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Über dieses Buch:

Bartzsch ist mit seiner Freundin in ein kleines Dorf gezogen. Als die Bewohner erfahren, dass Bartzsch sich als Detektiv beschäftigt, heuern sie ihn gleich mal an, verschwundene Äpfel aufzuspüren und den Tod von Hühnern zu untersuchen. Doch Bartzsch lässt sich davon nicht beirren, denn sein eigentliches Ziel ist es, ein Verbrechen in dem kleinen Dorf aufzuspüren. Doch das wird nicht von jedem der Dorfbewohner gerne gesehen …

»Die Ungeheuerlichkeiten, die sich Seite um Seite enthüllen, sind von einer so abgründigen Komik und Tragik, wie man sie in der deutschsprachigen Literatur nur selten findet.« Süddeutsche Zeitung

»Was und wie dieser Autor schreibt, das ist selten in der deutschsprachigen Literatur.« Hamburger Abendblatt

»Gunter Gerlach ist ein Autor, der auf intelligente Art zu unterhalten versteht.« Frankfurter Rundschau

Über den Autor:

Gunter Gerlach, Jahrgang 1941, studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Er schreibt Hörspiele, Rundfunkserien, Kurzprosa und außergewöhnliche Krimis, für die er u. a. 1995 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Gunter Gerlach zählt zu den am häufigsten mit dem renommierten Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichneten Autoren, lebt in Hamburg.

Bei dotbooks erschienen bereits Gunter Gerlachs Romane »Herzensach«, »Das Jahr, in dem ich beschloss, meinen Großvater umzubringen«, »Ich bin der andere«, »Der Haifischmann«, außerdem die Krimi-Reihe »Kortison«, »Katzenhaar und Blütenstaub« und »Melodie der Bronchien« sowie die Literatur-Quickies »Gold im Gebirge« und »Vorlieben«.

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eBook-Neuausgabe Oktober 2015

Copyright © der Originalausgabe 2000 Europäische Verlagsanstalt/Rotbuch Verlag, Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de, unter Verwendung von Bildmotiven von Thinkstockphoto/Edie Layland

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-332-3

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Gunter Gerlach

Neurodermitis

Kriminalroman

dotbooks.

1. Ein bleibender Eindruck

Wortlos, nur mit Grunzen und Kopfbewegungen, bedeutet mir der schwergewichtige Nachbar, ihm zu folgen. Ich habe keine Ahnung, was er von mir will. Malschewski steht auf dem Briefkasten am Gartentor. Zögernd betrete ich sein Grundstück. Der Mann züchtet Hühner, und meine Allergie gebietet es mir, alles Federvieh zu meiden. Er scheint sich sicher zu sein, daß ich ihm folge, denn er sieht sich nicht um. Bis auf ein Huhn, das still im Gras liegt, haben sich alle anderen in die Nähe der schiefen Holzställe zurückgezogen. Sie tun so, als hätten sie dort eine besonders köstliche Stelle zum Picken entdeckt, aber ich sehe, daß sie uns scharf beobachten.

Der Nachbar bleibt bei dem Huhn stehen. Gram scheint seinen mächtigen Oberkörper zu beugen. Seine Arme baumeln kraftlos herab, berühren fast die weißen Federn der kopflosen Leiche. Dann dreht er sich ein wenig, sieht mich mit einem Auge an. Vor langer Zeit muß ihm jemand mit der Faust ins Gesicht geschlagen haben. Ein bleibender Eindruck. Er winkt mich heran. Erst jetzt sehe ich, daß seine Hand voller Blut ist.

Es erinnert mich an meine Neurodermitis, und ich kontrolliere mit einem heimlichen Blick die rauhe, rote und rissige Haut an den Innenseiten meiner Handgelenke: keine blutigen Kratzspuren. Der Juckreiz hat nachgelassen.

