Cover

David Ignatius

Operation Beirut

Thriller

Aus dem Englischen von Bernhard Schmid

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über David Ignatius

David Ignatius, geboren 1950, ist Kolumnist und Herausgeber bei der «Washington Post». Außerdem schreibt er für die «International Herald Tribune», das «New York Times Magazine» und andere Periodika. Als Spezialist für die Themen Geheimdienste und Naher Osten zählt er zu den renommiertesten politischen Journalisten der USA.

 

Weitere Veröffentlichungen:

Der Mann, der niemals lebte

Das Netzwerk

Der Einsatz

Blutgeld

Über dieses Buch

Mission: Impossible

 

Libanon, 1969. Tom Rogers, Nachrichtenoffizier der CIA, wird nach Beirut versetzt. Seine Aufgabe: Informationen über palästinensische Untergrundorganisationen zu beschaffen. Dabei gelingt ihm scheinbar ein Coup – Jamal Ramlawi, ein hochrangiges Mitglied der Fatah, erklärt sich bereit, mit ihm zusammenzuarbeiten. Doch die Männer trennen Welten, und ein gefährliches Spiel voller Täuschungen und Intrigen nimmt seinen Lauf …

 

«Eine bislang noch nicht da gewesene, unglaublich präzise Darstellung der Spielregeln, nach denen Geheimdienste operieren.» (Bob Woodward)

«Spannend und überzeugend.» (Publishers Weekly)

«Die beste amerikanische Spionagegeschichte seit Jahren … David Ignatius beherrscht sein Metier.» (Thomas Powers, Autor von «CIA»)

«Ein ungewöhnlich informativer und fesselnder Spionage-Thriller.» (Time)

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1987 unter dem Titel «Agents of Innocence» bei W. W. Norton & Company, New York und London.

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Agents of Innocence» Copyright © 1987 by David Ignatius

Copyright der deutschen Übersetzung © 1988 by List Verlag, München, unter dem Titel «Die Wurzeln der Hölle»

Für die vorliegende Ausgabe wurde die deutsche Übersetzung überarbeitet

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Jan Valk

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Foto: Gerd Schnürer/mauritius images)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-24910-5 (1. Auflage 2011)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-44091-3

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-44091-3

Für Eve und Elisa

und all die nicht genannten Freunde,

die mich von ihrem Wissen

über den Nahen Osten profitieren ließen –

in der Hoffnung, es würde sich dadurch

etwas zum Guten wenden.

Die hier erzählte Geschichte ist ein fiktionales Werk. Auch wenn sie vor dem Hintergrund des Nahen Ostens angelegt ist, sind sämtliche Charaktere, Szenen, Unterhaltungen und Ereignisse das Produkt der Phantasie des Autors. Die Handlung spielt in einem imaginären Libanon, der nicht mit dem realen Land zu verwechseln ist.

Grauen und Grube und Garn

über dich, Erdbewohner!

Wer vor dem Grauen flieht,

fällt in die Grube;

wer aus der Grube kommt,

fängt sich im Garn.

Denn die Schleusen der Höhen öffnen sich,

und die Grundfesten der Erde erbeben.

 

Jesaja 24:1718

Teil I
Prolog

Beirut; April 1983

Beirut; April 1983

Fuad hörte die Bombe zweimal. Der Nachhall der Explosion, der ihn mit einigen Sekunden Verzögerung erreichte, blieb ihm noch lange im Gedächtnis, nachdem er die eigentliche Detonation bereits Sekunden zuvor über das Telefon gehört hatte. In diesem Augenblick, in dem Vergangenheit und Zukunft verschmolzen, musste Fuad an Rogers denken und sprach ein Gebet.

Vom Au Vieux Quartier, einem Restaurant in Ost-Beirut, hatte Fuad gerade in seinem Hotel im Westteil der Stadt angerufen, um nachzufragen, ob jemand eine Nachricht für ihn hinterlassen hatte, als es plötzlich durch die Leitung dröhnte: das Donnern einer selbst für Beiruter Verhältnisse ungewöhnlich lauten Explosion. Einen Wimpernschlag später, den die Schallwellen gebraucht hatten, um vom Westen in den Osten vorzudringen, hörte er den Knall auch an seinem tatsächlichen Standort.

«Eine Bombe!», rief der erschrockene Hotelportier ins Telefon.

«Können Sie erkennen, woher der Rauch kommt?», fragte Fuad.

«Von der Corniche her», sagte der Portier nach einer kurzen Pause. Offenbar war er hinausgerannt, um nachzuschauen. «Aus der Nähe der Amerikanischen Botschaft.»

«Was für eine Farbe hat der Rauch?»

«Weiß», antwortete der Portier.

«Ya’Allah!», entfuhr es Fuad. Mein Gott!

Weißer Rauch deutete auf eine starke Explosion hin. Eine Bombe, die mit solcher Gewalt und Geschwindigkeit detonierte, dass der Luft in weitem Umkreis der Sauerstoff entzogen wurde und eine weiße Rauchfahne entstand.

Fuads erster Impuls drängte ihn, aus dem Restaurant zu stürzen, um Rogers zu finden – tot oder lebend. Aber dann gewann seine Disziplin die Oberhand. Um ein Uhr dreißig war er mit einem Kurier verabredet, der ihm wichtige Informationen überbringen sollte. Einen Augenblick lang versuchte er sich vorzustellen, was Rogers bei ihrem Treffen heute Abend im Restaurant Ararat wohl sagen würde, wenn Fuad ihm mitteilte, dass es ihm selbst an einem chaotischen Tag wie diesem gelungen war, das Dokument zu beschaffen, nach dem Rogers verlangt hatte.

Fuad setzte sich an die Bar, um auf seinen Kontaktmann zu warten. Alle sprachen über die Bombe. Haben Sie die Explosion gehört? Sie war unglaublich laut! Der Barmann warf ein, dass die Bombe in West-Beirut hochgegangen sein musste, woraufhin sich alle ein wenig beruhigten. West-Beirut lag auf der anderen Seite der Stadt. Das war ein anderes Universum. Fuad sagte nichts. Er bestellte sich ein Glas Mineralwasser, an dem er schweigend nippte.

Der Barmann und seine Freunde setzten ihre Unterhaltung fort. Fuad hörte unauffällig zu. Fast schien es, als gehörte er in diese Umgebung. Obwohl er ein sunnitischer Moslem war, sah er aus wie all die anderen christlichen Geschäftsleute, die an der Bar saßen. Er trug einen Seidenanzug wie sie und zündete sich seine Zigaretten mit einem goldenen Feuerzeug an. Die Araber haben ein spezielles Wort für diese Art von Tarnung. Sie nennen es taqiyya. Das Wort bedeutet, dass es erlaubt ist, andere zu täuschen und im Verborgenen zu bleiben, wann immer es nötig ist. Wenn sich ein Moslem in einer Gruppe von Christen befindet, dann sollte er sich auch für einen Christen ausgeben. Was spielt das schon für eine Rolle? Wahrheit ist ein dehnbarer Begriff.

