr nur das Schreiben. Beharrlich seziert sie ihre Vergangenheit auf der Suche nach einem Puzzleteil, das ihre Entlastung zur Folge haben könnte. Camillas Haftbuch und ihre Erzählung der Vorgeschichte enthüllen nach und nach die Geschehnisse und gewähren Einblicke in diverse Arten von Gefangenschaft, in Sozialstrukturen von Affen und Menschen und in patriarchale Mythen über Mutter Natur.

Wie ein anderer schreibender Häftling einst notierte: »Viele Handlungen, die unserem Bewußtsein widernatürlich erscheinen, sind für andere natürlich, weil die Tiere sie vollziehen, und sind nicht die Tiere die ›natürlichsten Wesen der Welt‹? (…) Indes sind auch diese Behauptungen über die Tiere nicht immer zutreffend, weil die Beobachtungen an Tieren gemacht sind, die vom Menschen zu einer Lebensform gezwungen sind, die für sie nicht natürlich ist. (…) Das Wesen {natura} des Menschen ist das ­Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, das ein historisch definiertes Bewußtsein bestimmt, und dieses Bewußtsein zeigt an, was ›natürlich‹ ist oder nicht.« (Gramsci: Gefängnishefte, H. 8, §151).

 

Mit »Die Affen von Cannstatt« hat Christine Lehmann erneut überrascht: ein nüchterner und doch stürmischer Kriminalroman mit mehrfachem Nachhall im Kopf.

Notiz von Lisa Nerz

Camilla hat über ein Jahr an den Knast verloren. Das ist meine Schuld. Aber wer weiß, wozu es gut ist, pflegt meine Mutter mit dem Zynismus der unerschütterlichen Katholikin zu sagen. Wen Gott liebt, den züchtigt er. So tief bin ich gesunken, dass ich geneigt bin, meiner Mutter recht zu geben, bloß um mich selbst zu entlasten. Denn Camilla verzeiht mir nichts, die undankbare Krott. Sie hat vielleicht ein Jahr verloren, aber alles gewonnen. Ich habe ihr Mutterproblem gelöst. Ich habe ihr Freiheit verschafft. Ihr Dank klang dennoch verkniffen. Es war meine Pflicht und Schuldigkeit, das Mindeste, was ich tun konnte.

Aber ich verzeihe dir auch nicht, liebe Camilla. Du hast mir doch praktisch keine andere Wahl gelassen. Auch wenn ich mit dieser Behauptung in deinen Ohren wie deine Haftgenossinnen klinge, die die Verantwortung für ihre Taten ihren Opfern zuschanzen. Blendest mich mit Pfefferspray. Ja geht’s noch. Gibst die feine Teetrinkerin. Und da soll ich mich nicht fragen, welche Tränke zu brauen du imstande bist, wenn jemand deine Kreise stört? Nein, Camilla, fair warst du nicht. Du wusstest doch, dass ich dein Bett und deine Wohnung in der Gewissheit verlasse, Till Deutschbeins Mörderin gefunden zu haben. Du füllst mich mit Tee ab, erzählst mir von deiner Mutter der Kindsmörderin und verführst mich anschließend. Wozu denn, wenn nicht, weil du hofftest, die Liebe werde mich zur Närrin machen? Und später könntest du mich irgendwie loswerden. So wie den Professor und deinen Exfreund. Aber du hast dich verrechnet, mein Herz. Ich bin doch noch ein gutes Stück abgebrühter als du. Ich habe dich sofort an die Staatsanwaltschaft verraten.

Okay, ich lag falsch. Ich hatte mich geirrt. Die dumme Hyäne mit ihrem Jagdinstinkt. Erbärmlich noch dazu in meiner Scheißangst, ich könnte dich nicht wieder rausholen aus Gotteszell, ohne den Laden zu sprengen. Nee, stimmt schon, eine Heldin war ich nicht. Dafür hast du die Chance bekommen, dich zum tapferen Opfer meiner Umtriebe zu stilisieren. Glückwunsch, meine Liebe.

Du hast dich also entschlossen, deine Haftbücher in Auszügen zu veröffentlichen. Okay. Du brauchst Geld. Und was der Staat den Opfern seiner Justizirrtümer gewährt, ist ein Witz. Du hast Job und Wohnung verloren, du willst dir ein Zweitstudium finanzieren. Aber ich fürchte, du überschätzt die Reichtümer, die einem ein Buch beschert. Wer will denn so was lesen? Na gut, vielleicht hast du sogar einmal Glück. Aber diesen Ruhm willst du nicht. Sie werden dich eine Weile durch die Talkshows reichen als Tochter einer Kindsmörderin, die unschuldig im Gefängnis gesessen hat. Und wenn das langweilig geworden ist, machen sie kurzen Prozess mit dir. Einen gibt es immer, der Zweifel sät an deiner Geschichte, die du in die Öffentlichkeit trägst. Deinen Freispruch aus erwiesener Unschuld machst du zunichte, wenn du daraus öffentlich Kapital schlägst. Das ziemt sich nicht für ein Opfer. Später wird es heißen: Sie hat uns alle an der Nase herumgeführt, hat die Taten vermutlich doch begangen, der Engel mit den Eisaugen. Hättest du mich mal gefragt … ich habe Geld. Ich wäre zur Entschädigungszahlung bereit gewesen.

Aber das mit uns beiden hat nicht sollen sein. Du hast keinen Zweifel daran gelassen, dass du mit mir nichts mehr zu tun haben willst. Doch ohne das Unrecht, das ich dir getan habe, wärst du nicht als freie Frau aus deinem düsteren Cannstatter Pelzladen herausgekommen. Du wärst heute noch die stille Camilla mit dem Faible für grünen Tee, die Schöne, die sich schämt. Dein Dank war höflich, als wir uns zum letzten Mal nach dem Haftprüfungstermin sahen. Du standst zwischen Richard und Meisner. Einen Moment lang wirktest du, als wolltest du dich zurückfallen lassen in die Unsichtbarkeit von früher, aus der ich dich herausgeholt habe. Doch dann hast du dich entschieden, herauszutreten in die Welt. Als Siegerin. Und mein seien Schuld und Scham. Das ist die Rolle, die du mir mit strengem Blick aus blauen Augen zugewiesen hast. Ja, von Scham verstehst du was. Auch davon, wie man ihn in andere einpflanzt. Meine Verteidigung wird immer vergeblich sein. Vor allem vor mir selbst.