»Sehen Sie sich das an«, sagt der muskulöse Nachbar. Er war bestimmt mal Boxer. »So geht das schon seit Monaten. «

Er richtet sich etwas auf, zeigt auf den Maschendrahtzaun. »Da, sehen Sie, einfach hochgebogen. Sie sind doch von der Polizei?«

»Nein.«

»Nicht? Kommissar oder so was?«

»Bin ich nicht.«

Er gibt der Leiche einen Stoß mit dem Fuß, lacht, als wäre er froh über den Tod seines Huhnes, geht zum Zaun und hebt ihn an.

»Sehen Sie, die machen meinen Zaun kaputt, damit der Fuchs darunter durchkriechen kann.«

»Der Fuchs?«

»Aber Detektiv sind Sie doch?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich dachte, Füchse gibt es gar nicht mehr. Die wären wegen der Tollwut alle erschossen worden.«

»Sie sind der Neue, was? Bartzsch oder so?«

Er spricht meinen Namen aus, als wäre ich ein Fisch.

»Bartzsch wie der Kindermörder, nur mit z«, korrigiere ich.

Er grinst. »Ich verstehe ja, daß Sie es geheimhalten wollen. Ist besser für die Nachforschungen, was?«

»Wer hat Ihnen gesagt, daß ich Detektiv bin? «

»Also doch.« Er läßt den Zaun los. »Mit Fingerabdrücken ist da wohl nicht viel. Was meinen Sie? « Gebückt, mit schlenkernden Armen kehrt er zu dem toten Huhn zurück. »Ich weiß sowieso, wer die Löcher in den Zaun macht. Habe natürlich keine Beweise, aber eines Tages erwische ich die.«

»Wer hat Ihnen etwas über mich erzählt? « frage ich ärgerlich.

Er brummt: »Es wird nur so geredet im Dorf. Ist nun mal ein Dorf.« Er packt das Huhn an den weißen, mit Blut gesprenkelten Federn. »War mein Lieblingshuhn.« Und schleift es zu einem der Ställe. Ich folge ihm, den Boden nach dem Kopf des Huhns absuchend. Er ist nicht da.

»Wo ist der Kopf?«

Er bleibt stehen, dreht sich langsam um und grinst mich an. »Sie übernehmen den Fall, was?«

»Ich bin weder von der Polizei, noch bin ich Detektiv. Ich übernehme keinen Fall! «

»Aber den Kopf, den wollen Sie finden?«

»Der ist mir völlig egal. Ich frage mich nur, wieso ein Fuchs, den es gar nicht mehr gibt, einem Huhn den Kopf ziemlich sauber abtrennt und den Rest liegen läßt.«

»Einer von den Perversen; der mag es nur, wenn es knackt. Gibt es ja.« Er lacht kurz. »Der sitzt jetzt irgendwo im Gebüsch und vergnügt sich mit dem Kopf.« Er stößt die Tür des halbverfallenen Stalls mit dem Fuß auf. Ein paar Hühner flüchten erschrocken durch das zerbrochene Fenster. Er legt den Kadaver auf eine mit Hühnerkot bedeckte, von Feuchtigkeit verbogene Hartfaserplatte. Ich folge ihm, um zu sehen, was er mit dem Huhn tun wird. Der Stall war mal eine Werkstatt. Ein verrosteter Schraubstock ist noch da, ein paar Werkzeuge und ein vergoldeter Siegerkranz aus Plastik hängen an der Wand. Ein verschlissener Punchingball ist auch da. Also doch Boxer. Alles ist voller Spinnweben, Dreck, Staub und Hühnerscheiße. Für mein Asthma ist das gar nicht gut. Ich versuche so flach wie möglich zu atmen.

»Wollen Sie Eier? « Er greift in die Hühnernester und wühlt in dem Stroh.

»Ich glaube nicht.« Ich erinnere mich, daß einer meiner zahlreichen Ärzte mal behauptet hat, neben den zwölf oder dreizehn ganz gewöhnlichen Substanzen, die mein Immunsystem in Aufruhr versetzen, hätte ich auch eine Allergie gegen tierisches Eiweiß. Das stimmte zwar nicht, trotzdem habe ich eine Abneigung gegen Eier, besonders, wenn sie weich gekocht sind. Ich ekle mich davor. Ich könnte natürlich für Sylvia welche mitbringen. Aber wer weiß, womit er seine Hühner füttert.

