Die Kronzeugin

Stefan Bouxsein

 

Die Kronzeugin

 

Kriminalroman

 

 

 

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Stefan Bouxsein

 

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Umschlaggestaltung und Titelbild:

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Ralf Heller

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Titelbild: fotolia

 

Lektorat:

Stefanie Reimann

 

ISBN 978-3-939362-25-8

 

 

2. Auflage, 2020

 

 

1

 

Montag, 6. Oktober 2014

Es war der erste Arbeitstag für Paul Lemgo in seiner neuen Funktion als Leiter der Frankfurter Mordkommission. Paul Lemgo saß im Büro des Polizeipräsidenten. Es war 8:00 Uhr morgens. Der Polizeipräsident saß vor einem aufgeräumten Schreibtisch. Nur eine Akte lag darauf.

»Ihre Akte ist nicht sehr aussagekräftig«, bemerkte der Polizeipräsident und schaute Paul Lemgo misstrauisch an.

»Vielleicht müssen Sie mehr zwischen den Zeilen lesen«, erwiderte Lemgo ungerührt.

»Wenn ich das mache, bekomme ich Bauchschmerzen. Ich habe noch nie eine Akte von einem Polizisten gesehen, in der fast alles geschwärzt ist. Die letzten fünf Jahre Ihrer beruflichen Laufbahn unterliegen der absoluten Geheimhaltung. Sind Sie sicher, dass Sie in der Lage sind, ein Team der Mordkommission zu führen?«

»Mit der Frage haben sich zuvor schon andere Leute beschäftigt. Ich habe den Job bekommen.«

»Ich weiß«, seufzte der Polizeipräsident. »Sie wurden uns von ganz oben empfohlen. Oder besser gesagt: Sie wurden uns aufgezwungen.«

»Manche Leute muss man halt zu Ihrem Glück zwingen«, erwiderte Lemgo und saß dem Polizeipräsidenten dabei sehr entspannt gegenüber.

»Ich nehme an, Sie haben die letzten fünf Jahre im Ausland verbracht?«, fragte der Polizeipräsident und schlug die Akte seines Gegenübers auf.

»Ich nehme an, Sie wissen, dass ich darüber keine Auskunft geben darf?«

Der Polizeipräsident klappte die Akte wieder zu und ließ sie auf den Tisch fallen. »Warum habe ich bloß das Gefühl, dass mir mit Ihnen eine tickende Zeitbombe untergejubelt wurde?«, seufzte er.

Ein eingehender Anruf auf dem Apparat des Präsidenten ersparte Paul Lemgo eine Antwort. Scheinbar wartete schon Arbeit auf den neuen Hauptkommissar bei der Mordkommission. Der Präsident blickte Lemgo an und sagte seinem Gesprächspartner am Telefon, dass sich der zuständige Kommissar gleich auf den Weg machen würde.

»Ihr erster Fall«, sagte der Präsident knapp, nachdem er das Gespräch beendet hatte. »Ein Mord an einem Restaurantbesitzer. Ein italienisches Edelrestaurant in der Innenstadt. Das Dolce Vita. Frau Forster wartet in Ihrem Büro auf Sie.«

Paul Lemgo betrat zwei Minuten später sein neues Büro. Er hatte es vor seinem Antritt beim Polizeipräsidenten das erste Mal betreten und nur fünf Minuten darin verbracht. Es war ein geräumiger Raum mit einer Zwischentür zu einem größeren Büro. Dem Büro seines neuen Teams. Zum Team gehörte Julia Forster. Sie war 29 Jahre alt, hatte blonde lange Haare und war groß gewachsen.

»Herr Lemgo?«, fragte sie, als Lemgo das Büro betrat.

Lemgo reichte ihr die Hand. »Paul Lemgo. Wo sind die anderen?«

»Samuel König fährt von zuhause direkt zum Tatort.«

»Und der Rest?«

»Welcher Rest?«

»Das Team sollte aus vier bis fünf Leuten bestehen.« Lemgo schaute ungläubig in das große Büro. Es gab vier Arbeitsplätze, von denen nur einer besetzt war. Die Handtasche von Julia Forster lag auf dem Schreibtisch.

»Keine Ahnung. Bisher gibt es nur Samuel und mich. Wir haben beide auch erst vor einer Woche unseren Dienst hier angetreten.«

»Das fängt ja gut an«, stöhnte Lemgo. »Machen wir uns auf den Weg. Ich hoffe, Sie haben wenigstens schon einen Dienstwagen.«

»Haben Sie denn keinen?«

»Kennen Sie sich in Frankfurt aus?«, stellte Lemgo eine Gegenfrage.

»Ich bin hier aufgewachsen«, antwortete Julia Forster, während sie mit schnellen Schritten zum Parkplatz lief.

 

Steffen Siebels kam gerade vom Kindergarten zurück, wo er seinen Sohn Dennis abgeliefert hatte. Nun stand er vor dem Reihenhäuschen im Frankfurter Stadtteil Eschersheim, das er vor drei Wochen mit seiner Familie bezogen hatte. An der kleinen Mauer, die sein Grundstück vom Bürgersteig trennte, hing seit gestern das nagelneue Messingschild. Steffen Siebels - Private Ermittlungen.

Siebels blieb einen Moment davor stehen und genoss den Anblick. Klienten hatte er zwar noch keine, aber er wollte es ja auch langsam angehen lassen. Es waren erst drei Monate vergangen, seitdem er seinen Dienst bei der Frankfurter Mordkommission aufgegeben und sich in das Leben eines Privatiers gestürzt hatte. Dafür ging seine Frau Sabine nun wieder zum Dienst. Sie war Kommissarin bei der Milieukriminalität und hatte nun nach einer mehrjährigen Baby- und Erziehungspause mit ihrem Mann getauscht. Siebels hatte seinen Entschluss, den Dienst zu quittieren und Vollzeitpapa und Teilzeitdetektiv zu werden, schon gefasst gehabt, als ihm die Leitung der gesamten Mordkommission angeboten worden war. Nach reiflicher Überlegung hatte er das aber abgelehnt. Bisher bereute er diesen Entschluss noch nicht. Er stand noch vor seinem neuen Messingschild, als ein roter Alfa Romeo vor seinem Haus anhielt. Eine Frau stieg aus dem Wagen und kam auf ihn zu.

»Sind Sie Herr Siebels? Der Privatdetektiv?«

Siebels nickte und betrachtete neugierig die Frau. Sie war Anfang dreißig, hatte schwarzes Haar, einen blassen Teint und haselnussbraune Augen. »Ja, der bin ich. Ich wollte gerade ins Haus gehen. Was kann ich für Sie tun?«

»Sie haben doch bestimmt auch ein Büro im Haus, wo ich mit Ihnen sprechen kann, oder?«

»Natürlich, kommen Sie.« Siebels führte seine Besucherin ins Haus und in sein Büro. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee?«

»Nein, danke.« Die Frau setzte sich auf den Besucherstuhl und weihte das neue Möbelstück ein. Siebels nahm auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz.

»Wie sind Sie auf mich gekommen?«, fragte Siebels neugierig.

»Sie waren mal Hauptkommissar bei der Kripo«, sagte die Frau ihm auf den Kopf zu.

