Steffen Martus

Die Brüder Grimm

Eine Biographie

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Kindheitsszenen (1785 – 1802)

Hanau

Steinau

Kassel

2. Studium und Berufung (1803 – 1805)

Einsamkeit und Geselligkeit

Methode

Die Entdeckung des Mittelalters

Netzwerke fürs Leben

Entschluss zur Brüderlichkeit

3. Standortbestimmung (1806 – 1809)

Vom Recht zur Literatur

Erste Einsätze im Publikationsgeschäft

Die «zauberhafte Umwandlung» Kassels

Kritik und Krise der Brüderlichkeit

Wilhelm Grimm in Berlin

4. Zwischen Wissenschaft und Politik (1810 – 1815)

Die «innere Einigkeit der Gegensätze»

Philologische Exkursionen auf dem Weg zu den Märchen

Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm

Die Rückkehr des Kurfürsten

Der Wiener Kongress

Politische Exkursionen

5. Eine «glückliche Zeit» (1816 – 1829)

In der Bibliothek

Vor der Bibliothek

Jacob Grimms Deutsche Grammatik

Regierungswechsel

6. Göttingen (1830 – 1840)

In einer neuen Stadt

Heimatliebe

Im Universitätsbetrieb

Revolutionen

Die Politik der Wissenschaft

Familienkonflikte

Die ‹Göttinger Sieben›

Jacob und Wilhelm Grimm ‹über ihre Entlassung›

7. Berlin (1841 – 1863)

Die Berufung

Großstadtleben

Die deutsche Einheit der Germanisten

Revolution und Frankfurter Nationalversammlung

Berliner Studien

«bis an die schultern ins deutsche wörterbuch vergraben»

Abschiede

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Personenregister

Zeittafel

Dank

Einleitung

Wir kennen Jacob und Wilhelm Grimm gut: die beiden freundlichen Herren, die unsere Kinder- und Hausmärchen aufgezeichnet haben; die emsigen Erforscher von Grammatik, Recht, Mythologie und Poesie; die Bewahrer unseres Sprachschatzes im Deutschen Wörterbuch. Auf dem 1000-D-Mark-Schein war ihr Porträt abgebildet, und so nostalgisch wie manch einer der alten Währung nachtrauert und sie zum Sinnbild einer Zeit erhebt, «wo das Wünschen noch geholfen hat», so anheimelnd klingt dieser Markenname: ‹Die Brüder Grimm›.

Ein wenig märchenhaft wirken die beiden. Und tatsächlich haben sie sich selbst oft genug so dargestellt. Wilhelm Grimm phantasierte sich bisweilen in die Rolle desjenigen, der aus der Zeit gefallen ist und nach Jahrzehnten wieder nach Hause zurückkehrt. Und Jacob Grimm, der einmal als seinen sehnlichsten Wunsch nannte, «ein ganz enges schmales Arbeitsstübchen» nur für sich allein zu haben, verwandelte den Märchenforscher in eine Märchenfigur, wenn er meinte, den verborgenen «Schatz» der Überlieferung könne allein «unschuldige Einfalt», «strenge Treue» und «milde Freundlichkeit» bergen.1 In ihren Märchen aber geht es nicht immer und manchmal gar nicht so glücklich zu, dass Einfalt, Treue und Freundlichkeit siegen. Wünsche werden erfüllt, die man nie hatte, Hoffnungen enttäuscht, denen man lange nachhing. Rohe Gewalt, Skrupellosigkeit, Dummheit und Heimtücke wirken als mächtige Triebe.