Ein Libanese steckte seinen Kopf zur Tür herein und rief dem Barmann zu: «L’Ambassade Américaine!» Die Gespräche wurden lauter. Ein Anschlag auf die Amerikanische Botschaft! Fuad spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Er versuchte an etwas anderes zu denken, aber jeder Gedanke führte zurück zur Botschaft und zu Rogers. Um sich zu beruhigen, begann er in Gedanken die Namen Allahs aufzuzählen: Der Mitleidsvolle. Der Gnädige …

«Die Amerikaner werden schon wissen, was zu tun ist», sagte der Barmann. Einige seiner Gäste stimmten ihm zu. Nein, das wissen sie nicht, dachte Fuad. Das war ja das Problem. Zwar waren 2000 US Marines am Flughafen stationiert, aber niemand konnte sich erklären, wozu. Als Fuad vor sechs Monaten einen Mitarbeiter der CIA-Station in Beirut gefragt hatte, was die amerikanischen Soldaten hier im Libanon tun sollten, hatte ihm der junge CIA-Beamte erklärt, es gehe lediglich darum, «Präsenz zu demonstrieren». «Präsenz demonstrieren», hatte Fuad nachdenklich mit dem Kopf nickend wiederholt, da er dem jungen CIA-Mann nicht zu nahe hatte treten wollen. «Natürlich.» Vielleicht wusste Rogers, was zu tun war.

Fuad rauchte eine Zigarette nach der anderen und starrte aus dem Fenster. Um Punkt ein Uhr dreißig tauchte sein Kontaktmann auf, ein würdiger kleiner Herr namens Khoury. Fuad hatte ihn bereits vor dem Restaurant erwartet und manövrierte den Mann nun in ein Seitengässchen. Er nahm das Dokument entgegen, um sich sogleich wieder hastig zu verabschieden. Dann eilte er in Richtung West-Beirut zu den Trümmern der Amerikanischen Botschaft.

 

Bomben bringen in Beirut immer eine Menge Leute auf die Straße. Als Fuad sich um zwei Uhr dreißig langsam näherte, schob sich bereits eine Menschenmenge die Corniche entlang in Richtung Botschaft. Das Gebiet war durch einen Kordon abgeriegelt, und Fuad musste einem Wachtposten der libanesischen Armee seinen amerikanischen Pass zeigen, um nahe genug heranzukommen, dass er das Gebäude sehen konnte.

Der Anblick trieb ihm die Tränen in die Augen. Es schien, als sei dem Gebäude das Fleisch weggerissen worden und das schwache Skelett darunter zum Vorschein gekommen. Viele der Überlebenden standen noch in kleinen Gruppen davor, zu benommen, um irgendetwas zu unternehmen. Fuad belauschte ihre Gespräche, und langsam setzte sich ein Bild zusammen von dem, was passiert war.

Die Leute in der Botschaft hatten die Explosion überhaupt nicht gehört. Das Erste, was sie mitbekommen hatten, war ein Blitz aus heiterem Himmel, dann eine ungeheure Druckwelle, die erst die Fenster eindrückte und dann sie selbst, die sie noch immer auf ihren Stühlen saßen, gegen die Wände der Büros schleuderte. Es war, als seien sie in eine Zentrifuge geraten, sagten die Überlebenden. Staub und Glassplitter schienen in Zeitlupe durch die Luft zu fliegen.

Nachdem der erste Schock sich gelegt hatte, dachten die meisten zuerst, die Botschaft sei von einer Granate getroffen worden. Einige, die schon Angriffe dieser Art miterlebt hatten, blieben auf dem Boden liegen und warteten auf den nächsten Einschlag. Andere krochen unter Herzklopfen durch Schutt und Trümmer, um die Türen ihrer Bürosafes zu schließen.

Die Eingangshalle der Botschaft glich nun einem Abbild der Hölle: ein rußgeschwärztes Trümmerfeld voller Rauch und Staub. Überall herrschte Chaos, als Krankenwagen, Feuerwehr, Soldaten der libanesischen Armee und Marineinfanteristen vor der ausgebombten Botschaft aufeinandertrafen. Die US Marines hatten rund um die Botschaft Stellung bezogen. Die jungen Soldaten hantierten mit ihren Waffen, während ihre Blicke die wachsende Menge Schaulustiger durchforschten.

Hinter ihnen, in den Trümmern der Botschaft, bargen Rettungssanitäter Leichenteile aus dem Schutt.

Fuad überlegte, ob er einen der Botschaftsangehörigen, die wie erstarrt vor dem Gebäude standen, nach Rogers fragen sollte, entschied sich aber dagegen; es wäre ein grober Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften gewesen. Zudem war er nicht sicher, ob er die Wahrheit jetzt schon wissen wollte. Stattdessen drückte er sich in die schattigen Seitenstraßen Richtung Meer. Als er so am Ufer stand, überkam ihn plötzlich ein eisiges Gefühl; so kalt, dass er erschauerte.

 

Zurück in seinem Hotel, fragte Fuad, ob jemand eine Nachricht für ihn hinterlassen hatte. Rogers könnte vielleicht eine verschlüsselte Botschaft hinterlegt haben. Doch es gab keinerlei Nachrichten. Ein letzter Rest an Hoffnung führte ihn in das Hotel, in dem Rogers gewohnt hatte, ein anonymes Gebäude, weit ab vom Zentrum in einer Nebenstraße der Rue Hamra. Fuad löcherte den Portier mit Fragen. Befand sich Mr.Rogers auf seinem Zimmer? Hatte er irgendwelche Nachrichten hinterlassen? War er ausgegangen? War irgendjemand in seinem Zimmer gewesen?

Der Portier weigerte sich, auch nur eine einzige Frage zu beantworten, bis ihm Fuad schließlich 100 libanesische Pfund in die Tasche seines Jacketts schob.

Rogers sei nicht zurückgekehrt, sagte der Portier. Aber vor einer Stunde seien drei Männer von der Botschaft gekommen, die es sehr eilig gehabt hätten. Sie seien auf Rogers’ Zimmer gegangen, hätten seine Siebensachen zusammengepackt und in ein Auto verfrachtet, das vor dem Hotel auf sie gewartet hatte.

Sie hätten die Rechnung bezahlt und gesagt, Mr.Rogers sei ausgezogen.

