Doris Bachmann-Medick

Cultural Turns

Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften

Inhaltsverzeichnis

Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften

1. Interpretive Turn

2. Performative Turn

3. Reflexive Turn/Literary Turn

4. Postcolonial Turn

5. Translational Turn

6. Spatial Turn

7. Iconic Turn

Ausblick: Führen die cultural turns zu einer «Wende» der Kulturwissenschaften?

Nachwort zur 3. Auflage

Personenregister

CULTURAL TURNS. NEUORIENTIERUNGEN IN DEN KULTURWISSENSCHAFTEN

1. ANSÄTZE ZUR KARTIERUNG DER KULTURWISSENSCHAFTEN

Im Zuge der Postmoderne haben die Kulturwissenschaften bekanntlich das Ende der «Meistererzählung» von Emanzipation und Fortschritt ausgerufen. Doch sind sie dabei nicht selbst zum Ergebnis einer «großen Erzählung» geworden? Schließlich ist noch immer die Rede von einem durchschlagenden «Cultural Turn», der wie ein Paradigmensprung die sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen erfasst hat und der noch dazu im Bann eines übermächtigen linguistic turn verharrt. Zwar erscheint der linguistic turn wie eine «Mega»wende oder gar ein umstürzender Paradigmenwechsel. Doch hat er wirklich die kulturwissenschaftliche Theoriebildung bis heute so stark dominiert, dass er alle weiteren theoretischen Neuausrichtungen fest im Griff behielt?

Dagegen kann eine andere Geschichte der Kulturwissenschaften gedacht und dargestellt werden, die gerade die Vielzahl der cultural turns zum Leitfaden nimmt. Erst die unterschiedlichen «Wenden», die sich etwa seit den 1970er Jahren im Schlepptau des linguistic turn herausgebildet haben, legen ein ausdifferenziertes, höchst dynamisches Spannungsfeld der kulturwissenschaftlichen Forschung frei. Erst sie haben Blickrichtungen geändert und neue Fokussierungen eingeführt. Damit haben sie durch alle Disziplinen hindurch bisher unbearbeitete Forschungsfelder quer zu den Disziplinen erschlossen und den etablierten Theorien- und Methodenkanon durch gezielte Forschungsanstöße aufgebrochen. Die Rede ist von bahnbrechenden Neuorientierungen, die zuerst im Feld der Kulturanthropologie ausgebildet wurden wie interpretive turn, performative turn und reflexive turn und die dann im Wechsel der Leitdisziplinen einen postcolonial turn ebenso wie einen spatial turn und einen iconic turn/​pictorial turn hervorgebracht haben – neuerdings auch einen translational turn. Die «Meistererzählung» des «Cultural Turn» wird von den Differenzierungsimpulsen dieser verschiedenen cultural turns geradezu unterwandert. Zudem bringen ihre markanten Verschiebungen der Blickwinkel auch den Geltungsanspruch des linguistic turn selbst zum Verblassen. Denn sie führen tendenziell weg von der Sprach- und Textlastigkeit der Kulturanalyse, weg von der Vorherrschaft der Repräsentation, der bloßen Selbstreferenzialität und der «Grammatik» des Verhaltens. Doch wo führen sie hin? Gerade das breite Reservoir von Neufokussierungen eröffnet weite Horizonte für eine Kulturwissenschaft nach dem linguistic turn: Selbstauslegung und Inszenierung, Körperlichkeit und Handlungsmacht, aber auch die Politik sozialer und interkultureller Differenzen mit ihren Übersetzungs- und Aushandlungspraktiken rücken in den Vordergrund, darüber hinaus visuelle Einsichten, Bildwahrnehmungen und Kulturen des Blicks sowie Räumlichkeit und Raumbezüge sozialen Handelns, schließlich gar die unhintergehbare Materialität von Erfahrung und Geschichte.

Eine andere Geschichte der Kulturwissenschaften ausdrücklich entlang solcher turns wirft bereits neues Licht auf die pauschale Überzeugung, die Denkschrift «Geisteswissenschaften heute»1 hätte hierzulande einen umfassenden «Cultural Turn» der Geisteswissenschaften ausgelöst: Die Kulturwissenschaften – so heißt es dort – lösen sich aus der geistesgeschichtlich geprägten deutschen Tradition. Mittlerweile geht man viel deutlicher davon aus, dass die Kulturwissenschaften die Geisteswissenschaften geradezu abgelöst haben, wobei sie – wissenschaftspolitisch vorangetrieben – zur «Modernisierungschiffre»2 wurden. Zunächst ist ihnen eine integrative Perspektive zur Überbrückung der Fächerspezialisierung, der Zersplitterung arbeitsteiliger Forschung ebenso zugetraut worden wie die Überwindung der Kommunikationsbarrieren angesichts der fachspezifischen Begriffssysteme. Doch dann lief der kulturwissenschaftliche Modernisierungsschub sehr bald in ein deutliches Fahrwasser zunehmender Selbstreflexion und Differenzierung. Dazu verhalf das Bestreben, sich an internationale Theorieansätze anschlussfähig zu machen, um von dort aus die Geisteswissenschaften zu «modernisieren». Aus dieser Perspektive wurden überhaupt erst spezifische Defizite der traditionellen Geisteswissenschaften erkennbar: Indem sie einzelne Kulturobjekte herausheben, in denen sich die geistige Produktivität niederschlägt, unterstellen die Geisteswissenschaften eher ein Einheitsmodell des einen menschlichen Geistes, das eben doch nur der europäischen Geistesgeschichte entspringt. Die Kulturwissenschaften dagegen richten die Aufmerksamkeit verstärkt auf Materialität, Medialität und Tätigkeitsformen des Kulturellen, um genauer zu erkennen, wie und in welchen Prozessen und kulturspezifischen Ausprägungen Geistiges und Kulturelles in einer jeweiligen Gesellschaft überhaupt produziert werden.3 Dabei öffnen sie sich einem längst nicht mehr nur auf Europa fixierten Pluralismus des Kulturellen, der kulturellen Prozesse und Ausdrucksformen. Sie verweisen auf «multiple modernities» (Shmuel Eisenstadt) und problematisieren den einlinigen Begriff der Modernisierung als einen eurozentrischen Begriff, nicht zuletzt bezogen auf das Projekt der Kulturwissenschaften selbst. Besonders die zunehmende Auseinandersetzung mit Problemfeldern außerhalb Europas führt schließlich zu nachhaltigen Anstößen, sich aus der Beschränkung auf einen immer noch für maßgeblich gehaltenen europäischen Wissenskanon zu lösen. Vor allem diese Tendenz der Kulturwissenschaften zum Pluralismus, gepaart mit kritischer Selbstreflexion und mit (inter-)kultureller Verortung der eigenen Theorien, war und ist noch immer der Nährboden für die Herausbildung signifikanter cultural turns sowohl in den jeweiligen Einzeldisziplinen als auch quer zu ihnen.