Siebels nickte. »Bis vor Kurzem, ja.«

»Sie hatten vor einiger Zeit einen interessanten Fall. Dabei haben Sie dem organisierten Verbrechen einen empfindlichen Schlag zugeführt.«

Siebels runzelte die Stirn und beäugte seine Besucherin jetzt etwas misstrauischer. Sie sprach anscheinend von dem Fall Sabine Lehmann. Der Fall begann damals ganz unspektakulär. Sabine Lehmann hatte ihren Lebenspartner erschlagen. Eine Beziehungstat, die keiner großen Aufklärung mehr bedurfte. Aber Siebels fing an zu graben und er grub die internationale Beratungsgesellschaft World Consulting aus, die eng mit dem organisierten Verbrechen verbandelt war. Sabine Lehmann war eine Schlüsselfigur bei World Consulting gewesen, die Verbindungsfrau zwischen einer renommierten Unternehmungsberatung und der Mafia. Letztendlich hatte das BKA sie aus den Fängen der Mordkommission gezogen und als Kronzeugin eingesetzt.

»Sprechen Sie von World Consulting?«, vergewisserte sich Siebels.

Die Frau nickte unmerklich. »Ich hatte vor einigen Jahren Kontakt mit Frau Lehmann.«

Siebels wurde hellhörig. »Handelte es sich dabei um illegale Geschäfte?«

»Ich habe damals meinen Schwager unterstützt. Er betreibt verschiedene Geschäfte. Unter anderem ein Wettbüro.«

Siebels erinnerte sich, dass Sabine Lehmann auch bei der Manipulation von Fußballspielen beteiligt gewesen war. Vor allem in osteuropäischen Ligen war sie als Beraterin für ihre Klientel tätig gewesen. Spieler wurden entweder bestochen oder massiv bedroht, um die Ergebnisse ihrer Mannschaften zu manipulieren. Sabine Lehmann trat als Vermittlerin zwischen der Wettmafia und den Spielern auf.

»Was wollen Sie jetzt von mir?« Siebels wurde immer neugieriger.

»Ich möchte Ihre Dienste als Privatdetektiv in Anspruch nehmen.« Die Frau fixierte Siebels mit einem durchdringenden Blick.

»Sind Sie noch in diesem Milieu tätig? Ich übernehme keine Aufträge für die Unterwelt«, wehrte Siebels ab.

»Darf ich rauchen?«

Siebels war seit einer Woche Nichtraucher. Aber in der Schublade hatte er ein Notfallpäckchen und einen Aschenbecher parat liegen. Er stellte den Aschenbecher vor seiner Besucherin auf den Schreibtisch. Die Frau kramte ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Handtasche hervor. Siebels gab ihr Feuer. Sie blies den Rauch Richtung Decke und fing an, von ihrem Anliegen zu berichten.

»Mein Name ist Maria Serano. Ich bin die Schwester von Patricia Silotti. Patricia ist mit Silvio verheiratet. Die beiden haben einen Sohn. Marco. Er ist acht Jahre alt. Ich liebe meinen Neffen Marco, als wäre er mein eigenes Kind. Ich selbst kann leider keine Kinder bekommen. Vor zwei Stunden wurde Marco entführt. Ich möchte Sie beauftragen, ihn aufzuspüren und mir zu übergeben.« Die Frau zog nervös an der Zigarette.

Siebels schaute seine Besucherin verwundert an. »Vor zwei Stunden? Gibt es schon eine Lösegeldforderung? Haben Sie oder die Eltern die Polizei schon informiert?«

»Nein«, sagte Maria Serano und senkte ihren Blick. »Es handelt sich nicht um einen klassischen Entführungsfall, bei dem die Entführer ein Lösegeld fordern.«

»Sondern?«

»Meine Familie stammt aus Sizilien«, fuhr Maria Serano stockend fort. »Es handelt sich um eine sogenannte familiäre Angelegenheit. Mein Schwager würde niemals die Polizei einschalten.«

Siebels atmete tief durch. Es fiel ihm schwer, jetzt nicht auch zur Zigarette zu greifen. »Es tut mir leid«, sagte Siebels nach einer kurzen Bedenkpause. »Wie bereits gesagt, übernehme ich keine Aufträge für die Unterwelt. Schon gar nicht für die Mafia.«

»Deswegen habe ich mich für Sie entschieden. Ich habe mich von der Familie gelöst. Und ich will meinen Neffen da rausholen. Er ist ein guter Junge.« Maria Serano sah Siebels jetzt hilfesuchend an. »Ich zahle gut und gebe Ihnen einen Vorschuss.«

»Warum wurde Ihr Neffe entführt? Woher wissen Sie, dass er entführt wurde, wenn es keine Lösegeldforderung gibt?«

»Ich weiß es. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«

»Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen da behilflich sein könnte«, seufzte Siebels.

»Sie können Kontakt mit Sabine Lehmann aufnehmen.«

»Was hat sie damit zu tun?«

»Nichts. Aber sie kennt meinen Bruder, sie kennt seine Geschäfte, sie kennt seine Geschäftspartner, sie kennt die Familie.«

»Ich brauche Bedenkzeit.«

»Ich habe keine Zeit. Ich weiß, dass die Entführung meines Neffens eine spontane Aktion war. Das war nicht geplant und nicht vorbereitet. Sie werden ihn töten.«

Siebels rieb sich die Schläfen. Als er sich entschlossen hatte, nebenbei ein bisschen Privatdetektiv zu spielen, dachte er an Beschattungen von untreuen Ehemännern oder krankgeschriebenen Angestellten, die kerngesund anderen Tätigkeiten nachgingen. Nun saß diese Frau vor ihm und wollte ihn in einen Mafiakrieg hineinziehen. Mit seinem Vorsatz, sich hauptsächlich um die Erziehung seines Sohns zu kümmern, war das überhaupt nicht zu vereinbaren. Andererseits ging es um das Leben eines Kindes. Konnte er da den Auftrag einfach ablehnen?

»Sie wissen also mehr darüber. Warum wollen Sie mir die Hintergründe verheimlichen?«

»Mehr kann ich Ihnen im Moment nicht dazu sagen. Es tut mir leid. Sprechen Sie mit Sabine Lehmann. Bitte.«

»Also gut, ich werde versuchen mit Sabine Lehmann Kontakt aufzunehmen«, teilte er Maria Serano seine Entscheidung mit. »Je nachdem, was dabei herauskommt, werde ich mich dann mit dem Fall beschäftigen oder auch nicht. Wie kann ich Sie erreichen?«

Maria Serano schrieb ihre Mobilnummer auf einen Zettel und reichte ihn Siebels. Dann fischte sie einen Umschlag aus ihrer Handtasche und legte ihn auf den Schreibtisch. »Die Anzahlung. Sie können mich jederzeit anrufen.« Maria Serano erhob sich. Siebels begleitete sie zur Haustür. Als er in sein Büro zurückkam, öffnete er den Umschlag. Er zählte 10.000 Euro. Er widerstand erneut dem Drang, sich eine Zigarette anzustecken. Stattdessen rief er beim LKA in Wiesbaden an. Dort war sein ehemaliger Partner bei der Frankfurter Mordkommission, Till Krüger, nun als Hauptkommissar bei der Aufklärung von schweren Verbrechen zuständig. Till hatte gleichzeitig mit Siebels die Mordkommission verlassen. Das LKA war durch den Fall Sabine Lehmann auf Till aufmerksam geworden und hatte ihn abgeworben.