Teil II

Beirut; Herbst 1969

Kapitel 1 Beirut; September 1969

Tom Rogers stieg aus der Maschine der Middle East Airlines aus und trat direkt in ein Bild aus Tausendundeiner Nacht. Die neuen Bürotürme und Apartmenthäuser West-Beiruts funkelten in der Nachmittagssonne. Die etwas klein geratenen Gepäckträger hasteten geschäftig hin und her, riefen einander zu und protzten lauthals, während sie das Gepäck von einem Ende zum anderen wuchteten; in einiger Entfernung – ihr Hupen war laut genug, um Tote aufzuwecken – stand eine lange Schlange Autos und Lkw Stoßstange an Stoßstange auf der Straße, die vom Flughafen in die verzauberte Stadt führte.

Rogers trug seine zweijährige Tochter Amy vorsichtig auf dem Arm. Sie war im Oman krank geworden und immer noch recht schwach. Rogers machte den unfähigen Arzt dafür verantwortlich. Hier in Beirut, davon war Rogers überzeugt, würde Amy wieder gesund werden. Hinter Rogers kam seine Frau Jane, an der Hand ihren achtjährigen Sohn Mark. Sie war eine strahlende Erscheinung mit pechschwarzem Haar und seidigem Teint; selbst in dem einfachen grauen Rock und der roten Bluse, die sie während des langen Fluges getragen hatte, wirkte sie elegant.

Die Luft war mild und aromatisch, erfüllt von einem Hauch Olive und Minze. Es war Frühherbst, der Beginn jener langen, herrlichen Jahreszeit vor dem Winter. Rogers hielt seine Tochter fest im Arm, während er sie zu dem rotweißen Middle-East-Airlines-Bus hinübertrug, der sie zum Flughafengebäude bringen sollte. Die anderen Passagiere lächelten, als sie ihre Plätze Rogers’ Frau und den Kindern überließen. Ein Mann bot dem kleinen Mark ein Bonbon an.

«Wir haben Kinder gerne», sagte der Mann auf Englisch, als spreche er für die gesamte arabische Welt.

«Schokran», sagte Rogers’ Sohn. Die Passagiere strahlten, als der Kleine das arabische Wort für «danke» benutzte. Wie niedlich. Wie unschuldig.

Rogers lauschte auf das Raunen der arabischen Stimmen im Bus. Am häufigsten war der libanesische Akzent; aber es gab auch einige Menschen mit palästinensischem und ägyptischem. Die meisten Leute sprachen davon, wie gut es tat, wieder in Beirut zu sein. Beobachter hätten Rogers wohl für einen Collegeprofessor gehalten, der sich mit seiner Familie im Libanon aufhielt, um einige Semester an der Amerikanischen Universität in Beirut zu unterrichten. Oder aber für einen amerikanischen Journalisten, der von einer der großen amerikanischen Zeitungen nach Beirut geschickt worden war. Er war groß und schmal und trug einen abgetragenen Cordsamtanzug. Das dichte, dunkle Haar wirkte ungekämmt, der Kragen seines weißen Hemdes war leicht durchgescheuert, und an einem der Ärmel seines Jacketts fehlte ein Knopf. Er hatte sich eine Lesebrille aufgesetzt, um die Zollformalitäten zu studieren; eine Halbbrille mit Schildpattgestell, die auf der Mitte seines Nasenrückens saß, sodass es den Anschein hatte, als schaute er ständig über die Gläser hinweg. Als Rogers aus dem Busfenster auf die Hügel jenseits des Flughafens starrte, zeigte sich keinerlei Ausdruck auf seinem Gesicht. Der Blick eines Mannes, der in Gedanken, vielleicht sogar in Gedankenlosigkeit verloren war. Der Bus setzte die Passagiere am Hauptgebäude ab. Rogers präsentierte an der Passkontrolle einem libanesischen Polizisten seinen Diplomatenpass. Der Polizist sah ihn an und lächelte das schmale, korrupte Lächeln, das Zollbeamten der ganzen Welt eigen war. Rogers konnte beinahe das Klicken des Verschlusses hören, als irgendwo eine Kamera sein Bild festhielt. Er musterte das Gesicht des Beamten und fragte sich einen Augenblick lang, wie viele verschiedene Nachrichtendienste ihm wohl Geld zahlten.

Vor dem Terminal winkte Rogers eines der jämmerlichen Taxis heran. Er sagte dem Fahrer in forschem Arabisch, dass er zum Sarkis-Gebäude in Minara wollte, einem Stadtviertel in der Nähe des alten Beiruter Leuchtturmes. Das, so sagte er den Kindern, würde ihr neues Zuhause werden.

«Wie Sie wünschen», sagte der Fahrer auf Englisch. Er war völlig schockiert, einen Amerikaner – der Mann musste Amerikaner sein, seiner Körpergröße und den Schuhen mit Schnürsenkeln nach zu urteilen – die Landessprache sprechen zu hören.

Rogers bestach gleich am ersten Tag den Hausmeister mit genau der Summe, die ihm der Verwaltungsbeamte der Amerikanischen Botschaft empfohlen hatte. Der Mann bedankte sich überschwenglich und gewöhnte sich an, Rogers mit dem Ehrentitel Effendi anzusprechen. Auch dem Pförtner steckte Rogers ein kleines Bestechungsgeld zu, da dieser für das Glück und die Sicherheit seiner Familie ausgesprochen wichtig war. Er war ein dunkelhäutiger Mann, der vor einigen Jahrzehnten aus Assiut in Oberägypten in den Libanon gekommen und nicht wieder weggegangen war. Er hatte es gerne, wenn man ihn mit dem ägyptischen Wort für Pförtner ansprach: Bawab.

Die Wohnung war geräumig und hell. Vom Grundriss her war sie wie eine Villa angelegt, mit großem Wohn- und Esszimmer, in denen man Gäste empfangen konnte; um diese beiden Räume reihten sich die Schlafzimmer, eine Bibliothek und ein Zimmer für das Hausmädchen. Den Höhepunkt der Wohnung stellte eine große Terrasse mit Blick auf das Mittelmeer dar. Von dieser Terrasse aus konnte man den Fischern zuschauen, die jeden Morgen in ihren Skiffs aufs Meer hinausfuhren. Und man hörte das Tosen der Wellen, die 200 Fuß weiter unten gegen die felsige Küste schlugen. Es war eine Wohnung, in der eine Familie angenehm und stilvoll leben konnte – auf libanesische Art eben.

Jane unternahm mit den Kindern Streifzüge, auf denen sie ihr neues Viertel auskundschafteten. Es gab einen Smith’s Markt an der Rue Sadat, der sämtliche Gewürze und Nahrungsmittel der ganzen Welt zu führen schien. Einige Türen weiter gab es eine Eisdiele, die arabisches Speiseeis verkaufte, süßer als Zucker, und von Konsistenz und Geschmack her europäischem Pudding sehr ähnlich. In einer Gasse war ein kleiner Laden, in dem es Kaffee gab, nach arabischer Art mit Gewürzen versetzt. An einem Sommertag schien die gesamte Rue Sadat nach Kardamom zu riechen.

Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Blumenladen, in dem es die schönsten Blüten zu kaufen gab, die man sich denken konnte: Orchideen und Rosen, Iris und Gladiolen. Der Besitzer war ein stämmiger sunnitischer Moslem; er war völlig kahlköpfig und hatte das Auftreten eines türkischen Ringers. Ein reichlich komischer Anblick: dieser mächtige Bulle von einem Kerl, der den Damen von Beirut ihre Blumen in Papier wickelte.

Bald nach Rogers’ Ankunft begann im moslemischen West-Beirut die Herbstsaison. Die Geschäfte auf der Place des Canons waren mit glitzernden Lichtern hell erleuchtet, und eine Flutwelle von guter Laune trug die ganze Stadt mit sich fort. Dies war die Zeit, in der man ununterbrochen Partys gab: Ein prominenter libanesischer Arzt, der für Aramco arbeitete, veranstaltete im Hotel Phoenicia ein Abschiedsfest für sich selbst. Er verließ das Land, der arme Mann, um nach Saudi-Arabien zu gehen, und erhielt von allen Seiten Beileidsbekundungen. In Koreitem, einem sunnitischen Viertel, begannen die moslemischen Damen des Beiruter Frauen-College mit den Proben für ihr alljährliches Konzert mit weihnachtlicher Musik, während der Internationale Frauenclub von Beirut mit einem ähnlich ökumenischen Geist seine Herbsttour durch Kirchen und Moscheen plante.

Auf der Rue Hamra, dem großen Boulevard des neuen Beirut, drängten sich die Kauflustigen und spähten durch die Schaufenster auf die aktuelle Mode aus Paris, die Schuhe aus Italien, die Bücher aus London und New York. Das war das Viertel, in dem das neue Geld des Libanon herrschte und wo die Mittelschicht hinströmte, um sich Chic, Kultur und Ansehen zu kaufen. In den Geschäften sprach man Französisch, vielleicht etwas Englisch, aber mit Sicherheit nicht Arabisch. Das Arabische repräsentierte eine Kultur, der die Libanesen mit aller Gewalt zu entkommen versuchten.

«Les déracinés» nannten die alten Feudalherren die jungen Männer gerne, die von den Bergen heruntergekommen waren, um dieses neue Beirut zu bauen. Die Entwurzelten. Sie bewohnten eine Stadt, die ihre Leinen losgemacht hatte und jetzt glücklich und selbstvergessen in die Zukunft trieb.

 

Das Beirut des Jahres 1969 war eine Grenzstadt. Seine Einwohner sahen sich gerne als den letzten Außenposten Europas, obwohl das Land auf dem asiatischen Kontinent liegt, an der Grenze von Orient und Okzident. Die Stadt war ein Schmelztiegel, in dem zwei Kulturen – die östliche und die westliche – aufeinandertrafen und wie das Aufeinanderprallen zweier Meeresströmungen einen dampfenden und sinnenfrohen Strudel bildeten.

Da sie an der Grenze lebten, spürten die Libanesen die Erschütterungen der sechziger Jahre aus beiden Richtungen. Die arabischen Zeitungen berichteten pausenlos und ekstatisch über die neuesten unglaublichen Meldungen aus Amerika: Ein Mensch auf dem Mond. Der Mord an Sharon Tate. Hippies. Vietnam. Die Schlagzeilen vermittelten einem ein Gefühl des Umbruchs und der Rebellion im Nabel der Welt, was den Menschen an der Peripherie sowohl ein Gefühl der Macht als auch des Schreckens einflößte; als wären sie Bauern, die zusehen mussten, wie das feudale Herrenhaus niederbrannte.

Die Beirutis nannten ihre Stadt gerne «das Paris des Orients», aber oft erschien es einem eher als das Hongkong Europas. Beirut hatte eine Qualität, die man in der Dritten Welt oft findet. Eine Tendenz zur protzigen Zurschaustellung und zur unfreiwilligen Selbstparodie. Ein libanesischer Gastgeber versorgte seine saudischen Freunde lieber mit zwei üppigen Huren als nur mit einer einzelnen. Der armenische Schneider an der Rue Hamra lernte schnell, dass er mehr Anzüge verkaufte, wenn er seine Preise anhob und jedes Kleidungsstück als «spezielles» Modell anpries, anstatt seine Ware billiger zu verkaufen. In den Maschinen der Middle East Airlines waren die Sitze der ersten Klasse immer ausgebucht, während die Touristenklasse fast leer blieb. Das libanesische Motto schien zu lauten: Etwas, das zu tun wert ist, ist es auch wert, übertrieben zu werden.

Eine Schlagzeile in einer der hiesigen Zeitungen vermittelte einem die Stimmung im Land: «Mega-Plan enthüllt: Libanon soll Traumland werden.» Der Plan bestand darin, Autobahnen auf Pfeilern zu bauen, um mit dem Ansturm des Verkehrs in der Stadt fertigzuwerden. Das Ganze würde die schwindelerregende Summe von 350 Millionen Dollar kosten; eine hoffnungslose Summe für eine Nation, die nicht einmal genug Steuern einzutreiben vermochte, um eine Müllabfuhr einzurichten.

 

Die Libanesen selbst fanden das alles recht amüsant. Außenstehende jedoch verstanden die Zeichen zu lesen, die die meisten Beirutis einfach ignorierten. Der bürokratische Apparat der Regierung war entsetzlich korrupt und die alte Aristokratie so zynisch geworden, dass sie sich radikaler Parolen ebenso bediente wie bewaffneter Schlägerbanden, um sich die politische Macht zu erhalten. Die dadurch motivierten Kräfte drohten, das Regime zu Fall zu bringen.

Die Palästinenser, darin waren sich immerhin alle einig, waren ein Problem. Sie waren das Steinchen im libanesischen Mosaik, das nicht so recht passen wollte. Ihre bewaffneten Leute wurden von Tag zu Tag dreister; in West-Beirut saßen sie in den Cafés an der Rue Hamra und verbargen nicht einmal die Schusswaffen, die ihnen aufdringlich aus dem Hosenbund ihrer viel zu engen Jeans ragten. Es war ein Problem, das niemand so recht zu lösen wusste. Also stimmte man lediglich in den Chor der Schmähungen gegen Israel mit ein, wie fast jedes andere arabische Land auch.