Die «große Erzählung» des «Cultural Turn» wird demnach von den Differenzierungsimpulsen der mindestens ebenso ausschlaggebenden cultural turns geradezu untergraben. Doch umso mehr bleibt die Frage, wie diese Dynamik in den Kulturwissenschaften ihrerseits «erzählt» oder – um den spatial turn auf die Theorielandschaft selbst anzuwenden – kartiert werden kann. Ausdrücklich soll es hier nicht um eine Geschichte der Kulturwissenschaften gehen,4 auch nicht um eine Rekonstruktion der Überlappungen und Unterschiede zwischen den angloamerikanischen Cultural Studies und den deutschen Kulturwissenschaften.5 Schon gar nicht ist beabsichtigt, im gleichen Atemzug «die mittlerweile über zehn Jahre alte Grundsatzdiskussion über eine Neuorientierung der Literaturwissenschaft und/​oder/​als Kulturwissenschaft zu einem vorläufigen Abschluß zu bringen»6. Statt hier einen Gegensatz aufzumachen zwischen Grundsatzdiskussionen einerseits und «der eigentlichen Arbeit an den Texten, in den Archiven und mit dem kulturellen Gedächtnis»7 andererseits, wird ein anderer Weg eingeschlagen: So könnte es fruchtbarer sein, den kulturwissenschaftlichen Diskurs deutlich nach vorn gerichtet zu kartieren, um ihn unmittelbarer für die laufende Auseinandersetzung mit den Forschungsgegenständen, -subjekten oder -texten nutzen zu können.

Kartierungsansätze der kulturwissenschaftlichen Forschung, ihrer Theorielandschaft und Diskussion gibt es einige – noch keine allerdings mit Blick auf die Dynamik des Theoriewandels durch turns. Vorherrschend ist bisher der Blick auf die Veränderungen des Kulturbegriffs8, vor allem aber die Hinwendung zu «Diskussionsfeldern» wie Alltags- und Populärkultur, kulturelle Identität, Medien und Kommunikation, Globalisierung und transkulturelle Kommunikation9 oder zu etablierten «Methodenkomplexen» wie New Historicism, Kulturgeschichte, Diskursanalyse. Leitfäden sind aber auch «inhaltliche Schwerpunktsetzungen» wie Alltagsgeschichte, Historische Anthropologie, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Generationengeschichte, Diskursgeschichte und nicht zuletzt die Theoriesysteme herausgehobener Protagonisten, Vorläufer, Gründerväter. Eine Kombination solcher Angelpunkte der Rekonstruktion findet sich bei der Historikerin Ute Daniel.10 Und etwa bei Lawrence Grossberg stößt man bezüglich seiner eigenen «spatio-temporal map of the current state of cultural studies»11 auf eine Gliederung nach «Modellen» («models of cultural studies»12), die auch manche Entsprechung auf Seiten der deutschen Kulturwissenschaften erkennen lässt: Kultur als Text, Kultur als Kommunikation, Kultur als Differenz, Kultur in Bezug auf den sozio-politischen Raum, Kultur in Bezug auf Institutionen, Kultur als Diskurs und Alltag.

All diese Kartierungen und Konkretisierungen nach Diskussionsfeldern bedeuten jedoch zugleich eine erhebliche Verengung auf Themenkomplexe. Der vorliegende Band schlägt einen anderen Weg ein. Der gängigen Themenorientierung wird hier die methodennahe Ausrichtung der turns entgegengehalten: ihre Ausprägung von Wahrnehmungseinstellungen, operativen Zugängen und Konzepten sowie von Analysekategorien. Ihre unterschiedlichen Fokussierungen und Schwerpunktverlagerungen, aber auch ihre gezielteren Methoden eröffnen die Möglichkeit, konkrete Untersuchungsansätze nicht nur auf ihr kulturwissenschaftliches Reflexionsniveau hin zu befragen, sondern sie gleichzeitig in einem bestimmten Theoriediskurs zu verorten.

Im Weg durch die verschiedenen turns in den Kulturwissenschaften wären vor allem methodische Ansätze wiederzugewinnen, die im anhaltenden Boom der Kulturwissenschaften zunehmend verflacht und in Vergessenheit geraten sind. Sie geben Impulse für eine längst fällige Neuprofilierung der Kulturwissenschaften, die sich gegenwärtig in einer eher festgefahrenen Lage befinden. Mit «festgefahren» sind nicht nur die Sackgassen durch Jargonbildung gemeint – immerhin macht schon die bloße Erwähnung von Globalisierung, Kultur, Identität, Interkulturalität usw. ein ganzes Fass von Assoziationsmöglichkeiten und Bezugsfeldern auf, was dem Eindruck von Vagheit und Konturenlosigkeit kulturwissenschaftlicher Forschungen Vorschub leistet. Gemeint ist außerdem eine immer noch offene Alternative: Sollte Kulturwissenschaft im Singular als Einzelfach ausgebaut werden, oder wären eher Kulturwissenschaften im Plural weiterzuentwickeln: als disziplinenüberspannende Perspektive, als «fächerübergreifende Orientierungskategorie»? Bemerkenswert ist die Stoßrichtung dieser Frage in dem Band «Orientierung Kulturwissenschaft», ausgehend von der Institutionalisierung der Kulturwissenschaften: «Schon früh war in den Debatten um die ‹Kulturwissenschaft› und die Modernisierung der Geisteswissenschaften der Gedanke einflußreich, die universitäre Ausbildung im Prinzip disziplinär, die Forschungspraxis aber ‹transdisziplinär› auszurichten (…). Die Kulturwissenschaft wäre in dieser Perspektive vor allem ein Privileg der Postgraduierten, die sich in einem Spezialfach solide Grundkenntnisse erworben haben und von daher zu einer anspruchsvollen Horizonterweiterung befähigt sind.»13 Hat man also erst auf den Schultern einer disziplinären Ausbildung Aussicht auf einen kulturwissenschaftlich erweiterten Horizont?

