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Eiskalt entflammt

 

SGU 01

 

 

Lisa Gibbs

 

 

 

Eiskalt entflammt: SGU 01

Lisa Gibbs

 

Copyright © 2013 Sieben Verlag, 64354 Reinheim

Umschlaggestaltung: © Andrea Gunschera

 

 

ISBN Buch: 9783864432323

ISBN ebook-PDF: 9783864432330

ISBN ebook-epub: 9783864432347

ISBN Leseprobe PDF: 9783864432354

ISBN Leseprobe epub: 9783864432361

 

www.sieben-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

 

1. Kapitel

 

2. Kapitel

 

3. Kapitel

 

4. Kapitel

 

5. Kapitel

 

6. Kapitel

 

7. Kapitel

 

8. Kapitel

 

9. Kapitel

 

Epilog

 

Die Autorin

 

Polarfieber - Kim Henry

1

 

 

Schwarzer, dicker Schlick kroch durch ihre Lungen. Sie rang nach Luft, der lebenswichtigen Essenz. Fingernägel bohrten sich in ihre Haut und hinterließen schmerzende Halbmonde. Es brannte. Seine Hand schnürte ihr die Kehle zu. Ein letzter Kraftschub, ein letzter unterdrückter Schrei. Es war ein Kampf, den sie nicht gewinnen konnte.

Dann Resignation und Stille. Angst. Pure, kalte Angst. Begreifen. Keine rettende Luft drang mehr in ihre Lungen, sie zogen sich zusammen, die Augen schmerzten. Loslassen. Dem verlorenen Atem folgte der kalte Blick des Todes, zurück blieb einzig eine leblose Hülle. Das grauenvolle Zeugnis ihrer verlorenen Seele. Schwarze Nacht schlich sich in ihren Geist, langsam und zäh.

Lou schnappte nach Luft und zwang sich, den Gegenstand in ihren Händen loszulassen, um dem Leben die Macht über ihren Körper zurückzugeben. Sie blinzelte, in der Hoffnung, die fremden Bilder, die sich in ihre Netzhaut eingebrannt hatten, loszuwerden. Je mehr Sauerstoff ihre Lungen füllte, desto bewusster nahm sie ihre Umgebung wieder wahr. Sie zählte ihren Pulsschlag. Es beruhigte sie und gab ihr die Gewissheit, am Leben zu sein. Sie war zu lange in der anderen Welt geblieben, und nun zahlte sie dafür mit ihrem schmerzenden Körper. Als ihre Knie nicht mehr nachzugeben drohten, wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und zog die Handschuhe wieder über die Hände.

Erneut hob sie den Gegenstand vom Boden auf und betrachtete ihn. Ein kleiner rosa Sportschuh, keine bekannte Marke. Mehr als das und eine Haarspange mit einem bunten Schmetterling gab es nicht mehr von der kleinen Anna. Deren Körper lag in der Gerichtsmedizin, und bisher konnten die Pathologen nur sagen, dass sie einem gewaltsamen Tod zum Opfer gefallen war. Gefunden hatte man den leblosen Körper vor zwei Tagen am Hafen, nicht weit entfernt von dem schäbigen Appartement, in dem Anna mit ihrer Familie gelebt hatte. Der Täter war in Hektik verfallen und hatte nicht aus Mordlust getötet, das wusste Lou bereits. Sonst hätte er Anna nicht so impulsiv und vor allem nicht an diesem öffentlichen Ort umgebracht.

Mit viel Liebe hatte Anna verschiedenfarbige Schnürsenkel eingefädelt, um den Schuh ein wenig individueller zu gestalten. Noch einmal musste Lou einen Blick in die Vergangenheit riskieren, sie brauchte mehr Informationen. Sie zog einen Handschuh aus und fuhr langsam mit ihren Fingern über die Schnürsenkel. Langsam öffnete sie die schützenden Barrieren ihres Geistes und ließ die Bilder hineinfließen. Erneut nahm ihr Bewusstsein die kalte Angst in Empfang. Die zähe, schwarze Masse breitete sich wieder um sie herum aus. Erst musste sie gegen ihre eigene Angst kämpfen und geistig über ihre Grenzen gehen, bevor sie Zutritt zu den vergangenen Ereignissen bekam. Doch dann war sie dort.

Anna lief, rannte so schnell sie konnte, bis sie stolperte und hinfiel. Einen Schuh hatte sie bereits verloren, sie trug nur noch den linken. Durch den Sturz hatten sich kleine Splitter in ihre Hände gerammt, doch sie schenkte dem Schmerz keine Beachtung. Sie wischte sich mit den blutigen Händen übers Gesicht und rappelte sich wieder auf. Getrieben von einer Hast, die ihre letzte Hoffnung war.

Diesmal war Lou gewappnet und konzentrierte sich auf die Bilder und nicht auf Annas Schmerz und ihre unbändige Angst. Jemand warf sich von hinten auf das kleine Mädchen und hielt sie mit seinem Körpergewicht am Boden. Ein Mann mittleren Alters, er stank nach Alkohol. Das Schlimmste war, Anna kannte ihn. Ihre Empfindungen schwankten zwischen Todesangst und Trauer. Ein Gemisch, das die Verzweiflung nährte. Er schluchzte hektisch, während seine drahtigen Arme ihren Körper auf den Boden pressten.