Deine Gefühle gehören jetzt Yvonne. Du wirst sie nicht vergessen im Knast, du wirst ihr schreiben, sie besuchen, ihr in ein paar Jahren bei der Rückkehr in die Freiheit helfen. Da bin ich mir deiner sicher, meine Schöne. Viel Glück euch beiden.

 

Bleibt mir nachzutragen, dass die Umstände von Till Deutschbeins Tod nur ungefähr geklärt worden sind. Denn Camillas Haftbuch endet ohne Auflösung. Das Verbrechen an sich interessiert sie nicht. Camilla hat sich damit nur so lange auseinandergesetzt, wie man sie selbst damit in Zusammenhang gebracht hat.

Die Polizei hat an der polnischen Grenze tatsächlich eine Tierfarm ausgehoben, auf der neben Ziegen, Ponys, Hunden und Katzen auch einige Halbaffen unter zweifelhaften Bedingungen gehalten wurden. Der Besitzer wirkte wie erlöst. Er hatte den Prozess gegen Camilla in den Medien verfolgt und sich gequält, nachdem sie verurteilt worden war, unfähig, zur Polizei zu gehen und die Verantwortung zu übernehmen. Der Mensch hängt halt an seinem Suchtgefängnis. Als die Polizei kam, hat er klugerweise sofort eingeräumt, was offensichtlich war. Er wollte einen Bonobo besitzen, weil er gehört hatte, sie würden ständig Sex machen. An die Ereignisse im Menschenaffenhaus der Wilhelma wollte er sich dann aber nicht mehr so genau erinnern können. Er redete sich auf Schock hinaus. Mit so viel Geschrei und Aggressionen hatte er nicht gerechnet. Die Entführung eines Affen sei ihm viel harmloser dargestellt worden. Den Namen des Mannes, der ihn eingeschleust hatte, habe er erst aus dem Prozess erfahren. Er habe ihn nur unter Tibone gekannt. Der habe das Kommando geführt. Es sei so geplant gewesen, dass Tibone in den Nachtkäfig geht und er, der Affenerlöser, die Tür zumacht und davor mit dem Pfefferspray steht und eingreift, falls etwas aus dem Ruder läuft. Das habe er auch getan, als die Tiere über Tibone herfielen. Es sei alles sehr schnell gegangen, Tibone habe gleich am Boden gelegen und sich nicht mehr gerührt. Er habe ihn ja retten wollen, behauptete der Affenerlöser, aber es seien ihm gleich zwei Affen entwischt, als er die Tür öffnete. Er habe gefürchtet, sie würden auch über ihn herfallen, machte die Tür wieder zu und flüchtete. Er habe keine Erinnerung mehr daran, wie er aus dem Affenhaus hinausgekommen sei. Dann sei er durch den nächtlichen Zoo geirrt, ohne den Ausgang zu finden. Schließlich wartete er hinter einem Bauzaun, bis es hell wurde und der Zoo öffnete. Seine Version wird man nicht widerlegen können. Man wird ihn in dieser Sache nur wegen unterlassener Hilfeleistung anklagen. Immerhin könnte Till noch leben, hätte er sofort die Polizei und mit ihr den Notarzt gerufen. Er habe unter Schock gestanden, erklärte er. Dass Camilla der Prozess gemacht wurde, habe ihn schon sehr belastet. Aber was hätte er denn machen sollen? Er hatte Angst davor, seinen Namen in der Presse zu lesen, wollte seine kleine Farm für extravagante Sexspiele nicht gefährden. Wollte behalten, was er sich zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse aufgebaut hatte. Dafür hat er nun den Tod eines anderen in Kauf genommen. Und fühlt sich nicht mal schuldig. Dieser Till Deutschbein, der habe es doch provoziert, behauptete er. Der habe doch gewusst, was er tat. Der habe das so gewollt. Der sei wirklich pervers gewesen. Davon sei er überzeugt, aber beweisen könne er es nicht. Nichts wird mehr bewiesen in diesem Fall. Und Schluss.

 

Übrigens war es tatsächlich Frau Dr. Seitz, die das Buch von Le Bon zusammen mit zwei Kisten anderer Bücher aus Tills Büro ins Antiquariat brachte. Als Schwabenreporterin Lisa Nerz habe ich mir bei ihr einen Termin geben lassen und sie gefragt. Wir saßen in seinem ehemaligen Büro mit dem Blick über Cannstatt hinweg bis zu den Anhöhen vom Frauenkopf und auf die gewaltige Anlage des Kraftwerks Münster. Sie hat es sich neu einrichten lassen. Tills Eltern hatten die Bücher nicht haben wollen und in die Altpapiertonne wollte sie sie nicht werfen. »Ich gehöre zu der Generation, für die Bücher noch einen Wert haben. Und wenn ich Frau Feh auf die Weise noch etwas nützen konnte, umso besser.« Sie lachte verlegen. Auch eine, bei der die schöne kühle Camilla Unbehagen hinterlassen hat. Dr. Seitz knabbert an ihrer falschen Zeugenaussage vor Gericht, für die sie keine andere Erklärung findet als Missgunst und Lust an der Vernichtung einer schönen Blondine. »Ich war mir so sicher, dass ich sie gesehen hatte.« Ihr Chefinnenblick forderte mich auf, ihr zu bestätigen, dass man sich ja mal irren kann. »Irren ist menschlich.«

»Vielleicht sollten Sie Affe werden«, antwortete ich. »Dann müssten Sie sich jetzt nicht vorwerfen, sie hätten Camilla Feh für eine Mörderin gehalten und dazu beitragen wollen, dass sie verurteilt wird.«

»Ich habe wirklich gedacht, sie gesehen zu haben. Das müssen Sie mir glauben.«

»Sehen Sie, darum wären Sie als Affe besser dran. Menschen glauben alles, was sie selbst denken. Und nichts, was ein anderer sagt. Damit müssen Sie jetzt leben.«

Sie verabschiedete mich an der Tür kühl und froh, dass ich nicht zu ihren Mitarbeiterinnen – oder besser Untergebenen – gehöre, die sie mit Machtinstrumenten zurechtstutzen muss, damit sie unangefochten bleibt. Vermutlich sieht sie meiner Nasenspitze an, dass ich beim Chef-Spiel nicht mitmache.