Der Nachbar hat inzwischen ein Ei in der Hand, bemerkt meine Unschlüssigkeit und greift nach meinem Arm. Er drückt mir das Ei so derb in die Handfläche, daß es zerbricht. Dann preßt er meine Faust, bis der Schleim quietscht und zwischen meinen Fingern heraustropft. Ich will mich losreißen, aber er hält mich fest. Der Kerl ist stark, zieht mich tiefer in den Stall hinein und funkelt mich an. Seine Stimme zischt: »Es sind alles Verbrecher hier im Dorf. jeder einzelne! Hau ab, solange du noch kannst!«

Er läßt mich so plötzlich los, daß ich rückwärts gegen eine Stellage falle, in der ein paar brütende Hühner gesessen haben müssen, die plötzlich über mir sind. Sie kreischen schrill, benutzen meinen Kopf als Sprungplatz, um aus dem Fenster zu flattern. Federn fallen herab, und mein Hemd ist vollgeschissen.

»Was soll das! « Ärgerlich will ich den Stall verlassen, aber in der Tür steht ein dünner langer Mann in viel zu großen Kleidungsstücken. Er muß mindestens einen Meter neunzig sein, denn sein Kopf ist nicht zu sehen, bis er sich bückt und sein knochiges Gesicht mit der Halbglatze hereinsteckt. Der Mann ist wahrscheinlich noch keine dreißig, aber durch den spärlichen Haarwuchs sieht er aus wie vierzig. Mit zusammengekniffenen Augen sieht er mich an, und seine Oberlippe zuckt wie bei einem Hasen mehrmals nach oben – und ich weiß, ich habe noch einen Feind, denn auch mein Nachbar ist mir offensichtlich kaum freundlich gesinnt.

Was habe ich bloß falsch gemacht, daß die wenigen Begegnungen mit den Dorfbewohnern so seltsam verlaufen? Schon am ersten Tag, als ich den Weg zum Strand erkunden wollte, trat rund hundert Meter vor mir plötzlich ein junges Mädchen in einem knöchellangen weißen Kleid aus dem Wald heraus. Das Gesicht unter dem langen schwarzen Haar war blaß – so ungefähr stelle ich mir Schneewittchen vor. Sie sah mich und sprang zurück. Sie flüchtete regelrecht vor mir. Inzwischen sind drei weitere Tage vergangen, aber immer noch geht man mir aus dem Weg, vermeidet Blickkontakte, erwidert meinen Gruß nicht, und wenn mich doch mal jemand ansieht, schwingt Feindseligkeit mit.

Dabei hatte der Umzug von Hamburg in das Dorf an der Ostsee so freundlich begonnen. Unsere Vermieterin hatte mich mit einem Blumenstrauß und Pralinen begrüßt. Sie konnte ja nicht ahnen, daß meine Allergie mir jeden Kontakt zu Blüten und Sylvia mir die Süßigkeiten verbietet. Und mit einem Mal sollen alle aus dem Dorf Verbrecher sein, und dieser hier weiß sogar von meiner Tätigkeit als Detektiv. Na gut, ich bin nur ein Hobbydetektiv. Manchmal denke ich, die Suche nach der Ursache meiner Krankheit hat jenen Spürsinn aktiviert, der mich zum Schnüffler werden ließ. Vielleicht sind ja alle Detektive Allergiker?

»Werner!« begrüßt mein feindlicher Nachbar den Hageren, und es klingt, als hätte er »Sitz!« oder »Platz!« zu einem Hund gesagt, damit er mich nicht zerfleischt.

Der Hund macht Platz, läßt mich vorbei. Das Licht fällt auf sein Gesicht, und ich bemerke seine geschwollene Nase und die rotgeäderten Augen. Ein Symptom, das ich kenne. Der Mann hat wahrscheinlich Heuschnupfen.