Am Anfang dieser Biographie stand die Überraschung darüber, wie sehr die Brüder Grimm um das Bild eines märchenhaften Lebens, das sehr wenig mit den ruppigen Verhältnissen in den Kinder- und Hausmärchen zu tun hat, gerungen und wie sehr sie dabei gegen ihre Zeit gearbeitet haben. Das gilt nicht zuletzt für jene Vorstellung einer idyllischen Kindheit, von der sie an vielen Stellen schwärmten. So erließ etwa am 14. August 1799 Wilhelm IX. als regierender Landgraf von Hessen-Kassel eine Verordnung zur «Bestrafung des unanständigen Betragens der Kinder gegen ihre Eltern» – Jacob und Wilhelm Grimm lebten zu diesem Zeitpunkt seit noch nicht ganz einem Jahr in Kassel, um dort das Gymnasium zu besuchen. Der Staat forderte dazu auf, den renitenten Nachwuchs anzuzeigen: Er benötige «ruhige und glückliche Einwohner», die aber entwickelten sich nicht aus Kindern, «welche von früher Jugend an sich gewöhnen, die schuldige Achtung und den Gehorsam gegen ihre nächsten und natürlichen Vorgesetzten […] zu vergessen». Gegen solchen Ungehorsam werde man «mit aller Strenge» vorgehen: Prügel, Ausstellung auf dem Pranger «nebst einem angehängten Schilde mit einer zweckmäßigen Aufschrift» oder Zuchthaus – so sieht der Maßnahmenkatalog einer souveränen Macht aus, die mit körperlicher Gewalt, Demütigung und Beschämung «Gehorsam» erzwingen will.2

In ein Grimm’sches Märchen würde das gut passen. Doch wenn Jacob und Wilhelm sich an ihre Kindheit zurückerinnerten, dann fiel ihnen dazu gerade nicht jener pädagogische Terror ein, wie ihn die Fürstlich Hessische Landes-Ordnung zumindest auf dem Papier entworfen hatte. Im Gegenteil blieben ihnen besonders lebhaft ‹Kinderspiele› im Gedächtnis: eine Puppenküche und farbige Bleisoldaten, «bunte Papierbogen mit goldnen Thieren», ein Theaterbesuch, wo «buntgekleidete Damen auf der Bühne» zu sehen waren, oder das Bad in einer Wanne und wie man «nackend im Garten herumgesprungen» sei. Eingeprägt haben sich der glänzende Weihnachtsbaum und die festliche Christtagsstimmung, der Besuch des Jahrmarkts oder wie sie in «den Wiesenthälern und auf den Anhöhen» umhergingen und dabei ihren «Sinn für die Natur» bildeten.3

Mit solchen Bildern einer «unschuldige[n] Lust der Kindheit»4 stifteten die Grimms jene Sehnsuchtsorte, denen sie dann nachspürten. Mehr noch: Die «unschuldige Lust der Kindheit» selbst wurde zum Spiegelbild ihrer wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. In seinem Essay über Kinderwesen und Kindersitten schrieb Wilhelm Grimm 1819: «Das Kind blickt mit reinen Augen umher, ein Vogel fliegt vorbei, ein Käferchen setzt sich auf seine Hand, ein Blümchen liegt neben ihm im Gras, ein armes Mädchen sitzt unter einem Baum und weint, das wird ganz unschuldig und kindlich vorgestellt, und darin liegt der eigene Reiz dieser Lieder.»5 In dieser Einstellung entdeckte er den Ursprung seiner Forschungshaltung. Er und sein Bruder gaben sich mit kindlicher Neigung dem Unscheinbaren in der Natur hin, so wie sie sich später nicht weniger behutsam, vorsichtig und aufmerksam auf die Suche nach den verstreuten Spuren der Vergangenheit begaben.6 Dabei machte die Grimms ihr Sinn für die Vergänglichkeit und für die Andersartigkeit historischer Epochen, sosehr sie sich auch der Vergangenheit zuwenden mochten, zu den modernsten Traditionalisten ihrer Zeit.

Die zweite Überraschung war, mit welcher Konsequenz die beiden Brüder ein Lebensprojekt aus dem Geist der kindlichen Aufmerksamkeit entworfen haben, und dies nicht zuletzt gegen die politische Realität ihrer Epoche. Die Grimms – beide bekennende Monarchisten und zeitlebens den «Democraten» gegenüber skeptisch eingestellt – schätzten durchaus die «Achtung» gegenüber den «natürlichen Vorgesetzten». «Gewöhnen» wollten sie an diese Achtung jedoch auf eine revolutionäre Weise. Sie empfahlen dafür den Blick in Märchen, Mythen und Sagen, in Gedichte und Epen, in die Sprach- und Rechtsgeschichte, in jenes «seltsame Fortleben einer Trümmerwelt» (Richard Wagner), die sie wie niemand sonst vor ihnen durchwühlt haben.7