Während die Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme, Peter Matussek, Lothar Müller «die Kulturwissenschaft als grundständiges Fach»14 dagegen halten, spricht die grenzüberschreitende Perspektive der turns für ein anderes Konzept von Kulturwissenschaften. Dieses ist von vornherein disziplinenübergreifend angelegt, und zwar bereits in den Ausgangsfächern selbst und dort ausdrücklich mit disziplinären Kompetenzen verschränkt. Würde das Projekt Kulturwissenschaften in ein eigenes Einzelfach eingehegt oder als bloße Zusatzqualifikation aufgepfropft, könnte dies zur Selbstauflösung führen. Dann wären die Kulturwissenschaften vielleicht wirklich nur eine Episode, «eine zwar wichtige, jedoch zeitlich begrenzte Stufe in der Begründung der Geisteswissenschaften»15 – wovon der Wissenschaftsrat in seinen Empfehlungen zur Lage der «Geisteswissenschaften» in Deutschland im Jahr 2006 bedenklicherweise ausgeht.

Lebendig gehalten wird dagegen das Projekt der Kulturwissenschaften erst dann, wenn es sich über den «diffusen Gesamtanspruch»16 einer im Singular verstandenen Kulturwissenschaft hinaus profiliert: als eine ausdrücklich fächerüberspannende Orientierung, deren Verankerung in den verschiedenen Disziplinen unverzichtbar ist.17 Das bedeutet aber auch, dass bereits die spezifischen disziplinären Ansätze und Untersuchungsfelder sowie ihre Gegenstände selbst von vornherein ganz anders angegangen werden, wenn man sie kulturwissenschaftlich betrachtet. Anschlussmöglichkeiten zwischen den Einzeldisziplinen zu suchen, wird dann unverzichtbar: produktive Grenzüberschreitungen, Öffnung gegenüber internationalen Forschungsrichtungen, Anerkennung von Perspektivenvielfalt und Hinwendung zu Untersuchungsfeldern, die quer zu den Disziplinen verlaufen. Kulturwissenschaften sind in diesem Sinn, wie es Hartmut Böhme und Klaus Scherpe ausdrücken, ein «Medium der Verständigung (…), um die heterogenen, hochspezialisierten, gegeneinander abgeschotteten Ergebnisse der Wissenschaften zu ‹dialogisieren›, auf strukturelle Gemeinsamkeiten hin transparent zu machen (…).»18 Solche kulturwissenschaftlichen Impulse könnten nicht zuletzt die erst zaghaft begonnene Dialogisierung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften weiter vorantreiben.

Auch die Perspektive auf cultural turns setzt keine Abschlussakzente. Immerhin wird bei ihr stets (mit offenen Antworten) gefragt: Was kommt danach? Unter dem Blickwinkel von cultural turns bilden die Kulturwissenschaften keineswegs lineare Sequenzen eines Theorie«fortschritts» aus. Sie zeichnen sich vielmehr durch Entwicklungsspielräume aus, indem sie mit den turns immer nur Wenden einschlagen – durchaus auch Rückwenden oder konstruktive Umwege, Verschiebungen der Schwerpunkte, Neufokussierungen oder Richtungswechsel.

Doch was ist eigentlich unter turns zu verstehen? Unterwerfen sie den Erkenntnisprozess unter dem Vorzeichen bloßer «Moden» – wie es der Ausdruck turn suggeriert – nicht einer gewissen Unverbindlichkeit und Kontingenz? Oder gewinnen sie geradezu einen hohen erkenntnisleitenden Stellenwert als «Historisierungen oder sprachliche Transformierungen des Kantischen a priori»19? In jedem Fall sind die «Wenden» mit ihrer Einführung neuer Leitvorstellungen und Kategorien, mit ihrem Richtungswechsel und Theoriewandel signifikant, sowohl in ihren eigenen Kontextbezügen als auch im Hinblick auf eine Umstrukturierung des «wissenschaftlichen Feldes»20 in den Kultur- und Sozialwissenschaften.

Das «Feld» der Kulturwissenschaften

Für die Kontextualisierung der kulturwissenschaftlichen turns ist zunächst entscheidend, dass sie durch eine grundsätzliche Umorientierung auf «Kultur» («Cultural Turn») angestoßen worden sind, wodurch sie szientistische, oft positivistische und ökonomistische Erklärungen des Sozialen abgelöst und eine grundlegende Neubewertung von Symbolisierung, Sprache und Repräsentation auf den Weg gebracht haben. Sprache und Text wurden ausdrücklich als Gestaltungs- und Triebkräfte sozialen Handelns aufgefasst und theoretisch durchaus janusköpfig entfaltet: in die kultursemiotische Richtung von «Kultur als Text», dann aber auch in Richtung auf eine sozial und materiell gesättigtere Ausarbeitung: «Kultur als Textur des Sozialen». Unter politisch-ökonomischem Vorzeichen wird Kultur hiernach als ein «Transfervorgang» aufgefasst, «der das Soziale ins Symbolische ‹übersetzt› und ihm dieserart eine Textur aufprägt, d. h. dem Gewebe des Sozialen lebensweltliche Bedeutungen aufprägt.»21 Solche «Wiederkehr» des Sozialen noch in der kulturellen «Textur» – worauf Lutz Musner verweist – bedeutet zugleich eine Abkehr von der Neigung der Postmoderne zur Verflüchtigung «harter» Gesellschaftsdimensionen in die «weicheren» Sphären von Kultur, Bedeutung und Diskurs. Dieses (postmoderne) Aufweichen einer umfassenderen Gesellschaftsanalyse hat die kulturwissenschaftliche Forschung immer wieder auf einen Pfad gelockt, der eher in die Welt der Zeichen führt, der Pluralisierung und Eklektizismus aufwertet, epistemologisches Nachdenken befördert und eine Vervielfältigung von Differenzen statt bipolarer Entgegensetzungen fordert. Dies alles mündet schließlich in der Auflösung der «großen Erzählungen» und der übergreifenden Sinnzusammenhänge, die den wachsenden Fragmentierungen in einer globalisierten Moderne nicht mehr gerecht werden.

