Cover

David Ignatius

Blutgeld

Thriller

Deutsch von Matthias Müller

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über David Ignatius

David Ignatius, geboren 1950, ist Kolumnist und Herausgeber bei der «Washington Post». Außerdem schreibt er für die «International Herald Tribune», das «New York Times Magazine» und andere Periodika. Als Spezialist für die Themen Geheimdienste und Naher Osten zählt er zu den renommiertesten politischen Journalisten der USA.

 

Weitere Veröffentlichungen:

Der Mann, der niemals lebte

Das Netzwerk

Der Einsatz

Über dieses Buch

Komplott im Zeichen des Halbmonds

 

Eine junge Frau wird ermordet. Eigentlich kein Fall für Privatermittler Sam Hoffman, der sich in London auf internationale Finanzgeschäfte spezialisiert hat. Aber der Ehemann des Opfers verdächtigt den irakischen Bankier Hammud – und weckt damit Sams Interesse. Mit Hilfe der attraktiven Computerspezialistin Lina, die für den mutmaßlichen Mörder arbeitet, stößt Sam auf ein milliardenschweres Komplott. Auch der irakische Diktator scheint darin verwickelt. Als Hammud Sams Pläne durchschaut, lässt er Lina in die Foltergefängnisse Bagdads verschleppen …

 

«Spannend wie ein Grisham-Thriller, hält dieser Roman seine Leser bis zum überraschenden Ende gefangen.» (Richard Helms, Ex-CIA-Direktor)

 

«CIA-Agenten bewundern Ignatius, weil er besser als jeder andere Schriftsteller die Feinheiten ihres Geschäfts versteht. Faszinierend.» (George Tenet, Ex-CIA-Direktor)

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel «The Bank of Fear» bei Avon Books, New York.

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2011

Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The Bank of Fear» Copyright © 1994 by David Ignatius

Copyright der deutschen Übersetzung © 1998 by Marion von Schröder Verlag, München, unter dem Titel «Bank der Angst»

Der Marion von Schröder Verlag ist ein Imprint der Ullstein Buchverlage, Berlin.

Für die vorliegende Ausgabe wurde die deutsche Übersetzung überarbeitet.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Jan Valk

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Foto: M. Brown/C. Simons/Getty Images)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-24909-9 (1. Auflage 2010)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-43051-8

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-43051-8

Für Eve, Elisa, Alexandra und Sarah. Und für meine tapferen arabischen Freunde, die ihr Leben dem Kampf für Menschenrechte und Demokratie gewidmet haben.

Hier ist ein Volk, das seinen ganzen Stolz

der Unterdrückung preisgibt.

Hier ist ein Land gedemütigt

Wie eines Feiglings Haus.

 

Wer gibt uns einen Vogel,

bloß einen Vogel?

Bloß einen Baum?

Wer wird uns das Alphabet der Luft lehren?

 

Wir warten an der Kreuzung.

Wir beobachten den Sand, der unsere

Leuchtfeuer versenkt.

Die Sonne zerfällt zwischen den Runzeln

unserer Hände.

 

O mein Land …

Deine Haut ist die einer Echse.

Dein Duft ist der Gestank

verbrannten Gummis.

Dein Sonnenaufgang ist eine

weinende Fledermaus.

Du gebierst solche Holocausts.

Du säugst Ungeziefer an deiner Brust.

ADONIS (Künstlername von ALI AHMAD SAID), «Erinnerung an das Erste Jahrhundert», aus der Sammlung Blätter von Tag und Nacht.

Prolog

Das Gebäude von Coyote Investment war ein grauer Betonklotz am westlichen Ende von Knightsbridge, mit kleinen glupschäugigen Fenstern, die das Innere vor neugierigen Blicken schützten. An der Vorderfront gab es eine Drehtür, die immer abgeschlossen war, sodass alle Besucher einen schmalen Seiteneingang benutzen mussten, hinter dem ein Sicherheitsbeamter an einem Tisch saß. Der einzige Farbtupfer an der Fassade war ein rostroter Fleck, der durch die Tropfen von den Simsen und Fallrohren entstanden war. Bei einem flüchtigen Blick auf das Gebäude hatte man den Eindruck, es würde Blut aus den Mauern heraussickern. Es war ein Ort, den die meisten Londoner nicht freiwillig betreten würden, es sei denn, sie hätten dort geschäftlich zu tun.

An einem Samstagabend fuhr hier zu später Stunde eine schwarze Daimler-Limousine vor. Ein grauhaariger arabischer Herr im Smoking entstieg dem Fond des Wagens und nahm den Aufzug zu seinem Büro im fünften Stock. Er setzte sich sofort ans Telefon und führte eine Reihe von Gesprächen. Er hieß Nassir Hammud. Ihm gehörte das Gebäude und noch einiges mehr. Aber an jenem Abend im März hatte er Schwierigkeiten: Der erste Anruf galt seinem Sicherheitschef.

«Es hat einen Unfall gegeben», informierte Mr. Hammud den Mann, als dieser zwanzig Minuten später eintraf. «In meinem Landhaus. Eine Frau ist zu Schaden gekommen.» Er sprach langsam, hielt an jedem Wort fest, als könnte er dessen Wirkung auf den Zuhörer kontrollieren. Er war Unfälle nicht gewohnt. Beim Reden wischte er ein unsichtbares Fädchen vom Seidenaufschlag seiner Jacke.

Das Gesicht des arabischen Herrn war ebenso gepflegt wie seine Abendgarderobe. Die Züge waren für sich genommen nicht bemerkenswert: eckige Wangenknochen, eine breite Nase mit einem leichten Haken zur Spitze hin, ein fliehendes Kinn. Aber sein Gesicht hatte einen unnatürlichen Glanz, gleichzeitig rosa und blass, als wäre er geradewegs von einem Einbalsamiertisch heruntergestiegen. Die Haut war zu glatt; sie sah aus wie auf einem retuschierten Foto. Die Zähne hatten etwas Leuchtendes und Scharfes, die Fingernägel waren frisch manikürt. Auf einer Wange waren Spuren einer frischen Narbe, aber sie war so gut genäht worden, dass sie im Abendlicht fast unsichtbar war. Das Einzige, was in diesem Gesicht von den kosmetischen Künsten scheinbar unberührt geblieben war, waren die Augen, die sich zu scharfen schwarzen Schlitzen verengten. Und es war genau diese Kombination von kraftloser, fast femininer Geschmeidigkeit und der rohen Brutalität, die aus seinen Augen leuchtete, die Nassir Hammud eine Ausstrahlung berechnender Grausamkeit verlieh.

«Ya sidi!», sagte der Sicherheitschef. O Herr.

«Ich war den ganzen Tag hier in London», fuhr Hammud fort. «Der Chauffeur hat mich ins Büro gebracht. Ich habe von diesem … Unfall am Telefon erfahren.»