Gegen Tote wird nicht ermittelt. Aber die Polizei hat zu den Akten genommen, dass ein Buch, das Schmaleisen am Todestag gekauft hatte, im Besitz von Till Deutschbein wieder aufgetaucht ist. Ob Till nachgeholfen hat oder Schmaleisens Tod ein Unglück war, bleibt offen. Wie so vieles. Und wen interessiert’s eigentlich noch wirklich?

 

Gegen den Geschäftsführer von Peofis laufen inzwischen Ermittlungen wegen Untreue und Steuerhinterziehung. Richard will darüber nichts sagen. Aber die Daten, die Till nach Australien verbracht hat, waren wohl ziemlich aufschlussreich. Seltsam, dass Till sie hatte. Und wozu wollte er sie wohl verwenden? Auch das wird offen bleiben. Ich glaube ja, die Daten stammten ursprünglich von Arne, diesem Kauz, der im Zentralrechner von Peofis mehr zu Hause ist als in den lustig gestalteten Büroräumen. Aber das ist nur so eine Vermutung. Und damit sollte ich wohl etwas vorsichtiger sein.

Camilla studiert inzwischen Jura in Tübingen. Richard hat ab und zu noch Kontakt zu ihr. Sie verzeiht Männern offenbar leichter als Frauen. Eigenartig. Nein, eigentlich typisch Frau. Ich bin sicher, die gute Camilla wird letztlich alle veganen und feministischen Irritationen ihres Weltbilds von sich abperlen lassen und eine exzellente Karrierejuristin werden, die die Spielregeln perfekt beherrscht.

Aber vielleicht irre ich mich erneut in ihr. Denn ich grolle ihr noch immer. Hätte sie die Polizei bei der ersten Befragung nur nicht hinters Licht geführt, hätte sie mich nicht mit dem Pfefferspray traktiert, hätte sie sich nur nicht so verschlossen und geheimnisvoll verhalten. Hätte sie mich nicht verrückt gemacht mit ihrer schwäbischen Schönheit. Und wäre ich nur nicht so darauf erpicht gewesen, besser zu sein als die Polizei, den Fall zu lösen, bevor irgendjemand etwas ahnt, weil es Spaß macht, weil ich nichts anderes kann als das mit meinen Methoden, unorthodox, übermütig, riskant und illegal. Leider auch anfällig für Irrtümer.

Camilla meint, ich würde Detektiv spielen, weil in mir Leere herrscht, und die anderen müssten die Konsequenzen tragen. Ich habe bisher gedacht, dass ich es gut mache. Wenigstens das. Aber es ist offenbar nicht so. Vielleicht sollte ich es künftig besser sein lassen.

Danksagung

Mein besonderer Dank gilt Rechtsanwalt Frank Theumer, der mir geduldig auf alle juristischen Fragen – die mir eingefallen und solche, die mir selbst gar nicht eingefallen sind – Antwort gegeben hat. Ohne ihn wäre ich in etlichen Punkten auf meine bloße Vorstellungskraft angewiesen gewesen, und die hätte mich zuweilen total in die Irre geführt. Für alle Verfahrens- und Strafprozessordnungsfehler, die dieses Buch dennoch enthalten mag, ist nicht er, sondern bin ich allein verantwortlich, weil ich mich wie so mancher Delinquent dann doch nicht immer an die Ratschläge meines Rechtsbeistands gehalten habe.

Ich danke außerdem den vielen mehr oder minder anonymen Hafterfahrenen, die freimütig im Internet berichtet haben, beispielsweise im Knast.net. Über Gotteszell gibt es jedoch nur wenige Insiderberichte, was auch daran liegt, dass Frauen unter den Häftlingen nur fünf Prozent ausmachen.

Es geht in diesem Roman nicht darum, die Verhältnisse in der JVA Schwäbisch Gmünd darzustellen, sondern nur darum, das Leben in U-Haft realistisch erscheinen zu lassen. Deshalb möge keiner die Schilderungen auf dieses Frauengefängnis beziehen. Ich bedanke mich aber auch bei der JVA Schwäbisch Gmünd und ihrer Leitung, die nach anfänglicher Skepsis einer Abteilungsbeamtin die Erlaubnis erteilt hat, mir ein paar Fragen zu beantworten, damit Camillas Aufenthaltsort Farbe bekommt.

Außerdem bin ich der Wilhelma für die Bereitschaft dankbar, mir sehr rasch den Zugang zu Informationen zu erleichtern. Ich danke Karin Herczog von der Öffentlichkeitsarbeit, die sich um Termine bemüht hat, und der Pflegerin Lesley Kirchner, die mir Fotos von den Nachtgehegen geschickt und freudig meine Fragen zur Arbeitsorganisation der Pfleger und den Eigenheiten der Stuttgarter Bonobogruppe im alten Menschenaffenhaus beantwortet hat. Wobei Camillas Bonobos völlig andere sind als die, die in der Wilhelma leben. Und im neuen geräumigen Menschenaffenhaus ist noch einmal vieles anders geworden. So wie beschrieben kommt man da nicht mehr hinein.

Christine Lehmann, Stuttgart, Juli 2013

cover

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Christine Lehmann

Christine Lehmann

 

Die Affen von Cannstatt

 

Roman

Mit einem Vorwort von Else Laudan

 

CulturBooks Verlag
www.culturbooks.de

Haftbuch, 29. Januar

 

Den Computer verdanke ich wahrscheinlich der Intervention von Oberstaatsanwalt Dr. Weber. Er scheint mir ein rechtschaffener Mensch zu sein, obwohl ausgerechnet seine Freundin, diese Hyäne, dafür verantwortlich ist, dass ich seit Dezember hier in U-Haft sitze, in der JVA Schwäbisch Gmünd, auch Gotteszell genannt.

Verteidigung Camilla Feh

Ich bin die Tochter einer Kindsmörderin. Seit meiner Schulzeit höre ich Geflüster hinter mir. Oder bilde es mir ein. Das abartige Verbrechen meiner Mutter ist Teil meiner Identität, obwohl ich mich an sie nicht erinnere. Sie ist aus meinem Leben verschwunden, ehe ich sie bewusst wahrnehmen konnte. Nicht einmal an den Moment ihres Verschwindens erinnere ich mich. Ich weiß, dass ich mit drei zu meiner Pflegefamilie kam. Mit den Jahren reifte die Erkenntnis, dass ich nicht die leibliche Tochter meiner Eltern bin. Man hat es mir nicht eines schönen Tages eröffnet. Ich wusste es immer. Denn da ist eine Person, die ständig neben oder hinter mir steht, wenn Erwachsene sich für mich, die süße Kleine, interessieren und meine Eltern mich als ihr Pflegekind vorstellen. Es ist ein Beiwort, dessen Sinn sich allmählich in mir verzweigt. Begleitet von einem Geraune hinter meinem Rücken, mit dem die Erwachsenen sich über den Grund meiner Existenz verständigen. Ich weiß, dass es der Schulrektor wusste. Mein Pflegevater hat es ihm mitgeteilt, um Auffälligkeiten zu erklären, die ich vielleicht an den Tag legen würde: störrisches Verhalten, Lernschwächen, Empfindlichkeiten, meine übergroße Stillheit.