Angesichts einer solchen epistemologischen Konstellation ist das Wiederaufleben der materiell-ökonomischen und sozialen «Kehrseite» mitten im kulturwissenschaftlichen Diskurs markant. Schon allein deshalb wäre es irreführend, die «große Erzählung» vom «Cultural Turn» gebetsmühlenhaft zu wiederholen und die Herausbildung der facettenreichen kulturwissenschaftlichen Neuorientierungen nur auf postmoderne Zersplitterung zurückzuführen. Ebenso verengt wäre es jedoch auch, grobe Pflöcke einer historisch-politisch-ökonomischen Verankerung der Theoriewechsel einzuschlagen, wie etwa Fredric Jameson mit seiner Redeweise von der Postmoderne selbst als «the cultural logic of late capitalism» oder gar mit Blick auf die turns als bloße Ausläufer der «postfordistischen Transformation»22. Die Untersuchung der einzelnen Wenden lässt dagegen viel differenziertere Aufschlüsse darüber erwarten, wie die jeweiligen Etappen des kulturwissenschaftlichen Diskurses an veränderte historische, soziale und politische Bedingungszusammenhänge rückgebunden sind, ja wie diese Realitätsbezüge selbst wiederum durch den jeweiligen Fokus der kulturwissenschaftlichen Wahrnehmung erst ihre Konturen gewinnen. Eine zu pauschale Verknüpfung des «Cultural Turn» mit der Auflösung der großen politischen Systeme, der alten weltpolitischen Grenzziehungen und Blockbildungen, verstellt hierfür eher den Blick.

Turns lenken die Aufmerksamkeit aber auch auf interne Bedingungen des «intellektuellen Feldes». Diese werden sichtbar, wenn man die Kulturwissenschaften mit Hilfe von Pierre Bourdieus Feldtheorie strukturiert: als einen «Spiel-Raum, ein Feld objektiver Beziehungen zwischen Individuen oder Institutionen, die miteinander um ein und dieselbe Sache konkurrieren».23 Übertragen auf das intellektuelle Feld der Kulturwissenschaften käme man auch hier zu Einsichten in ein Feld von intellektuellen «Moden», bei denen die Beherrscher des Feldes «Konservierungsstrategien» und die Nachrücker oder Herausforderer «Subversivstrategien»24 anwenden, um ihre Position im Feld zu behaupten bzw. erst zu erkämpfen. Konkurrenz um symbolisches Kapital, das sich im Besetzen von turns und Forschungsrichtungen und in der Überdeterminierung von Leitbegriffen verdichtet, ist gewiss empirisch beobachtbar und wissenschaftspolitisch keineswegs zu unterschätzen. Die wissenschaftlichen Moden, wie sie Bourdieu auf den Begriff gebracht hat, indem er die Haute Couture mit der «Haute Culture» analogisiert, zeigen doch nur, wie stark die Kulturwissenschaften selbst von ihrem eigenen Untersuchungsgegenstand geprägt sind. Daraus muss man jedoch nicht notwendig ein Generalverdikt ableiten, wie Lutz Musner, für den nur eines das Ende der Metaerzählungen besiegelt: «eine überhitzte Konjunktur und ein (selbst)kritikloser Wandel von Theoriemoden»25. Viel eher wäre gerade die Janusköpfigkeit der intellektuellen Moden in ihrer Innovationskraft, aber auch in ihrem damit einhergehenden Konformitätsdruck Anlass für konstruktive Kritik. Denn schließlich wirken sie nicht nur als Innovationsschübe, sondern auch als Wegweiser, der aller Debattenfreudigkeit und Theorienkonkurrenz zum Trotz dann doch auf einen Konsenszwang der Forschung hinzuführen scheint. Schon Bourdieu hat solchen «abgrundtiefen Konformismus» der «beherrschenden Richtungen des Feldes»26 beklagt.

Gilt also auch für die kulturwissenschaftlichen turns das Diktat der Mode und damit auch das Gesetz der «feinen Unterschiede»? Gilt auch für die turns Bourdieus Anspielung «Wenn der Minirock in Hintertupfingen angekommen ist, fängt alles wieder von vorn an»27? Diese Fragen deuten nicht nur auf den Konsenscharakter der turns, sondern auch auf ihre Kehrseite: die Schaffung von Mainstream. Umso wichtiger wird es, auch Bedingungen der Möglichkeit kulturwissenschaftlicher turns im Auge zu behalten, die diese – trotz der relativen Autonomie des intellektuellen Feldes gegenüber dem sozialen Feld – mit Habitus, Wettbewerb, Kampf, Positionierung, Traditionsbindung und Traditionsbildung verschränken. Schließlich haben die jeweiligen Wenden immer auch mit dem Abstecken und Sichern von akademischen Feldern zu tun, nicht zuletzt im Hinblick auf die Akquirierung von Forschungsmitteln im verschärften Wettbewerb von Sonderforschungsbereichen, Graduiertenkollegs und anderen universitären Profilierungsinitiativen.28 Die Wenden als solche gehen indes weit über ihre Lokalisierung und Funktion in einem darauf begrenzten Feld kulturwissenschaftlicher Selbstbehauptung und Theorieentwicklung hinaus. Sind sie schon deshalb keine «research paradigms»29 im Sinne der Paradigmentheorie Thomas S. Kuhns, sondern eher «approaches»?

Theoriewandel als Paradigmenwechsel?

Warum wird hier eigentlich nicht gleich von Paradigmen und entsprechenden Paradigmenwechseln im Sinne von Thomas S. Kuhn gesprochen? Kuhns wissenschaftstheoretische und wissenschaftshistorische Herleitung der Entwicklungsdynamik von Wissenschaft orientiert sich am «Paradigma»-Begriff. Dieser markiert, «was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, und nur ihnen, gemeinsam ist».30 Der Theoriewandel der neueren Kulturwissenschaften dagegen geschieht eher quer zu den Disziplinen, also über wissenschaftliche Gemeinschaften in Gestalt abgegrenzter wissenschaftlicher Gruppen hinweg und gerade nicht mit Blick auf eine «spezialisierte(n) und esoterische(n) Forschung»31. Kulturwissenschaftliche Forschung steckt vielmehr ein interdisziplinäres Feld ab, dessen Gegenstand – wie Roland Barthes es ausgedrückt hat32 – keinem gehört. Damit entzieht sie sich einem Alleinvertretungsanspruch durch Einzeldisziplinen.