»Hallo, Till«, begrüßte Siebels seinen ehemaligen langjährigen Partner.

»Ach, nee. Der Herr Privatier persönlich. Hast du etwa schon Langeweile und suchst jemanden zum Plaudern?«

»Ganz im Gegenteil. Ich bin wieder mittendrin im Geschehen. Und wie läuft es bei dir?«

»Ziemlich trocken. Ich sitze jetzt hauptsächlich im Büro und komme kaum noch auf die Straße raus. Ich weiß bald gar nicht mehr, wie richtige Polizeiarbeit draußen überhaupt geht.«

Siebels lachte. »Zur Not kannst du ja immer noch mich fragen. Aber jetzt hätte ich mal eine Frage an dich.«

»Schieß los.«

»Hast du eine Ahnung, was aus unserer kalten Braut geworden ist?«

Am anderen Ende der Leitung blieb es einen Moment still. »Sabine Lehmann?«, fragte Till dann zögerlich.

»An andere kalte Bräute kann ich mich nicht erinnern.«

»Warum willst du das wissen?«

»Rein beruflich. Ich würde mich gern mit ihr unterhalten. In meiner Funktion als Privatdetektiv.«

»Du hast dich nicht verändert«, stöhnte Till. »Was für Leichen buddelst du denn gerade wieder aus?«

»Ich will mich doch nur mal nett mit einer alten Bekannten unterhalten. Vielleicht hat sie ja noch den einen oder anderen Traum, von dem sie mir erzählen möchte?« Als Siebels damals Sabine Lehmann wegen des Mordes an ihrem Lebenspartner, einem Enthüllungsjournalisten, befragen wollte, erzählte sie ihm nur von ihren völlig verworrenen Träumen. Erst viel später kam Siebels dahinter, dass es sich dabei um verschlüsselte Geständnisse ihrer kriminellen Machenschaften handelte.

»Sabine Lehmann gibt es nicht mehr. Sie hat die Kronzeugenregelung voll ausgeschöpft und lebt unter einer neuen Identität. Die Frau steht ganz oben auf der Abschussliste der Mafia.«

»Genau deswegen würde ich gerne mal mit ihr plaudern.«

»Mensch, Siebels. Du bringst mich in Teufels Küche. Wenn ich dir sage, wie sie jetzt heißt, begehe ich Geheimnisverrat.«

»Ihr neuer Name interessiert mich doch gar nicht. Ich treffe mich irgendwo mit ihr, wir sitzen wie zufällig auf einer Parkbank nebeneinander und reden ein paar Sätze. Dann trennen sich unsere Wege wieder. Kannst du das arrangieren? Ich würde dich nicht darum bitten, wenn nicht einiges davon abhängen würde.«

»Ich sehe, was ich tun kann. Ich melde mich bei dir.«

»Es wäre allerdings eilig«, schob Siebels hinterher.

»Okay. Kein Telefonkontakt mehr. Ich lasse mir was einfallen.«

 

2

 

Julia Forster fuhr den zivilen Audi mit dem Blaulicht auf dem Dach und schaltete das Martinshorn nur bei Bedarf ein. Paul Lemgo saß auf dem Beifahrersitz. Das Restaurant war an der Fressgass angesiedelt.

»Wer hat den Mord gemeldet?«, erkundigte sich Lemgo, als Julia Forster den Wagen über die Fußgängerzone rollen ließ. Das Restaurant war bereits weiträumig mit Absperrband abgeriegelt. Mehrere Uniformierte standen vor dem rotweißen Band. Zwei Fahrzeuge der Spurensicherung, mehrere Streifenwagen und der Mercedes von Samuel König verstopften die Fußgängerzone.

»Jemand vom Personal«, antwortete Julia Forster knapp und schaltete den Motor aus.

Lemgo zeigte den Beamten seinen Ausweis und ging schnurstracks in das Restaurant. Julia Forster folgte ihm. Die Leute von der Spurensicherung machten ihre Arbeit. Eine Leiche war nirgendwo zu sehen.

»Wo ist denn der Tatort?«, erkundigte sich Julia Forster bei einem der Spurensicherer.

Der Angesprochene deutete in den hinteren Teil des Restaurants. »Da hinten geht es die Treppe hoch zum Büro. Dort finden Sie das Opfer.«

Lemgo und Forster stiegen die schmale Treppe hinauf. Oben wurden sie von Samuel König empfangen.

»Hallo, Julia, da bist du ja endlich«, begrüßte er seine Kollegin.

Julia Forster deutete auf Paul Lemgo. »Herr Lemgo. Unser neuer Chef.«

»Schöne Scheiße«, murmelte Lemgo und sah an Samuel König vorbei.

»Freut mich auch«, erwiderte Samuel König und verdrehte die Augen.

»Vorstellen können wir uns ja auch später im Präsidium bei einer Tasse Kaffee«, schlug Julia Forster vor.

Lemgo betrachtete sich das Opfer aus der Nähe. Es handelte sich um einen etwa fünfzigjährigen Mann. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, der mit Blutflecken besudelt war. Auch sein sorgfältig gestutzter Vollbart war mit getrocknetem Blut verschmiert. Er saß auf einem Holzstuhl. Der Stuhl stand in der Mitte des Raumes. Das Gesicht des Toten war dem Fenster zugewandt. Arme und Beine waren mit Kabelbindern an den Stuhllehnen und Stuhlbeinen gefesselt. Ihm fehlten sieben Fingernägel. Alle fünf der linken Hand und die von Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Starke Strangulationsspuren am Hals, die obersten drei Knöpfe seines Hemdes waren abgerissen. Ihm fehlten zwei Schneidezähne, sein rechtes Auge war blutunterlaufen. Getötet worden war er durch einen Genickschuss.

»Wahrscheinlich mit Schalldämpfer«, mutmaßte Samuel König.

»Haben wir schon einen Todeszeitpunkt?«, wollte Lemgo wissen.

Die Gerichtsmedizinerin Anna Lehmkuhl stand direkt neben Lemgo. »Heute Nacht gegen zwei Uhr. Wie lange er zuvor gefoltert wurde, kann ich noch nicht sagen. Die Fingernägel wurden ihm anscheinend mit einer dafür vorgesehenen Zange gezogen. Sie befinden sich nicht am Tatort. Zwei Schneidezähne lagen auf dem Fußboden neben der Leiche.«

Lemgo betrachtete sich den toten Mann aus allernächster Nähe. »Der hat lange durchgehalten. Aber es hat ihm nichts genutzt. Am Ende hat er alles preisgegeben, was man von ihm wissen wollte.«

»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Julia Forster.

»Der, der das getan hat, versteht etwas von seinem Handwerk. Er hätte ihm auch die restlichen drei Nägel gezogen und ihm anschließend einzeln die Finger abgeschnitten, wenn er nicht geredet hätte. Haben wir in Frankfurt einen Mafiakrieg?«, fragte Lemgo in die Runde. Er erntete nur Schulterzucken. »Das fängt ja gut an«, stöhnte der neue Leiter der Frankfurter Mordkommission. »Sechs Leute sollten im Team sein. Jetzt sind es gerade mal zwei, die über keinerlei Hintergrundwissen verfügen.«

»Jetzt machen Sie mal einen Punkt«, beschwerte sich Samuel König. »Wir sind bei der Mordkommission und nicht bei der organisierten Kriminalität. Ich kann Ihnen jedenfalls mehr sagen, als dass er wahrscheinlich von einem Profi gefoltert und getötet wurde.«

»Schießen Sie los«, forderte Lemgo ihn auf.