Ich kann auch keinen Moment benennen, in dem mir eröffnet worden oder schlagartig bewusst geworden wäre, dass ich die Tochter der Kindsmörderin Josefine Tanner bin, von der man in der Zeitung lesen konnte, dass sie in den achtziger Jahren vier Neugeborene getötet und in der Kleingartenanlage Muckensturm an der Grenze zum Hauptfriedhof Cannstatt vergraben hat. Am 6. Mai 1991 wird dort von einem Friedhofsgärtner ein winziger Schädel ausgehoben. Die Polizei sucht tagelang und findet drei weitere Skelette.

Als ich vierzehn bin, drehe ich mich zu meinem Schatten um, will wissen, wer meine Mutter ist und was sie getan hat. »Sie hat schlimme Dinge getan, aber wir haben dich trotzdem lieb«, sagt meine Pflegemutter. Sie kann darüber nicht reden. Auch mein Pflegevater gerät in Stress. Er trägt einen Ordner mit Zeitungsartikeln, staatsanwaltschaftlichen Mitteilungen und Polizeiakten herbei. Wir setzen uns damit an den Esstisch. Er schwitzt, als müsse er sich persönlich vor mir rechtfertigen, er setzt sich die Brille auf und wieder ab. Es ist mir unangenehm zu sehen, wie aufgeregt er ist und wie sehr sich der Schuld bewusst – wenn auch nicht seiner. Ich will die Not für ihn und mich verkürzen, frage nur wenig, beeile mich, alles zu erfassen. Ein Pressefoto zeigt Polizisten und in Lappen geschlagene Haufen halb unter Gebüsch. Das sind die Leichen. Auf einem anderen sehe ich ein langgestrecktes Reihenhaus mit Birken, das sich laut Bildunterschrift in der Zuckerbergstraße befindet. Ein weiteres Foto zeigt ein verschrecktes kleines Kind. Das soll ich sein.

Vermutlich wäre die Polizei der Kindsmörderin nie auf die Spur gekommen, erzählt mein Pflegevater, hätten nicht besorgte Nachbarn einige Tage nach dem Zeitungsbericht über den schrecklichen Fund die Behörden alarmiert, weil in einer der Wohnungen in der Zuckerbergstraße ein Kind weinte und niemand öffnete. Ein Foto zeigt den Hausflur einer ärmlichen Wohnung, an die ich mich nicht erinnere. Kein Teppich auf dem Linoleum, eine alte Kommode, eine halbnackte Puppe auf dem Boden. Das Kind hat sich von Keksen und Wasser aus dem Wasserhahn ernährt. Es wurde zunächst in ein Kinderheim verbracht.

Die Suche nach der Frau, die sechs Jahre lang in dieser Wohnung gelebt und in den letzten drei Monaten keine Miete mehr bezahlt hat, verläuft ergebnislos. Von ihr gibt es kein Foto. Sie ist in einem Kinderheim in Bremen aufgewachsen, wie die Polizei herausgefunden hat. Über ihre Eltern, meine Großeltern, ist nichts bekannt. Über meinen Vater auch nicht. Die Nachbarn schildern dem Zeitungsreporter meine Mutter als freundlich. Es ist von wechselnden Männerbekanntschaften die Rede. Sie habe davon gesprochen, nach Spanien zu gehen. Seitdem ist sie verschwunden. Deshalb habe ich auch keinen Geburtstag. Niemand kennt den Tag, an dem ich auf die Welt gekommen bin. Vermutlich im Oktober. Das Datum ist willkürlich.

Die Verbindung von mir zu den Neugeborenenleichen wird zunächst nicht hergestellt. Erst die Angaben einer Nachbarin, die Vermisste sei nach ihrer Einschätzung einmal schwanger gewesen und habe es, von ihr darauf angesprochen, erst abgestritten, dann aber erklärt, das Baby sei tot geboren worden, führen dazu, dass der zuständige Staatsanwalt einen Genabgleich anordnet. Es stellt sich heraus, dass ich die Schwester der toten Babys vom Muckensturm bin, schwer zu sagen, ob das fünfte oder vierte. Zeitung und Öffentlichkeit entrüsten sich erneut. Meine Mutter wird seitdem mit internationalem Haftbefehl gesucht. »Nicht mal stehen hat sie zu ihren Taten können«, habe ich hinter mir wispern gehört. Das ist unsere fast noch größere Schande: die Feigheit meiner Mutter.

Allmählich kann ich die heftigen Gefühle einordnen, die über mich herfallen. Vor allem, wenn Bekannte meiner Pflegeeltern sich erst mir zu- und dann wieder von mir abwenden und ihnen Sätze von den Lippen rutschen wie: »Das arme Kind!« oder »Wie kann eine Mutter so etwas tun?« Ich löse Mitleid aus, für das ich keinen Grund finde, und zugleich Abscheu und Verachtung, die sich über meinen Kopf hinweg gegen eine mir unbekannte Person richten, die mich anscheinend immer begleitet. Sie klebt an mir. Ich kann sie weder abschütteln, noch den Gefühlen entkommen, die ich auslöse.