«Ya rayess!», rief der Sicherheitschef. O mein Präsident! Er war ein irakischer Armenier namens Sarkis, jedem außer Mr. Hammud als Professor Sarkis bekannt.

«Ich möchte, dass Sie etwas für mich erledigen», sagte Hammud.

«Ya amir!», antwortete Sarkis und näherte sich dem Schreibtisch. O mein Prinz! Er war ein kräftiger Mann, mit teigigen Wangen und einer riesigen Nase, die ihn wie die levantinische Version eines tropischen Vogels aussehen ließ. Er beugte sich zu Mr. Hammud vor. «Soll ich einen Arzt rufen?», fragte er.

«Nein!», sagte Hammud. «Keinen Arzt.»

«Soll ich einen Krankenwagen rufen?»

Hammud machte eine wegwerfende Handbewegung, als würde er ein weiteres Fädchen von seinem Jackett wegwischen.

«Was soll ich dann tun, sidi

Hammud ging zu dem Tresor hinter ihm. Er öffnete ihn und zählte sorgfältig fünfzigtausend Pfund aus der Bargeldschublade ab. Als er damit fertig war, steckte er das Geld in einen braunen Umschlag, kritzelte eine Adresse drauf und übergab ihn Sarkis.

«Ich möchte», sagte er, «dass Sie morgen früh zu diesem Mann hier gehen und ihm den Umschlag geben. Nur ihm. Er ist Polizeichef. Sagen Sie ihm, das Geld ist als Belohnung gedacht. Für Hinweise darauf, wer die Frau getötet hat. Sagen Sie ihm, ich bedaure den Vorfall sehr. Sagen Sie ihm, dass ich das ganze Wochenende über in London war.»

Sarkis verneigte sich und nahm den Briefumschlag an sich. «Sie ist tot, sidi

Hammud antwortete nicht. Er hatte bereits den Hörer in der Hand, um einen weiteren Anruf zu erledigen. Er war ein überaus kontrollierter Mensch, der diese Kontrolle für den Bruchteil einer Sekunde verloren hatte, und er wollte sie so schnell wie möglich wiedergewinnen. Einige Augenblicke später schaltete er den Bildschirm seines Computers auf seinem Schreibtisch ein und begann, Anweisungen an seine Makler auf der ganzen Welt zu schicken. Er gab durch, welche Positionen sie beziehen sollten, wenn die Börsen am Montag wieder öffneten. Professor Sarkis verließ unauffällig das Büro und machte sich auf den Weg nach Berkshire, um aufzuräumen.

 

Selbst in der kleinen Welt des arabischen Londons war Nassir Hammud eine rätselhafte Gestalt. Unter Exil-Irakern flüsterte man sich zu, er habe als junger Mann in Bagdad einen Mann getötet, indem er ihm Nägel in den Kopf gehämmert habe. Aber das war lange her, und niemand konnte sich an die Einzelheiten erinnern. Heute besaß Nassir Hammud ein Stahlwerk in Spanien, eine Elektronikfirma in Lyon, ein Immobilienmaklerbüro in New York und eine Baugesellschaft in Turin. Er war reich – ungeheuer reich, milliardenschwer. Aber niemand schien besonders viel über ihn zu wissen, geschweige denn darüber, woher sein Geld kam.

Es kursierte das Gerücht, Mr. Hammud habe ein gutes Verhältnis zum Herrscher in Bagdad und dies sei die eigentliche Quelle seiner Reichtümer. Aber das behaupteten die Leute immer von reichen Arabern. Sie stellten sich vor, das Geld falle vom Himmel in die Hände des Herrschers und dann in die Hände seiner Freunde. Das machte sie neidisch – diese jahal, wie Mr. Hammud sie nannte – die Ignoranten, die Geld haben wollten, ohne es sich zu verdienen. Und so erfanden sie Geschichten über erfolgreiche Leute wie Mr. Hammud. Es war Neid, weiter nichts, sagte Mr. Hammud seinen Freunden. Purer Neid.

Wie so viele wohlhabende Männer aus dem Nahen Osten war Mr. Hammud mit der Absicht nach London gekommen, sich dort niederzulassen. Zu Hause in Bagdad war es schmutzig. Die Zeit der Kriege war vorüber, aber die politischen Führer dort trugen noch immer Militäruniformen, vergaben Aufträge, Heldengedichte über sie zu verfassen, und ließen ihren Feinden Nägel in die Köpfe hämmern. Mr. Hammud hatte genug davon gehabt. Und so war er in den Westen aufgebrochen, über Frankreich nach Belgien und dann in die Schweiz. Mit jedem Landeswechsel hatte sich das Geld auf seinem Bankkonto vervielfacht, und die Spuren seiner Herkunft waren verschwommener geworden.

Er war ein gepflegter, kompakter Mann, der mit zunehmendem Alter immer mehr Wert auf sein Äußeres legte. Eine seiner ersten Handlungen nach der Ankunft in London einige Jahre zuvor hatte darin bestanden, einen Schneider aufzusuchen und ein halbes Dutzend Anzüge zu bestellen, jeder mit tailliertem Jackett und Bundfaltenhose. In seiner neuen Garderobe sah er aus wie jeder andere wohlhabende Geschäftsmann, der sich auf internationalem Parkett bewegte. London, Paris, Hongkong, Berlin – was spielte es für eine Rolle? Mit einer guten Gesichtsbräune und in einem neuen Anzug sah jeder gleich aus.

Obwohl es hieß, dass er ein Dutzend oder noch mehr Tochtergesellschaften besaß, operierte Mr. Hammud über seine Holding, Coyote Investment. Die wenigen Personen, die von der Existenz dieser Firma wussten, vermuteten wahrscheinlich, es handele sich um einen amerikanischen Konzern, mit Hauptsitz in Houston oder Denver. Tatsächlich aber war die Firma in Europa registriert, und ihr Geld, sofern überhaupt jemand wusste, wo es herkam, schien aus dem Irak zu kommen. Araber bezeichnen diese Art vorsätzlicher Täuschung höflich als taqqiyya. Für Mr. Hammud war es zu einem Managementprinzip geworden.

Die Anlage der Büros von Coyote Investment auf Knightsbridge spiegelten Mr. Hammuds Leidenschaft für Geheimhaltung wider. Er hatte die Firma praktisch in zwei Teile geteilt: in einen öffentlichen und in einen geheimen, in dem die eigentliche Arbeit erledigt wurde. Der Besucher, der im fünften Stock den Aufzug verließ, fand zu seiner Rechten eine hellerleuchtete Empfangshalle mit einem großen Schild, auf dem COYOTE stand, darunter das wolfsähnliche Tier als Logo. Dies war der offizielle Eingang der Firma; hinter den Doppeltüren lagen die Büros der Abteilungsleiter der Personal- und Werbeabteilung. Diese Männer waren Briten. Mr. Hammud stattete sie mit Mitgliedschaften in Londoner Clubs und Bentley-Limousinen aus und zahlte ihnen stattliche Gehälter, damit sie ihn in der Londoner Finanzwelt repräsentierten. Sie wirkten mächtig, waren es aber nicht. Sie waren Attrappen.