»Der Tote ist Mattheo Pastori, 49 Jahre alt, italienischer Staatsbürger. Er lebte seit über 30 Jahren in Deutschland und betrieb das Restaurant seit 20 Jahren.«

»Wer hat ihn gefunden?«

Samuel König spickte auf seinen Notizblock. »Luigi Caluzi. Er gehört zum Personal und hält sich im Moment unten in der Küche auf.«

Lemgo wechselte mehrmals die Position im Raum und betrachtete sich den Toten aus verschiedenen Perspektiven. »Mit diesem Caluzi werde ich mich gleich unterhalten. Herr König, Sie besorgen sich sämtliche Videoaufzeichnungen der letzten Nacht im Umkreis des Restaurants. Wir sind hier im Herzen der Stadt, da gibt es jede Menge Kameras. Frau Forster, Sie besorgen umgehend die Passagierlisten von allen ankommenden Flügen der letzten drei Tage aus Süditalien und von den heute und morgen abgehenden. Setzen Sie die Flughafenpolizei in erhöhte Alarmbereitschaft. Das betrifft den Frankfurter Flughafen und vor allem den Flughafen Frankfurt-Hahn. In drei Stunden machen wir Lagebesprechung im Büro.« Lemgo verließ den Tatort und ging schnellen Schrittes die Treppe zum Restaurant herunter.

 

Siebels saß an seinem Schreibtisch und machte sich einige Notizen über sein Gespräch mit Maria Serano, als es an der Haustür klingelte. Er schaute aus dem Fenster. Ein Taxi stand vor der Tür. Missmutig ging er zur Eingangstür, um dem Fahrer zu erklären, dass der sich in der Adresse geirrt haben musste.

»Taxi für Siebels«, sagte der Fahrer und musterte Siebels neugierig.

»Das ist ein Irrtum. Ich habe kein Taxi bestellt.«

»Auf Sie wartet eine kalte Braut. Kommen Sie.« Der Taxifahrer drehte sich um und ging zur Straße.

»Ich komme sofort«, rief Siebels ihm hinterher und zog sich hastig die Schuhe an. Dass Till so schnell und so konspirativ handelte, hätte er nicht für möglich gehalten.

»Sie haben zehn Minuten, wenn wir da sind. Dann verschwindet Ihre kalte Braut wieder«, sagte der Fahrer, als Siebels auf dem Rücksitz saß.

Siebels kam sich vor wie in einem schlechten Agentenfilm. Er sah auf die Uhr. Jedenfalls war er dann rechtzeitig zurück, um Dennis wieder vom Kindergarten abzuholen. »Sind Sie vom LKA?«, fragte er den Fahrer.

»Ich bin Taxifahrer.«

»Na gut. Wohin geht die Fahrt?«

»Sie wollten doch zum Palmengarten, oder?« Der Taxifahrer war auf die Eschersheimer Landstraße Richtung Innenstadt gefahren.

»Wie konnte ich das nur vergessen?«, antwortete Siebels mit ironischem Unterton.

»Machen Sie sich keine Sorgen, falls dort noch andere Taxifahrer rumlungern«, sagte der Fahrer im gemütlichen Plauderton.

Siebels bemerkte, dass sein Chauffeur den Verkehr hinter ihnen mit Argusaugen im Rückspiegel beobachtete. Wegen des Treffens mit Sabine Lehmann schien Till einen ausgedehnten LKA-Einsatz auf die Beine gestellt zu haben. An einem Treffen zwischen der kalten Braut und ihm schien nicht nur Maria Serano interessiert zu sein. Siebels fragte sich, in was er da gerade hineingeriet. Das Taxi bog nach rechts auf die Miquelallee ab und kurz vor der Autobahnauffahrt nahm der Fahrer die Abbiegung nach Bockenheim. Bald darauf erreichten sie die Palmengartenstraße. Das Taxi hielt direkt vor dem Eingang.

»Gehen Sie direkt ins Palmenhaus. Ihre Braut wird dort auf einer Bank sitzen.«

Siebels stieg aus, kaufte sich eine Eintrittskarte und nahm den Weg zum Palmenhaus. Das Taxi blieb vor dem Eingang stehen. Siebels fühlte sich beobachtet, als er seinem Ziel entgegenging. Aber er drehte sich nicht um und schaute weder nach links noch nach rechts. Er betrat das Palmenhaus, in dem ein tropisches Klima herrschte. Siebels kam an einer Bank vorbei, auf der ein Mann saß und die Tageszeitung las. Der Mann hatte einen winzigen Knopf im Ohr. Siebels ging weiter, unter Palmenblättern hindurch. Auf einer Bank weiter hinten saß eine Frau. Sie trug ein Kopftuch und eine Sonnenbrille. Während Siebels langsam auf sie zuging, versuchte er ihr Gesicht zu erkennen. Wenn es Sabine Lehmann war, hatte sie sich verändert.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte Siebels und war sich immer noch unsicher, ob er die richtige Frau ansprach.

»Möchten Sie etwas über meine Träume erfahren?«, fragte die Frau mit leiser Stimme.

Siebels setzte sich. Er musste an sein erstes Treffen mit Sabine Lehmann denken. Sie lag völlig erschöpft im Krankenhaus. Siebels war nur dort gewesen, um ihr Geständnis aufzunehmen. Den Mord an ihrem Lebenspartner. Sabine Lehmann legte aber ein ganz anderes Geständnis ab. Ein Geständnis, dass sich aus vielen schlimmen Träumen zusammensetzte. Aber das hatte Siebels erst sehr viel später verstanden. »Freut mich, dass wir uns mal wiedersehen«, sagte Siebels, ohne seine Gesprächspartnerin dabei anzusehen.

»Die Freude ist ganz meinerseits, Herr Siebels. Ich habe gehört, Sie haben den Dienst quittiert und verdingen sich nun als Privatermittler.«

»Sie sind gut informiert. Hat das LKA Sie eingestellt? Oder arbeiten Sie jetzt für das BKA?«

»Oh, ich mache eigentlich das Gleiche wie früher auch. Ich bin als Beraterin tätig. Es gibt tatsächlich verschiedene Institutionen, die von meinen spezifischen Fachkenntnissen profitieren möchten. Wie mir mitgeteilt wurde, haben Sie auch akuten Beratungsbedarf. Was kann ich für Sie tun, Herr Siebels?«

 

Paul Lemgo blieb vor der Schwingtür am Kücheneingang stehen und warf durch das gläserne Bullauge einen Blick in die Küche. Zwischen den Kochflächen aus Edelstahl saß ein Mann an einem Klapptisch und rauchte eine Zigarette. Er war etwa im gleichen Alter wie das Mordopfer, trug einen hellgrauen Anzug und ein rosafarbenes Hemd, dessen obere Knöpfe geöffnet waren. Die schwarzen Haare waren mit Gel zurückgekämmt. Lemgo studierte das Gesicht des Mannes und atmete erleichtert auf. Er kannte den Mann nicht. Schwungvoll stieß er die Schwingtür auf und hielt Luigi Caluzi seinen Ausweis entgegen.

»Luigi Caluzi? Sie haben den Toten gefunden?«

Der Italiener nickte und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.