»Umgraben«, sagt der Nachbar zu Werner. »Das Beet mit dem Kohl. Ist alles verfault. Hat keinen Sinn mehr.«

»Ich geh dann mal«, sage ich. Die beiden sehen mich schweigend an, als überlegten sie, wie sie mich am besten umbringen.

2. Die Leiche im Löschteich

Ich bin immer froh, wenn der Sommer vorbei ist, kaum noch Blütenstaub in der Luft liegt, meine Nase allmählich abschwillt, zu tropfen aufhört und mich nicht mehr minutenlanges Niesen schüttelt. Heuschnupfen – das ist eine wirklich sehr niedliche Bezeichnung für diese Krankheit, die mir über Monate einen Teil meiner Sinne raubt, Äderchen und Lungenbläschen platzen läßt, mich mit roten Augen und halb blind in einem hermetisch abgeriegelten Zimmer gefangenhält.

Mit einem solchen Leiden von der Großstadt auf das flache Land zu ziehen, scheint vollkommen unsinnig. Doch es ist das kleinere Übel. Die konzentrierten Abgase der Stadtluft lassen die Bronchien meiner Asthmatikerlunge eng wie Strohhalme werden. Sylvia besorgte sich eine Arbeitsstelle an der Ostseeküste in einem Badeort an der Lübecker Bucht. Ein Domizil an der Nordsee – vielleicht sogar eine Insel – wäre noch besser gewesen, aber das hat leider nicht geklappt. Auch hier weht der Wind tagsüber meist vom Meer und bläst saubere Luft in meine beschädigten Lungen. Eine bezahlbare Wohnung direkt am Strand war nicht sofort zu bekommen, sie wird erst zum Frühjahr frei, deshalb haben wir zur Überbrückung eine Ferienwohnung, rund vier Kilometer von der See entfernt, zu einem Sonderpreis bezogen.

Wir sind gerade vier Tage hier, und ich habe mit Sylvias anspruchsvollem Therapieplan noch nicht begonnen. Sylvia ist eine harte Frau und hat den Ehrgeiz, aus mir, dem man wegen seines hypersensiblen Immunsystems dauerhafte Arbeitsunfähigkeit bescheinigte, wieder ein arbeitsfähiges, lebenstüchtiges Mitglied der Gesellschaft zu machen. Verbesserung der allgemeinen körperlichen Widerstandskraft heißt ihr Programm. Ich soll Sport treiben. Laufen. So etwas habe ich mein ganzes Leben lang noch nicht gemacht. Es wird mich umbringen. Aber Sylvia hat die Ärzte auf ihrer Seite.

Mein Hobby hat sie mir auch verboten. Gut, ich bin als Privatdetektiv nicht besonders erfolgreich gewesen, aber die Beschäftigung mit Verbrechen tut mir gut. Sie lenkt mich von den Attacken der Allergene ab. Eine andere kriminelle Vereinigung, zu der Hausstaub, Milben, Lösungsmittel, Konservierungsstoffe, aber auch so harmlose Düfte wie Bratfett und Parfüm gehören.

Die Ferienwohnung liegt im Anbau eines kleinen Hauses am Rand des Dorfes. Vom Eingang gelangt man in einen kleinen Flur mit zwei Türen. Eine führt in die Gästetoilette, die andere in den großen Wohnraum mit eingebauter Küche. Von hier windet sich eine steile Treppe unters Dach in einen winzigen Flur, von dem das Duschbad und das Schlafzimmer abgehen. Die Ausstattung der Wohnung war für einen Allergiker wie mich eine böse Falle, aber wir haben den Vermieter dazu gebracht, seine Polstermöbel und Betten in einen Schuppen auszulagern und haben unsere eigenen ausgetesteten Möbel aufgestellt. Zum Glück gab es keinen Teppichboden, sondern Holzdielen, die ich einigermaßen staubfrei halten kann. Mein Tagesablauf besteht zum großen Teil darin, mit Gummihandschuhen bewaffnet, unsichtbare Staubmilben zu fangen, zu ertränken und aus dem Haus zu tragen. Das Holz und vor allem die Holzverkleidung der schrägen Wände im Schlafzimmer sind nicht mit Holzschutzfarbe gestrichen. Was vor Jahren in solchen Farben an Giftstoffen drin war, kann selbst einen gesunden Menschen auf Dauer umbringen.