„Anna, ich habe es nicht so gemeint. Wir erzählen niemandem davon, ja?“

Lou wurde übel. O nein, bitte nicht. Schon vorher mussten schreckliche Dinge passiert sein.

„David, lass mich …“

Anna gab ihr die Antwort, die sie brauchte. Jetzt musste Lou so schnell wie möglich zurück. Die Gewalt, die gleich folgen würde, hätte sonst schwere Auswirkungen auf sie selbst, das wusste sie nur zu gut. Schon ihr erster Kontakt war eine Warnung gewesen. Sie ließ den kleinen Schuh fallen und tastete wieder nach ihrem Puls. Zählen, die volle Konzentration auf ihren Herzschlag, den Taktgeber, der ihr Leben real werden ließ, bis Annas Schluchzen nur noch ein verhallendes Echo war.

Vor dem Regal sackte sie auf die Knie und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, die Stirn auf die Knie gepresst. Während sie leicht hin und her wippte, verbannte sie die schrecklichen Bilder in die letzte Ecke ihres Kopfes. Ihr brummte der Schädel, o Gott, ihr war hundeelend zumute. Aber wenigstens hatte sie ihn.

„Lou, schwing deinen Hintern hier rüber, wir haben zu tun!“ Peter holte sie vollständig in die Realität zurück.

Seit einem Jahr waren sie Kollegen beim NYPD. Sie ließen einander in Ruhe, dafür schätzte sie ihn. Nachdem sie den kleinen Karton mit den Beweisstücken verschlossen hatte, stellte sie ihn an seinen Platz zurück und zog ihre Handschuhe an. Von der kleinen Anna war nur eine Nummer in einem langen Regal voller Kartons geblieben.

Durch die Regalreihen ging sie zum Eingang der Asservatenkammer, um die neuen Stücke in Empfang zu nehmen. Peter erwartete sie mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen. Er war fünfzig Jahre alt, und die langen Dienstjahre zeichneten sich durch grobe Falten in seinem kubanischen Gesicht ab. Doch sein Sinn für Humor war ungebrochen. Nur einer der Gründe, weshalb sie ihn mochte. Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Person, die auf der anderen Seite der Glasscheibe stand. Sam, die blonden Haare wie immer perfekt frisiert und mit einem unverkennbaren Zahnpastalächeln bewaffnet. Er war ein ehemaliger Kollege aus ihrem alten Team und sie war erleichtert, dass er sich die Zeit genommen hatte, die Beweismittel im Keller abzugeben. Bei den anderen hochrangigen Polizisten wappnete sie sich immer gegen die Sprüche und die abwertende Art, mit der sie behandelt wurde, doch bei Sam wusste sie, dass er wenigstens höflich sein würde.

„Hey Lou, viel zu tun?“

„Was hast du für uns, Sam?“

Sie musterte den jungen Kommissar. Wahrscheinlich versuchte er einfach nur, nett zu sein, aber jeder in diesem Laden wusste, dass Small Talk nicht ihr Ding war. Sam probierte es trotzdem immer wieder.

„Überfall auf der Siebzehnten, Schusswaffe und Drogen. Ich gebe dir Bescheid, wann man die Sachen wieder auslösen kann, dürfte nicht lange dauern.“ Er strich sich durch seine Mähne und setzte eine gespielt betrübte Miene auf. „Lou, möchtest du nicht wieder mit uns auf die Straße? Du vermisst das doch, oder?“

„Und diese schöne Umgebung hier aufgeben?“

Während die Leuchtstoffröhre flackerte und die nackten Betonwände noch trostloser erscheinen ließ, seufzte Sam und sah sie skeptisch an. Was für eine Frage. Natürlich fehlte ihr der Außendienst. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging davon. Sie arbeitete seit einem Jahr in der Asservatenkammer. Niemand hatte damit gerechnet, dass die junge, vielversprechende Polizistin mit Spezialgebiet Sprengstoffentschärfung hier unten landen würde. Man sagte ihr nach, sie wäre etwas eigen, ruppig im Umgang mit den anderen. Sollten sie, auf die Meinung anderer gab sie nicht viel, aber der Gedanke daran entlockte ihr ein Schmunzeln. Schon komisch. Ja, sie war eine Einzelgängerin, aber was sollte man machen, wenn man schon beim ersten Handschlag wusste, was das Gegenüber für einen parat hatte? Besser, man galt als eigen und unnahbar, als durchgeknallt und irre.