Die wahre Macht lag links von den Aufzügen. Man ging einen schwach beleuchteten Gang hinunter zur Buchhaltungsabteilung. Sie konnte nur betreten werden, indem man in ein elektronisches Schloss einen besonderen Code eingab. Hier war das Reich der Schweigsamen, der irakischen, «vertrauenswürdigen» Mitarbeiter, die den Kern des Unternehmens bildeten. Auf Besucher wirkte die Buchhaltungsabteilung sehr bescheiden. Die Schreibtische und Aktenschränke waren aus schlichtem grauen Metall, die Vorhänge rochen nach Schimmel und Zigarettenrauch, und die Läufer waren fleckig und abgewetzt. Aber hier wurden die wirklichen Geschäfte abgewickelt. Die arabischen Angestellten akzeptierten die Firmenstruktur, ohne Fragen zu stellen. Im Nahen Osten galten Reichtum und Macht als etwas, das versteckt werden sollte. Was sichtbar war, war gewöhnlich nicht real.

Mr. Hammuds geräumiges Eckbüro bildete eine Brücke zwischen beiden Teilen seines Unternehmens und hatte zwei Türen. Die offizielle Tür führte zu einem großen Vorzimmer mit einer molligen, vollbusigen britischen Sekretärin. Die Privattür führte zu einem schlecht beleuchteten Raum, an dessen Wänden sich mannshoch die Unterlagen stapelten. Dies war das Reich von Professor Sarkis. Er war gleichzeitig der Leiter der Buchhaltungsabteilung. Außer Mr. Hammud war er der einzige Mensch, der einen vollen Überblick über die Geschäfte des Unternehmens hatte. Doch ob er tatsächlich alle Geheimnisse kannte, war selbst bei ihm nicht klar.

Eins Das Zeitalter der Ignoranz

1

Gleich als der Mann sein Büro betrat, wusste Samuel Hoffman, dass er einen Fehler begangen hatte. Der Besucher war ein Filipino Mitte zwanzig, mit schlechten Zähnen, die in verschiedene Richtungen ragten wie ein schlampig zusammengezimmerter Palisadenzaun, und einem unsteten, ausweichenden Blick. In der einen Hand hielt er einen Rosenkranz, in der anderen ein abgegriffenes Foto. Und er weinte. Kein lautes Heulen, sondern das unterdrückte Schluchzen eines Menschen, der sich für seine Tränen schämt. Auf der philippinischen Botschaft habe man ihm gesagt, er solle hierherkommen, stammelte er. Er brauche Hilfe, bitte. Hoffman wünschte sich, er hätte ihn gar nicht erst heraufgelassen.

«Fünf Minuten», sagte Hoffman mit einem Blick auf seine Armbanduhr.

Hoffman zog sich in das Privatzimmer hinter seinem Büro zurück und kam mit einer angezündeten Zigarette zurück. Er war ein stämmig gebauter Mann Anfang dreißig, knapp unter zwei Meter groß, mit einem schmalen Gesicht und dunklen, durchdringenden Augen, und er bewegte sich rastlos im Raum umher wie ein Tier im Zoo, das einen größeren Käfig braucht. Er hatte an diesem Tag seine übliche Uniform an: grauer Anzug mit blauem Hemd, das er am Kragen offen trug, die einzige Exzentrizität, die er sich leistete – einen Anzug ohne Krawatte zu tragen. So wirkte er ständig zu fein gekleidet oder zu leger, aber nie genau richtig. Das war teilweise der Grund dafür, dass er einen irgendwie unfertigen Eindruck machte.

Nach zwei Zügen drückte Hoffman seine Zigarette im Aschenbecher aus und betrachtete die handgeschriebene Karte, die der Filipino ihm beim Eintreten überreicht hatte. «Ramón Pinta» stand da in säuberlichen Druckbuchstaben. Es war weder eine Adresse noch eine Telefonnummer notiert. Einen Moment lang fragte er sich, wer von der philippinischen Botschaft ihn wohl zu ihm geschickt hatte, und dann fiel ihm der Geschäftsmann aus Manila ein, dessen Bruder, ein katholischer Priester, in Saudi-Arabien verschwunden war. Hoffman hatte den Priester nicht gefunden, aber er hatte es versucht. Und jetzt saß ihm dieser kleine Mann mit der handgeschriebenen Karte an seinem Schreibtisch gegenüber und sah aus, als würde er im nächsten Augenblick vor Angst implodieren.

«Was kann ich für Sie tun, Mr. Pinta?», fragte Hoffman und hoffte insgeheim, dass die Antwort «nichts» lauten würde.

«Bitte», sagte der Filipino und räusperte sich, um sich Mut zu machen. Er lehnte sich zu Hoffman hinüber und hielt ihm das Foto hin, das er in seiner rechten Hand gehalten hatte. Er hielt es ihm flehend mit ausgestrecktem Arm hin, bis seine Hand zu zittern begann.

Widerstrebend nahm Hoffman das Foto entgegen. Es zeigte eine Filipina, Anfang zwanzig, mit großen, wachsamen Augen, vorstehenden Wangenknochen und adrett gelockten Haaren. Sie trug eine Dienstmädchenuniform – ein schwarzes Kleid mit weißer Schürze – und sah aus, als könnte sie Angestellte in irgendeinem schicken Hotel im Westend sein. Es sah aus wie eine Fotografie vom Tag der Erstkommunion. Ihr Mund war leicht und erwartungsvoll geöffnet. Um ihren Hals hing ein kleines goldenes Kruzifix.

«Meine Frau», sagte der Mann und zeigte auf das Foto. Er schluchzte jetzt lauter. Hoffman reichte ihm eine Schachtel Kleenex, die auf seinem Schreibtisch stand. Der junge Mann putzte sich die Nase und steckte sich das Kleenex in den Ärmel für später. Er starrte einen Moment lang zu Boden, als müsse er erst Kraft sammeln für das, was er im Begriff war zu tun, und sah dann Hoffman in die Augen. Er holte ein weiteres Foto aus seiner Jackentasche und legte es auf den Tisch, mit der Bildseite nach unten.

Im Raum war es still. Der Londoner Verkehr draußen war ein Summen, kaum hörbar durch das Fenster hindurch. Der Cursor auf Hoffmans PC-Bildschirm blinkte mit vollkommener Regelmäßigkeit, ein Puls pro Sekunde, darauf wartend, dass er den Bericht fortsetzte, den er gerade für einen Klienten in New York verfasste. Die Gesetzestexte standen in Habtachtstellung auf den Regalen: feste Rücken, steife Seiten, bereit für den nächsten Einsatz. Es war eine Welt der Pläne und Erwartungen, für einen Augenblick in der Zeit erstarrt, genau in dem Moment vor dem großen Zusammenstoß mit einer anderen, bisher ungesehenen Welt. Hoffman blickte wieder auf seine Uhr. Wie könnte er bloß diesen verdammten Filipino loswerden?