Für das Schlafzimmer habe ich mir zur Abschirmung von schädlichen Umwelteinflüssen eine besondere Konstruktion ausgedacht. Wir haben ein großes Zelt mehrfach gewaschen, um alle chemischen Stoffe herauszuspülen, und in dem Zimmer aufgespannt. Mein großes Bett und der elektrische Luftreiniger stehen darin. So ist eine provisorische, nahezu allergenfreie Isolierzelle entstanden. Das Zelt paßt sich den schrägen holzverkleideten Wänden gut an. Vor seinem Eingang war dann gerade noch Platz für unseren Kleiderschrank. Was ich jetzt noch tun muß, ist, Fenster und Türen ein bißchen besser abzudichten. Und dann wäre da noch eine kleine Tür unterhalb der Dachschräge. Sie hängt ziemlich schief. Ich überlege, ob ich ihre Ritzen einfach mit Klebestreifen abdichte oder zuerst einmal hineinschaue. Solche Hohlräume sind Nistplätze der Todesmilben. Es bedarf also besonderer Vorkehrungen.

Ich bugsiere meinen Staubsauger – natürlich habe ich keinen gewöhnlichen, sondern einen mit Antiallergiefilter – die enge Wendeltreppe nach oben und lege ihn eingeschaltet bereit, damit er schon beim Öffnen der kleinen Tür alles in sich aufsaugt, was mir irgendwie gefährlich werden könnte. Doch es ist ziemlich sauber dahinter, nur ein Stapel alter Zeitungen liegt vor mir. Jemand hat die Regionalbeilage der hiesigen Tageszeitung gesammelt. Mal sehen, was die Landbewohner bewegt: Feuerwehrfest in Riepsdorf. Vorführung der freiwilligen Feuerwehr in Lehnsahn. Tag der Feuerwehr in Grube. Feuerwehrschulung in Cismar. Übergabe eines neuen Einsatzwagens an die Feuerwehr in Oldenburg. Feuerwehrjubiläum in Heiligenhafen. Kreis bewilligt 740 000 Mark für Unterstützung der Feuerwehren. Tag der offenen Tür bei der Feuerwehr in ... Mir stehen aufregende Zeiten bevor.

Moment, was ist das: »Brandstiftung – Hof brannte bis auf die Grundmauern nieder.« Wie konnte das passieren – bei soviel Feuerwehr?

Mist, die folgenden drei Ausgaben fehlen. So bleibt die Brandstiftung für mich ungelöst. Doch dann stoße ich auf die entscheidende Nachricht: »Tod beim Feuerwehrfest: Ursache noch ungeklärt.«

Der achtundzwanzigjährige Siegfried F., verdientes Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, war nach dem Fest zur Löschteich-Einweihung in eben diesem Teich leblos aufgefunden worden. Das Obduktionsergebnis steht noch aus.

Wieder fehlen ein paar Zeitungsausgaben, aber meine Kombinationsgabe ist aktiviert. Die Leiche im Löschteich war der Brandstifter. Ist doch klar. Die Feuerwehr regelt so etwas unter sich. Na bitte: Von wegen, auf dem Land passiert nichts. Klarer Fall von Mord, geschickt als Unfall getarnt. Und was geschieht als nächstes: Ein Detektiv tritt auf den Plan. Ich. Deshalb gehen mir alle aus dem Weg. Bis auf den großen Unbekannten, der diese Zeitungen so plaziert hat, daß ich sie finde und zu recherchieren beginne.

Ein bißchen kindisch, ich weiß.

Schade, daß so viele Ausgaben der Zeitung fehlen und alles schon ein Jahr her ist. Aber es wäre interessant herauszufinden, was es mit der Brandstiftung auf sich hatte und woran der Feuerwehrmann gestorben ist. Das ist doch schon etwas ganz anderes als ein totes Huhn in Nachbars Garten. Ich werde bei der Zeitungsredaktion anrufen.