»Sie gehören zum Personal von Herrn Pastori? Was ist Ihr Job?«

Luigi Caluzi stand auf und stellte sich mit den Händen in den Hosentaschen vor Lemgo. »Ich bin der Geschäftsführer.«

»Der Geschäftsführer? Von welchen Geschäften?«

Luigi Caluzi nahm die Hände aus den Hosentaschen und breitete die Arme aus. »Na, von dem Restaurant hier. Und von dem anderen Restaurant, das Mattheo betrieben hat. Das haben wir vor zwei Monaten im Europaviertel eröffnet.«

»Welche Geschäfte führen Sie sonst noch? Bordelle? Spielhallen? Wettbüros?«

»Es gibt nur die Restaurants.«

Lemgo nickte. »Um welche Zeit haben Sie Herrn Pastori heute tot aufgefunden?«

»Heute Morgen um kurz nach acht. Wir waren verabredet, wollten die Umsatzzahlen vom letzen Monat besprechen.«

»Er wurde heute Nacht gegen zwei Uhr umgebracht. Was hat er um diese Zeit im Büro gemacht?«

Luigi Caluzi zuckte mit den Schultern. »Manchmal arbeitete er die ganze Nacht durch.«

»Wo waren Sie heute Nacht?«

»Ich war zuhause. Von elf Uhr abends bis heute morgen um halb acht.«

»Gibt es dafür Zeugen?«

»Ja. Ich war mit einer Frau zusammen. Sie gehört übrigens zum Personal. Sie arbeitet als Bedienung in unserem Restaurant im Europaviertel. Annette Weiland.«

»Gab es in letzter Zeit Probleme wegen der Zahlung Ihrer Schutzgelder?« Lemgo schaute seinem Gegenüber direkt in die dunkelbraunen Augen. Luigi Caluzi wich Lemgos Blick aus und schaute über dessen rechte Schulter.

»Schutzgelder? Wir zahlen kein Schutzgeld.«

»Warum glaube ich Ihnen das jetzt bloß nicht?«, fragte Lemgo in einem übertrieben freundlichen Tonfall.

»Wahrscheinlich weil Sie mit Vorurteilen gegen italienische Mitbürger belastet sind«, sagte Caluzi und lächelte Lemgo aalglatt an.

Mit einer schnellen Bewegung griff Lemgo den Italiener am Hemdkragen und zog ihn dicht an sich heran. »Erzähl mir keine Scheiße«, zischte Lemgo. »Wer kassiert hier ab?«

»Niemand«, keuchte Caluzi. »Nehmen Sie Ihre Finger von mir.«

Lemgo packte fester zu und drückte Caluzi über eine Arbeitsplatte. »Du bist ein Zocker. Zocker wie dich rieche ich zehn Meilen gegen den Wind. Wie hoch sind deine Spielschulden?«

»Lassen Sie mich los, Mann. Oder ich zeige Sie an wegen Körperverletzung.«

Lemgo ließ Caluzi los. Als der sich wieder aufrichtete, schlug Lemgo ihm die Faust in die Magengrube. »Jetzt kannst du mich wegen Körperverletzung anzeigen.«

»Wie heißen Sie?«, stöhnte Caluzi in gekrümmter Körperhaltung.

»Lemgo. Hauptkommissar Paul Lemgo. Seit wann arbeiten Sie für Mattheo Pastori?«

Caluzi richtete sich aus seiner gekrümmten Haltung wieder auf. »Seit zwei Jahren.«

»Haben Sie mir sonst noch irgendwas zu sagen?«

»Ja. Sie sind ein Arschloch«, zischte Caluzi.

»Ich weiß. Und ich mag keine Folter.«

»Ich habe mit dem Tod von Mattheo nichts zu tun.«

»Warum wurde er gefoltert? Was sollte er preisgeben?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich konnte es selbst nicht glauben, als ich ihn in diesem Zustand aufgefunden habe. Er war ein seriöser Gastronom. Schon seit Jahrzehnten.«

»Das wird sich zeigen. Ist diese Annette Weiland noch bei Ihnen zuhause?«

»Nein. Sie hat meine Wohnung heute Früh verlassen. Sie hat ein Zimmer im Studentenwohnheim in der Ginnheimer Landstraße.«

»Sie studiert?«

»Psychologie. Sie jobbt bei uns nebenher.«

 

Siebels überlegte, wie viel er preisgeben konnte. Oder ob er überhaupt irgendwas von seinem Anliegen vortragen sollte. Alles, was er Sabine Lehmann mitteilen würde, würde auch das LKA erfahren. Wahrscheinlich trug sie sogar ein Mikrofon am Körper. Andererseits hatte Till dieses Treffen organisiert und seinem langjährigen Partner von der Mordkommission vertraute er blind. Siebels dachte an seine Mandantin Maria Serano. War die ganze Sache vielleicht nur eine Finte? War die Geschichte von der Entführung des achtjährigen Marco bloß erfunden? Sabine Lehmann stand bei der Mafia ganz oben auf der Todesliste. Sie war eine Überläuferin und sie war untergetaucht. War Maria Serano von der Mafia geschickt worden, um über ihn Sabine Lehmann aus der Deckung zu locken? Dann machte die professionelle LKA-Aktion durchaus Sinn.

»Meine Mandantin hat mir empfohlen, mich an Sie zu wenden«, begann Siebels vorsichtig das Gespräch. »Ihr Name ist Maria Serano. Kennen Sie sie?«

»Nein, diesen Namen habe ich noch nie gehört.«

»Ihr Schwager betreibt Wettbüros. Sein Name ist Silvio Silotti.«

»Ach, Silvio. Ja, für den habe ich einige Aufträge übernommen.

Ich war in den osteuropäischen Fußballligen aktiv, wie Sie wissen. Ich hatte mir über dreißig Spieler durch Bestechung und Bedrohung gefügig gemacht. Silvio habe ich aber gebraucht, um Wetten auf einen italienischen Provinzclub zu platzieren. Einer meiner Kunden war Fan von diesem Verein und hat hohe Summen auf die Siege seiner Mannschaft gesetzt. Der Verein war zum Siegen verdammt und ich habe dafür gesorgt, dass die Gegner schlecht genug spielen. Warum ist Silvios Schwägerin zu Ihnen gekommen?«

»Weil Sie nicht zur Polizei gehen will«, sagte Siebels und war sich ziemlich sicher, dass Till ganz in der Nähe war und mit Kopfhörern jedes Wort mitverfolgte.

»Dafür wird sie gute Gründe haben. Silvio entstammt einer sizilianischen Familie. Er ist Ende der achtziger Jahre nach Deutschland gekommen.«

»Von seiner Schwägerin Maria Serano haben Sie aber nie etwas gehört?«

»Nein. Frauen spielen bei der Mafia aber auch keine Rolle. Die erledigen den Haushalt. Die Mafia ist ein reiner Männerclub.«

»Sie sind aber eine Frau«, stellte Siebels verwundert fest.

Sabine Lehmann schmunzelte. »Ich bin aber kein Mitglied einer Mafiafamilie gewesen. Ich war für Paulsen und für World Consulting tätig. Die Mafia gehörte zu meinem Kundenkreis. Das ist etwas anderes.«

»Kann es sein, dass die Mafia Maria Serano zu mir geschickt hat, um über mich an Sie heranzukommen?«, fragte Siebels jetzt geradeheraus.