Haftbuch, Freitag, 11. Januar

 

Meine Pflegemutter war zum ersten Mal hier. Es ist kompliziert für sie. Sie fährt nicht Auto, und mein Pflegevater kann nicht aus dem Geschäft weg, um sie zu fahren. Auch dürfte er nicht mit ihr zusammen zu mir herein. Mich darf immer nur eine Person besuchen, und das nur alle zwei Wochen für eine halbe Stunde. Dafür muss sie extra Wochen vorher einen Antrag bei der für mich zuständigen Staatsanwältin stellen, jedes Mal. Und sie muss zuvor in der Verwaltung der Anstalt anrufen und sagen, dass sie an diesem Freitag kommt. Das hat sie nicht gewusst, erzählt mir meine Pflegemutter, deshalb ist sie vor vierzehn Tagen abgewiesen worden. Und auch heute hätte man sie beinahe wieder heimgeschickt, weil sie sich eine halbe Stunde vor dem Termin am Tor hätte melden müssen, aber erst eine Viertelstunde vorher da war. Man hat sie dann aber doch reingelassen. Nur geht das jetzt von der halben Stunde Besuchszeit ab. Und mitbringen darf sie auch nichts von daheim. Keinen Kuchen, kein Obst. Das muss sie an den Automaten ziehen. Und dafür braucht sie die passenden Münzen. Man ist sehr streng, sie muss alle Taschen zeigen und sich durchsuchen lassen. Wäsche und Kleidung für mich hat sie aber am Tor abgeben dürfen. Ich bekomme sie dann später. Sie hofft, sie habe meine Größe getroffen, in meinen Schränken ist ja nichts mehr.

Die Polizei hat alles beschlagnahmt, um es auf Blutspuren und Bonobohaare zu untersuchen, erkläre ich ihr.

Bitte nicht über das Verfahren sprechen, sagt die Beamtin, die uns akustisch überwacht.

Meine Pflegemutter schluckt und ergreift meine Hand. Kind, das ist ja alles ganz furchtbar.

Und berühren dürfen wir uns auch nicht. Sie könnte mir ja was zustecken. Worüber sollen wir reden? Wenn jemand zuhört, wird der Kopf leer. Zum Glück ist die Besuchszeit schnell rum. Schon während ich zurückgeführt werde, schmerzt der Verlust und wirft sich meine ganze Hoffnung vierzehn Tage voraus auf die nächste Besuchszeit.

Fortsetzung Verteidigung Camilla Feh

Die öffentliche Erinnerung an die Kindsmörderin vom Muckensturm verblasst im Lauf der Jahre. Ich merke, dass ich mich wohler fühle, wenn mich niemand beachtet. Ich werde unsichtbar. Meine ersten Jahre auf dem Kepler-Gymnasium in Cannstatt sind angenehm. Ich bin unauffällig gut in Mathe und Deutsch. Es fällt mir leicht zu lernen. Ich kann dem Schatten meiner Mutter ein Stück davonlaufen.

Er holt mich nur ein, wenn meine Mitschüler mich fragen, warum ich anders heiße als mein Bruder Lukas und meine Eltern. Dann antworte ich, weil ich ein Pflegekind bin. Das hat so lange funktioniert, bis jemand sagt: Aber dann könnten sie dich doch adoptieren. Ja, warum haben sie mich nicht adoptiert? Muss man vorsichtig sein mit einer wie mir?

 

Die Sexualaufklärung, die wir Mädchen getrennt von den Jungs erhalten, bringt mir die Erkenntnis, dass die Taten meiner Mutter eine Folge der menschlichen Sexualität sind, die allgemein da ist und mit der auch ich selbst eines Tages zu tun haben werde. Der biologischen Brutalität der Sexualität entgeht niemand. Die Lehrerin spricht von Zyklus, Eisprung und Verhütung. Wieso hat meine Mutter nicht gewusst, dass man nicht schwanger werden muss, wenn man es nicht will? Hat es früher keine Pille gegeben?, frage ich meine Mutter.

Sie lacht selten, aber jetzt lacht sie. »Die Pille gibt es schon seit der Jugend meiner Mutter. Allerdings verträgt sie nicht jede. Und wenn man sie öfter vergisst, dann kann auch etwas passieren.«

»Aber«, sage ich, »dann kann man es doch wegmachen lassen.«

»Das ist keine leichte Entscheidung, Kind«, antwortet sie.

Aber immer noch besser, denke ich, als neun Monate lang schwanger sein und das Neugeborene dann töten.

Meine Pflegemutter merkt, warum ich frage. »Was deine Mutter getan hat, werden wir nie verstehen«, sagt sie.

Das Phänomen der nicht wahrgenommenen Schwangerschaft kommt recht häufig vor, lese ich. Eine von knapp fünfhundert Schwangerschaften wird bis weit über den fünften Monat hinaus nicht bemerkt. Etliche Geburtshelfer haben schon Frauen entbunden, die nicht wussten, dass sie schwanger waren. Frauen mit mangelnder Körperwahrnehmung. Sie halten die Tritte des Embryos für Blähungen. Sie denken sich nichts, wenn die Tage ausbleiben, und manchmal gibt es Blutungen auch während der Schwangerschaft. Die Gewichtszunahme wird anders erklärt. Neben denen, die es nicht merken, gibt es Frauen, die ihre Schwangerschaft ignorieren, weiter trinken und rauchen und mit großer Unbefangenheit leugnen, falls jemand sie fragt. Sie fallen aus allen Wolken, wenn die Geburt einsetzt. Können sich das Geschehen nicht erklären, sind verwirrt und geschockt. Verleugnete Schwangerschaften, lese ich, können zum Neonatizid führen. Vor allem wenn die Persönlichkeit der Mutter Unreife und fehlende Krisenbewältigungsmechanismen aufweist.

Hat meine Mutter gelebt wie eine Frau im Mittelalter, wo man die Schande der Wollust unter weiten Gewändern verbarg und im Wald niederkam? Ich schäme mich meiner dummen, gewissenlosen und feigen Mutter. Warum hat sie mich am Leben gelassen? Warum muss ich mit Abscheu und Scham leben?

 

Einmal, mit fünfzehn oder sechzehn, bin ich oben in der Zuckerbergstraße gewesen, wo sie gewohnt hat. Man sieht die Häuser von unten, vom Neckar aus, über den Weinberg ragen, wo das Cannstatter Zuckerle angebaut wird. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Ständig warte ich auf Erlösung. Zu Hause habe ich behauptet, ich ginge mit Freundinnen in die Stadt. Aber ich bin mit der Straßenbahn in die Gegenrichtung gefahren. Ein Tunnel spuckt einen plötzlich oben aus. Ich muss raus, die Steinhaldenstraße hinunter. Hastig und mit Herzklopfen husche ich dann die Zuckerbergstraße entlang. Eine alte Frau kommt mir entgegen, vor der ich mein Gesicht verstecke. Denn womöglich erinnert sie sich an meine Mutter und ruft: »Dich kenn i doch. Du bisch die Tochter von dere mörderische Schlampe. Schämsch di net, hier zum auftauche?«

Ich bleibe nicht stehen. Ohnehin weiß ich keine Hausnummer. Es sind vier langgestreckte Wohnblocks, die senkrecht zur Straße stehen. Waren auf dem Zeitungsfoto nicht Birken? Es gibt nur eine Garagenzeile, vor der Birken stehen. Dort also bin ich vermutlich geboren worden. Aus unbekannten Gründen habe ich überlebt.