Hoffman drehte das Foto vorsichtig um. Als er die grellen Blitzlichtfarben sah, zuckte er zusammen. Es war ein Polizeifoto, am Tatort aufgenommen, und zeigte die Leiche einer Frau, die auf dem Rasen lag. Sie war nackt bis auf ihren BH. Sie hatte Blutergüsse im Gesicht und um ihre Schamhaare herum. Entlang ihren Schenkeln war angetrocknetes Blut. Man hatte ihr den Slip in den Mund gestopft. Nach der blaubraunen Verfärbung des Körpers zu schließen, war sie schon einige Stunden tot gewesen, als das Foto gemacht wurde. Aber das Gesicht war noch zu erkennen. Hoffman schüttelte den Kopf. Wieder und diesmal mit größerer Überzeugung wünschte er sich, er hätte den Filipino gar nicht erst heraufkommen lassen. Jetzt würde er irgendetwas sagen müssen.

«Es tut mir leid», murmelte er. Er drehte das Foto um, um die Blöße der Frau zu verdecken, und schob es über den Tisch zurück. Der junge Mann, der wieder mit seinen Gefühlen kämpfte, ließ es dort liegen. Das Schluchzen wurde lauter, und im nächsten Moment vergrub er den Kopf in seinen Händen. Der Rosenkranz fiel auf den Boden. Sie waren die Verdammten dieser Erde, die Filipinos, dachte Hoffman. Die Fußmatten, auf denen die Reichen und Mächtigen ihre dreckigen Schuhe abtraten.

«Reißen Sie sich zusammen», sagte er und hielt Pinta wieder die Schachtel Kleenex hin. Als das nichts bewirkte, ging er zu dem jungen Mann hinüber und legte ihm eine Hand auf die Schulter. «Das mit Ihrer Frau tut mir wirklich leid. Was kann ich denn für Sie tun?»

«Bitte, Mr. Hoffman», sagte der Filipino. Er hatte die Handflächen wie zum Gebet zusammengelegt. «Ich möchte Sie engagieren.»

«Damit ich was tue?», fragte Hoffman.

«Damit Sie den Mann finden, der sie umgebracht hat.»

Hoffman schüttelte den Kopf. Er war Rationalist. Er lebte in einer Welt der Bücher und Berichte. Er kümmerte sich nicht um Tote.

«Tut mir leid», sagte er, «aber das ist nicht mein Gebiet. Wenn man Ihnen auf der Botschaft gesagt hat, ich würde in Mordfällen ermitteln, dann hat man Sie leider falsch informiert. Ich bin Finanzberater. Ich überprüfe Unternehmen. Projekte. Investoren. Geschäfte verschiedener Art. Verstehen Sie?» Er deutete auf die Bücherregale, vollgestellt mit Gesetzestexten, Handelsgesetzbüchern, Investitionsleitfäden. «Ich untersuche keine Morde.»

«Aber dieser Fall wäre für Sie ganz leicht, Sir.» Rache flackerte in Pintas traurigen Augen auf. «Weil ich weiß, wer es getan hat.»

«Tatsächlich?»

«Ja, Sir. Es war ein arabischer Geschäftsmann. Meine Frau und ich haben für ihn gearbeitet, sie als Dienstmädchen, ich als Koch.»

Hoffman zog die Augenbrauen hoch. «Haben Sie irgendwelche Zeugen oder Beweise?»

«Nur mich selbst, Sir. Ich war da, als man sie fand. Es war auf einem Feld in der Nähe seines Landhauses. Er hat gesagt, er wäre an dem Wochenende weg, und seine Freunde haben für ihn gelogen. Aber ich weiß, dass er da war, weil ich ihn gesehen habe. Er wollte eine Frau haben …» Er hielt inne, vor Scham und Kummer, und merkte dann, dass er das wichtigste Detail vergessen hatte. «Dieser Mann heißt Nassir Hammud.»

«Aha», sagte Hoffman. Er hatte den Namen schon einmal gehört, aber er wusste nicht mehr, wo. Er sah wieder auf die Uhr. Noch ein paar Minuten, und dann würde er diesen armen Kerl endlich loswerden.

«Er hatte schon immer ein Auge auf meine Frau geworfen, Sir», fuhr der Filipino fort, «aber sie hat ihn nie beachtet. Ich glaube, das hat ihn wütend gemacht.» Er wandte sich ab.

Hoffman nickte. «Was macht dieser Nassir Hammud?», fragte er.

«Er ist ein sehr mächtiger Geschäftsmann, Sir. Aus dem Irak. Er ist reicher als alle anderen, und ihm ist egal, was er anderen Menschen antut. Er hat eine Firma in London, die andere Firmen kauft. Vielleicht haben Sie davon gehört?»

«Wie heißt die Firma?»

«Coyote Investment, Sir.» Seine Augen leuchteten auf, als er spürte, dass sich Hoffman wider Willen für die Sache zu interessieren begann.

«Ach ja?» Jetzt fiel Hoffman wieder ein, wo er Hammuds Namen gehört hatte. Einige Monate zuvor hatte es ein Angebot für eine Reifenfabrik in Portugal gegeben. Die Fabrik war für achtzig Millionen Dollar gekauft worden, und der Käufer entpuppte sich als irakischer Geschäftsmann, von dem noch niemand gehört hatte und der Hammud hieß. Damals hatte Hoffman sich vorgenommen, mehr über diesen neuen Player im arabischen Finanzspiel herauszufinden, hatte es dann aber wieder vergessen.

«Ja, Sir, Coyote Investment. Und er hat noch viele andere Firmen, überall. Er ist so reich, dass ihm ganz egal ist, was er macht.»

Die Erzählung des jungen Mannes wurde plötzlich vom Dröhnen eines Motorrads unterbrochen, das die North Audley Street hinaufraste, begleitet vom Protestgehupe eines Autos. Hoffman sah aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite unterhielten sich zwei Männer in schwarzen Anzügen. Einer blickte zu dem Gebäude hoch, in dem sich Hoffmans Büro befand. Sie sahen gelangweilt aus. Hoffman wandte sich wieder seinem Besucher zu.

«Das ist alles sehr interessant, Mr. Pinta. Aber wie gesagt, ich bearbeite keine Mordfälle. Gehen Sie zur Polizei. Sollen die ermitteln. Das ist ihr Job.»

«Ich war schon bei der Polizei», sagte er ruhig, «und die haben nichts unternommen. Ich war vor zwei Wochen dort, und sie wollen nicht mal mit mir reden. Sie sagen, Mr. Hammud sei kein Verdächtiger im Mordfall meiner Frau, sie suchten nach Hinweisen, aber bis jetzt hätten sie nichts. Es tue ihnen sehr leid, aber was könnten sie schon machen? Er ist ein reicher Araber, und ich bin irgend so ein armer Filipino. Verstehen Sie? Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen.»