»Ihr Wunsch, mich zu sprechen, hat jedenfalls einige Leute in eine betriebsame Hektik versetzt. Vielleicht sollten Sie jetzt besser beichten, welchen Auftrag Maria Serano Ihnen erteilt hat.«

Siebels entschied sich für eine Zusammenarbeit mit Till. Till war der Einzige, dem er blind vertraute. Aber Siebels wollte zunächst die Fäden in der Hand behalten. »Till, hörst du zu?«, fragte Siebels ganz offen.

»Sprechen Sie weiter«, forderte Sabine Lehmann ihn auf.

»Finde heraus, ob Maria Serano einen Neffen hat. Marco, acht Jahre alt. Ein Sohn von Marias Schwester Patricia und Silvio Silotti. Wenn dem so ist, möchte ich wissen, ob er sich in seiner gewohnten Umgebung befindet.«

Es blieb eine Weile still. Siebels hatte keinen Knopf im Ohr von Sabine Lehmann ausgemacht. Till konnte wahrscheinlich nur zuhören. Aber der Mann, der am Eingang des Palmenhauses gesessen hatte, hatte einen Knopf im Ohr gehabt. Und der kam jetzt auf Siebels zugelaufen. Siebels sah dem Mann neugierig entgegen, bis der vor ihm stehenblieb.

»Wir prüfen das. Ihr Taxi wartet. Sie sollten jetzt gehen. Ihr Taxifahrer wird Sie wieder abholen, wenn eine Fahrt nötig ist.« Der Mann drehte sich um und ging zurück zu seiner Ausgangsposition.

»Ich komme mir vor wie ein Geheimagent«, sagte Siebels kopfschüttelnd.

»Irgendwas ist im Gange«, flüsterte Sabine Lehmann. »Ein Sturm zieht auf.«

»Wie heißen Sie jetzt eigentlich?«, erkundigte sich Siebels bei Sabine Lehmann, die so ja nicht mehr hieß.

»Sie können mich Liliane nennen. Ein schöner Name, oder?«

»Ein sehr schöner Name. Ich muss los, mein Taxi wartet. Danke, dass Sie so schnell Zeit für mich gefunden haben.«

 

3

 

Paul Lemgo stand vor den zahlreichen Namensschildern am Eingang des Studentenwohnheims in der Ginnheimer Landstraße und suchte nach Annette Weiland. In dem Hochhaus gegenüber dem Sportgelände der Universität waren über 280 Wohneinheiten untergebracht. Annette Weilands Unterkunft befand sich im sechsten Stockwerk. Eine Gruppe junger Leute kam gerade aus dem Haus und Lemgo trat durch die geöffnete Tür ein. Er nahm den Fahrstuhl nach oben. Das Zimmer von Annette Weiland lag am Ende des Ganges. Lemgo klopfte an. Als sich nichts rührte, klopfte er lauter gegen die Tür. Kurz darauf öffnete ihm die junge Frau und sah ihn fragend an. Lemgo hielt ihr seinen Ausweis vor die Nase. Er war sich sicher, dass Luigi Caluzi sie schon auf seinen Besuch vorbereitet hatte.

»Sie studieren Psychologie?«, erkundigte sich Lemgo und folgte der Studentin in das beengte Zimmer. Er setzte sich auf den einzigen Stuhl. Annette Weiland nahm auf der Bettkante Platz.

»Im dritten Semester. Warum will die Polizei das wissen?«

»Das hat Herr Caluzi Ihnen doch schon mitgeteilt.«

»Nein. Dass die Polizei sich für mein Studienfach interessiert, hat er nicht gesagt.«

»Warum lässt sich eine junge hübsche Psychologiestudentin mit einem in die Jahre gekommenen windigen Typen wie Caluzi ein?«, fragte Lemgo frei heraus.

»Sind Sie eifersüchtig?« Annette Weiland sah Lemgo herausfordernd an.

»Vorher würde ich versuchen, Sie ihm auszuspannen.«

Annette Weiland legte ihren Kopf leicht schief. »Ich weiß nicht so recht, ob Sie mein Typ sind«, sagte sie gespielt nachdenklich.

»Finden Sie es heraus«, forderte Lemgo sie auf.

»Ich bin schon dabei. Aber ich bin noch unentschlossen.«

Lemgo gefiel die offene Art der jungen Frau. Und ihre langen dunkelbraunen Locken gefielen ihm auch. »Haben Sie die letzte Nacht zusammen mit Luigi Caluzi verbracht?«

»Wenn Sie nicht solche Fragen stellen würden, würden Sie mir sogar ganz gut gefallen, glaube ich.«

»Sie gefallen mir sehr gut«, ging Lemgo in die Offensive. »Ich muss Ihnen trotzdem diese Frage stellen. Hat Herr Caluzi Ihnen gesagt, warum er ein Alibi benötigt?«

»Nein. Er hat mir nur Ihren Besuch angekündigt und mir gesagt, dass ich Ihnen bestätigen soll, dass ich die Nacht bei ihm verbracht habe.«

»Und? Bestätigen Sie das?«

»Ja, ich habe bei ihm geschlafen. Sind Sie nun zufrieden?«

»Nein, ich bin nicht zufrieden. War er zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens mit Sicherheit in seinem Schlafzimmer?«

»Ja. Er hat laut geschnarcht. Es war furchtbar. Warum wollen Sie das eigentlich wissen?«

»Das erzähle ich Ihnen heute Abend. Vielleicht in einer Bar?«

Annette Weiland sah Lemgo neugierig an. »Jetzt wollen Sie es also wirklich wissen?«

»Ich hole Sie um neun Uhr ab, in Ordnung?«

»Haben wir ein Date? Oder wollen Sie mich ins Kreuzverhör nehmen?«

»Vielleicht kann ich ja das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden?«

»Sie machen mich neugierig. Also gut, einverstanden. Bis heute Abend.«

 

Als Lemgo wieder im Polizeipräsidium ankam, ging er schnurstracks zum Büro des Präsidenten. Die Vorzimmerdame wollte ihn abwimmeln, aber Lemgo marschierte unbeeindruckt in das Büro.

»Das Team sollte außer mir aus sechs weiteren Beamten bestehen«, polterte Lemgo los. Der Präsident saß an seinem Schreibtisch und unterschrieb Dokumente, die in einer Mappe vor ihm lagen. »Es sind aber nur zwei. Was soll das?«

»Lassen Sie sich das nächste Mal einen Termin geben, wenn Sie ein Gespräch wünschen«, ließ der Präsident Lemgo abblitzen.

Lemgo stützte sich mit beiden Händen auf dem Schreibtisch ab und beugte sich so weit vor, bis seine Nasenspitze fast die des Präsidenten berührte. »Beim nächsten Mal lasse ich mir sehr gerne einen Termin geben. Aber jetzt will ich eine Antwort auf meine Frage.«

»Vielleicht sind Ihnen die Personalengpässe bei uns ja nicht bekannt«, holte der Präsident aus.