Auf der anderen Straßenseite liegt die Kleingartenanlage mit einem Zugangstor. Hier hat meine Mutter nachts ihre Bündel hineingetragen, diesen Weg, bis hinunter zum Hauptfriedhof.

Ich kenne die genaue Stelle nicht, wo sie meine Geschwister vergraben hat. Ich würde sie nicht finden. Plötzlich habe ich auch keine Kraft mehr. Ich bin lahm wie meine Mutter. Ist es das, was jemanden zu solchen Taten bringt? Eine unüberwindliche innere Kraftlosigkeit? Die Unfähigkeit, die letzte Konsequenz in Augenschein zu nehmen?

Meiner Pflegemutter fällt auf, dass ich mich abends am Esstisch kaum gerade halten kann. Sie fragt nicht. Sie haben nie gefragt. Sie rühren nicht gern an das Monstrum, das mich begleitet. Sie werfen mir nur besorgte Blicke zu. Als ob sie darauf warten, dass meine Mutter in mir ausbricht wie eine Krankheit, wie die Pest, die ganze Familien ins Grab bringt. Ich fühle mich an dem Abend, als wäre ich die Mörderin selbst, die es an den Ort des Verbrechens zurückgezogen hat. Indem ich meine Tat vom Nachmittag verheimliche, verheimliche ich das Verbrechen meiner Mutter und mache mich mit ihr gemein.

In der Nacht überfällt mich Panik, wenn ich mir vorstelle, es hätte mich jemand erkennen können oder wissen wollen, wonach ich Ausschau halte, warum ich die Wohnungen mustere, ob ich sie ausspähe für einen Einbruch. Und dann hätte womöglich jemand die Polizei gerufen, und die hätte mich nach meinem Namen gefragt, den ich hätte nennen müssen.

Wenn ich doch nur meinen Namen ändern könnte. Dann müsste ich nicht mehr fürchten, dass jemand in seinem Gedächtnis kramt, wenn er den Namen Tanner hört. »War da nicht mal was mit einer Kindsmörderin? Anfang der Neunziger?« Ja, wenn ich einen anderen Namen hätte, könnte meine Mutter nicht mitkommen in meine Zukunft.

Solange ich minderjährig bin, kann ich allein und heimlich nichts ausrichten. Ich muss meinen Wunsch meinen Pflegeeltern anvertrauen. Mein Pflegevater eröffnet mir, dass sie miteinander besprochen haben, mir die Adoption anzubieten, sobald ich volljährig bin. Dann brauchen wir die Einwilligung meiner Mutter nicht mehr. Es gibt ja keinen Hinweis, dass sie nicht mehr am Leben ist.

 

Im Oktober 2005 vollzieht das Amtsgericht meine Adoption. Ich bin frei und ich schreibe mich nach dem Abitur an der Uni Tübingen für ein Studium der Soziologie mit dem Nebenfach Erziehungswissenschaft ein. Aufgabe der Soziologie ist die methodisch kontrollierte Beobachtung und Analyse zwischenmenschlichen Verhaltens und Handelns. Am Institut für Soziologie der Universität Tübingen wird schwerpunktmäßig in den Bereichen Methoden der empirischen Sozialforschung und Sozialstrukturanalyse, Arbeits- und Wirtschaftssoziologie, Wissenschafts- und Techniksoziologie sowie Soziologie der Geschlechterverhältnisse gelehrt und geforscht.

Prof. Schmaleisen (Grundlagen der Soziologie) rät uns, ein Lerntagebuch zu führen. Das Schreiben trage zu einer Vertiefung des Lernstoffs bei, indem man sich regelmäßig damit beschäftigt und seine eigenen Rollen und Standpunkte reflektiert.

Also fange ich an zu schreiben.

Das Studium überfordert mich nicht. Doch ich gehe auf brüchigem Eis. Ich fürchte Entlarvung. Manchmal fantasiere ich mitten im Seminar oder Kolloquium, gleich werde einer aufstehen und auf mich deuten: »Das ist Camilla Feh. Sie hat ihren Namen geändert, weil ihre Mutter in den achtziger Jahren vierfachen Neonatizid begangen hat. Wie fühlt man sich denn als Tochter einer Kindsmörderin?«

Auch Professor Schmaleisen schaut mich manchmal so an, als werde er im nächsten Augenblick die zweite Person ansprechen, die hinter mir steht. Ich spiele mit dem Gedanken, ihm alles zu gestehen. Dann müsste ich nicht mehr fortwährend fürchten, dass meine Geschichte herauskommt. Aber meine Neigung zur Schweigsamkeit ist größer als die Versuchung. Ich weiß auch gar nicht, wie man über sich selbst redet. Ich mag die Gewalt der Gefühle nicht, die ich auslöse: Abscheu, Verachtung, Entsetzen, Mitleid. Sobald meine Mutter aus ihrem Schatten tritt und sich neben mich stellt, bin ich als Person nicht mehr da. Oder ein Monstrum.

Aus meinem Lerntagebuch wird ein Tagebuch.

 

Die Tötung von Kindern durch elterliche Hand hat es in allen Epochen der Menschheitsgeschichte gegeben, lese ich in Mutter Natur von Sarah Blaffer Hrdy. Das ist unser tierisches Erbe. Schon bei den Schimpansen wird ein Drittel der Kinder gleich nach der Geburt getötet. In China und Indien bringt man heute noch Mädchen nach der Geburt um. In China, weil dort nur ein Kind erlaubt ist und die Eltern einen Sohn brauchen, der Geld verdient und sie im Alter versorgen kann. In Indien, weil die Mitgift für Mädchen viel Geld kostet. Doch die Gesellschaft entgleist. Denn junge Männer ohne Aussicht auf Heirat und Familie schließen sich zu gewalttätigen Banden zusammen und vergewaltigen und entführen fremde Frauen. In Deutschland gibt es keinen materiellen oder sozialen Grund, Neugeborene zu töten. Es geschieht auch selten aus materieller Not, lese ich. Ungefähr dreißig Neugeborene werden dennoch jedes Jahr umgebracht, meist von ihren Müttern.