«Seien Sie nicht albern. Die Polizei wird ermitteln. Wir sind in England. Wir haben hier Gesetze.»

«Aber nicht für Leute wie Mr. Hammud. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, Sir, die Polizei will nichts über Mr. Hammud hören. Sie erzählen mir ständig, er sei ein sehr wichtiger Mann, ein Freund von diesem und jenem, und sofern ich noch irgendwelche Fragen hätte, solle ich mich an die philippinische Botschaft wenden. Ich sage Ihnen, Sir, die haben Angst vor ihm. Sie müssen mir einfach helfen, Informationen zu finden, die ich der Polizei geben kann. Sonst gibt es keine Hoffnung.» Er deutete mit einem Kopfnicken auf das Foto von seiner toten Frau, das immer noch umgedreht auf dem Tisch lag. «Keine Hoffnung.»

Hoffman betrachtete ihn, wie er zusammengekauert in dem großen Sessel vor seinem Schreibtisch saß und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Er erinnerte Hoffman an ein Meerschweinchen, das er als kleiner Junge gehabt hatte und dessen einzige Überlebenstaktik darin bestanden hatte, sich zu verstecken. Es war unmöglich, kein Mitleid mit diesem jungen Witwer zu empfinden oder ihm nicht irgendwie helfen zu wollen.

«Passen Sie auf», sagte Hofmann. «Ich will mal sehen, ob ich irgendwo in meinen Verzeichnissen etwas über Hammuds Geschäfte finden kann. Das dauert nicht lange. Aber mehr kann ich leider nicht für Sie tun. Dann muss ich wieder an die Arbeit. Wäre Ihnen damit geholfen?»

«O ja, Sir», sagte der junge Mann nickend. «Das wäre sehr hilfreich, glaube ich. Wenn Sie etwas Schlechtes über seine Geschäfte finden, dann hört die Polizei mir vielleicht zu.»

Hoffman ging zu seinen Bücherregalen und zog einen dicken Band heraus, in dem alle in Großbritannien registrierten Firmen aufgelistet waren. Er schlug ihn bei C auf und forschte nach Coyote, blätterte die Seiten mehrmals durch. «Seltsam», sagte er. «Hier ist die Firma nicht aufgeführt.» Er ging wieder zum Regal und holte einen noch dickeren Band heraus, in dem alle Unternehmen standen, die Büros in Großbritannien hatten, ungeachtet ihres offiziellen Hauptsitzes.

«Da haben wir’s», sagte er ein paar Augenblicke später. «Coyote Investment. Société Anonyme. In Genf registriert. Vorsitzender und Präsident: N. H. Hammud. Vier weitere Direktoren, alles französische Namen. Umsätze: nicht bekannt. Gewinne: nicht bekannt. Londoner Büro in Knightsbridge. Keine schlechte Adresse für eine Firma, von der noch niemand was gehört hat. Aber damit kann man leider nicht viel anfangen.»

«Nein?» Der junge Mann saß immer noch mit aufgerissenen Augen da und hoffte, dass Hoffman zwischen seinen Investitionsleitfäden und juristischen Wälzern irgendein Informationsjuwel entdeckte.

«Nein», sagte Hoffman. «Dieser Hammud gibt sich offenbar die größte Mühe, seine Geschäfte geheim zu halten. Ich habe gehört, dass er vor ein paar Monaten eine Fabrik in Portugal gekauft hat, aber selbst das weiß ich nicht genau. Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr sagen.»

«Und sonst steht nichts in den Büchern?»

Hoffman schüttelte den Kopf. Er war selbst enttäuscht. Leute wie Hammud interessierten ihn; ein arabischer Geschäftsmann mit einer Menge Geld und einem Faible für Geheimhaltung. Hoffman hatte sich ein bescheidenes Geschäft aufgebaut, indem er zu den Geheimnissen solcher Leute vordrang. «Tut mir leid», sagte er wieder.

«Aber vielleicht könnten Sie noch mehr herausfinden, wenn Sie Ermittlungen anstellen.»

«Vielleicht. Aber Sie können es sich nicht leisten, mich zu engagieren, Mr. Pinta. Ehrlich, ich arbeite für große Unternehmen, nicht für Köche. Ich bin teuer.»

Ramón setzte sich in seinem Sessel auf und zog die Schultern nach hinten. Die Anspielung auf seinen Beruf hatte ihn gekränkt. «Sir, egal was Sie kosten, ich bezahle es. Auf der Botschaft haben sie mir gesagt, Sie wären für diesen Job der beste Mann in London, und ich bin hierhergekommen, um Sie zu engagieren, und das werde ich tun.»

Hoffman lachte. Er konnte nicht anders, als die Hartnäckigkeit des kleinen Mannes zu bewundern. «Aber die Botschaft hat sich geirrt, Mr. Pinta. Sie sehen doch, ich kann Ihnen nicht helfen. Versuchen Sie es nochmal bei der Polizei.»

«Bitte, Sir.» Er presste wieder die Handflächen zusammen. Hoffman befürchtete, er würde ihn gleich auf den Knien anflehen, wenn er nicht irgendwas unternahm. Er hatte schon viel zu viel Zeit mit diesem Mann verschwendet. Die einzige Möglichkeit, ihn loszuwerden, war, ja zu sagen.

«Hören Sie», sagte Hoffman. «Ich werde ein paar Leute über Hammud ausfragen. Mal sehen, was ich rauskriegen kann. Okay?»

Ramón kippte die Kinnlade herunter, als wollte er gleich vor Freude lossingen. «Ja, Sir! Okay. Was schulde ich Ihnen dafür?»

«Nichts. Das ist kostenlos. Wenn ich etwas über Hammud herausfinde, habe ich auch was davon, also vergessen wir das Geld. Das ist das mindeste, was ich für Ihre Frau tun kann.»

«Ich will bezahlen, Sir, wie jeder andere.» Er war in seiner Ehre immer noch gekränkt.

«Darüber sprechen wir später, in Ordnung? Jetzt müssen Sie aber gehen, weil ich noch anderes zu tun habe.» Hoffman erhob sich von seinem Sessel. Ramón starrte mit Verehrung zu seinem neuen Verbündeten hoch.

«Wir regeln das per Handschlag. Kein Geld. Ein Handschlag reicht, weil wir in England sind.»

Hoffman nickte. Er streckte die Hand aus und dachte dabei, dass er vielleicht doch etwas Geld hätte nehmen sollen. Auf die Weise wäre Mr. Pinta einfach ein ganz normaler Klient. Der junge Mann schüttelte Hoffman feierlich die Hand. Jetzt war es offiziell.

«Eine Sache noch», sagte Hoffman. «Kennen Sie irgendjemand, der für Hammud arbeitet und der mir erzählen könnte, wie er seine Geschäfte betreibt? Das wäre hilfreich. Wenn ich Fragen stellen will, dann muss ich irgendwo anfangen.»