»Reden Sie sich nicht raus«, fuhr Lemgo ihm dazwischen. »Sie haben ein Problem mit mir und wollen mich schnellstmöglich wieder loswerden. Wahrscheinlich haben Sie die Leute zu meinem Dienstantritt alle in den Urlaub geschickt.«

Der Präsident schob die Mappe auf seinem Schreibtisch zur Seite, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute Lemgo nachdenklich an. »Dass Sie Probleme machen, habe ich mir gedacht. Dass es gleich an Ihrem ersten Tag damit losgeht, überrascht mich aber doch etwas. Aber Sie haben recht. Ich hätte nichts dagegen, falls Sie uns wieder verlassen wollen. Ihre Einstellung wurde über meinen Kopf hinweg entschieden. Ich hatte etwas andere Vorstellungen von dem Leiter unserer Mordkommission.«

»Ich weiß nicht, was für Vorstellungen Sie von mir haben, und es interessiert mich auch nicht. Ich bearbeite gerade meinen ersten Fall. Ein Mann wurde gefoltert. Von einem Profi. Das Opfer ist italienischer Abstammung, Besitzer von zwei Edelrestaurants. Ich gehe davon aus, dass die Hintergründe des Falles mit der organisierten Kriminalität zu tun haben. Mit der Mafia, um es deutlich zu sagen. Frau Forster und Herr König sind bestimmt sehr fähige Leute. Aber nur mit den beiden komme ich jetzt nicht schnell genug voran.«

Der Präsident trommelte nervös mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Mafia? Sind Sie sicher?«

Lemgo nickte. »Ich kenne mich in diesem Milieu aus«, sagte er leise. »Ich war so tief drin, dass einige Leute es für besser hielten, meine Akte zu schwärzen. Leute, die weit über Ihnen stehen und über Ihren Kopf hinweg entscheiden.«

»Auf die Schnelle bekomme ich kein sechsköpfiges Team für Sie zusammen«, stöhnte der Präsident. »Sie können auf Charly Hofmeier zurückgreifen. Der macht zwar nur Innendienst, hat aber unsere ehemaligen Kommissare Steffen Siebels und Till Krüger immer tatkräftig unterstützt. Für Notfälle steht Ihnen auch Kommissar Kulmbacher zur Verfügung. Auf den haben Ihre Vorgänger ebenso zurückgegriffen, wenn Not am Mann war. Meistens, wenn Observationen anstanden.«

»Okay. Das langt aber nicht. Ich brauche noch mehr Leute, die rausgehen.«

»Mehr Leute stehen nicht zur Verfügung, tut mir leid«, entgegnete der Präsident achselzuckend.

»Mir tut es auch leid«, zischte Lemgo, drehte sich um und verließ das Büro.

 

Zwei Sunden nach dem Treffen zwischen Siebels und Liliane im Palmengarten setzte sich das Team beim LKA in Wiesbaden zu einer Besprechung zusammen. Neben dem Abteilungsleiter Thomas Heck waren Till Krüger sowie Liliane anwesend.

»Dem Taxi ist auf dem Weg zum Palmengarten niemand gefolgt«, eröffnete Thomas Heck die Besprechung.

»Dann war es keine Falle«, resümierte Liliane.

»Schwer zu sagen«, gab Thomas Heck zur Antwort. »Wir haben die Aktion ziemlich schnell nach der Kontaktaufnahme von Maria Serano bei Siebels gestartet. Vielleicht waren sie noch gar nicht in Stellung gegangen.«

»Oder sie haben den Braten gerochen«, gab Till zu bedenken.

»Warum nennt diese Maria Serano Sie als Ansprechpartnerin für Siebels? Wie kommt sie auf Sie?«, fragte Heck Liliane mit nachdenklicher Stimme.

»Sie muss auf jeden Fall über die Geschäfte ihres Schwagers im Bilde gewesen sein », antwortete Liliane zögerlich.

»Haben Sie Silvio Silotti beim BKA auffliegen lassen? Mir ist dieser Mann gar nicht bekannt.«

Liliane dachte angestrengt nach. Unzählige Verhöre mit Beamten vom BKA lagen hinter ihr. Sie hatte alle ihre Geschäftsbeziehungen mit kriminellem Hintergrund offengelegt. Fast hundert Leute hatte sie belastet. Nicht mit allen hatte sie direkten Kontakt gehabt. Aber sie kannte die Verbindungen zwischen den illegalen Geschäftsbeziehungen aus ihrem Kundenkreis. Beim BKA war die deutsche Abteilung von Europol zuständig. Ihre Aussagen wurden zur Zentrale von Europol nach Den Haag weitergeleitet. In Den Haag wurde der europaweite Schlag gegen den europäischen Ableger von World Consulting geplant. Fast zeitgleich wurde in zwölf europäischen Ländern gegen die Beratungsgesellschaft vorgegangen. Die Aktion war ein voller Erfolg. Das Netzwerk von World Consulting war praktisch über Nacht zusammengebrochen. Hunderte Verhaftungen wurden vorgenommen. Vor allem in Schweden, Spanien, Italien, Deutschland und Österreich. Europol in Den Haag sammelte unzählige Fakten und Protokolle von Vernehmungen aus den betreffenden Ländern. Liliane wurde aufgrund der neuen Informationen aus den anderen Ländern immer wieder befragt. Bis sie schließlich an das LKA in Wiesbaden vermittelt wurde, weil dort die Ermittlungen gegen die Unternehmensberatung Paulsen durchgeführt wurden. Liliane erinnerte sich wieder an ihre Aussage zu Silvio Silotti. »Silotti spielte beim BKA irgendwann plötzlich keine Rolle mehr«, gab Liliane ihre Erinnerung preis. »Möglicherweise gab es einen Deal zwischen Silotti und dem BKA. Oder mit der Staatsanwaltschaft. Ich weiß es nicht. Ich hatte Silotti bei einer meiner letzten Vernehmungen noch einmal erwähnt. Man sagte mir, dass ich Silotti vergessen solle. Die Ermittlungen gegen ihn seien eingestellt worden.«

»Ich werde mich beim BKA und bei Europol erkundigen, was da gelaufen ist. Aber ich befürchte, dass ich keine Antworten erhalten werde«, seufzte Thomas Heck. »Wir sollten ihn auf jeden Fall gründlich durchleuchten. Das Gleiche gilt für Maria Serano.« Heck blätterte in seinen Unterlagen. »Letzte Nacht gab es einen Mordfall in Frankfurt«, sagte er dann nachdenklich. »Mattheo Pastori wurde in seinem Restaurant auf der Fressgass mit einem Genickschuss hingerichtet. Zuvor wurde er gefoltert. Sieht auf den ersten Blick nach einem Mafiamord aus.« Heck schaute Liliane an. »Kann es einen Zusammenhang zwischen diesem Mord und dem Auftauchen von Maria Serano geben?«

»Natürlich. Ein Auftragsmord und eine Kindesentführung, das kann den gleichen Hintergrund haben. Aber ich habe keine Ahnung, welchen.«

»Ich werde die Ermittlungen der Frankfurter Mordkommission auf jeden Fall im Auge behalten«, sagte Heck.

»Wer leitet denn bei der Frankfurter Mordkommission die Ermittlungen?«, fragte Till neugierig.

»Paul Lemgo.«

»Nie gehört«, sagte Till etwas enttäuscht.

 

Paul Lemgo ließ sich von seinem zweiköpfigen Team die ersten Ermittlungsergebnisse präsentieren. Samuel König hatte aus der Mordnacht die Videoaufzeichnungen von den U-Bahn-Stationen Alte Oper, Hauptwache und Konstablerwache sowie von den Bankfilialen, Juwelieren und dem Apple-Store auf der Fressgass besorgt und sich im Schnelldurchlauf die vier Stunden von 22:00 Uhr bis zum voraussichtlichen Todeszeitpunkt um 2:00 Uhr durchgesehen.