Die palästinensischen Flüchtlinge, jene ungeladenen Gäste im glänzenden, aufsteigenden Libanon, lebten in einer Reihe von Lagern am Rande Beiruts, die man als den «Elendsgürtel» bezeichnete. Die Sabras und die Schatillas, zwei sunnitische Großgrundbesitzerfamilien, hatten nach libanesischer Art eine Methode gefunden, von dem Flüchtlingsstrom zu profitieren. Sie boten den Palästinensern in der Nähe des Beiruter Flughafens ungenutztes Land zum Kauf, auf dem diese sich, je nach Vermögen, Wellblechhütten oder verputzte Häuser bauen konnten. Diese Lager wurden bald allen Flugreisenden zu einem vertrauten Bild: Die Jets der Middle East Airlines kamen in einer Rechtskurve vom Mittelmeer herein, setzten hoch über den Geschäften und Cafés der Rue Hamra zum Landeanflug an, und bevor ihre Räder schließlich im Paris des Orients aufsetzten, tosten sie so dicht über die Elendsquartiere von Sabra und Schatilla hinweg, dass die brüchigen Häuser zu erzittern schienen.

Kapitel 2 Beirut; September 1969

Rogers musste eine Woche warten, bevor er den Stationschef, Frank Hoffman, zu sehen bekam. Dieser hatte sich auf einer Dienstreise in Saudi-Arabien befunden. Rogers war gespannt darauf, seinen neuen Chef kennenzulernen, der den Ruf hatte, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. In einer Organisation, die Diskretion und Anonymität über alles stellte, war das eine seltene Abwechslung.

Hoffmans Sekretärin, eine Frau in den Fünfzigern namens Ann Pugh, blickte Rogers finster an, als er das Büro betrat.

«Sie kommen fünf Minuten zu spät», sagte sie. Miss Pugh ging zu einer schweren Eichentür hinüber und klopfte zweimal. Von der anderen Seite her antwortete ein Knurren. Mit einem elektronischen Summen tat sich die Tür auf und gab den Blick auf Hoffman frei, der hinter seinem Schreibtisch saß.

Hoffman war klein und stämmig, hatte ein fleischiges Gesicht und eine kahle Stelle in der Mitte seines Schädels. Er sah eher wie ein FBI-Agent aus als wie ein CIA-Mann – und redete auch so. «Sie sind also mein neuer Falloffizier», wandte er sich mit einem fragenden Blick an Rogers.

«Tom Rogers», sagte der jüngere Mann und trat mit einem ausgestreckten Arm an den Schreibtisch. Hoffman grunzte etwas Unverständliches und schüttelte ihm die Hand.

«Jedenfalls sehen Sie wie einer aus», sagte Hoffman und musterte seinen neuen Falloffizier. Den Sarkasmus schuldete Hoffman seinem Übergewicht, das ihn gegenüber schlankeren Menschen unsicher machte. «Setzen Sie sich», bellte er. Rogers ließ sich auf einer prallen roten Ledercouch nieder.

«Nun denn …», sagte der Stationschef und wühlte sich durch die Papiere auf seinem Schreibtisch. «Ihr Tarnjob ist der eines politischen Referenten.»

«Wunderbar», sagte Rogers. Um seine letzte Tarnung als Konsularreferent im Oman aufrechtzuerhalten, hatte Rogers die Hälfte eines jeden Tages damit zugebracht, Visumsanträge zu bearbeiten. Davor, in Khartum, war seine Tarnung die eines Wirtschaftsreferenten gewesen, und er hatte sich mehrere Stunden am Tag durch irgendwelche Import-Export-Verträge arbeiten müssen. Die Tarnung als politischer Referent war die einfachste und beste in jeder Botschaft, da sich die Anforderungen einer solchen Stelle nicht sonderlich von denen eines Nachrichtenoffiziers unterschieden.

Hoffman zog eine Schachtel Lucky Strikes hervor. «Sie rauchen doch wohl nicht Pfeife, hoff ich», brummte er. «Ich kann diese pfeiferauchenden Professorentypen nämlich nicht ausstehen.»

«Ich rauche gern eine Zigarette», sagte Rogers.

Hoffman gab ihm eine Lucky. Rogers nahm ein Streichholz aus einer Schachtel auf dem Schreibtisch und riss es an der Sohle seines Schuhs an.

«Zündet man sich in Yale so seine Streichhölzer an?», fragte Hoffman.

«Ich war nicht in Yale», sagte Rogers. Hoffman fing an, ihm auf die Nerven zu gehen.

«Gut», meinte der Stationschef. «Es gibt also noch Hoffnung.»

«Hier steht, dass Sie ganz allein das Politbüro im Südjemen infiltriert haben», sagte Hoffman nach einer Weile, während er auf ein Blatt Papier starrte. «Stimmt das?»

Rogers lächelte zum ersten Mal. Es war äußerst unwahrscheinlich, dass eine solche Information auf einem Blatt Papier geschrieben stand – noch dazu in einer geöffneten Akte.

«Ich hatte einige recht nützliche Kontaktleute», sagte Rogers.

«Erzählen Sie mir doch keinen Scheiß», sagte Hoffman.

«So ungefähr stimmt das schon», gab Rogers zu. «Ich habe vor einigen Jahren in Aden einen der Revolutionsführer angeworben. Er entpuppte sich als Goldmine. Je näher er der Macht kam, desto gesprächiger wurde er.»

«Und warum?», fragte Hoffman.

«Weiß ich auch nicht», sagte Rogers. «Die Leute reden eben gerne.»

«Quatsch.»

«Vielleicht war ich seine Lebensversicherung», sagte Rogers. «Vielleicht hasste er die Russen. Ich weiß nicht, warum, aber er hat mir seine Lebensgeschichte erzählt. Wie er in Moskau Unterricht in revolutionärer Strategie bekommen hat. Wie der KGB ihm beibrachte, nach einer Machtübernahme eine Geheimpolizei aufzubauen. Der Mann war ein wandelndes Lehrbuch für sowjetische Geheimdienstarbeit.»

«Soso?», fragte Hoffman, der immer noch auf die angebliche Akte starrte. «Ich meine, was steckt dahinter?»

Rogers schwieg. Er dachte an seinen jemenitischen Agenten, der jetzt ein hoher Funktionär in der neuen Volksrepublik Jemen war.

«Nichts», sagte Rogers. «Außer dass die Russen nicht so dumm sind, wie sie aussehen.»

Hoffman kniff die Augen zusammen und sah Rogers scharf an. Dann lachte er. «Das können Sie laut sagen!», meinte er. «Und um das herauszufinden, haben Sie drei Jahre gebraucht?»

Rogers entspannte sich. Die Inquisition schien vorüber zu sein.

«Na schön, mein Freund», sagte Hoffman, «Sie verstehen Ihr Geschäft. Lassen Sie mich ein wenig erklären, was wir hier so treiben.»

Er reichte Rogers eine dicke Akte mit dem Stempel «Streng geheim» und dem unmöglichen und höchst bürokratischen Titel «Direktiven angeschlossene Missionen betreffend». Dieses Dokument, das zu Hause in Langley erarbeitet worden war, zeigte an, wo die Priorität der Arbeit im Libanon lag.