Schadensbegrenzung, so nannte sie das. Ein dickes Fell war in dem Job überlebenswichtig. Die meisten Kollegen waren Männer, dumme Sprüche und Machtkämpfe an der Tagesordnung. Der beste Schutz gegen so was war, einen guten Job zu machen. Und das hatte sie mehr als ein Mal bewiesen. Sie hatte sich an Bomben getraut, bei denen selbst lang dienende Kollegen die Flucht ergriffen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich alles ändern sollte. Sie wurde zu einer Geiselnahme gerufen. Ein Mann war Amok gelaufen, er wollte sich an seiner Exfrau rächen. Bis an die Zähne bewaffnet, rannte er in das ehemalige gemeinsame Haus des Paares und nahm insgesamt vier Geiseln. Seine Exfrau, deren beste Freundin und die zwei Kinder. Als Lou zum Einsatzort kam, waren schon vier Spezialkommandos vor Ort. Ein Polizeipsychologe versuchte, den aggressiven Mann zum Aufgeben zu überreden. Doch das Einzige, worauf er sich einließ, war, seinen jüngsten Sohn freizulassen. Daraufhin war er mit drei Frauen allein im Haus. Lou hatte die Szenerie zehn Minuten beobachtet und instinktiv gewusst, dass die Geiselnahme niemals ohne Blutvergießen enden würde. Dafür war der Hass gegen die Frauen zu groß. Nachdem sie die Fesseln des freigelassenen Jungen berührt hatte, waren nicht nur ihre Vermutungen bestätigt, ihr wurde auch klar, dass es noch schlimmer war. In der Berührung sah sie alles. Die Schläge, die Wut im Gesicht des Mannes und Sprengstoff. Er hatte nicht nur Waffen im Haus, er wollte die ganze Hütte in die Luft jagen. Sie musste sofort handeln. Leider konnte der Junge die Existenz der Bombe nicht bestätigen. Und sie konnte den anderen Polizisten nicht von ihrer eigenartigen Fähigkeit erzählen. Wer hätte ihr geglaubt? Trotzdem versuchte sie, den Einsatzleiter zum Stürmen zu überreden, doch die Diskussion brachte rein gar nichts. Die Zeit drängte, eine Explosion hätte nicht nur die Geiseln im Haus getötet, sondern auch viele Polizisten außerhalb verletzt. Sie konnte nicht länger warten und rannte in das Haus. Der Geiselnehmer nahm sie sofort aufs Korn, aber sie war schneller, schoss ihm in den Fuß, nahm ihm das Gewehr ab und rannte in die Küche. In der Spüle lag eine dilettantisch zusammengebaute Bombe mit improvisiertem Zünder. Zwanzig Sekunden vor der Detonation hatte sie die Bombe entschärft.

Doch mit dem Alleingang hatte sie sich den direkten Anweisungen eines ranghöheren Vorgesetzten widersetzt. Es war verrückt, die Bürokratie siegte. Wie viele Leben gerettet worden waren, schien nicht von Belang zu sein. Ihr Chief war stinksauer, als sie ihm ihr Verhalten nicht einmal begründen konnte. Strafe musste sein. Nach diesem Einsatz landete sie in der Asservatenkammer, talentiert oder nicht. Es war zum Verrücktwerden.

„Was hat der Schönling gebracht?“, fragte Peter, abschätzig wie immer.

Lou kannte sonst niemanden, der so wenig sprechen konnte und dessen Gesicht doch so viel verriet. „Nur Kleinigkeiten.“

„Hat er sich wieder die Lippen geleckt?“

Wie bitte? Sie blieb stehen und sah ihn fragend an.

„Du weißt schon, immer wenn er dich ansieht, leckt er sich über die Lippen, wie eine Schlange.“

Tat er das? Sie zuckte die Schultern, das war ihr nicht aufgefallen, sie nahm Sam nicht wirklich ernst. Es wirkte, als ob er den Job nur des Prestiges wegen machte oder weil sein Vater schon Cop gewesen war und es von seinem Sohn erwartete. Sie hatte für diesen Job gebrannt, sich die Finger schmutzig gemacht. Nicht wegen der Anerkennung oder einer sicheren Rente, sie liebte das Adrenalin, die Kameradschaft und den harten körperlichen Einsatz. Irgendwie war diese Leidenschaft bei Sam nicht spürbar. Vor zwei Jahren war er ihr Partner beim Kickboxtraining gewesen, schon da spiegelte es seine Art zu kämpfen wider. Es gab diejenigen, die forderten, in den Kampf gingen, nicht nur mit Kraft und Muskeln, sondern mit Kopf und Herz. Sam boxte nicht schlecht, aber man spürte keine Emotion, da war keine Begeisterung. Eher nutzte er Schwächen seines Gegners, um seine eigenen zu überdecken. Das war kein gemeinsames Training, sondern eine Sam-Show. Dass er in ihrer Nähe nervös wurde oder sie vielleicht sogar lecker fand, kümmerte sie wenig.

Sie packte die Beweismittel in einen kleinen Karton und schob sie resigniert in ein überfülltes Regal. Danach reckte sie sich müde und legte ihre Füße in den schwarzen Stiefeln demonstrativ auf den Tisch. Noch eine Stunde bis zum Feierabend.

Peter steckte sich eine Gabel chinesischer Nudeln in den Mund und zwinkerte ihr zu. „Mensch, hau ab. Es reicht, wenn sich einer in diesem gottverlassenen Keller den Arsch platt sitzt.“

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen und schwang ihre Stiefel vom Tisch. Sie nickte Peter zum Abschied kurz zu und schnappte sich ihren Schlüssel. In der Garage setzte sie den Helm auf und kämpfte wie immer mit ihren widerspenstigen schwarzen Haaren, die, auch wenn sie zum Zopf gebunden waren, immer noch schwer über ihren Schultern herabhingen. Das Motorrad bedeutete ihr viel, es war der Inbegriff von Freiheit und Unabhängigkeit. Bewusst hatte sie sich für diese wuchtige Kawasaki entschieden, sie war rasend schnell und gefährlich.