In der Antike bestimmte der Vater, ob er ein Kind annehmen oder töten lassen wollte. Das Christentum führte Strafen für Abtreibung, Kindstötung und Aussetzung von Kindern ein. Im Mittelalter mussten ledige Frauen ihre Schwangerschaft den Stadtoberen melden, sonst standen sie im Verdacht, ihr Kind töten zu wollen. Auch heute hält es eine Frau davon ab, ihr Kind zu töten, wenn andere wissen, dass sie schwanger ist. Bis Ende des 18. Jahrhunderts wurden Kindsmörderinnen mit dem Tod bestraft. Erst im Sturm und Drang änderte sich die Einstellung. Man erkannte, dass Frauen wie Goethes Gretchen im Faust Opfer von Verführung und Gewalt werden konnten und aus Not handelten. Es wurden Häuser eingerichtet, in denen Frauen anonym entbinden konnten. Im 19. Jahrhundert entstand dann die Ideologie der Mutterliebe, und bis heute werden Frauen als Verbrecherinnen verfemt, die ihre Kinder nicht wollen.

 

Ich habe Till nichts von meiner Mutter erzählt, die hinter mir steht mit ihrer Feigheit und Dummheit. Es ist ein früher, warmer Sommer. Wir liegen auf den Neckarwiesen, wir lieben uns auf dem Teppich vor dem Sofa, in der Küche, nachts im Bett. Ich fühle mich unbeschwert.

Er studiert Germanistik und im Nebenfach Politik und Soziologie. Er ist Punk und Veganer. Ich habe ihn in der Mensa zum ersten Mal gesehen. Ein zierlicher Mann im knöchellangen Schottenrock verteilt Broschüren mit dem, was er der Gesellschaft vorzuwerfen hat. Spöttische Blicke folgen ihm. Die Broschüren bleiben auf den Tabletts und Tischen liegen. Ich lese aus Langeweile, was mich nicht interessiert, aber plötzlich weckt.

»Beinahe jeder Krimi gibt heute vor, einen Antihelden zu haben, und täuscht so darüber hinweg, dass die inhärente Behauptung, die aus der Bahn geworfene Welt wieder ins Gleis heben zu können, reaktionär und schamlos ist. Der Krimi tut so, als bedürfe es nur einer engagierten Person, um die Welt vom Verbrechen zu reinigen und den Schuldigen anzuklagen. Der wahre Krimi müsste die großen historischen Versprechen und ihr Scheitern zeigen. Wo der Ermittler aber von einem Verbrechen zum nächsten eilt, wird nur herausgestellt, dass alles weitergeht und Abweichungen nicht geduldet werden.«

Vor der Tür der Mensa treffe ich ihn rauchend, schaue ihm ins Gesicht, das er mit Piercings vielfach verletzt hat. Seine Haare sind blond unter der roten Farbe, seine Augen leuchtend blau. Sein Lächeln ist höflich. Es fällt mir leicht, ihn anzusprechen. »Ich lese keine Krimis. Ich schau mir auch kaum noch welche im Fernsehen an. Sie erzeugen eine perverse Spannung. Man fiebert mit, obgleich alles unecht und unwahr ist. Dann hat man nur Zeit totgeschlagen.«

Wir reden zwei Stunden im Stehen, nicken, lachen, stimmen uns gegenseitig zu, weben ein Geflecht von Gemeinsamkeiten, die uns verbinden und gegen die in Irrtümern verhaftete Gesellschaft, die unsere ist, abgrenzen, und verabreden uns. Von Till lerne ich, dass ich begehrenswert bin, eine schöne Frau mit langen blonden Haaren und guter Figur. Mit seinen die Lust erforschenden Händen bildet er in meinem Kopf meinen Körper ab, legt Hüften, Hintern und volle Brüste in mir an, gibt mir einen Schwanenhals, süße Lippen.

Ich werde ihm niemals von meiner Mutter erzählen. Keiner eignet sich besser, die Geheimnisse, mit denen wir durchs Leben gehen wollen, zu etablieren, als der Geliebte. Die Liebe ist Gegenwart und schaut in die Zukunft. Till sieht nur meinen Körper. Täglich lieben wir uns und schwingen unsere Gefühle und Gedanken auf Gemeinsamkeiten ein. Wir besprechen die sozialen Rollen, die wir spielen wollen. Die Liebe ist ein Glück, das aus der Zukunft zu uns kommt. Eines Tages werden wir Kinder haben. Eines Tages werden wir alt sein und sterben.

Haftbuch, Donnerstag, 14. Februar

 

Ich habe von der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Stuttgart die Anklageschrift bekommen. Sie ist an die Große Strafkammer adressiert.

 

Frau Camilla Feh,
geboren am 15. Oktober 1987 in Stuttgart, ledig,
Staatsangehörigkeit: deutsch,
wohnhaft Hagelschieß 36, Stuttgart Bad Cannstatt,

 

Wahlverteidiger: RA Gerald Feh,
Silberburgstraße 189, Stuttgart,

 

wird angeklagt,

 

am 08.12.2012 in Stuttgart Bad Cannstatt, Wilhelma,

 

den Tod von Herrn Till Deutschbein, geboren am 10. September 1985, wohnhaft Wartbergstraße 134, Stuttgart, absichtlich und willentlich herbeigeführt zu haben.

 

Der Angeschuldigten wird Folgendes zur Last gelegt: ...

 

Es folgen die Einzelheiten. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft habe ich Till nach einer Nikolausfeier des Nachts auf illegalen Wegen – nämlich durch Übersteigen eines Tors – verleitet oder ihm dazu verholfen, in die Wilhelma einzusteigen. Gemeinsam sind wir anschließend über ein Fenster ins Menschenaffenhaus eingedrungen. In der Folge habe ich Till mit Hilfe eines illegal beschafften Schlüssels Zugang zu den Gehegen der Bonobo-Affen verschafft, ihn mit einem Pfefferspray handlungsunfähig gemacht, zugesperrt und ihn seinem Schicksal überlassen.

Der Text ist lang, die Liste der Zeugen und Beweismittel ebenfalls.

Jetzt muss das Gericht entscheiden, ob es die Anklage zur Hauptverhandlung zulässt, erklärt mir Onkel Gerald.