Die hessischen Fürsten zeigten wenig Sinn für die paradoxe Anlage dieses gleichermaßen revolutionären wie konservativen Konzepts und insgesamt wenig Verständnis für die Arbeit der Grimms: Als Jacob Grimm den ersten Band der Deutschen Grammatik, jenes Monumentalwerks, das Heinrich Heine vermuten ließ, der Autor stehe mit dem Teufel im Bund, seinem Arbeitgeber Wilhelm I. übergab, ließ der Kurfürst lediglich ausrichten, er hoffe, Jacob vernachlässige «über solchen Nebengeschäften» nicht seinen Dienst.8 Und als die Brüder Grimm Ende der 1820er Jahre bei einer lang erwarteten Beförderung übergangen wurden und ein Angebot des Königreichs Hannover zum Wechsel an die Göttinger Universität annahmen, da hielt der Nachfolger Wilhelms I. den Weggang der größten Gelehrten seines Landes für keinen Verlust: «sie haben nie etwas für mich gethan!»9

Dies war die dritte Überraschung: Die Einsicht, wie provozierend das Wissenschaftsprogramm der beiden Brüder auf viele Zeitgenossen wirkte. Mit der Radikalität und Kompromisslosigkeit ihrer Forschungen stießen sie oft genug die Leser vor den Kopf. Man rechnete sie zur romantischen Schule und damit zu den «tollen Knaben», die «zum Irrenhaus reif wären».10 August Wilhelm Schlegel aber, der Mitbegründer ebendieser Romantik, dessen Bruder Friedrich die Grimms einmal als zwei «sehr rohe Teppen» bezeichnete, echauffierte sich seinerseits darüber, dass Jacob und Wilhelm «für jeden Trödel im Namen der ‹uralten Sage› Ehrerbietung» begehrten – damit werde «gescheiten Leuten allzu viel zugemuthet».11 Das Risiko, dass die «Andacht zum Unbedeutenden» (S. Boisserée) kopfschüttelndes Unverständnis ernten würde, war immens.

Tatsächlich begegneten die Zeitgenossen den Brüdern Grimm immer wieder mit Desinteresse, ja Ablehnung. Oft wurde die Hoffnung enttäuscht, dass ihre sprach- und literaturhistorischen Forschungen, ihre Untersuchungen zu Sagen, Märchen und Mythen, zur Geschichte des Rechts, der Sitten und Bräuche oder ihr politisches Engagement so anerkannt wurden, wie es Jacob und Wilhelm für angemessen hielten. Sollte man wirklich jene schwerverständlichen Bruchstücke aus den Schutthalden der mittelalterlichen Poesie anstaunen, die die Grimms ausgegraben hatten? Sollte man sich in Wortkolonnen vertiefen und die Feinheiten der historischen Grammatik erkunden? Sollte man als aufgeklärter Mensch seine Aufmerksamkeit in Geschichten von alten Recken und Rittern investieren? Sollte man sich als erwachsener Leser für Kinder- und Hausmärchen interessieren oder die Phantasie von Kindern mit dubiosen Geschichten und einer oft zweifelhaften Moral auf Abwege bringen?

Revolutionär suchten Jacob und Wilhelm Grimm nach Mitteln, die Ordnung in Staat und Nation zu sichern. Neu und provokativ waren die Methoden, mit denen sie das Alte vor dem Vergessen schützen wollten. Liebevoll und treu wendeten sie ihren Blick auf die Trümmer der Geschichte, die sie ihren Zeitgenossen mit der Sturheit eines Helden aus den Kinder- und Hausmärchen präsentierten. Die brüderliche Arbeitsgemeinschaft, die eine schier unübersehbare Menge von Büchern, Editionen, Aufsätzen, Rezensionen und Briefen hervorgebracht hat, verkörperte geradezu zwei Seiten der Moderne, jenes eigentümliche Bündnis von Traditionsverlust und -bewahrung, von Eigensinn und Gemeinschaftsgeist. Denn: Es waren ungleiche Brüder, die leidenschaftlich und rücksichtslos die Vergangenheit erkundeten, um in der zerbrechenden alteuropäischen Welt die kulturellen Fundamente einer neuen Zeit zu finden.