Gerade die Erweiterung wissenschaftlicher Gemeinschaften über Disziplinengrenzen hinweg zeichnet bekanntlich die gegenwärtigen Kulturwissenschaften aus. Dadurch eröffnen sie zugleich ein Problemfeld transdisziplinärer Konstellationen, an dem sich immer wieder neue Interpretationsansätze anlagern. Allein schon deshalb wird Kuhns Modell der naturwissenschaftlichen Disziplinenentwicklung mit seiner Orientierung auf einen «Fortschritt der Wissenschaften»33 hinter sich gelassen. Denn es geht davon aus, dass – nicht etwa evolutionär, sondern durch die Plötzlichkeit von «Eingebungsblitzen, durch die ein neues Paradigma geboren wird»34 – eine Kette sprunghafter, ja revolutionärer Paradigmenwechsel ausgelöst wird. Der jeweils folgende theoretische «Neuaufbau» bringt stets ein vorhergehendes, traditionelles Theoriegebäude zum Einsturz. Er löst das alte Paradigma durch ein neues Paradigma ab, sobald es nicht mehr in der Lage ist, neu auftauchende Probleme zu lösen. Solche «Wendepunkte(n) in der wissenschaftlichen Entwicklung»35 schaffen gezielte Forschungsfokussierungen auf dem Hintergrund eines «festumrissenen Forschungskonsensus»36. Hiervon kann in den Kultur- und Sozialwissenschaften schon deshalb nicht die Rede sein, weil bereits deren Forschungsprämissen «wettstreitend konstruiert»37 sind. Marilyn Strathern bringt es in ihrer scharfsinnigen ethnologischen Reflexion des Paradigmenproblems auf den Punkt: «Paradigmen liefern Regeln, um die Natur des Problems und den möglichen Umriß einer Lösung aufzuzeichnen. In den Sozialwissenschaften korrespondieren jedoch die Unterschiede zwischen den theoretischen Positionen, die ich angesprochen habe, mit der Bildung verschiedener sozialer Interessen.»38 Eine gemeinsame Sicht der sozialen und kulturellen Welt kann daher von den wettstreitenden Theoriepositionen oder gar «Theoriegenerationen»39 in den Kultur- und Sozialwissenschaften nicht erwartet werden.

Entsprechend der Abkehr von «großen Erzählungen» und «Meisterparadigmen» sind die Wenden in den Kulturwissenschaften eben nicht «kopernikanisch». Viel vorsichtiger und experimenteller, ja viel allmählicher verhelfen sie Schritt für Schritt neuen Sichtweisen und Herangehensweisen zum Durchbruch. Deshalb ist es auch unmöglich, von einem bestimmten «Weltbild» der Kulturwissenschaften zu sprechen, das sich vielmehr aufsplittert in oder – wie Ansgar Nünning meint – zusammensetzt aus den verschiedenen turns.40 Auch wenn diese Richtungswechsel keineswegs vage in ihrer Genese, doch noch viel entschiedener in ihrer Wirkung sind, zeigen die «Wenden» in der gegenwärtigen Forschungslandschaft der Kulturwissenschaften jedenfalls keine Unumkehrbarkeit. Niemals handelt es sich um vollständige und umfassende Kehrtwenden eines ganzen Fachs, sondern eher um die Ausbildung und Profilierung einzelner Wendungen und Neufokussierungen, mit denen sich ein Fach oder ein Forschungsansatz interdisziplinär anschlussfähig machen kann. Es kommt zum Methodenpluralismus, zu Grenzüberschreitungen, eklektizistischen Methodenübernahmen – nicht jedoch zur Herausbildung eines Paradigmas, das ein anderes, vorhergehendes vollständig ersetzt. So redet man etwa von der anthropologischen Wende in der Literaturwissenschaft, nicht aber der Literaturwissenschaft insgesamt.41 Dies hat den großen Vorteil, dass man pragmatischer versuchen kann, durchaus verschiedene turns auf ihre Anwendbarkeit hin auszuloten.

Die pathetische Rede von wissenschaftlichen «Revolutionen» und eine Suche nach dem Paradigma der Kulturwissenschaften42 sind im Feld der Kulturwissenschaften also fehl am Platz. Im Gegenteil, die Ethnologen George Marcus und Michael Fischer sprechen in ihrer «Anthropology as Cultural Critique»43 eher von Antiparadigmen, wenngleich die turns zwar weniger streng, aber auch wiederum nicht so zaghaft sind, dass sie sich nach dem postmodernen Motto des «anything goes» wenden wie Fähnlein im Wind. Neu entdeckt wird hingegen das Experimentelle, «the play of ideas free of authoritative paradigms», wie es Marcus und Fischer ausdrücken: «critical and reflexive views of subject matter, openness to diverse influences embracing whatever seems to work in practice, and tolerance of uncertainty about a field’s direction and of incompleteness in some of its projects.»44 Diese Perspektivenunsicherheit auszuhalten, ja sie produktiv zu machen, ist eine fortwährende Anstrengung der Kulturwissenschaften, zumal angesichts ihres Risikos von «blind alleys»45, aber auch ihres erheblichen Potenzials für unkonventionelle Erkundungen. Turns sind in diesem Sinn «relatively ephemeral and transitional between periods of more settled, paradigmdominated styles of research.»46

Unbeirrt von solchen Diagnosen einer ausdrücklichen Gegenbewegung der turns zu paradigmenorientierter, d. h. einheitstheoretisch ausgerichteter Forschung, wird mancherorts noch immer die Brille der Paradigmenwechsel aufgesetzt.47 Dadurch werden die turns eher heruntergespielt, dafür aber – wie bei Andre Gingrich – die «kohärenten Konzepte» von Kulturrelativismus, Funktionalismus, Strukturalismus, Poststrukturalismus überbewertet.48 Ganz abgesehen von der Frage, ob es sich bei diesen überhaupt um Paradigmen handelt oder eben doch nur um grundlegende Forschungseinstellungen, wird ein solch etablierter Methodenkanon von den turns erheblich überschritten. Ihre methodischen Impulse bekräftigen durchaus eine Auffassung von Kulturwissenschaften, die ausdrücklich keine Einzeldisziplin begründen will, sondern ihre Forschungseinstellung bewusst und methodisch pluralisiert: als kulturwissenschaftliche Perspektivierung der Fragehorizonte in den einzelnen Disziplinen, um ein interdisziplinäres Forschungsfeld «an den Rändern» dieser Einzeldisziplinen zu erkunden.