Fortsetzung Verteidigung Camilla Feh

Es ist nicht möglich, die Wilhelma nicht betreten zu haben, wenn man in Cannstatt aufgewachsen ist. Bis ins Erwachsenenalter hat mich Ungeduld erfasst, wenn ich an der Ziegelfriesmauer mit ihren Rosetten und Akanthusblattornamenten entlang zum Eingangspavillon der Wilhelma ging. Als ich Kind war und die Oma mit Lukas und mir in den Zoo ging, erschien mir der Weg endlos. Für die bröselnde Pracht hinter der Mauer mit Badhaus, Gewächshäusern, maurischem Landhaus und Theater habe ich nie Augen gehabt. Ich will Tiere sehen, nicht den König. Aber ohne König Wilhelm keine Wilhelma. Er ließ sich unterm Rosensteinschloss ein privates Kurbad mit Teichen und Wandelgängen bauen. Der Schrei der Pfauen schwebt bis heute über der Anlage.

Während die Oma am Pavillon Karten kauft, spicke ich durch die Schranke und sehe die Flamingos. Doch vor die Tiere haben Wilhelma und Oma das Gewächshaus gesetzt. Dicke stachelige Kakteen, Blüten und Blumen ohne Zahl, in denen Oma schwelgt. Auf halber Strecke gibt es in Guckkästen atmende Fellhaufen: der Große Tanrek, Langschwanzchinchilla, Flachlandviscacha und Mattheys Knirpsmaus. Dann kommen die Kamelien. Der Zoo lässt sich bitten. Am Ende des Gewächshauses geht es an den Seerosenteichen entlang ins Aquarium. Fische sind bewegte Blumen. Lukas liebt den Zitteraal. Er verteilt Stromschläge, die über dem Aquarium angezeigt werden. Dann will er die Krokodile sehen. Wir schauen in die betonierten Wasserbecken hinab. Immer ist ein weißes darunter, das nicht wirklich weiß ist. In meiner Kindheit ist der Wilhelmabesuch ein Tauschhandel mit der Oma. Magnolienblüte für sie, Kea, Jägerlies und Kaka für mich, die Löwen für Lukas. Sie bekommt ihr maurisches Landhaus mit den Bromelien, Lukas die Seelöwenfütterung um elf oder fünfzehn Uhr. Die Affen findet die Oma unanständig. Sie lockt uns mit einem Eis weg und belohnt sich mit Kaffee und Kuchen.

Im August 2008 bin ich dann fast jeden Tag in der Wilhelma. Mit einer Sondergenehmigung gehe ich ums Parkhaus herum, am Verwaltungsgebäude vorbei und über den Betriebshof durchs Tor am Ende des Gewächshauses hinein, eile den Wandelgang an den Seerosenteichen und Magnolienbäumen entlang, passiere das Becken der Seelöwen und wende mich nach links zum Menschenaffenhaus.

Insgesamt dreihundert Stunden beobachte ich die Bonobos und protokolliere minutiös ihre Aktionen. »Die Friedensstrukturen des Matriarchats bei den Bonobos«, so lautet der Titel meiner Arbeit im vierten Semester meines Soziologiestudiums für Professor Dr. Norbert Schmaleisen.

Es gibt den Beobachter erster und zweiter Ordnung. Über den Beobachter, der auf die Realität schaut, gibt es nur dann etwas zu sagen, wenn man den Beobachter zweiter Ordnung einsetzt, der beobachtet, wie der Beobachter seinen Gegenstand der Beobachtung wahrnimmt. Er kann die blinden Flecken erkennen, die der Beobachter erster Ordnung aufweist. Im Grunde ist alles Lesen von Texten oder Betrachten von Bildern ein Beobachten zweiter Ordnung. Wir leben in einer Zeit, in der Beobachter erster Ordnung fast vollständig von Beobachtern zweiter Ordnung abgelöst worden sind. Wir beziehen so gut wie alle unsere Kenntnisse aus dem Internet, aus dem Fernsehen, aus Büchern.

Haftbuch, 15. Februar

 

Eine in meiner Abteilung schreit in die Nacht hinaus. Immer wieder. Mal um Mal ein Brüllen aus tiefstem Schmerz. Kindisch ungehemmt. Es zerrt an den Nerven. Niemand will sich darum kümmern. In den Nächten kann ich am wenigsten ignorieren, wo ich bin. Es ist nie still. Eine Disko wummert draußen. Hierinnen kracht irgendwo eine schwere Tür. Irgendjemand ruft. Manchmal eilen Schritte, ich höre das Klack-Klack des Schlüssels.

 

Fortsetzung Verteidigung Camilla Feh

Bonobos leben im Matriarchat. Sie sind die einzigen Menschenaffen, die das tun. In Freiheit umfasst ihr Clan über hundert Tiere. Sie bilden Kleingruppen, in denen die ältesten Weibchen das größte Ansehen genießen. Die männlichen Tiere sind im Rang den Frauen nachgeordnet. Sie bleiben ihr Leben lang bei der Gruppe ihrer Mutter. Die jungen Frauen dagegen verlassen die Gruppe, wenn sie geschlechtsreif geworden sind, und gliedern sich in eine neue Frauengruppe ein. Es hat sich gezeigt, dass das Matriarchat für das Überleben der Art nützlich ist. Bonobos bringen in freier Wildbahn mehr Babys durch als Schimpansen oder Gorillas. Denn bei den Bonobos sind nicht die starken Männer, sondern die Mütter die Ersten am Futter. Sie können ihre Babys besser ernähren als Mütter in patriarchalen Gesellschaften.

»Wären Bonobos nicht erst vor achtzig Jahren entdeckt worden«, schwärmt Till, »hätten Soziologen und Evolutionsbiologen die Entwicklung der Menschheit vielleicht anders beurteilt. Nicht als Erfolgsgeschichte der Werkzeug- und Kriegsintelligenz, sondern als Entartung, die letztlich selbstzerstörerisch ist, weil sie den Nachwuchs zwar erzeugt, aber nach der Geburt vernachlässigt.«

Er macht mein Projekt zu einem Erkenntnisvehikel in unserem Kampf um eine gerechtere Welt. Neun Millionen Kinder sterben jährlich vor ihrem fünften Lebensjahr. Zugleich basiert das Überleben der Menschheit auf genau dieser hohen Kindersterblichkeit, erklärt er uns in anarchoveganen Arbeitskreisen, denn andernfalls würde die Weltbevölkerung noch schneller wachsen und wir würden einander noch wütender zerfleischen als jetzt schon. Wenn man den Frauen in der sogenannten Dritten Welt die Kontrolle über Geburten und Nahrungsmittel überlassen würde, erklärt er, würden zwar weniger Kinder geboren, aber sie hätten eine reelle Chance, groß zu werden.