Das schließlich war die vierte Überraschung und das eigentlich Faszinierende bei der biographischen Recherche: wie die «innere Einigkeit der Gegensätze» (W. Grimm) das Verhältnis der Brüder bestimmte. Ihre Arbeitsformen und Darstellungsweisen waren auf je eigene Weise radikal, ihre Unnachgiebigkeit in Sachfragen kannte keinen Respekt vor verbürgten und etablierten Autoritäten, auch nicht vor der Autorität des jeweils anderen Bruders. Umstürzlerisch bewahrten sie so die Sprache und deren Geschichte, die Mythen, Märchen und Sagen. Ihr Blick richtete sich in die Vergangenheit, ihre Haltung gehörte ganz der Gegenwart. Diese Doppelfigur versucht die Biographie zu entschlüsseln: als Lebensgeschichte, als Wissenschaftsgeschichte, als Geschichte von Politik, Kultur und Gesellschaft.

1. Kindheitsszenen (1785  1802)

Hanau

Die Grimms waren eine kinderreiche Familie. Am 4. Januar 1785 kommt Jacob Grimm in einem Haus am Hanauer Paradeplatz zur Welt, ein Jahr später, am 24. Februar 1786, sein Bruder Wilhelm. In rascher Folge erweitert sich der Geschwisterkreis: 1787 wird Carl Friedrich geboren, 1788 Ferdinand Philipp, 1790 Ludwig Emil und 1793 schließlich die einzige Tochter, Charlotte Amalie, genannt Lotte. Drei weitere Söhne sterben früh: 1784 der Erstgeborene, Friedrich Hermann Georg, 1792 Friedrich sowie 1795 Georg Eduard, das letzte Kind von Dorothea und Philipp Wilhelm Grimm. Die Sterblichkeit in der Familie war für die damaligen Zeiten normal, im Vergleich zu den früheren Generationen sogar verhältnismäßig niedrig. Von den sieben Kindern Friedrich Grimms, des Urgroßvaters der Brüder Grimm, überlebten diesen nur drei; von den elf Kindern seines Sohns, des Großvaters von Jacob und Wilhelm, starben acht vor ihrem Vater.

Im Zentrum des Familienlebens steht das hellrote Mietshaus in der Langen Gasse neben dem Hintergebäude des Neustädter Rathauses von Hanau. Die Eltern ziehen kurz nach der Geburt ihrer ältesten Söhne dorthin um. Die Familienmitglieder haben eigene Wohnbereiche, auch die Kinder. Die Verhältnisse wirken überschaubar. Die unmittelbare Umgebung, Nachbarn und Verwandte bilden eine kleine Welt für sich. In einer Seitenstraße wohnt die Tante. Gegenüber liegt eine Handschuhmacherei, ein florierendes Gewerbe in Hanau. Aus der Werkstatt bekommen die Kinder «Fetzen Leder oder Bälle» zum Spielen. Nebenan lebt eine Schneiderin oder Wäscherin.

Zum Essen und am Abend sitzt die Familie in der Wohnstube zusammen, ein Besucherzimmer «mit Jägern auf der Tapete» wird kaum genutzt, ein weiteres Zimmer ist dem Vater vorbehalten. Die Waschküche ist in einem engen Hof untergebracht. Auch die «Kinderstube» liegt nach hinten hinaus. Die Mutter sitzt oft da und betrachtet die Außenwelt in einem Spiegel, «in dem man, wenn man rechts guckte, die Gaße von links her sah». Wilhelm erinnert sich: «Der eine Flügel des Fensters stand auf, die Sonne lag auf den Dächern, und die Stühle des Strumpfwirkers schnurrten beständig. Das war immer eine langweilige Zeit».1

Wilhelm hat ein feines Gehör für den Klang der Epoche. Denn die Hanauer Textilproduktion floriert in seiner Kindheit. Zeitgenossen berichten von «mehreren hundert Arbeitsstühlen». Gerade in der Hanauer Neustadt, an deren Grenze die Grimms wohnen, hat sich ein blühendes Gewerbe entwickelt. In größerem Maßstab werden Samt-, Woll- und Seidenstoffe hergestellt und verarbeitet. Die Hanauer Webstuhlproduzenten liefern nach ganz Europa.2

Hätte es die von Wilhelm bewahrte Szene nicht gegeben, man hätte sie erfinden müssen: Die Natur erscheint als Außenwelt und spielt lediglich als Reflex in die Wahrnehmung hinein; die Töne des vorindustriellen Fabrikwesens dringen als sanftes Schnurren in die Wohnung – besser kann ein Erinnerungsbild den historischen Ort der Grimm’schen Kindheit kaum skizzieren, jenes Grundgefühl von Ungenügen inmitten einer Zeit des Umbruchs, das gleichermaßen die Sehnsucht nach dem Neuen wie die Sorge um den Verlust des Althergebrachten erzeugt.