«Eigentlich nicht, Sir», sagte Ramón. «Die Leute, die für ihn arbeiten, sind auch alles Araber. Sie würden ihn decken.» Er hielt inne und überlegte einen Moment. «Außer einer Person vielleicht.»

«Und wer ist das?»

«Eine Frau, die bei Coyote Investment arbeitet. Sie war der einzige Mensch, der mir nach dem Tod meiner Frau sein Beileid ausgedrückt hat. Ich habe ihren Brief dabei. Wollen Sie ihn sehen?»

«Ja, bitte», sagte Hoffman.

Ramón zog ein zerknittertes Blatt aus seiner Brieftasche und gab es Hoffman. Es war ein einfacher, aus zwei Sätzen bestehender Beileidsbrief, in dem die Verfasserin ihre Trauer über den Tod seiner Frau ausdrückte. Sie schrieb, dass sie verstehen könne, wie es ihm gehe, weil sie selber ihre beiden Eltern verloren habe. Der Brief war mit «Lina Alwan» unterschrieben. Es stand kein Absender drauf. Hoffman schrieb sich den Namen in ein Notizbuch und gab Ramón den Brief zurück.

«Danke, Sir», sagte der junge Mann.

«Einen Moment. Wie kann ich Sie erreichen, wenn ich irgendwas herausbekomme?»

«Ich habe kein Telefon, Sir. Und auch keine Adresse. Es tut mir leid.»

«Und wie wollen wir miteinander in Verbindung bleiben?»

«Ich werde anrufen, Sir.»

Hoffman nickte bloß, ohne zu ahnen, dass dies das letzte Mal sein würde, dass er den kleinen Mann mit den schlechten Zähnen sah. «Lassen Sie mir ein paar Tage Zeit, okay? Und ich verspreche Ihnen nichts. Ist das klar?»

«Danke, Sir», wiederholte Ramón. Er war immer noch ganz euphorisch.

Genug! Hoffman legte dem Filipino die Hand auf die Schulter und steuerte ihn zur Tür. Als sie am Fenster vorbeigingen, sah Hoffman, dass die beiden Männer in den Anzügen immer noch auf der anderen Straßenseite standen. Jetzt blickten beide zum Gebäude hoch. «Wer zum Teufel sind die?», murmelte Hoffman vor sich hin. Ramón Pintas Blick folgte Hoffmans hinunter auf die Straße.

«Oh, Sir!», sagte er mit scharfem Ton und griff nach Hoffmans Arm. «Die kenne ich.» Er zeigte auf die beiden Männer. Seine Hand zitterte.

«Wer sind die?», wiederholte Hoffman und betrachtete die beiden Männer durch die getönte Scheibe hindurch.

«Sie arbeiten für Mr. Hammud.»

«Was tun die hier?», fragte Hoffman. Aber die Antwort kannte er schon.

«Ich glaube, sie verfolgen mich, Sir.»

Hoffman schüttelte den Kopf. «Mist», sagte er. Jetzt würde er wirklich etwas unternehmen müssen.

«Ich habe Angst», flüsterte Pinta.

«Hören Sie», sagte Hoffman. Der Klang seiner Stimme hatte sich subtil verändert, als hätte er in einen anderen Gang geschaltet. «Es gibt keinen Grund zur Sorge. Die können nicht in diese Fenster hineinsehen, wissen also auch nicht, dass Sie bei mir waren. Es gibt noch eine Menge andere Büros in diesem Gebäude. Im obersten Stock ist ein Zahnarzt und unter ihm ein Rechtsanwalt. Wenn Sie jemand fragt, dann waren Sie bei einem von den beiden.»

«Bitte …», sagte der Filipino.

«Okay.» Er legte Pinta wieder die Hand auf die Schulter. «Und jetzt tun Sie genau das, was ich Ihnen sage. Gehen sie die Treppe hinunter ins Untergeschoss. Nehmen Sie die Treppe, nicht den Aufzug. Unten kommen Sie zu einer Waschküche, die von diesem Gebäude und dem nebenan gemeinsam benutzt wird. Gehen Sie durch die Waschküche und dann durch das Treppenhaus hoch ins Foyer des Nachbargebäudes. Der Eingang geht zur Brook Street raus. Die sehen Sie nicht, wenn Sie das Gebäude verlassen. Haben Sie verstanden?»

«Ja, Sir.» Aber er rührte sich nicht, immer noch starr vor Angst.

«Und jetzt gehen Sie», sagte Hoffman und schob ihn zur Tür hinaus. «Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe, und Ihnen wird nichts passieren. Rufen Sie mich in ein paar Tagen an. Ich werde Erkundigungen über Hammud einholen, und wenn ich irgendwas finde, dann gehe ich zur Polizei.»

Pinta nickte. Er hatte Tränen in den Augen. Er tat ein paar Schritte und blieb dann im Gang stehen, direkt vor Hoffmans Tür.

«Gehen Sie!», wiederholte Hoffman. «Los!» Er machte die Tür zu und öffnete sie dann wieder einen Spalt, um zu sehen, ob Pinta seine Anweisungen befolgte. Der kleine Mann verschwand die Treppe hinunter.

Hoffman ging zum Fenster zurück und beobachtete die beiden Männer, die immer noch mit dummen Mienen hochstarrten. Sie hatten das nichtssagende, muskulöse Aussehen von Leibwächtern. Wer zum Teufel war Nassir Hammud?, fragte er sich. Es war nicht nur, weil er es dem Filipino versprochen hatte, er wollte es wirklich wissen. Erst als Hoffman zu seinem Sessel zurückkehrte, bemerkte er, dass das Foto von Pintas Frau immer noch umgedreht auf seinem Schreibtisch lag. Offenbar gehörte es jetzt ihm.

2

Am nächsten Morgen stand Sam Hoffman auf dem Bürgersteig gegenüber von Nassir Hammuds Zentrale, die Hände in den Taschen vergraben und die Haare streng zurückgekämmt. Er sah aus wie ein Bulle außer Dienst. Es regnete. Er setzte eine Sonnenbrille auf und ging auf das graue Betongebäude zu. Er musste am Bordstein warten, um eine Kolonne schwarzer Taxis vorbeizulassen, die Richtung Mayfair rasten. Als Hoffman das Gebäude erreichte, stieß er die schmale Tür auf. Direkt dahinter saß ein Mann in Uniform mit viel Gel in den blonden Haaren und großem Bizeps. Er bewachte die Aufzüge.

«Moment», sagte der Sicherheitsmann. «Haben Sie einen Termin?» Er sah aus wie ein Londoner Straßenrowdy, die Sorte Typ, der in Highbury auf den Terrassen steht und lieber auf die Vorbeigehenden pinkelt, anstatt zur Toilette zu gehen. Hoffman ignorierte ihn und überflog das Verzeichnis an der hinteren Wand, bis er fand, was er suchte. In kleinen Buchstaben, am unteren Ende der Liste der Mieter, stand «Coyote Investment Ltd. – Fünfter Stock».