Sie schoss los und genoss den kurzen Trip zu ihrer Wohnung in Brooklyn. Die alte Fabriketage, in der sie lebte, war ganz nach ihrem Geschmack. Dort gab es keine Wände, keine Einschränkungen, nur zweckmäßige Dinge. Nichts, was sie an diesen Ort gebunden oder sie zu irgendwas verpflichtet hätte. Sie zog ihre Trainingsklamotten an und tauschte die schweren Stiefel gegen Laufschuhe. Seit sie in der Asservatenkammer arbeitete, brauchte sie diesen Ausgleich noch nötiger als früher. Das Laufen beruhigte sie, hielt sie fit, machte den Kopf frei und verband Körper und Geist zu einer Einheit. Es gab ihr das Gefühl, wirklich bei sich zu sein. Sie konzentrierte sich auf ihren gleichmäßigen Atem und versuchte, loszulassen. Damit hatte sie schon immer Probleme gehabt. Jeden Fall betrachtete sie als persönliche Herausforderung. Die Frage, warum Menschen grausame Dinge taten, stellte sie sich schon lange nicht mehr. Es lag in der Natur des Menschen. Punkt. Sie hatte kaltblütigen Mördern gegenübergesessen, die ihre Unschuld beteuerten. Aber nach einem Griff an deren Wasserglas hatte sie alles gesehen.

Die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele.

Wenn man diese Dinge zu nah an sich ranließ, fraß es einen auf. Man musste die Abscheu und den Hass vergessen, um solche Kandidaten zur Strecke zu bringen und selbst menschlich zu bleiben. Man brauchte einen verdammt guten Panzer. Der beste Schutz war die Vorbeugung, die anderen erst gar nicht so nah an sich herankommen zu lassen, dann konnte man auch nicht enttäuscht werden. So einfach war das. Verhaltenspsychologische Studien einsamer Wölfe beim abendlichen Training. Oje. Wieder mal musste sie über sich selbst den Kopf schütteln.

Sie atmete die frische Luft tief ein und beschleunigte noch mehr auf den letzten Metern. Nach einer Stunde joggen war ihr Körper ausgepowert, und sie fühlte sich besser. Als sie wieder in die Wohnung zurückkam, zog sie die verschwitzten Sachen aus und ging sofort ins Badezimmer. Während das warme Wasser der Dusche beruhigend über ihr Gesicht lief, wurde ihr wieder einmal bewusst, wie sehr sie ihren Job geliebt hatte. Sie war schon immer sportlich, deshalb war die Aufnahmeprüfung der Polizei kein Problem gewesen. Die einzige Schwierigkeit waren die Männer, die sie wegen ihrer weiblichen Formen, ihrer vollen Lippen und ihrer langen Haare als Freiwild betrachtet hatten. Doch nach ein paar fehlgeschlagenen Anmachversuchen ließen sie die meisten in Ruhe. Nicht, dass es ihren Kolleginnen anders erging. Aber die meisten konnten irgendwie besser damit umgehen als sie.

Als sie aus der Dusche kam, zog sie sich ein schwarzes Top über und hielt inne. Etwas stimmte nicht. Die Tür zum Bad hatte sie offen gelassen und das Licht nicht angemacht. Sie war nicht allein.

Jemand war in der Wohnung.

Verdammter Mist, wie konnte sie sich so überrumpeln lassen? Instinktiv tastete sie nach ihrem Gürtel – doch ihre Hand griff ins Leere. Sie verfluchte den Moment, als sie die Waffe nach ihrem Austritt aus dem aktiven Dienst hatte abgeben müssen. Aber sie war gut ausgebildet. Im Nahkampf unterschätzten sie die meisten Gegner. Außerdem war das ihr Terrain. Sie war in keiner schlechten Position. Sie zog die Jeans über und band die nassen Haare zu einem Zopf. Wer zur Hölle brach hier ein?

Noch bevor sie entschieden hatte, was sie mit dem verdammten Eindringling machen würde, ertönte eine durchdringende Männerstimme.

„Es tut mir leid wegen der späten Störung, Miss Miller. Ich habe Ihnen ein Angebot zu machen, was mich zu diesem Handeln zwingt. Ich hoffe, Sie verstehen meine Situation und verzeihen mein Eindringen in Ihre Privatsphäre.“

Ein Angebot? Seit wann hatte es die Mafia auf sie abgesehen? Spaß beiseite, das hier war mehr als unhöflich, es war alarmierend.

Der Mann saß im Sessel und wartete. Er trug einen teuren, schwarzen Anzug. Das schüttere graue Haar war penibel gekämmt und seine kleinen Augen taxierten sie. Sein Gesicht war vom Leben gezeichnet. Sie musterte die tiefen Falten auf seiner Stirn. Es war sogar schlimmer als die Mafia, er sah aus wie der Inbegriff eines Bürokraten. Was wollte er?