Tatsächlich präsentiert sich Hanau als Regierungssitz unter Wilhelm IX. in vielen Beziehungen als moderner Ort. Es gibt Lateinschulen und ein Gymnasium, Waisen- und Arbeitshäuser, ein Theater und eine Zeichenakademie.3 Von der Hanauer neuen europäischen Zeitung, einer der ältesten Zeitungen Deutschlands, 1678 als Hanauischer Mercurius gegründet, werden pro Woche vier Ausgaben gedruckt.4 Man glaubt an die Selbstaufklärung des Publikums. Das Hanauische Magazin, das von 1778 bis 1785 erscheint, liefert Beiträge zur Geschichte, Pädagogik, Theologie oder Politik, zur Statistik, Wirtschaftstheorie und zur Erforschung der Natur. Auch Wilhelm IX., der in Jacobs Geburtsjahr die Nachfolge seines Vaters, des Landgrafen Friedrich II., antritt, gilt als aufgeklärt. Wielands Deutscher Merkur rühmt ihn als «weisen und gütigen Regenten […], der die Musen liebt».5 1803 wird er als Wilhelm I. in den Stand eines Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation erhoben – in seinen Diensten verbringen die Brüder Grimm wichtige Jahre ihres Lebens.

Während also von draußen die Mechanik der Webstühle zu hören ist, sitzt die Mutter auf ihrem gewohnten Platz, näht oder strickt. Gern nimmt sie ein Buch zur Hand. Ihr Lieblingsroman war Samuel Richardsons Geschichte des Herrn Carl Grandison.6 Der Briefroman gehört zu den Kultbüchern der Empfindsamkeit. Als Briefschreiber und Briefempfänger treten, wie Lessing es 1754 formulierte, «meistenteils junge Frauenzimmer von guter Erziehung, und muntrer Gemütsart» auf.7 Neben anderen Romanen Richardsons finden sich in der Familienbibliothek Bücher, die zum Repertoire eines Lesers gehören, der im 18. Jahrhundert an den aktuellen Entwicklungen des Buchmarkts interessiert ist, Klopstock etwa oder die frühen Werke Goethes.8 Im Haus der Grimms pflegt man die neue literarische Bildung.

Ein wenig von der «munteren Gemütsart» aus der Romanwelt von Carl Grandison dürfte Dorothea Grimm als «junges Frauenzimmer» besessen haben. Als ihr Sohn Wilhelm Anfang der 1850er Jahre den Geburtsort besuchte, betrachtete er das gräfliche Lustschloss Philippsruhe und den umliegenden Park, in dem sich seine Eltern verlobt hatten: «Der Vater habe gehört, daß jemand Anders sie heirathen wolle, und sei ihr und ihren Eltern in den Garten des Schlosses nachgeeilt, wohin sie spazieren gegangen waren.» Am 23. Februar 1783 wurde das Paar getraut. Philipp Wilhelm Grimm war damals einunddreißig, Dorothea Zimmer siebenundzwanzig Jahre alt. Sie lagen damit jeweils ein Jahr über dem durchschnittlichen Heiratsalter im 18. Jahrhundert.9

 

Die Eheleute besiegelten mit ihrer Heirat den sozialen Aufstieg vor allem Philipp Wilhelm Grimms. Die väterliche Linie führt von Johannes Grimm, der 1639 nach Hanau übergesiedelt war und zunächst das Gasthaus «Wirt zum Faß», dann das «Weiße Roß» betrieben hatte, zu überaus angesehenen Theologen und Beamten.10 Der erste Akademiker der Familie war der Hanauer Pfarrer und Inspektor der reformierten Gemeinden Friedrich Grimm, der Urgroßvater von Jacob und Wilhelm.11 1698 hatte er das Amt des dritten Pfarrers an der reformierten Hauptkirche in Hanau angetreten.12 Sein gleichnamiger Sohn, ebenfalls als Theologe und Pfarrer in Steinau tätig, heiratete die Tochter eines Hanauer Hofgerichtsrats. Das war eine der höchsten Positionen in der damaligen bürgerlichen Juristenkarriere. In den Ordnungsvorstellungen des 18. Jahrhunderts stand der Hofgerichtsrat über den Theologen. Aus dieser Ehe ging Philipp Wilhelm hervor, der Vater der Brüder Grimm. Er wurde am 19. September 1751 geboren und tat alles, um das gesellschaftliche Niveau, das die Familie seiner Mutter erreicht hatte, nicht zu unterschreiten. Das Rechtsstudium in Hanau, Herborn und Marburg war dazu der erste Schritt. Anstellungen als Advokat am Hofgericht und als Stadt- und Landschreiber folgten.