– Stopp, Bartzsch! Du bist kein Detektiv mehr. Du hast es mir versprochen.

– Ich bitte dich, Sylvia, ich will mich nur mit den dörflichen Gegebenheiten vertraut machen.

– Und dazu mußt du gleich recherchieren?

In diesem Augenblick beginnt draußen eine Sirene zu heulen. Ich habe dieses Machtsymbol der Feuerwehr gesehen. Es ist am First des seit langem geschlossenen Gasthofes angebracht. Die Sirene verebbt. Dann beginnt sie von neuem. Alarm!

Kein Zweifel, die wissen schon, daß ich ihnen auf der Spur bin.

3. Ein Kissen voller Haare

Ich entschließe mich, die Zeitungen nicht wegzuwerfen, schiebe den Stapel in die Abseite zurück. Auf diese Fundgrube möglicher Mordgeschichten will ich nicht verzichten. Ich sauge den tödlichen Staub rundherum weg und schließe die Klappe. In diesem Augenblick höre ich jemand klopfen und meinen Namen rufen. Ich schaue auf die Uhr. Richtig, meine Vermieter hatten mich zum Kaffee eingeladen. Ich schleppe den Staubsauger die enge Wendeltreppe herunter und sehe die Frau draußen am Fenster stehen. Ich winke ihr zu und rufe, daß ich komme. Sie nickt und verschwindet.

Unser Anbau hat eine eigene Eingangstür; von hier führen einzeln in den Rasen eingelassene Betonplatten zum Vorderhaus. Ich bemühe mich, nicht auf den Rasen dazwischen zu treten. Im Hühnerstall des Nachbarn und Boxers wird gehämmert. Die Hühner stehen alle geduckt vorn am Zaun und warten auf ihren Mörder.

Die Haustür meiner Vermieter steht offen. »Langarm« steht auf einem aus Ton gebrannten Türschild. Ein seltener Name.

»Hallo? «

»Kommen Sie ins Wohnzimmer. Sie brauchen Ihre Schuhe nicht auszuziehen«, tönt es von weiter drinnen. Der Flur ist so schmal, daß zwei Leute nicht aneinander vorbeikönnen. Es riecht nach Kaffee. Wunderbar, die wissen noch nicht, daß ich den nicht trinken darf und es doch gern tue. Ich schlängle mich an einer Garderobe mit Arbeitskleidung und Regenumhängen vorbei und an einer Kommode mit einem alten schwarzen Telefon und einem gefährlich staubigen Trockenblumenstrauß darauf. Frau Langarm deckt gerade die Tassen auf. Alles an ihr ist rund und füllig, und sie betont es durch sehr kurzes krauses Haar und einen großgeblümten Kittel.

»Nehmen Sie Platz. Mein Mann kommt gleich.« Ich betrachte das Sofa, auf dessen Rückenlehne sich eine lange Reihe von bonbonfarbenen Stofftieren versammelt hat. Gerade will ich mich in den Sessel setzen, da zieht sie geräuschvoll die Luft ein, um sie mit einem scharfen »Nicht!« wieder herauszulassen.

»Oh, ich wußte nicht ...«

»Nein, nein, es ist nur das Kissen.« Sie greift um mich herum, zieht das gelbe große Kissen aus dem Sessel.

»Es gehört meinem Mann«, erklärt sie. »Er braucht es.«

»Ein Rückenleiden?« Ich setze mich auf das Sofa. Über meine linke Schulter schaut eine rosafarbene Giraffe. Rechts reibt ein himmelblaues Nilpferd seine große Schnauze vertraulich an meinem Hals.