Der Sicherheitsmann ging auf ihn zu und verlangte seinen Ausweis, aber Hoffman tat so, als würde er ihn nicht hören. Er schritt in den offenen Aufzug, drückte auf «5» und wartete darauf, dass sich die Türen schlossen. Taten sie aber nicht, und im nächsten Moment stand der Mann neben ihm und lächelte süffisant.

«Tut mir leid, Kumpel», sagte er. «Entweder Sie haben einen Schlüssel. Oder eine Verabredung.»

Hoffman überlegte einen Moment. «Ich will zu Miss Alwan», sagte er. «Ist sie da?»

«Und wer sind Sie?»

«Mr. White. Ich habe eine Nachricht von einem Freund für sie.»

Der Sicherheitsmann ging zu seinem Tisch zurück und rief oben an. Als er zurückkam, war aus dem süffisanten Lächeln ein höhnisches geworden. «Sie hat keine Ahnung, wer Sie sind, Freundchen», sagte er.

Hoffman murmelte irgendwas von einer falschen Adresse und zog sich schnell zur Tür zurück, bevor der Mann vom Sicherheitsdienst ihm weitere Fragen stellen konnte. Hammud hatte also wirklich ein Büro in Knightsbridge, und es gab tatsächlich jemanden, der Lina Alwan hieß und für ihn arbeitete. So viel wusste er jetzt immerhin.

Hoffman nahm wieder seinen Platz auf dem Bürgersteig ein und überlegte, was er als Nächstes tun solle. Der Regen war stärker geworden. Er nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie zurück in seine Tasche. Sein Vater hatte einmal bemerkt, dass man bei Überwachungsarbeit grundsätzlich eine Sonnenbrille tragen sollte, ungeachtet des Wetters. Aber Hoffman war zu dem Schluss gekommen, dass sein Vater in dieser Frage, wie in so vielen anderen, eine unzuverlässige Orientierungshilfe war. Er wandte sich von dem grauen Gebäude ab und ging die Straße entlang, auf der Suche nach einer Seitengasse. Bevor er aufgab, hatte er noch einen Trick auf Lager, den er ausprobieren konnte.

«Ach du Schande», murmelte Hoffman, als er sich einer Kreuzung näherte. Einer seiner Klienten, ein geschwätziger Nigerianer namens Onono, kam ihm entgegen. Er war einmal von ihm engagiert worden, um gegen einen Rivalen in Lagos zu ermitteln, der versucht hatte, ihm seine Kommission auf Ölverkäufe abzujagen. Er trug heute einen blauen Kaschmirmantel und rauchte eine große Zigarre. Dicht hinter ihm ging sein englischer Leibwächter, der einen Regenschirm über ihn hielt. «Hallo, alter Junge!», sagte Mr. Onono munter. Hoffman entgegnete nichts, starrte bloß weiter auf den Gehsteig, bis der große Mann vorbeigegangen war. «Cheerio!», sagte der Nigerianer und setzte seinen Weg fort.

Im Grunde war das London von heute die späte Rache der Kolonialisierten, dachte Hoffman. Das zeigte sich in Mr. Ononos gebieterischem Gang, in den herablassenden Mienen der asiatischen Geschäftsleute, die von den Rücksitzen ihrer durchs West End fahrenden Limousinen hinausstarrten, in den arabischsprachigen Schildern, die die Schaufenster der Juwelierläden und die Kunstgalerien in Mayfair zierten. Selbst das majestätische Kaufhaus Harrods, das mit seinen roten Backsteinen wie ein Schlachtschiff über das ganze Viertel ragte, gehörte jetzt einem Ägypter. Sie konnten alle mitlachen: die pakistanischen Krämer mit den hohen Stimmen, die schmeichlerischen libanesischen Gebäckverkäufer, die wortgewandten indischen Videohändler. Sie hatten alle begriffen, dass die Polarität der Welt umgekehrt worden war. Das war Hoffman an dem Tag klargeworden, als er in Knightsbridge in die Boutique von Charles Jourdan geschlendert war, angeblich das exklusivste Damenschuhgeschäft der Welt, und einer von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleideten saudischen Großmutter begegnete. Sie versuchte vergeblich, sich dem Verkäufer verständlich zu machen, und Hoffman hatte angeboten, für sie zu dolmetschen. «Wie viel kostet der hier?», fragte sie und hielt einen Schuh mit Stiletto-Absatz hoch. «Zweihundert Pfund», antwortete Hoffman auf Arabisch. «Bieten Sie ihm einhundert», sagte sie gerissen. Und Hoffman tat es. Scheiß auf Charles Jourdan. Die Araber hatten das Geld, und sie konnten tun, was sie wollten. Der Saft floss jetzt in die umgekehrte Richtung.

Aber eigentlich schien jeder ein Stück vom Kuchen abzubekommen, außer dem armen Mr. Pinta, der eine tote Frau hatte und niemanden, der ihm half, bis auf Sam Hoffman.

 

Eine Ecke weiter fand Hoffman, was er suchte. Es war eine kleine Seitengasse, gerade breit genug für einen Müllwagen, die zum Hintereingang des grauen Bürogebäudes führte. Am Ende der Gasse befand sich auf einer Art Laderampe ein großer Müllcontainer. Hoffman ging schnell hin. Als er sich ihm näherte, spürte er eine angenehme Aufwallung der Angst. Er hievte sich auf die Rampe und öffnete vorsichtig den Container.

Der Abfall war in grünen Plastiksäcken gesammelt worden. Hoffman öffnete den obersten Sack und ging den Inhalt durch. Er fand Zigarettenkippen, alte Zeitungen und Zeitschriften, nicht entzifferbare Telefonnachrichten und ein paar Bündel Altpapier mit dem Logo «Swami to the Stars». Er prüfte jedes Stück, fand aber nichts, was er mit Coyote Investment in Verbindung bringen konnte. Ein zweiter Sack enthielt eine ähnliche Ansammlung von Müll plus benutzte Teebeutel und Kaffeefilter. Ein dritter war voller Computerausdrucke, die vielversprechend aussahen, sich aber bei genauerer Prüfung als die Außenstände einer finnischen Import-Export-Firma herausstellten, die sich im neunten Stock befand. Ein vierter roch nach verfaulenden Melonen, und ein fünfter war voller feuchter Papiertücher. Aber der sechste Sack enthielt den Jackpot, den er gesucht hatte.

Als Hoffman eines der zerknüllten Papiere oben im Sack auseinanderfaltete, sah er den Namen «Coyote» und darunter die Worte «Direktionsabteilung N. H. Hammud». Es war ein Memo an die Reiseabteilung mit der Bitte, die nötigen Arrangements für seinen Cousin Hussein zu treffen, der bald aus Bagdad eintreffen würde. Es war mit «Hammud» unterschrieben, und daneben hatte die Sekretärin «Vorstandsvorsitzender» getippt. Hoffman lächelte. Der Besitzer der mysteriösen Coyote Investment war also tatsächlich ein Iraki. Das war doch was.