»Ich habe mehrere Verdächtige und eine sehr verdächtige Person ausmachen können«, begann er mit seinem Bericht.

»Beschränken Sie sich zunächst auf die sehr verdächtige Person«, fiel Lemgo ihm ins Wort.

Samuel König spielte eine Videoaufzeichnung von der U-Bahn-Haltestelle Alte Oper ab. »Um 22:55 Uhr steigt dieser Mann aus der Linie U6. Kurz darauf ist er auf der Aufzeichnung vor der Commerzbankfiliale am Opernplatz zu sehen. Man kann noch sehen, dass er auf die Fressgass läuft. Die Kameras vor dem Apple-Store und Swarowski haben ihn nicht mehr erfasst. Das Restaurant liegt genau dazwischen.«

»Gute Arbeit«, lobte Lemgo. »Haben Sie ihn auch nach dem Todeszeitpunkt auf Video?«

»Ja, um 2:15 Uhr läuft er an der Commerzbankfiliale am Opernplatz vorbei. Zu dieser Zeit fahren keine U-Bahnen mehr. Wohin er dann gegangen ist, lässt sich nicht sagen.«

»Das könnte schon unser Mann sein. Zoomen Sie sein Gesicht mal heran.«

Samuel König wählte einen Bildausschnitt von der U-Bahn-Station. Lemgo und Julia Forster betrachteten sich den Mann. Er war etwa Mitte dreißig, schlank, dunkelhaarig und trug Jeans und eine schwarze Jacke.

»Was ist das für ein Strich auf seiner linken Wange?«, fragte Julia Forster, die angestrengt das Bild betrachtete.

»Ist mir noch gar nicht aufgefallen«, murmelte Samuel und zoomte das Gesicht des Mannes noch näher heran. Das Bild wurde aber unschärfer.

»Sieht aus wie eine Narbe«, sagte Lemgo. »Zirka vier Zentimeter lang, senkrecht verlaufend auf der linken Wange. Vielleicht von einer Messerstecherei. Lassen Sie das als Merkmal mal durch den Computer laufen. Haben Sie auch schon was, Frau Forster?«

»Ich habe mir die Passagierlisten der von Italien ankommenden Flüge durchgesehen und auf alleinfliegende Männer mit italienischer Staatsangehörigkeit reduziert. Meine Liste enthält noch über achtzig Kandidaten. Wenn ich die Daten von dem Mann hier mit der Liste abgleiche, wird es interessant. Der größte Teil auf meiner Liste ist nämlich über vierzig Jahre alt.« Julia Forster strich auf ihrer Liste sämtliche Namen, deren Geburtsdatum vor 1984 lag. Als sie fertig war, blieben noch acht Namen auf der Liste stehen. Davon waren zwei auf dem Flughafen Frankfurt-Hahn gelandet, die anderen sechs waren mit Direktflügen auf dem Frankfurter Flughafen angekommen.

»Versuchen Sie auf den Flughäfen Videoaufnahmen zur Ankunftszeit dieser acht Männer zu bekommen«, forderte Lemgo sie auf. »Wenn wir Glück haben, ist unser Narbengesicht dabei.«

»Wird erledigt.« Julia Forster und Samuel König fühlten sich schon fast am Ziel. Paul Lemgo beschlich ein ungutes Gefühl.

 

Siebels ging auf die Knie und empfing mit ausgebreiteten Armen seinen Sohn Dennis, der ihm freudestrahlend entgegengerannt kam. Im Kindergarten ging es gerade hoch her, außer Siebels waren noch einige Mütter gekommen, um ihren Nachwuchs abzuholen.

»Hallo, Herr Siebels«, hörte Siebels eine Stimme hinter sich.

Er stellte sich wieder auf, behielt Dennis an der Hand und nickte der Kindergärtnerin freundlich zu. »Hallo, Frau Klein. Hat sich Herr Siebels junior gut benommen?«

»Na ja, er schießt manchmal etwas über das Ziel hinaus, der Herr Siebels junior.« Frau Klein schaute Dennis an, aber der versteckte sich hinter Herrn Siebels senior.

»Er hat sich doch hoffentlich nicht geprügelt?«, seufzte Siebels.

»Nein, das nicht. Er ist ja schließlich ein vorbildliches Polizistenkind. Vielleicht etwas zu vorbildlich. Er hat die kleine Melanie verhaftet und in der Besenkammer eingesperrt.«

Siebels ging in die Knie und schaute Dennis ernst an. »Stimmt das? Du hast ein kleines Mädchen verhaftet?«

Dennis nickte und schmollte.

»Was hat sie denn verbrochen?«, wollte Siebels wissen.

»Sie hat dem Markus seine Schokolade weggegessen«, sagte Dennis laut und empört.

»Und deswegen hast du sie in die Besenkammer gesperrt? Wie alt ist die Melanie denn?«

Dennis hob seine Hand und streckte vier Finger in die Luft.

»Vier Jahre. Aha. Hat sie den Markus denn vorher gefragt, ob sie etwas von seiner Schokolade haben darf?«

Dennis schüttelte den Kopf. »Sie hat sie einfach genommen und aufgegessen.«

»Das ist aber nur ein ganz kleines Verbrechen«, stellte Siebels fest. »Aber wenn du sie eingesperrt hast, ist das ein viel größeres Verbrechen. Das darfst du nämlich nicht. Das darf nur die Frau Klein. Frau Klein muss nämlich auf alle Kinder hier aufpassen. Das weißt du aber schon, oder?«

»Mmh, ja«, murrte der verhinderte Kindergartenpolizist.

»Dann entschuldigst du dich jetzt am besten bei Frau Klein und bei Melanie.«

Dennis schaute Frau Klein an. »Tschuldigung«, murmelte er.

Frau Klein tätschelte ihn am Kopf. »Die Melanie ist schon abgeholt worden. Die hat ganz schön viel geweint in der Besenkammer. Bei der entschuldigst du dich morgen, in Ordnung?«

»Okay. Aber Melanie muss sich auch bei Markus entschuldigen.«

»Ja, das muss sie natürlich auch. So, dann sehen wir uns morgen wieder. Tschüss, Dennis. Tschüss, Herr Siebels.«

Siebels lief mit Dennis zum Auto und hievte ihn dort auf den Kindersitz. Als er ihn festgeschnallt hatte und um den Wagen zur Fahrertür lief, sah er auf der gegenüberliegenden Seite einen roten Alfa Romeo am Straßenrand parken. Es war das gleiche Modell, mit dem Maria Serano bei ihm vorgefahren war. Am Steuer saß ein dunkelhaariger Mann. Er trug eine Sonnenbrille. Siebels blieb vor seinem Wagen stehen und überlegte, ob das der gleiche Alfa war, den er heute schon einmal gesehen hatte. Der Mann drehte seinen Kopf zu Siebels, schaute ihn durch die dunkle Sonnenbrille einen Moment lang an, startete dann den Motor und fuhr los. Der Alfa gliederte sich in den dichten Verkehrsstrom ein. Siebels fluchte leise, weil er das Nummernschild nicht sehen konnte.

 

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