»Es ist gut gegen Rheuma.«

»Wieso? Was ist in dem Kissen?«

»Wissen Sie, er sammelt seine Haare darin, schon seit seiner Jugend.«

»Wie? «

»Ich schneide sie ihm ab, ich war mal Friseuse, und er tut sie hinein.« Sie legt das Kissen zurück, streicht es sorgfältig glatt. »Es ist jetzt schon das zweite Kissen. Bei dem ersten waren Läuse oder so was drin, die gingen nicht raus.«

»Plagt es Ihren Mann denn sehr, das Rheuma?«

»Nein, er hat kein Rheuma.«

Ich gucke sie verwundert an, so daß sie erklärend hinzufügt: »Eben deshalb!«

»Ach so, ist ja klar.«

Sie wendet sich dem Kaffeetisch zu. »Ich habe für Sie extra Tee gemacht. Kaffee ist ja nicht so gut für Sie.«

Vor vier Tagen sind wir eingezogen, und schon wissen die Leute alles über mich. Wer hat es ihnen gesagt? Dabei hatte ich mich so sehr auf eine heimliche Tasse Kaffee gefreut.

»Aber Apfelkuchen dürfen Sie doch? Selbstgemacht!«

»Machen Sie keine Umstände. Ich hätte auch Kaffee getrunken.«

»Wirklich? «

Los, biete ihn mir schon an! Sie verschwindet in die Küche und kommt mit zwei Kannen zurück. Ich muß wohl Tee trinken.

Es poltert an der Tür. Herr Langarm kommt von seiner Arbeit nach Hause. In einer blauen Latzhose und auf Socken betritt er das Wohnzimmer. Er begrüßt mich mit einem »Na, schon eingelebt« und festem Händedruck. Dann setzt er sich in seinen Sessel und zieht sein Kissen etwas höher. Ich weiß, daß er als Heizungsmonteur arbeitet und jeden Tag dreißig Kilometer nach Oldenburg fährt. Aber er fängt so früh an, daß er gegen drei Uhr schon wieder zu Hause ist. Und jetzt weiß ich auch, daß er seine Haare sammelt. Da er schon über fünfzig ist, könnte er bei stärkerem Haarwuchs schon eine ganze Polstergarnitur aus Eigenhaar besitzen. Bei dem Gedanken, mich fast gegen sein Kissen gelehnt zu haben, bekomme ich Gänsehaut. Aber wer weiß, worauf ich sitze?

»Ich habe gehört, Sie sind Detektiv?« sagt er.

»Ich habe gehört, Sie machen bei der Feuerwehr mit?« kontere ich. Er sieht mich nachdenklich an. Dann lacht er.

»Ach so, die Sirene! Das war nur Probealarm. Sie ist repariert worden. Wir mußten sie ausprobieren.«

Seine Frau gießt mir Tee ein und schiebt mir mit der Bemerkung »Draußen ist noch mehr« ein großes Stück Apfelkuchen auf den Teller.

»Als Detektiv haben Sie hier ja nicht viel zu tun, was?« setzt er wieder an.

»Ich muß Sie enttäuschen: Ich bin kein richtiger Detektiv.«

Er lacht. Er glaubt mir nicht. »Und auf unser Dorf sind Sie nur zufällig gekommen? « Das klingt ironisch.

»Wie meinen Sie das?«

Er antwortet nicht, grinst mich an.

»Sie glauben doch nicht, ich sei wegen eines bestimmten Falles hier? Was sollte das denn sein? «

Er stopft sich Kuchen in den Mund und hebt die Schultern. »Weiß ich es. Hätte ja sein können.«

Seine Frau sieht ihn böse an und schüttelt ein wenig den Kopf. »Sie haben ja Glück mit dem Wetter«, versucht sie das Thema zu wechseln. Und: »Schade, daß ihre Frau nicht kann.«

Sylvia und ich sind nicht verheiratet, aber wir lassen alle im Dorf in dem Glauben.