Bezeichnenderweise spielte Philipp Wilhelm Grimm bei seinen Bewerbungen die Karten der Familientradition aus. Den Erbprinzen erinnerte er in einem Schreiben vom 20. August 1782 daran, «daß meine Voreltern schon seit langen Jahren her, sich unter die hiesige Herrschaftliche Dienerschaft zälen konnten».13 Auch im Dankesschreiben nach erfolgter Ernennung führte Grimm wieder das Beispiel «sämtlicher meiner Aeltern und Voraeltern» an.14 Anfang der 1790er Jahre schließlich gelangte er auf den Posten eines Amtmanns in Steinau.15

Die Familie der Grimms stieg damit im Laufe der Jahrzehnte aus stadtbürgerlich-handwerklichen Anfängen in die bürgerliche Beamtenschicht der Pfarrer auf und von dort aus in die hessischen Juristenkreise. Der Schwiegervater, Kanzleirat Johann Hermann Zimmer, versicherte seinem Fürsten, sein «Tochtermann» werde sich beständig um «des höchsten gnädigsten Beyfalls, und damit auch der fortwährenden Herrschaftlichen Gnade» bemühen.16

In bestimmter Hinsicht passten die Familientraditionen der reformierten Theologen und Beamten gut zusammen. Urgroßvater Friedrich Grimm empfahl, «Treu, Fleiß und Kräfte des Leibes anzuspannen und sich keiner öffentlichen und privaten, ordinären und extraordinären Arbeit und Mühe verdrießen zu lassen». So lautete 1748, drei Wochen vor seinem Tod, die Instruktion an die Pfarrer, für die er als Inspektor der reformierten Gemeinden verantwortlich war.17 Seine Urenkel Jacob und Wilhelm verpflichtete man später darauf, die Aufstiegsgeschichte ihrer Familie fortzusetzen. Auch wenn sie dabei einige Umwege machen sollten – in ihrer Arbeitsethik führten sie die Familientradition fast bruchlos weiter.

Die Theologen unter ihren Vorfahren haben Jacob und Wilhelm tief beeindruckt. In der Ahnengalerie, die später im Freiraum zwischen den Bücherregalen ihrer Arbeitszimmer hängen sollte, nahmen die großen Ölgemälde der Pfarrer und Prediger Grimm aus Hanau und Steinau einen wichtigen Platz ein. Die «Christ-Brüderliche Gratulation» aus dem Jahr 1730, mit der der Großvater Friedrich Grimm als neuer Pfarrer in Steinau geehrt wurde, beginnt mit den Versen: «Dein gantzer Stamm, dein Haus gehört zum Lehrer-Orden/​Du bist dem Vatter und Groß-Vatter ähnlich worden.»18 Die Porträts der Großeltern mütterlicherseits, Johann Hermann und Anna Elisabeth Zimmer, sind kleiner als die Porträts der Grimms. Hier kam es nicht so sehr auf Repräsentation und Folgsamkeit an, mehr hingegen auf Nähe und intime Fürsorge.

Es ist daher bezeichnend, wie der dreijährige Jacob Grimm auf einem Ölgemälde abgebildet ist, das der Hanauer Maler Georg Karl Urlaub im August 1788 anfertigte:19 an einen Felsblock gelehnt in einem violetten Anzug mit breiter hellgrüner Schärpe, die in einer großen Schleife seitwärts gebunden ist; ein weiter Hemdkragen fällt ihm bis auf die Schultern. An den Schuhen trägt er silberne Schnallen, und in beiden Händen hält er die gleichen blauen und roten Blumen, die auch im Vordergrund zu sehen sind. Dazwischen fliegen Schmetterlinge; Gebüsch rankt von links und rechts ins Bild; im Hintergrunde stehen schlanke Bäume.20