Kulturtheoretische Theorie-Transformation

Kulturwissenschaftliche Forschungswenden zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie interdisziplinäre Gegenstandsfelder ausloten, sondern dass sie auch ein eigenes, innovatives Vokabular einführen. Andreas Reckwitz hält gerade dies für einschneidend im Hinblick auf «Die Transformation der Kulturtheorien», so der Titel seines Buchs: «Die kulturwissenschaftliche Wende markiert in den Sozialwissenschaften das, was man in der Terminologie von Gaston Bachelard einen ‹epistemologischen Bruch› nennen kann: die Einführung und Verbreitung eines neuen erkenntnisleitenden Vokabulars, das neuartige analytische Perspektiven eröffnet.»49 In der Tat haben sich die Kulturwissenschaften vor allem durch ihre eigene Begrifflichkeit hervorgetan, mit der sie oft überhaupt erst zur Entdeckung neuer Untersuchungsfelder gelangen. Konkret gesagt, treten etwa unter dem Einfluss kulturwissenschaftlicher Ansätze (z. B. in der Geschichtsschreibung) Ausdrücke wie Diskontinuität, Bruch, Schwelle, Grenze, Differenz usw. immer mehr an die Stelle traditioneller Kohärenzbegriffe wie Autor, Werk, Einfluss, Tradition, Entwicklung, Identität, Mentalität, Geist – mit erheblichen Folgen für eine ganz neue Wahrnehmung der Problemlage, und zwar noch vor jeglicher Analyse und Interpretation. Andererseits kommen jargongefährdete Signalwörter auf: Globalisierung, Modernisierung, Hybridität, Transnationalität usw. Doch auch hier ist nicht der «Cultural Turn», die kulturwissenschaftliche Wende insgesamt begriffsbildend. Vielmehr sind es die Begriffsprägungen der einzelnen turns, die auf dem schmalen Grat zwischen Analyse- und Jargonbegriffen erkenntnisleitend werden.

Durchaus im Anschluss an Kuhn, doch viel weniger pompös als dessen Behauptung «wissenschaftlicher Revolutionen» durch Paradigmenwechsel50 rekonstruiert Reckwitz die gesellschaftliche, vor allem die innertheoretische Transformation des kulturwissenschaftlichen Theoriefelds und seiner spezifischen «Vokabulare».51 Für Reckwitz ist die Entwicklung der Kulturwissenschaften nicht durch revolutionäre Ablösungen von Paradigmen gekennzeichnet, sondern durch «Transformationen», durch Verarbeitung der Theorien von Vorgängern, die eben nicht auf deren strikte Ablösung zielt, sondern auf Konvergenzen. Gemeint ist die von ihm behauptete grundlegende Konvergenz zwischen zwei ursprünglich antipodischen Forschungsrichtungen, die «‹Konvergenzbewegung› zwischen dem neostrukturalistischen und dem interpretativen Vokabular (…), die in eine kulturtheoretische ‹Praxistheorie› mündet.»52 Die «konzeptuelle Verschiebung»53 bzw. die «Verschiebung des Forschungsinteresses»54, die dabei stattfinden, macht Reckwitz jedoch an Autoren, an Hauptvertretern, an wissenschaftlichen Schulen und ihren Vorläufern fest. Ganz anders dagegen der vorliegende Band. Hier wird vielmehr von einer systematischen Ausdifferenzierung der turns und Perspektivenwechsel ausgegangen, von transdisziplinären Übersetzungsprozessen zwischen Theorien, methodischen Einstellungen und Forschungsansätzen. Im Unterschied zur Vorstellung zielorientierter oder gar teleologischer Konvergenzbewegungen wird hier eher angenommen, dass sich turns durch Übersetzungsprozesse ausdifferenzieren. Damit bleiben sie zugleich offen für ihre eigene Weiterentwicklung, sei es durch Übersetzung zwischen den Disziplinen, durch «travelling theories» (Edward Said, James Clifford, Mieke Bal)55 oder durch Übersetzungen der kulturwissenschaftlichen Theorien in globale gesellschaftliche Zusammenhänge und ihre interkulturelle Aneignung hinein: Theorieübersetzung statt «Theorietransformation».

Eine solche Sicht löst die Strukturierung der Kulturwissenschaften vom Gängelband einer «systematischen Theoriegeschichte»56. Diese lässt die kulturwissenschaftliche Transformation der Sozialwissenschaften auf eine praxistheoretische Mündung zulaufen. Doch dabei werden die einzelnen Positionen allzu leicht in eine systematische Entwicklungsbahn hineingezwängt. Der Kartierungshorizont der Kulturwissenschaften wird dagegen wesentlich breiter abgesteckt, wenn man davon ausgeht, dass die turns mit ihren transdisziplinären Vokabularen und konzeptuellen Fokussierungen «übersetzt» werden, und zwar in die Methoden der einzelnen Disziplinen hinein. Der vorliegende Band versucht also keineswegs, die beiden Hauptzweige des kulturwissenschaftlichen Feldes: die strukturalistisch-semiotische und die phänomenologisch-hermeneutische Tradition, in ihrer Konvergenz aufzuzeigen und damit gleichsam in die Abschließungsrunde der Praxistheorien einzulaufen. Während Reckwitz entlang dieser beiden Grundstränge die «Transformation des modernen kulturtheoretischen Feldes» nach ihren Anfangs- und Endpunkten verfolgt57, werden hier dagegen die Facetten vielfältiger turns entfaltet – Neuorientierungen, die auseinander hervorgehen und doch gleichzeitig in durchaus spannungsreichen Konstellationen nebeneinander bestehen.