Der Rest des Sacks war hauptsächlich unbrauchbar. Aber ziemlich weit unten, in einer kleineren Plastiktüte, fand Hoffman einen Schatz. Er hätte ihn beinahe gar nicht geöffnet, so leicht war er. Aber als er die Tüte gegen das Licht hielt, sah er, dass sie winzige Papierstreifen enthielt. Es war der Abfallbeutel eines Aktenvernichters! Hoffman drückte die Lippen in einem Kuss gegen die Tüte. Das reichte für einen Nachmittag. Hammuds Memo und die Tüte fest im Griff, eilte er die Gasse hinunter zur Hauptstraße, bevor der Hausmeister mit der nächsten Ladung kam.

Hoffman trug seine Beute durch den Hyde Park zu seinem Büro in der North Audley Street. Seine Begeisterung wuchs, als er anfing, die Papierfetzen auf dem Boden zusammenzusetzen – er legte die Streifen einen nach dem anderen aus und reihte die Stücke mit getippten Buchstaben wie bei einem Puzzle nebeneinander auf. Sie zusammenzufügen war leichter, als er erwartet hatte, und es fiel ihm plötzlich auf, dass es zu leicht war. Bis auf ein paar Zeilen in einer Ecke waren die Streifen alle leer.

Nachdem er mehrere davon zusammengesetzt hatte, erkannte Hoffman, dass es alles leere Blätter Firmenpapier waren. Jedes hatte oben den gleichen Briefkopf. «Oscar Trading Co., S. S.», gefolgt von einer Postfachnummer in Panama City, Panama. Darunter waren zwei Telefonnummern – eine in Tunis, die andere in Genf. Und sonst nichts. Er klebte einen Musterbogen mit Tesafilm zusammen und legte ihn in eine Schreibtischschublade. Er war so enttäuscht, dass er erst sehr viel später darauf kam, sich zu fragen, wieso jemand sich die Mühe machen sollte, leeres Firmenpapier in den Aktenvernichter zu geben.

3

Lina Alwan zählte zu den Schweigsamen. Ihr Büro war ein kleiner Raum in der Buchhaltungsabteilung von Coyote Investment, auf der anderen Seite des Flurs, wo die Computer standen. Auf dem grauen Metallschreibtisch stand eine Lampe, zusammen mit Bildern ihrer Eltern in Silberrahmen, die sie einmal die Woche polierte. Ansonsten war das Büro ebenso spartanisch wie die der anderen «vertrauenswürdigen Mitarbeiter» von Coyote Investment. Sie wartete an dem Abend stumm bis halb sieben an ihrem Schreibtisch und fragte sich, ob «Mr. White» wiederkommen würde. Sie hatte keine Ahnung, wer er war oder warum er sie sprechen wollte, aber allein schon die Vorstellung, einen Besucher zu haben, faszinierte sie. So was war noch nie vorgekommen. Das gab es einfach nicht, dass man die Iraker, die bei Coyote Investment arbeiteten, besuchte.

Professor Sarkis, der Leiter der Buchhaltungsabteilung, steckte um Viertel nach sechs den Kopf zur Tür herein und fragte sie, warum sie noch arbeite. Obwohl er immer mit «Professor» angeredet wurde, bestand, soweit bekannt, seine einzige Lehrerfahrung darin, dass er in einer Abendschule in Bagdad für kurze Zeit Buchhaltung unterrichtet hatte. In einem Ohr trug er ein Hörgerät, das nie zufriedenstellend zu funktionieren schien, sodass er ständig mit der Handfläche dagegenklopfte.

Lina murmelte, sie wolle mit der monatlichen Buchprüfung frühzeitig anfangen, merkte aber an seinem Blick, dass Sarkis über den unerlaubten Besucher Bescheid wusste. Als er sich da vor ihr aufbaute und mit seiner riesigen Nase nach Ärger schnüffelte, wünschte sich Lina, dass er sie einfach geradeheraus fragen würde – «Kennen Sie irgendjemanden namens Mr. White?» –, damit sie antworten konnte, nein, sie habe den Namen noch nie gehört und habe keine Ahnung, warum er sie habe sprechen wollen. Aber Professor Sarkis fragte nicht. Er sah sie bloß zweifelnd an und schüttelte den Kopf. Das war ein schlechtes Zeichen, weil es hieß, dass sie unter Verdacht stand.

Nicht drüber nachdenken, sagte sich Lina. Das war ihre Methode, mit den meisten Sonderlichkeiten bei Coyote Investment umzugehen, und ihre arabischen Freunde verfuhren größtenteils genauso. Halt den Kopf gesenkt, kassier deinen Scheck, gib dein Geld aus. So lebten die Schweigsamen. Lina hatte drei Jahre zuvor bei der Buchhaltung angefangen, zuerst als Buchhalterin und später als Leiterin der EDV-Anlage, und sie hatte gelernt, so wenig Fragen wie möglich zu stellen. Sie hatte keine Ahnung, wo Nassir Hammuds Vermögen herkam, und wollte es auch gar nicht wissen. Wie die meisten von Hammuds «vertrauenswürdigen Mitarbeitern» hatte sie Angst vor ihm. Sie blieb bei Coyote Investment aus demselben Grund wie die meisten anderen Iraker: Die Bezahlung war gut, und sie hatte zu große Angst, die Firma zu verlassen.

Nachdem Professor Sarkis wieder gegangen war, kam ein junger Iraker namens Yussef vorbei. Er hatte erst vor kurzem bei der Buchhaltung angefangen und innerhalb weniger Wochen nach seiner Ankunft eine chronische Verliebtheit für Lina entwickelt. Er schickte ihr Blumen, Schachteln mit Datteln und arabische Liebesgedichte; er blieb extra lange im Büro, um sie zum Abendessen einladen zu können. Es war eine Plage. Heute Abend hatte er ein penetrantes Parfüm aufgesprüht, was nichts Gutes verhieß. Er setzte sich auf Linas Schreibtisch und sagte ihr mit einer Miene vollkommenen, unberechtigten männlichen Selbstbewusstseins, dass er für diesen Abend einen Tisch bei Blake’s reserviert habe, im – wie er prahlte – teuersten Restaurant Londons.

«Ich hab zu tun», sagte Lina. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihn anzusehen.

Yussef sah erschüttert aus. «Haben Sie jeden Abend zu tun?»

«Ja, jeden Abend.» Mein Gott, was für eine Nervensäge. Sie sah ihm an, dass er die Sorte Araber war, die sich modern gab, aber alles in ihrer Macht Stehende tun würde, bei der erstbesten Gelegenheit aus ihrer Geliebten eine schwangere Haussklavin zu machen. Deswegen würde Lina nie heiraten. Sie schloss die Aktenschränke ab, ohne auf den geknickten Don Juan zu achten, der immer noch auf ihrem Schreibtisch hockte.

taqqiyya