„Normalerweise bekomme ich keinen Besuch, und da Sie mir nicht bekannt sind, schätze ich, Sie müssen eine wirklich gute Geschichte liefern, damit ich Sie nicht rausschmeiße.“

„Hören Sie mir zu, Miss Miller. Danach können Sie urteilen. Ich kenne Ihren Lebenslauf und benötige Ihre Dienste. Verstehen Sie bitte, wenn ich mich in solch einer Angelegenheit nicht an die üblichen Regeln halte. Es scheint, dass Sie sich in Ihrer Einheit nicht gerade Freunde gemacht haben, denn über den Chief kam ich nicht an Sie heran. Es war tatsächlich äußerst schwierig, Sie außerhalb der Wache ausfindig zu machen. Also tun Sie mir und sich selbst den Gefallen und setzen Sie sich, damit ein alter Herr wie ich nicht ewig debattieren muss.“

Er trug keine erkennbare Waffe, und sie war sicher, dass er allein war. In Ordnung, das entspannte die Situation etwas. Sie schenkte sich ein Glas Scotch ein und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. „Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und dann verlassen Sie meine Wohnung.“

Trotz ihres ruppigen Tons lächelte er. „Mein Name ist Harold Lexington, ich bin der Chef eines inoffiziellen Aufräumkommandos der Regierung. Wenn es massiven Ärger gibt und unser Land in irgendeiner Weise darin verwickelt ist, komme ich mit meinen Mitarbeitern ins Spiel.“

Ein rumorendes Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit. Sie wusste nicht, ob es daran lag, was er sagte oder wie er es sagte. Aber die Tonlage des Fremden gefiel ihr nicht. Der Mann drang in ihre Privatsphäre ein und zwang ihr ein Gespräch auf. All das waren keine guten Gründe, ihm weiter zuzuhören. Seinem Anzug nach zu urteilen, war er ein hohes Tier. Was zur Hölle meinte er mit Aufräumkommando der Regierung? Sie konnten sie ja schlecht für eine Attentäterin halten. Er wollte irgendwas von ihr.

Als hätte er ihre Gedanken erraten, veränderte er seine Position und beugte sich vor. „Ich bin beauftragt worden, ein Team zusammenzustellen. Es handelt sich um eine spezielle Gruppe, bestehend aus ausgewählten Personen, die durch besondere Leistungen aufgefallen sind. Und da Sie seit dieser Geiselnahme vor einem Jahr als schwieriger Fall eingestuft, aber sehr talentiert sind, möchte ich Sie gern dabei haben. Insgesamt habe ich bisher vier Agenten akquiriert. Sie wären eine enorme Bereicherung für das Team. Die korrekte Bezeichnung für die Einheit ist SGU.“

Um Zeit zu schinden, nahm sie einen großen Schluck Scotch. SGU, wofür zur Hölle stand diese Abkürzung? Bei verdeckten Operationen, gerade beim Militär, waren Decknamen oder Abkürzungen an der Tagesordnung. So etwas schützte die Identität der Agenten. Es mussten erlesene Kandidaten sein oder verdammt üble Einsätze, wenn das Team jetzt schon einen eigenen Codenamen bekam. Anscheinend war sie wirklich in einer guten Position. Erschreckend war allerdings, dass er ziemlich genau über sie Bescheid wusste. Er musste Einsicht in ihre Akte gehabt haben, das bekam nicht jeder ohne Weiteres. Von welchem Verein war er? Sie könnte ihm einfach sagen, sie sei nicht interessiert, und die Sache wäre gelaufen. Doch je länger sie darüber nachdachte, reizte sie irgendetwas an seinem Angebot und brachte sie dazu, ihm weiter zu zuhören.

„Wir haben folgendes Problem: ein illegales Lager voll mit chemischen Waffen in den Händen der falschen Leute. Ein Politikum, denn wenn es um solche Fälle geht, möchte die Regierung ihre Hände in Unschuld waschen. Das bedeutet, wir brauchen ein verdecktes Kommando, das sich schnell um die Sache kümmert und gewissen Leuten die Suppe versalzt. Danach hat diese Operation offiziell niemals stattgefunden.“

Wenn er ihr Informationen gab, bedeutete das entweder, er war sich verdammt sicher, oder bereit, dafür zu sorgen, dass sie im Falle einer Ablehnung nicht mehr in der Lage sein würde, etwas über dieses heikle Projekt oder dieses mysteriöse SGU-Team preiszugeben.

Er seufzte. „Ich weiß, wer Sie sind, Lou. Sie arbeiten im Archiv, weil Sie nicht gegen Ihre Prinzipien handeln wollten. Ich biete Ihnen keinen Job, sehen Sie es als Möglichkeit. Die Option, Ihr Leben zu ändern.“

Jetzt spielte er die väterliche Karte aus und ließ sich zu einem abgeklärten Lächeln hinreißen. Mitten in ihrem Wohnzimmer saß ein älterer, gut gekleideter Mann, der ihr einen mysteriösen Job anbot. Das war die eine Sache, so komisch es auch war, damit konnte sie leben. Außergewöhnliche Vorfälle begleiteten sie bereits ihr ganzes Leben lang, sie selbst war ein eigenartiges Exemplar. Doch wenn es eine Sache gab, die sie hasste, dann die, wenn andere überheblich waren oder so taten, als würden sie wissen, was gut für sie sei. Schon sein Tonfall ließ sie in eine innere Abwehrhaltung gehen. Ob er recht hatte oder nicht, spielte keine Rolle.

„Mir ist bewusst, dass Sie diese Informationen schön säuberlich verpackt an mich verkaufen wollen. Trotzdem schleichen Sie sich in meine Wohnung und tun so, als würden Sie mich kennen. Aber Sie haben keine Ahnung von meinem Leben.“

Der alte Mann zog die Stirn in Falten. „Ich dachte mir schon, dass Sie so reagieren würden.“ Er öffnete einen Aktenkoffer und zog einen Stapel Papiere heraus.