Beabsichtigt ist also gerade keine retrospektive Rekonstruktion von Anfangs- und Endpunkten der Theorieentwicklung infolge eines einzigen, umwälzenden «Cultural Turn». Eher wird ein Feld der kulturwissenschaftlichen Forschung und Diskussion mit immer noch offenen Koordinaten freigelegt. Auch wenn Reckwitz durchaus Zukunftsprognosen über die Entwicklung des «Cultural Turn» wagt – z. B. Kontroversen mit den Neurowissenschaften –, geht er doch nicht über den Rahmen europäischer Theoriekonzepte und ihrer Prämissen – wie dem Verstehen von Sinngrundlagen – hinaus. Der im vorliegenden Band vertretene Ansatz dürfte dagegen mehr Raum lassen für eine Weiterprofilierung der Kulturwissenschaften, gerade auch für ihre interkulturelle Erweiterung und für ein Überdenken ihrer zentralen Kategorien. Dazu verhilft, dass hier die «Transformation» des kulturwissenschaftlichen Diskurses eben nicht festgemacht wird an Denkern und Denktraditionen, sondern an systematischen Leitvorstellungen, an turns, die angesichts ihrer Theorieoffenheit auch für nichteuropäische Theorie- und Kritikansätze anschlussfähig werden.

Refiguration durch «Blurred Genres»

Reckwitz hat die Rahmenbedingungen und Leittheorien der Kulturwissenschaften über eine Rekonstruktion der Theoriestränge erschlossen: Strukturalismus, Poststrukturalismus, Funktionalismus, Hermeneutik, Semiotik. Quer zu solchen theoretischen Grundrichtungen und Schulen zeigt sich hingegen die Fruchtbarkeit eines Ansatzes, der ausdrücklich von turns ausgeht. Nicht zufällig ist dieser Ansatz in der Ethnologie verbreitet, ist doch gerade die Entwicklung der modernen Kulturanthropologie durch «Wenden» gekennzeichnet.58 So hat Clifford Geertz – paradoxerweise im wissenschaftshistorischen Rückblick – die Erfolgsgeschichte solcher turns geradezu eingeläutet. Geertz bezieht die Entwicklung der Humanwissenschaften vor allem in den 1960er Jahren, und dort besonders die Herausbildung der Symbolischen Anthropologie, auf ein breiteres Umfeld «intellektueller Trends»: «Trends, die in den nachfolgenden Jahrzehnten dann unter solchen Etiketten wie der linguistischen, der deutenden, der sozialkonstruktionistischen, der neuhistorizistischen, der rhetorischen oder der semiotischen ‹Wende› zunehmenden Einfluß in allen Humanwissenschaften gewannen.»59 Dass auch hier die turns à la mode zur Sprache gebracht werden, ergibt sich aus den narrativ-ironischen Spiegelbrechungen eines Selbstzeugnisses: Geertz rekonstruiert das kulturwissenschaftliche Feld aus der Perspektive seiner eigenen Erfahrung als Diskursteilnehmer und Protagonist. Doch diese Rekonstruktion hebt zwei Aspekte besonders hervor: zum einen die Einsicht, dass Wenden von «Erschütterungen» und «philosophischen Unruhen»60 ausgehen, konkret von einem «zunehmend erschütterten intellektuellen Feld»61 der Umbruchzeit der 1960er und 1970er Jahre, welches dann aber auch die anderen Humanwissenschaften in die Entwicklung von turns hineindrängte. Doch vor allem die Ethnologie wurde hier angesichts des Zerbrechens des Kolonialismus, der Dekolonisierung und der Neuartikulation unabhängiger Staaten der so genannten Dritten Welt vor neue Herausforderungen gestellt. Zum andern vertritt Geertz einen «episodischen und erfahrungsorientierten», nicht etwa einen fortschrittsorientierten Ansatz in der Darstellung der Theorie- und Forschungsdynamik, der allerdings – ähnlich wie Kuhn – auf «Disziplingemeinschaften»62 rekurriert.

Freilich geht Geertz in entscheidenden Punkten über Kuhn hinaus. Dies zeigt sich besonders in der Einleitung zu seinem Buch «Local Knowledge» und in seinem dort publizierten Aufsatz «Blurred Genres»63. Dass turns keine akademischen Schulen sind, sondern Fokussierungen der Forschung, Perspektivenwechsel, bei denen sich inhaltliche Schwerpunkte zu methodisch signifikanten Untersuchungseinstellungen verdichten, zeigt sich zwar an Geertz’ Weiterführung des Kuhn’schen Konstruktivismus: Forschung geschieht am Leitfaden selbst geschaffener «Paradigmen». Doch über Kuhn hinaus begreift Geertz den Forschungsprozess selbst ausdrücklich als eine mäandrierende Tätigkeit durch turns: als aktives Abwenden von alten und Hinwenden zu neuen Erklärungsmustern. Exemplarisch bedeutet dies im Fall des interpretive turn: «To turn from trying to explain social phenomena by weaving them into grand textures of cause and effect to trying to explain them by placing them in local frames of awareness (…)»64 Diese Handlung des «Wendens» arbeitet Geertz in der Folge auch metaphorisch noch weiter aus. Damit begründet er, wie es – in seinem Fall – zum interpretive turn kommen konnte: «One makes detours, goes by side roads (…)»65. Diesem Umwenden und durchaus experimentellen Umherstreifen auf Nebenwegen kommt eine entsprechende Darstellungsform entgegen: die Form des Essays: «For making detours and going by sideroads, nothing is more convenient than the essay form.»66 Gerade diese Offenheit und Zielunbestimmtheit des Forschungsgangs – so betont Geertz in seinem für den «culture shift»67 maßgeblichen Aufsatz «Blurred Genres» – haben das gesamte Forschungsfeld der Sozialwissenschaften massiv umgewandelt. Sie führten zu einer folgenreichen «refiguration of social thought».