«Lesen Sie das später», wies Hoffman an. «Ich sage Ihnen, was Sie wissen müssen, und das ist Folgendes: Beirut ist ein Zirkus mit drei Manegen. Wir haben hier ein bisschen von allem. Wir haben eine Reihe libanesischer Politiker, die gierigste Bande von Dreckskerlen, die mir je über den Weg gelaufen ist und die der Mühe nicht wert wäre, wenn sie nicht jeden in der arabischen Welt kennen würden. Wir haben einige Agenten aus Drittländern – Ägypter, Syrer, Irakis –, die wir über die Beiruter Station führen. Und dann haben wir hier noch das übliche Katz-und-Maus-Spiel mit der hiesigen Sowjetbotschaft.»

Hoffman machte eine Pause.

«Außerdem haben wir einige Palästinenser, die seit Jahren in unseren Büchern stehen; aber das sind die durchtriebensten Rosstäuscher, die Sie in diesem ganzen, versauten Teil der Welt finden können.

Und genau da kommen Sie ins Spiel», fuhr Hoffman mit einem breiten Grinsen fort. «Sobald Sie sich eingewöhnt haben, möchte ich, dass Sie die Palästinenser-Abteilung übernehmen.»

 

Bei ihrer nächsten Begegnung, drei Tage später, zeigte sich Hoffman etwas entspannter. Er spielte geistesabwesend mit einem der Stifte auf seinem Schreibtisch, indem er ihn immer wieder in die Luft schnipste und dann auffing.

«Machen wir ein Spielchen», sagte er. «Nehmen wir an, es will Sie einer aus dem Weg räumen. Was unternehmen Sie?»

«Ich komme ihm zuvor», sagte Rogers.

«Falsch! In diesem Teil der Welt ist dann der Bruder des Knaben hinter Ihnen her und bringt Sie um; somit sind Sie so oder so tot.»

«Ich heuere jemanden an, der ihn für mich umbringt», sagte Rogers.

«Schon besser, aber immer noch falsch. Die richtige Antwort lautet: infiltrieren! Haben Sie kapiert? Infiltrieren!»

Rogers nickte.

«Treiben Sie jemanden auf, der den Mörder kennt. Jemanden, der sich mit ihm auf vertrautem Terrain bewegen kann, der weiß, wohin er geht, mit wem er verkehrt, was er zum Frühstück isst. Können Sie mir folgen? Und diesen Burschen bringen Sie dann dazu, Ihnen zu flüstern, wann der mutmaßliche Mörder vorhat, auf Sie loszugehen, damit Sie Zeit haben, ihm aus dem Weg zu gehen. Verstehen Sie das?»

Rogers nickte. Dieser Hoffman begann ihm zu gefallen.

«Mein Freund», sagte der Stationschef. «Wenn Sie dieses Spielchen auch im richtigen Leben beherrschen, dann kommen wir hier prima miteinander aus. Das ist nämlich genau das, was wir mit einigen dieser lästigen Elemente hier vorhaben, die das Töten von Amerikanern für einen netten Zeitvertreib halten. So wie Ihre Freunde, die Palästinenser.»

Jetzt waren sie also schon «seine» Freunde, bemerkte Rogers.

«Machen wir einen Ausflug», sagte Hoffman und erhob sich mit einem Mal von seinem Stuhl. «Ich zeige Ihnen die Stadt.»

Er rief nach seiner Sekretärin, grunzte das Wort «Wagen», nahm Rogers beim Arm und führte ihn zur Tür hinaus und die Treppen hinunter. Die beiden boten einen komischen Anblick: der kleine, dickliche Hoffman in seinem ausgebeulten Anzug, der den hochgewachsenen jungen Mann durch die Gegend bugsierte. Im Erdgeschoss hielt Rogers auf den Vordereingang zu. Hoffman riss ihn mit einem Ruck am Arm herum und schleppte ihn zu einem Nebenausgang, vor dem ein schwarzer Chrysler wartete.

«Nimm dir den Tag frei, Sami», meinte Hoffman zu dem libanesischen Fahrer und rutschte selbst auf den Fahrersitz.

«Steigen Sie ein», sagte er zu Rogers. Als beide Türen geschlossen waren, nahm Hoffman eine automatische Pistole aus einem Schulterhalfter und verstaute sie im Handschuhfach. Rogers, der innerhalb der Büroräume selbst noch nie eine Waffe getragen und im ganzen Geheimdienst auch nie jemanden kennengelernt hatte, der das tat, schloss daraus, dass Hoffman ein Exzentriker sein musste.

«Ich möchte Ihnen einen meiner Freunde vorstellen», sagte Hoffman. «Auch so ein patentes Bürschchen wie Sie.»

Hoffman legte mit voller Wucht den zweiten Gang ein und brauste aus dem Seitengässchen auf die Corniche hinaus in Richtung Westen. Er umfuhr die Landspitze unterhalb des Leuchtturms, ließ das Bain Militaire rechts liegen und sauste mit hundert Sachen die Mittelmeerküste entlang. Dabei summte er permanent eine kleine, fröhliche Melodie.

Als sie zu einem direkt am Strand gelegenen Rummelplatz kamen, trat er auf die Bremse, bog schwungvoll nach links in eine Seitenstraße und parkte den Wagen so, dass man ihn von der Corniche aus nicht sehen konnte.

«Steigen Sie aus», sagte er zu Rogers.

Ein großes Riesenrad drehte sich verschlafen in der Morgensonne. Für Kinder gab es noch einige kleinere Bahnen und Karussells. Der Rummelplatz war so gut wie ausgestorben.

«Mögen Sie Zuckerwatte?», fragte Hoffman. Rogers verneinte.

«Schade. Die hier ist ausgezeichnet. Eine lokale Spezialität.»

Hoffman ging voraus und hielt auf ein kleines Gebäude im Schatten des Riesenrades zu. Es war ein kleines Freiluftcafé; außer dem alten Mann, der an einem der Tische saß und türkischen Tabak aus einer Wasserpfeife rauchte, war es leer.

Als der Alte seine Gäste sah, nahm er das Mundstück der Pfeife von den Lippen, kam zu Hoffman herüber und küsste ihn auf beide Wangen. Zu Rogers’ Erstaunen erwiderte Hoffman die Geste.

Der Alte verschwand im hinteren Bereich des Cafés. Keiner von beiden hatte auch nur ein Wort gesagt.

«Rauchen Sie?», fragte Hoffman und deutete auf die Pfeife.

«Nein danke», sagte Rogers.

«Bleibt umso mehr für mich», meinte der Stationschef und nahm einen tiefen Zug aus der vor sich hin glimmenden Pfeife. Hoffman saß zufrieden da, zog hin und wieder am Mundstück der Pfeife, sagte aber nichts.