Auf jedes Schriftstück war eine kodierte Nummer gedruckt, achtstellig. Diese Art der Kodierung hatte sie schon einmal gesehen. Als ihre Einheit bei einem Mordfall mit der CIA kooperiert hatte. Das war interessant, er kam also von der CIA oder von einer anderen Agency, sonst wäre er nie an solche Akten gekommen. In ihren Fingern kribbelte es. Ein Gefühl, das sie vermisst hatte, regte sich.

„Ich habe hier vier Akten. Ich werde sie auf dem Tisch liegenlassen, und ich weiß, dass Sie sie lesen werden. Wenn Sie die Dokumente durchgesehen haben, werde ich Sie finden, Miss Miller.“ Er erhob sich schneller, als sie es von einem älteren Herrn erwartet hätte. „Sie müssen mich nicht hinausbegleiten, ich habe Ihre Geduld lange genug strapaziert, sehen Sie es mir bitte nach.“ Er ging mit schnellen Schritten Richtung Tür und hielt noch einen Moment inne. „Eine letzte Sache noch. Alle Agenten, die ich akquiriert habe, sind Spezialisten mit der ein oder anderen sehr nützlichen Gabe.“ Das Wort Gabe verhallte in einer effektvoll betonten Pause. O Gott, fast wäre ihr Herz stehen geblieben. „Deshalb auch SGU, es steht für Special Gifted Unit.“

Und schon war er verschwunden.

Tief Luft holen. Beinahe wären ihr die Beine weggesackt. Seine Worte und die Art, wie er sie ausgesprochen hatte, waren reines Kalkül gewesen. Ein klarer Appell an ihre Neugier. Und genau diese Wirkung hatte er auch erzielt. Er war in ihre Privatsphäre eingedrungen und hatte ihr damit als Erstes gezeigt, wozu er in der Lage war, nämlich, Grenzen zu überschreiten. Ein Machtschauspiel. Danach hatte er versucht, eine Verbundenheit zu signalisieren, nur um sie am Schluss verwirrt stehen zu lassen. Bei den letzten Worten hatte er sie nicht einmal mehr angesehen, als wüsste er schon von vornherein, was diese Sätze bei ihr auslösen würden. Scheiße, dass so was bei ihr funktionierte, war schockierend.

Special Gifted Unit? Eine begabte Einheit? Was sollte das bedeuten? Und was zur Hölle wusste er über sie?

Sie sträubte sich dagegen, für ihre Eigenschaft das Wort Gabe zu verwenden. Das klang wie ein Geschenk oder ein Talent, aber es war ein Fluch. Woher hatte er seine Informationen? Sie hatte immer darauf geachtet, nicht aufzufallen. Deshalb trug sie Handschuhe, damit sie ihre Flashbacks kontrollieren konnte und niemand sich über sie wunderte. Vollkommen normal für eine Motorradfahrerin. Und sogar bei der Arbeit mit Sprengstoff war das eine sinnvolle Geschichte, kein Mensch hatte sie jemals darauf angesprochen.

Was wusste er?

Nachdem sie sich einen zweiten Drink eingeschenkt hatte, musterte sie aus sicherer Distanz die Unterlagen, die er zurückgelassen hatte. Die CIA also. Zumindest kamen die Akten von dort. Es nervte sie, wie selbstbewusst er sie geködert hatte und vor allem, dass es ihm gelungen war. Der Gedanke, für einen Fremden berechenbar zu sein, war nicht gerade beruhigend. Aber sie musste einfach wissen, was er gemeint hatte. Eigentlich war sie nicht neugierig, aber – ach, verdammt.

Sie setzte sich auf den Boden und nahm sich die Agenten-Akten vor. Alle waren mit dem offiziellen Wasserzeichen versehen, sie wirkten authentisch, ohne Zweifel. Die erste Akte handelte von einem Halbindianer namens Lukas Maska. Er hatte sich durch kleine Verbrechen einen Namen in einer Gangsterorganisation gemacht. Falschspielen, Betrug und so weiter. Das FBI hatte ihn als verdeckten Ermittler eingesetzt, dabei hatte er sich als überaus talentiert erwiesen, auch wenn sein Verhalten nicht gerade der Form entsprach. Ein negativer Akteneintrag und ein Disziplinarverfahren entlarvten ihn als Systemrebellen, der die Aufträge lieber durchzog, als auf das polizeiliche Protokoll zu beharren. Ein Fall war ihr sogar bekannt: Damals war eine Drogenküche in Schutt und Asche gelegt worden, nachdem die Betreiber des Drogenkartells schon überführt worden waren. Die Staatsanwaltschaft hatte getobt, obwohl die Beweismittel längst ausgereicht hatten. Dieser Lukas schien keine halben Sachen zu machen. Ein Foto zeigte einen smarten, charismatischen Typ, mit dunklen Haaren und grünen Augen. Und trotz des Veilchens am rechten Auge hatte er ein offenes Lachen. Damit hatte er seine Gegner und die meisten Frauen wahrscheinlich gut im Griff.