Eine solche Refiguration entfaltet sich – so Geertz – über typische Genrevermischungen. Nicht nur erscheinen philosophische Reflexionen in Form von Essays und damit im Gewand von Literatur; auch in der Soziologie wird mit der Theatermetapher und mit Rollenspielmustern argumentiert. Vor allem entsprechende Analogien wie Spiel-, Drama- oder Text-Analogie tragen nach Geertz dazu bei, die einzelnen Forscher/​-innen zu intellektuellen Gemeinschaften zusammenzuführen. Solche und andere Analogisierungen und metaphorischen Übernahmen erstrecken sich bis hinein in die gegenwärtige Wissenschaftslandschaft. Sie zeigen sich nicht zuletzt in der aktuellen Gentechnologie, sofern diese vom Lesen im Buch des Lebens redet68 und Genetik als Text betrachtet. Ähnliche Verfahren gelten für die moderne Hirnforschung, die Geist, Bewusstsein, Willensfreiheit usw. im Wortsinn übernimmt, sie gleichsam aus der Philosophie entführt und in materialistische Kognitionstheorie überführt. Solche Analogisierungen und Metaphernübernahmen zwischen den Disziplinen bergen erhebliche Aneignungsprobleme. Sie provozieren die Grenzen von «Disziplingemeinschaften», bieten aber auch große Erkenntnischancen.

Neuorientierungen durch «gesteigerte Aufmerksamkeit»

Problematisch wird es freilich dann, wenn die Praxis der Metaphorisierung noch weiter getrieben wird und sie nicht nur Symptom bleibt für ein «genre-blurring» in den Sozialwissenschaften. Wenn Metaphorisierungen darüber hinaus eingesetzt werden, um das Aufkommen und die Abfolge der kulturwissenschaftlichen turns selbst zu «erklären», wächst die Gefahr, sich angesichts der Evidenz des metaphorischen Bildes aus der Erklärungsleistung zu entpflichten. Dies ist der Fall, wenn man – wie etwa Karl Schlögel ausgehend vom Beispiel des spatial turn – in Form einer Geschichtsschreibung als Literatur das Auftauchen und Wiederabtauchen von turns in einer Wassermetaphorik buchstäblich verschwimmen lässt: Mit den turns sei es «wie mit Gewässern, die wieder versickern, eine Zeitlang und ein Stück weit unterirdisch, unbemerkt weiterfließen, um irgendwann wieder an die Oberfläche zu treten – wenn überhaupt.»69 So ist es auch nicht erstaunlich, dass mit solch wuchernder organizistischer Metaphorik vom «Auftauchen», «Reifen», vom «Abend und Morgen der Erkenntnis», von den «Häutungen des Wissens» wohl kaum erklärt werden kann, wie Richtungswechsel, z. B. der spatial turn70turnturn turns  71turn

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cultural turns 91Cultural Studies 92linguistic turnturns tournants folgten, gleichsam die Wendekreise, schneiden»: Intertextualität (Julia Kristeva), Mentalität/​Mentalitätsgeschichte (Marc Bloch/​Lucien Febvre und die -Schule), Transfer (Michel Espagne/​Michael Werner/​Hans-Jürgen Lüsebrink), histoire croisée (Michael Werner/​Bénédicte Zimmermann), wissenschaftliches/​literarisches Feld (Pierre Bourdieu), Gedächtnis/​Erinnerungsorte (Pierre Nora) und andere mehr. Nach dem scheint sich also eine Auffächerung des Diskursspektrums herausgebildet zu haben, die nicht primär an orientiert ist. Dies ist nicht zuletzt eine bemerkenswerte Folge der länderspezifischen Verwerfungen im Selbstverständnis der Kulturwissenschaften. So ist für den französischen Diskurs trotz einer auch hier konstatierten «kulturwissenschaftliche(n) Wende» von Anfang an eine enge Verschränkung der Kulturwissenschaften mit den Sozialwissenschaften in den charakteristisch. Dadurch zeichnen sich die Theorieansätze im Gefolge eines auslösenden «Cultural Turn» durch einen stärkeren «Parallelismus von Wissenschafts- und Gesellschaftsentwicklung» aus, womit in Frankreich nicht zuletzt der enge Pfad des verbreitert wurde.

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Zwar gelingt es bereits dieser Wende, Performanz, Erfahrung und Praxis als wiederentdeckte historische Kategorien auf den Weg zu bringen und damit die auf Sprache und Text beruhende «Grammatik des Handelns» im Gefolge des abzulösen. Bei dieser Wiedergewinnung von Kultur als performativem Konzept sollte man jedoch – im Unterschied etwa zur Historikerin Gabrielle Spiegel – nicht stehen bleiben. Denn erst die weiteren öffnen die kulturwissenschaftliche Forschung noch über das Spannungsfeld von Text und Praxis hinaus. Erst mit ihnen kann man die Fixierungen auf das alte Gleis des hinter sich lassen. Damit geht freilich auch ein Wechsel der Leitwissenschaften einher. Dass die Kulturanthropologie in weiten Teilen zur Schlüsseldisziplin der Kulturwissenschaften geworden ist, zeigt sich noch einmal im , der die zunehmende (kritische) Selbstreflexion der Ethnologie auch in andere Disziplinen hineingetragen hat. Dieser Anstoß zur Selbstkritik kulturwissenschaftlichen Forschens geht von dem Versuch aus, die «Krise der Repräsentation» nicht nur zu benennen, sondern sie auch zu bewältigen: durch eine kritische Durchleuchtung des wissenschaftlichen Schreibvorgangs ebenso wie der Rückbindung von Repräsentationen an ihr komplexes Umfeld. Ausgehend von ethnographischen Monographien werden die an allen Kulturbeschreibungen ablesbaren wirkungsbezogenen Darstellungs- und Erzählstrategien aufgedeckt: literarische Muster und Plots sowie der Einsatz von Metaphorik und Ironie. Freigelegt wird damit das erhebliche Steuerungs- und Manipulationsvermögen von Autoren und Autorinnen, ja die Abhängigkeit der Kulturbeschreibung von der Autorität der Verfasser, Wissenschaftler oder Schriftsteller. Nicht zufällig also wird der auch als oder bezeichnet, und es ist bemerkenswert, dass die Leitwissenschaft der Kulturanthropologie hierbei geradezu selbst einen durchmacht und sich hinwendet zu einer anderen temporären «Leitwissenschaft»: der Literaturwissenschaft.

postcolonial turn postcolonial turn reflexive turn postcolonial turn linguistic turn

postcolonial turn turn postcolonial turn 110postcolonial turn translational turn

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