Nach fünf Minuten kam der Alte zurück und brachte Kaffee, verschwand dann aber gleich wieder. Die Sonne war warm, und vom Mittelmeer her kam eine angenehme Brise. Hoffman blieb weiter stumm.

Rogers fragte sich, ob sein Chef ihn einer Art Prüfung unterzog. Sie waren etwa zehn Minuten im Café, als Rogers in der Ferne eine Gestalt erspähte, die allein am Strand spazieren ging. Es war ein junger Araber, elegant und gut gebaut; er trug eine Sonnenbrille.

Im gleichen Augenblick ließ Rogers einen Blick auf Hoffman ruhen und sah, dass der Stationschef die Hände hinter dem Kopf verschränkt hatte, als würde er sich strecken – oder jemandem ein Zeichen geben.

Langsam näherte sich der junge Mann dem Strandcafé.

«Das ist der Bursche, mit dem ich Sie bekannt machen will», sagte Hoffman. «Er heißt Fuad.»

 

Der junge Mann betrat das Café. Hoffman hieß ihn willkommen und stellte die beiden Fremden einander vor.

«Fuad, ich möchte Ihnen John Reilly vorstellen», sagte er und deutete auf Rogers.

«Guten Tag, Mr.Reilly», sagte der Araber. Er schien absolut nicht nervös zu sein, fast unnatürlich gelassen.

«Nennen Sie mich John», sagte Rogers. Er hasste Tarnnamen, und schon gar solche, die sich ein anderer für ihn ausdachte.

Der Araber setzte sich und nahm seine Brille ab. Rogers bemerkte einen leidenschaftlichen, fast hasserfüllten Blick in seinen Augen. Offensichtlich waren es jedoch nicht die Amerikaner, die er hasste.

«Wir haben Fuad kennengelernt, als er an der Amerikanischen Universität in Beirut studierte», sagte Hoffman. «Wir schätzen ihn sehr.»

Rogers nickte mit dem Kopf und lächelte. Auch Fuad nickte mit dem Kopf und lächelte. Die Szene wirkte sehr arabisch.

«Fuad ist die letzten Jahre über in Ägypten gewesen. Er hat für eine libanesische Handelsfirma gearbeitet und sich nebenbei ein bisschen mit linker Politik beschäftigt.» Hoffman ließ seinen Blick langsam durch das Café und über den Strand dahinter schweifen; er vergewisserte sich, dass sich niemand näherte; dann fuhr er fort.

«Während er in Ägypten war, hielt Fuad sporadisch Kontakt mit unserer Organisation und versorgte uns mit einer Reihe von interessanten Informationen. Besonders zu schätzen wussten wir seine Berichterstattung über die Aktivitäten der Palästinenser in Ägypten. Jetzt denkt Fuad daran, wieder in den Libanon zurückzukehren», sagte Hoffman. «Wir halten das für eine ausgezeichnete Idee.»

Hoffman lächelte Fuad an, der das Lächeln dieses Mal nicht erwiderte.

Es entstand eine Pause. Ein Dampfer bewegte sich langsam über den Horizont.

Rogers meldete sich zu Wort – auf Arabisch.

«Die Ägypter haben ein Sprichwort, was Seereisen anbelangt», sagte Rogers in umgangssprachlichem Arabisch und machte eine Geste in Richtung des Schiffes.

«Sie sagen: ‹Es ist besser, das Furzen von Kamelen zu hören als das Beten der Fische.›»

Fuad neigte den Kopf, als sei er sich nicht ganz sicher, ob er richtig verstanden hatte; dann lächelte er.

«Die Ägypter haben ganz recht», sagte Fuad.

«Bockmist», brummelte Hoffman.

«Die Ägypter haben da noch ein Sprichwort, das mir gefällt», fuhr Rogers auf Arabisch fort. «Es ist eine Warnung an all jene, die meinen, sie verstünden die arabische Welt.»

«Und wie lautet es?», fragte Fuad.

«‹Wir setzen uns der Gefahr aus, wenn wir uns mit unserem eigenen Ratschlag zufriedengeben.›»

«Lasst uns mal einen Augenblick zur Sache kommen», sagte Hoffman ungeduldig. «Ich habe nämlich was Besseres zu tun, als mir anzuhören, wie ihr beide euch Volksweisheiten erzählt – und das in einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist.»

Rogers zündete sich eine Zigarette an, bot Fuad eine an und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, um Hoffman zuzuhören.

«Fuad, ich will, dass Sie sich in Beirut noch einmal mit Mr.Reilly treffen und dass ihr beide euch dann ernsthaft über die Palästinenser unterhaltet», sagte Hoffman nun konzentriert.

«Ich will, dass Sie für ihn dasselbe tun, was Sie vor zwei Monaten für mich gemacht haben. Namen, Geschichten, politische Aufzeichnungen, ein Who’s who der Leute, die man in Kairo kennen muss. Ich will, dass Mr.Reilly ein Bild von den Anführern der Guerillaorganisationen bekommt, das so vollständig wie möglich ist.»

Fuad nickte.

Hoffman zog eine Karteikarte aus einer seiner Taschen. Darauf stand getippt die Adresse einer Wohnung in West-Beirut, eine Uhrzeit und zwei kurze Sätze. Er reichte Fuad die Karte.

«Gehen Sie in drei Tagen zu dieser Adresse, um zehn Uhr morgens. Mr.Reilly wird dort auf Sie warten. Sagen Sie Ihre Parole, und er antwortet Ihnen mit der seinen; dann lässt er Sie hinein. Wenn Ihnen jemand folgt oder wenn Sie aus irgendeinem Grund nicht kommen können, dann gehen Sie am nächsten Tag noch einmal hin, und zwar um vier Uhr nachmittags. Haben Sie verstanden?»

Fuad nickte ein weiteres Mal.

«Haben Sie auswendig gelernt, was auf der Karte steht?»

«Ja», sagte Fuad.

«Dann geben Sie sie mir zurück.»

Der junge Araber warf noch einen letzten Blick auf die Karte und reichte sie dann Hoffman.

Dieser stand auf. Keiner war aufgefordert, etwas zu sagen, also sagte niemand etwas.

Fuad stand ebenfalls auf und drückte Rogers fest die Hand.

Der Araber wandte sich an Hoffman. Er legte als Geste der Aufrichtigkeit eine Hand aufs Herz, schüttelte Hoffmans Hand, drehte sich um und ging.

Als Rogers zusah, wie der junge Araber langsam über den Strand spazierte, stellte er fest, dass der Mann wie ein geborener Agent aussah. Sein Äußeres war gepflegt und schwer bestimmbar: mittlere Größe, weder dick noch dünn, genau die Art von glattem, gepflegtem Gesicht, an das man sich nie ganz genau erinnern konnte. Es gibt Gesichter, die geradezu Landkarten menschlichen Charakters sind. Fuads Gesicht dagegen war eine leere Tafel, mit seiner glänzenden Bräune, ganz ohne Linien und Falten: ein Bild von einer Reise durch die Wüste, die keine Spuren hinterließ.