Die nächste Akte war die einer Frau namens Jules Pelting, geborene Kudrow. Spezialisiert auf Nahkampf und mit einer Vorliebe für alles, was eine Klinge hatte. Sie war nach dem Tod ihrer Eltern von einer Zirkusfamilie adoptiert worden. Ihre gesamte Kindheit war sie gereist und in der Manege aufgetreten. Später hatte sie zahlreiche Medaillen in Fechtturnieren erkämpft. Lou konnte sich ihre Lebensgeschichte bildlich ausmalen. Das Foto zeigte eine attraktive, junge Frau, Ende zwanzig, blond und zierlich. Sie machte einen zerbrechlichen und unschuldigen Eindruck, hatte große blaue Augen, und doch konnte man etwas, das genau dem Gegenteil entsprach, in ihrer Miene erkennen. Die unschuldige Ausstrahlung hatte sich die junge Frau sicher sehr früh zunutze gemacht.

Das dritte Profil zeigte einen blonden Mann mit Dreitagebart. Sein Name war Emmet Carter. Ein ehemaliger Elitesoldat, groß und extrem kampferfahren, mit den besten Zeugnissen. Ebenso wie Lou hatte er sich falsche, aber mächtige Feinde gemacht. Sie las einen Eintrag, der darauf schließen ließ, dass er sogar einen Vorgesetzten angegriffen hatte. Damals war er Mitglied eines legendären Teams der Navy Seals gewesen, das an einer Operation in Somalia beteiligt gewesen war. Mr. Carter weigerte sich, einen oppositionellen Freiheitskämpfer in ein staatliches Gefängnis zu überführen. Natürlich tat er das, schließlich kam so eine Order dem Todesurteil für den Mann gleich. Warum auch immer sich das Militär auf so einen politischen Deal eingelassen hatte, die Entscheidung war falsch. Emmet brachte den Mann im Schutz der Botschaft unter und zog so durch seine Befehlsverweigerung den Hass seines Vorgesetzten auf sich. Sie musste schmunzeln, denn sie fand dieses Detail sympathisch.

Die vierte Akte war die eigenartigste. Sie handelte von einem Mann namens Elias. Weder ein Nachname noch ein Foto war beigefügt. Eigenartig. Doch er hatte den Zusatz Special Cases. Das bedeutete, dass er nicht nur in der Lage war zu töten, sondern sich diesen Status schon durch diverse Taten erworben haben musste. Ein Schauder lief ihr eisig den Rücken hinunter. Wenn es einen Kandidaten in den Akten der SGU gab, der sie in Unruhe versetzte, dann dieser. Er schien der mysteriöse Unbekannte im Team zu sein. Ein Mann mit einer Vergangenheit, die nicht einmal von der CIA dokumentiert wurde, war erstens geheimnisvoll und zweitens verdammt gefährlich. Mehr konnte sie den spärlichen Aufzeichnungen nicht entnehmen. Obwohl alle Dokumente nur Auszüge der persönlichen Akten zeigten, war Elias Akte mit Abstand die rätselhafteste.

Sie fröstelte und zog sich eine Decke um die Schultern. Das war es also, das geheimnisvolle Team SGU. Jeder einzelne Agent schien einzigartig. Ein Ex Navy Seal, ein Undercover Spezialist, eine Elitekämpferin und ein Mann mit dem Zusatz Special Cases. Eine besondere Einheit, ganz klar. Aber inwiefern begabt?

Lexington hatte einen Köder ausgeworfen. Anbeißen, oder nicht, das war die Frage.

 

Am nächsten Morgen war ihr Bauchgefühl eindeutig. Sie war neugierig geworden. Der Job reizte sie. Wenn es stimmte, dass jeder im Team besondere Fähigkeiten hatte, dann würde sie vielleicht endlich Antworten bekommen. Was, wenn sie nicht die Einzige war, die mit einem Fluch zu kämpfen hatte?

Peter hatte verwundert auf den Anruf reagiert. Sie hatte sich noch nie krankgemeldet, aber er gab ihr ohne zu zögern den Tag frei. Damit hatte sie sich noch ein wenig Bedenkzeit verschafft. Bevor sie bereit war, ihr Leben komplett umzukrempeln, musste sie das Team persönlich kennenlernen. Erst dann wollte sie sich endgültig entscheiden.

Nachdem sie ein paar Kleinigkeiten gepackt hatte, schwang sie sich auf die Kawasaki und fuhr nach Long Beach ans Meer. Dort setzte sie sich in den kühlen Sand und atmete tief durch. Es beruhigte, etwas so Mächtiges und Unberechenbares zu beobachten. Sie liebte das Meer. Die Gischt wirbelte Wassertropfen in den Wind und ließ einen salzigen Geschmack auf ihren Lippen zurück. Sie wartete. Er hatte gesagt, dass er sie finden würde, und sie wusste, dass er kommen würde.

Dumpfe Schritte näherten sich, bis seine Stimme hinter ihr ertönte. „Miss Miller, da Sie sich heute krankgemeldet haben, nehme ich an, dass Sie meinen Vorschlag überdacht haben und mein Angebot in Betracht ziehen?“

Damit bestätigte sich ihre Vermutung. Ihr Handy. So hatte er sie schnell hier draußen orten können und auch ihr Telefonat mit Peter abgehört. Die Jungs waren schnell, das musste man ihnen lassen.