Aber es bleibt nicht minder bezeichnend für den Konflikt der Familientraditionen, wenn Jacob daran zurückdenkt, wie er als Kind bei seinem Großvater Zimmer in Hanau zum Predigen auf einen Stuhl gestiegen ist und angekündigt hat, er werde seinem Großvater in Steinau folgen.21 Das ist eine typische Szene. Viele Zeitgenossen erinnerten sich an eine ähnliche Situation. Jacob sah darin ein Zeichen seiner Familiengesinnung, allerdings in der eher weltlichen Variante, die das Exlibris des Vaters und das Grimm’sche Familienwappen zum Motto ausgaben: «Tute si recte vixeris» («Rechtschaffenheit sei deines Lebens Sicherheit»).22

 

Die Brüder Grimm, so erzählt es Jacobs Autobiographie, wurden streng im reformierten Glauben erzogen – der Ältere wurde am 1. April 1798 in der reformierten Steinauer Katharinenkirche konfirmiert, der Jüngere am 13. April 1800 in der evangelischen Kirche Großalmerode.23 Lutheraner seien ihnen wie fremde Menschen erschienen, mit denen sie nicht recht vertraut umgehen durften, ganz zu schweigen von Katholiken, die «schon an ihrer bunteren tracht zu erkennen waren».24 Aber wie stark war der kirchliche Impuls wirklich? In Hessen stand die reformierte Tradition für eine tolerante Haltung. Das Land hatte Ende des 16. Jahrhunderts Glaubensflüchtlinge aus den spanischen Niederlanden aufgenommen, und Ende des 17. Jahrhunderts, nach der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes, Hugenotten aus Frankreich. Der wirtschaftliche Erfolg verdankte sich nicht zuletzt den Exilanten. In Hanau gründeten die Hugenotten die Neustadt, an deren Grenze die Grimms wohnten. Konfessionelle Demonstrationen waren da fehl am Platz. Und dabei blieben die Brüder Grimm ihr Leben lang. Jacob gestand später, er denke täglich an Gott und bitte um seinen Beistand, halte aber wenig von einer in Ritualen ausgestellten Religiosität: «Gott will doch, daß wir auf Erden leben und unsre Zeit erfüllen.»25 Auch Wilhelm bekannte einmal, dass er seinen Glauben als Gnadenakt Gottes verstehe, der «in jedem Menschen eigenthümlich wirkt» – ins Gezänk christlicher Parteien wolle er sich nicht verwickeln lassen.26

Wichtiger als ihre konfessionelle Prägung nahmen die Brüder Grimm im Rückblick schon aus strategischen Gründen ihre politische Sozialisation: Die «liebe zum vaterland», schreibt Jacob, «war uns, ich weisz nicht wie, tief eingeprägt […], es war bei den älteren nie etwas vor, aus dem eine andere gesinnung hervorgeleuchtet hätte».27 Aber das «Vaterland» war damals sehr klein und lag in den überschaubaren Grenzen der Grafschaft. Die Grimms wurden in die deutsche Kleinstaaterei des 18. Jahrhunderts hineingeboren: Der jüngere Bruder Ludwig malte auf der hessischen Landkarte als Kind «alle städte gröszer und alle flüsse dicker […]. mit einer art gerinschätzung sahen wir z. b. auf Darmstädter herab»28 – gemeint waren damit die Bewohner Hessen-Darmstadts, das man 1648 von Hessen-Kassel getrennt hatte.

Der Patriotismus, den etwa das Hanauische Magazin predigte,29 hatte wenig mit dem Nationalbewusstsein des 19. Jahrhunderts gemein. Die militärische Kultur der Zeit erlaubte das nicht. Die Armee war zwar im alltäglichen Leben präsent – Kanonendonner, der Auszug von Soldaten, die farbigen Uniformen und die in der Sonne glänzenden Waffen haben romantische Eindrücke bei den Brüdern Grimm hinterlassen.30 Die Hintergründe aber waren nicht sehr romantisch: Wilhelm IX. sicherte seine politische und wirtschaftliche Position nicht zuletzt durch Hilfeleistung in den Kriegen anderer Länder. Die hessischen Soldaten waren gewissermaßen die globale Einsatztruppe des 18. Jahrhunderts. Sie konnten jederzeit an ein anderes Land vermietet werden; für patriotische Verbindlichkeiten war da kein Platz. Schon der Vater Wilhelms IX. hatte die männlichen Untertanen als Wirtschaftsfaktoren erkannt und einen vielbeklagten Soldatenhandel betrieben. Berühmt-berüchtigt war die Vermittlung von Soldaten an die englische Seite im Konflikt mit Nordamerika, wodurch Friedrich II. zwischen 1776 und 1784 rund zwanzig Millionen Reichstaler einnahm.31 Am Ende des Deutschen Reichs gehörte Hessen-Kassel zu den wohlhabendsten Fürstentümern Deutschlands.