Hoffman ließ sich neue, glühende Kohle für die Pfeife bringen. Nachdem er noch einige Minuten länger an der Shisha gepafft hatte, legte er das Mundstück zur Seite.

«Interessanter Bursche», sagte Hoffman. «Er ist davon überzeugt, dass es Amerikas Schicksal ist, die Araber zu befreien! Weiß Gott, warum der so an uns glaubt, aber er tut’s.»

«Ist er zuverlässig?», fragte Rogers.

«Das herauszufinden liegt an Ihnen, mein Freund. Denn von diesem Augenblick an ist er Ihr Agent.»

Rogers lachte und schüttelte den Kopf.

«Weiß er, dass er in Ihren Büchern geführt wird?»

«Mehr oder weniger», sagte Hoffman. «Lassen Sie uns gehen.» Schweigend spazierten sie zum Wagen zurück. Als die Türen geschlossen waren, wandte sich Hoffman an seinen neuen Falloffizier.

«Sie sollten etwas über Fuad wissen, was nicht in den Akten steht», sagte der Stationschef. «Sein Vater wurde vor einigen Jahren ermordet. Er glaubt, dass der Mann, der seinen Vater umgebracht hat, ein libanesischer Kommunist war.»

«Und, war er es?», fragte Rogers.

«Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln», sagte der Stationschef. «Aber wen kümmert es, was ich denke? Tatsache ist, dass Fuad es glaubt.»

 

Rogers traf sich mit Fuad in einer Wohnung in Rauche, mit Blick aufs Meer; es war eine von circa sechs geheimen Wohnungen, die die CIA in Beirut besaß.

Das Apartment war in jenem grellen Stil eingerichtet, an dem viele Araber Geschmack finden und der von Inneneinrichtern als «Louis Farouk» verspottet wird. Spiegel mit Goldrahmen, viel zu prall gepolsterte Sofas in Pink und Gelb, denen büschelweise die Füllung aus dem Bezug spross, lackierte Kaffeetischchen. Rogers kam früher als vorgesehen und sah sich in der Wohnung um. Sie war abscheulich; genau die Art von Dekor, mit der man einen Beduinen aus der Wüste beeindrucken konnte, nicht aber einen Cum-laude-Absolventen der Amerikanischen Universität Beirut. Es klopfte an der Tür, dann folgte der rituelle Austausch der Parolen.

«Sind Sie heute beschäftigt?», fragte Fuad.

Rogers fand die Parole dumm und kaum der Mühe wert, aber er sagte die abgesprochene Antwort auf.

«Nein, im Moment habe ich ein paar Minuten Zeit.»

Rogers öffnete die Tür, schüttelte Fuad die Hand und führte ihn zu einem der Pastellsofas.

«Nochmals guten Tag, Fuad», sagte Rogers.

«Guten Tag, Mr.Reilly.»

Fuad bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer Wildkatze. Er trug die Kleidung eines jungen libanesischen Playboys: ein Jackett mit breitem Revers, das an der Taille gerafft war, Leinenhosen, einen dazu passenden Wildledergürtel, Wildlederschuhe und die unvermeidliche Ray-Ban-Sonnenbrille. Der Aufzug musste ihn mindestens einen Monatslohn gekostet haben, vermutete Rogers.

Die Vorhänge der Wohnung waren zugezogen und der Raum dunkel. Als er sich auf die Couch setzte, nahm Fuad die Sonnenbrille ab und starrte Rogers mit der konzentrierten Neugierde eines Menschen an, der sein Leben in die Hände eines anderen legt. Zwei Dinge fielen an Rogers auf. Das Erste war seine Körpergröße. Er war gut eins fünfundachtzig; ein Riese nach arabischen Maßstäben; eine Größe, die man hier gemeinhin mit kurdischen Ringern oder tscherkessischen Leibwächtern assoziierte. Das Zweite war seine Zwanglosigkeit. Der lose Schnitt seiner Kleidung, die abgewetzten Kragen seiner Hemden, die Art, wie er aus dem Fenster starrte, wenn er eine Zigarette rauchte. Diese Kombination ließ ihn als die Verkörperung jenes Bildes erscheinen, das sich der Araber von Amerika machte: groß und entspannt, strahlte er Macht und Intimität zugleich aus.

Die Verantwortlichen von der Zweigstelle Beirut hatten den Raum sorgfältig ausgestattet. Das Tablett auf dem Tisch war mit Zigarettenschachteln gefüllt; drei verschiedene Sorten – eine geradezu arabische Geste der Gastfreundschaft. Obst und etwas zu trinken gab es ebenfalls. Fuad nahm die Schachtel, die ihm am nächsten lag – eine Packung Larks – und zündete sich die erste von vielen Zigaretten an. Rogers goss süßen arabischen Tee in zwei Gläschen und plauderte vor sich hin. Er fragte nach Fuads Familie, sprach von seiner eigenen Frau und seinen Kindern, erkundigte sich nach der politischen Situation in Ägypten. Als sie das Vorgeplänkel beendet hatten, kam Rogers zur Sache.

«Sagen Sie mir, was Sie über die Anführer der palästinensischen Guerillas wissen. Welche sollten wir kennenlernen?»

«Verzeihen Sie, Mr.Reilly», sagte Fuad. «Aber diejenigen, die Sie kennenlernen sollten, sind die, die sich nicht mit Ihnen unterhalten werden.»

Da hat er recht, dachte sich Rogers. Aber er sagte nichts, sondern wartete darauf, dass Fuad von sich aus fortfuhr.

«In Ägypten bin ich zwei Sorten von Palästinensern begegnet», erklärte Fuad. «Es gibt die traditionellen Führer, die man kaufen kann; die sind nicht zu gebrauchen. Und es gibt eine neue Gruppe – die Fedajin –, die man nicht so leicht kaufen kann, die aber die arabische Welt wie ein Vulkan erschüttern. Aber Sie haben da ein Problem. Die neuen sind echte Revolutionäre. Sie erhalten ihre Ausbildung und ihre Waffen aus Moskau. Warum sollten die mit den Amerikanern sprechen?»

«Jeder will mit den Amerikanern sprechen», sagte Rogers. «Wenn ich in meinem Geschäft etwas gelernt habe, dann ist es das.»

«Ich bin sicher, Sie haben recht, Mr.Reilly», sagte Fuad vorsichtig.

«Sagen Sie mir etwas über die Fatah», sagte Rogers.

«Das ist die größte der Guerillagruppen.»

«Ja, ja, das weiß ich. Sagen Sie mir etwas über ihre Anführer.»