„Für wen genau arbeiten Sie?“

„Sie spielen sicher auf das Emblem an, das auf den Akten zu sehen ist. Sehen Sie, die Intelligence Community, genannt IC, unterhält mehr als sechzehn verschiedene Dienststellen. Der CIA ist nur einer, mit dem wir ab und zu kooperieren. Wie gesagt, offiziell existiert unsere Abteilung nicht. Das muss Ihnen vorerst als Erklärung reichen.“ Es reichte ihr ganz und gar nicht, aber bevor sie Einspruch einlegen konnte, hielt er ihr ein Stück Papier entgegen. „Ich habe mir erlaubt, das für Sie vorzubereiten.“ Lou nahm den Zettel und las ihre eigene fristlose Kündigung. „Sie müssen nur unterschreiben. Die restliche Prozedur übernehme ich. Um Geld müssen Sie sich keine Sorgen machen, meine Abteilung weiß ihre Agenten sehr zu schätzen.“

Er bot ihr einen Kugelschreiber an. Das war verrückt, irgendwie fühlte es sich an, als würde sie ihre Seele verkaufen, ohne Informationen zu bekommen. Sie steckte die Kündigung in die Tasche. „Ich werde das nicht unterschreiben, bevor ich nicht das restliche Team kennengelernt habe und Sie mir gesagt haben, was der Job beinhaltet. Ich fahre Ihnen nach.“

„Bis zu unserem Treffpunkt mit dem Team können Sie gern Ihr eigenes Gefährt benutzen, aber ich denke, zu Ihrem ersten Einsatz müssen Sie ein Flugzeug nehmen.“

Wo zur Hölle wollte er sie hinschleppen?

Es war windig, und der Himmel hatte sich noch nicht klar gezeigt. Sie brauchte noch etwas Zeit, um die Frage zu stellen, die ihr nachts immer wieder durch den Kopf gegangen war. „Weshalb begabte Einheit? Was genau meinten Sie mit Gabe?“ Sie konzentrierte sich auf seine Stimme. Jede kleine Nuance darin war wichtig. Jede Unsicherheit, die auf eine Lüge hindeuten könnte.

„Ich möchte, dass die anderen es Ihnen persönlich erklären. Bei Ihnen war mir nach der Durchsicht der Aufzeichnungen der verschiedenen Heime, in denen Sie als Kind untergebracht waren, und den Vorfällen, die Sie dort miterlebt haben, ziemlich schnell klar, was los ist. Sehen Sie, ich habe in meinem Beruf schon viele eigenartige Menschen getroffen. Ich sage nur, in diesem Team wären Sie mit Ihren Eigenschaften nicht allein.“

Es schockierte sie nicht, dass er über ihre Kindheit sprach. Im Gegenteil, es fühlte sich gut an, wie schnell er ihre Vergangenheit abhandelte. Normalerweise sah jeder in ihr die Schuldige, das rebellische Mädchen, das nicht imstande war, zwischenmenschliche Kontakte zu knüpfen, unterschwellig aggressiv und launisch. Den Menschen war nicht bewusst, wie viel Kraft es sie schon in jungen Jahren gekostet hatte, eine Person überhaupt zu berühren, ohne von deren Eindrücken regelrecht bombardiert zu werden. Es war zu viel für sie gewesen, zu viele Impressionen, zu viele unterschiedliche Gefühle. Vor allem zu viel Schmerz. Erst später hatte sie gelernt, ihre innere Barriere zu trainieren und es sich zur Gewohnheit gemacht, Handschuhe zu tragen. Das Problem waren eher ihre abweisende Art und ihr scheues Wesen. Die Vergangenheit hatte deutliche Spuren hinterlassen, doch inzwischen hatte sie ihren Fluch ganz gut im Griff. Zumindest konnte sie entscheiden, ab welchem Zeitpunkt sie die vergangenen Ereignisse erleben wollte und wann Schluss damit war.

Lexington dachte wohl, sie würde sich ein paar Gleichgesinnte wünschen, er wählte die Worte nicht allein. Er konnte nicht wissen, dass sie eben genau dieses Leben schätzen gelernt hatte. Ob ihm klar war, wie viele Menschen es gab, die sich nicht so gaben, wie sie wirklich waren, und die grausame Dinge taten, die niemals ans Licht kamen?

Nicht allein. Was bedeutete das schon. Klar, irgendwo in ihrem Inneren gab es diese Sehnsucht. Den Wunsch, kein Freak zu sein, den Fluch in eine Fähigkeit wandeln zu können. Etwas mit anderen teilen zu können, ohne Handschuhe. Gleichgesinnte zu finden, vor denen man keine Geheimnisse haben musste. Lexington zu folgen bedeutete, diese Sehnsucht zuzugeben. Ihm, aber auch ihr selbst gegenüber. Sie atmete tief durch, stand auf und nickte ihm zu.

 

Nachdem sie quer durch die Stadt gefahren waren, erreichten sie ein Industriegebiet in Queens. An einem alten Stahlwerk bogen sie in den Hinterhof ein. Kein Mensch weit und breit. Wenn sie hier auf die SGU treffen sollte, hatte sie gute Fluchtmöglichkeiten, falls ihr die Sache nicht gefallen sollte. Sie parkte die Maschine in kurzer Distanz zu Lexingtons Wagen.