Ihr Mann läßt sich nicht beirren. »Als Detektiv brauchen Sie doch Aufträge.«

»Meinen Sie, es gibt hier im Dorf etwas Interessantes? «

»Nein, nein. Ganz bestimmt nicht. Hier passiert doch nichts Aufregendes. Deshalb wundere ich mich ja, daß Sie hierhergekommen sind.«

Seine Frau funkelt ihn ärgerlich an und versucht nochmals, das Thema zu wechseln: »Wir können das Kaffeetrinken mit Ihrer Frau ja nachholen, wenn sie mal nicht Dienst hat.«

Der Arzt, bei dem Sylvia in Grömitz arbeitet, hat jeden Vormittag und jeden Nachmittag Sprechstunde, sogar samstags morgens ist die Praxis geöffnet. Nur der Mittwoch ist frei. Warum haben die Langarms uns nicht an Sylvias freiem Tag eingeladen? Eigentlich weiß doch jeder, daß Ärzte mittwochs geschlossen haben. Warum sollten die beiden mich allein sprechen wollen?

»Wie ist das hier mit der Feuerwehr?« nehme ich mein Thema wieder auf. »Kann man da mitmachen?«

Ihm fällt der Kuchen aus dem Mund. Er pickt ihn sich von der Hose, dann sieht er mich an, als hätte ich etwas Unanständiges gesagt.

»Ihre Frau sagte, Sie seien nicht ganz gesund?«

Das klingt, als sei ich der Irre und nicht er mit seinem Eigenhaarkissen.

»Ich wollte es nur mal so wissen, ob man da mitmachen kann?«

Er beschäftigt sich weiter mit den Krümeln auf seiner Hose.

Das blaue Nilpferd fällt neben meiner Schulter von der Sofalehne herab. Frau Langarm springt auf, schnappt es, haut ihm leicht auf den Po und sagt: »Du kleines Freches! « Dann nimmt sie es mit auf ihren Schoß.

»Sind Sie denn zufrieden mit der Wohnung?« Offensichtlich will der Mann das Thema Feuerwehr vermeiden. »Als Büro für einen Privatdetektiv eignet sie sich ja nicht so sehr. Es sei denn, Sie haben hier einen Fall zu bearbeiten? «

Seine Frau lacht und sagt: »Uns können Sie es sagen, wir sind ja ganz verschwiegen.« Dabei ordnet sie hastig den Apfelkuchen auf dem Tablett neu, so daß alles wieder symmetrisch aussieht.

Also doch ein Verhör.

»Ich kenne eine Geschichte aus dem Süddeutschen«, lüge ich, »da hat es in den Dörfern immer gebrannt; schließlich haben die herausgefunden, daß es ein Feuerwehrmann war, der die Brände legte.«

»Möchten Sie noch Kuchen?« fragt die Frau, dabei habe ich noch nicht einmal die Hälfte meines Stücks gegessen.

Der Mann steht auf, geht zum Wohnzimmerschrank.

»Die Feuerwehr ...«, quäle ich ihn, und er unterbricht mich sofort: »Wir haben ein Gästebuch. Eigentlich nur für Feriengäste, aber es macht Ihnen sicher auch Spaß, sich einzutragen.« Er öffnet die Glastüren des Schranks, zieht das in grünes Plastik gebundene Buch heraus und reicht es mir.

»Es ist ja nur, daß man wissen will, was im Haus vorgeht.«

Mir ist nicht vollkommen klar, ob er sich damit auf das Gästebuch bezieht oder ob es eine Drohung ist, endlich zu gestehen, an welchem Fall ich arbeite.

»Noch Tee?« fragt die Frau, erhebt sich ein wenig, um in meine Tasse zu schauen. In diesem Moment klopft es, und die Haustür wird geöffnet. Schon steht der hagere Helfer meines Nachbarn in der Wohnzimmertür.

»Jetzt nicht!« schreit Langarm ihn an, und seine Frau gießt mir heißen Tee über die Hose, daß ich aufspringe.

Der Hagere schrumpft unter unseren Blicken zusammen, murmelt: »Wollte ja nur meine Pflicht tun.« Und zieht von dannen.

»Lassen Sie nur«, wehre ich die Frau ab, die eine Serviette gegen meine Hose pressen will. »Ich gehe lieber und wechsle die Hose.«

»Bleiben Sie doch noch, das kriegen wir schon hin.«