 

Ihr Vater war für die Brüder Grimm die Orientierungsfigur. Im Zentrum der Familie aber stand die Mutter und deren Liebe, wie es die modernen Familienmodelle der Aufklärung empfahlen. Der «Anfang der Erziehung», so einer der vielen zeitgenössischen Beiträge zur Reformpädagogik im Hanauischen Magazin, werde gemacht, «wenn der Säugling an der Mutter Brust» liege.32 Die Kindheitsbilder und Familienpraktiken der Aufklärung stifteten jene genussreiche, aber eben auch nicht selten angstbesetzte Intimität zwischen Eltern und Kindern, die vielen Erziehungsratgebern den Verkauf und späteren Therapeuten ihre Patienten sicherte. Dass eine «wollüstige[] Furcht […] einen großen Teil des kindischen Glücks ausmacht», wie es in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre heißt,33 gehörte zu den unausgesprochenen Elementen des Erziehungsprogramms.

Jacob Grimm erinnert sich an Lutscher aus gestoßenem braunem Zucker und Brot, an Fastnachtsbrezeln in Wein oder an den Tropfen Branntwein, den ihm eine Wäscherin auf Schwarzbrot zu naschen gab. Vor allem aber erinnert er sich daran, dass die Mutter ihm einmal den Genuss von Äpfeln verweigerte: «ich stelle sie mir deutlich vor, die Mutter wollte keine zum Eßen geben». Kurz darauf hält Jacob bezeichnenderweise ein Ereignis fest, das ebenfalls nicht stattgefunden hat: «Es steht mir nicht lebendig vor, daß ich Schläge bekommen hätte, aber eine Ruthe war hinter dem Spiegel», und zwar hinter jenem Spiegel, in dem die Mutter die Straße vor dem Haus beobachtete.34

Fast scheint es, als skizziere Jacob eine Allegorie der Aufklärungspädagogik: Das versteckte Züchtigungsinstrument, das hinter dem Spiegelbild bewusst bleibt, steht für eine Motivation, die von innen kommt und keine äußeren Anlässe benötigt, für eine Selbstkontrolle, die an die Stelle von Fremdkontrolle tritt, für eine liebevolle Regierung, bei der – mit den Worten des Hanauischen Magazins – «das zärtliche Mutterherz, der väterliche Ernst, den Grund zu allen guten Handlungen des aufkeimenden Weltbürgers legen».35 So bewahrt Jacob Grimm auch das «liebste Gefühl von Gutheit» mit der Erinnerung daran, wie ihn seine Mutter, wenn er im Bett lag, die Haare streichelte.36

Die Entwicklung hin zur zärtlichen Familienintimität illustriert eine der faszinierendsten Episoden aus den autobiographischen «Besinnungen» Jacob Grimms. Diese Passage ist nicht allein in ihrer kühlen Detailliertheit charakteristisch, sondern auch, weil sie von Wohlgefühl und «Grauen» handelt: «Am Ofen wurde ich angezogen von der Mutter und gewaschen, oft mit warmem Waßer und Wein, welches süßlich roch, das ärgerlichste war, wenn es an die Ohren kam, weil es immer weh that. Auch genau weiß ich, daß ich wund war und mit feinem Wurmmehl bestreut wurde, aus einem Glas, worüber ein Papier mit Stecknadellöchern, welches allemal kühlte und gut that. Bei dem Nägelbeschneiden hatte ich immer eine Art Grauen, und litt es nicht gern. Das Kämmen und Lausen litt ich schon lieber, ich legte mich mit dem Gesicht an den Leib der Mutter und es that immer wohl, wenn eine Laus knickte, der Langenweile wegen sagte die Mutter, das wäre eine gemeine, nun müßte auch der Fähnrich gesucht werden, worauf man geduldig wurde, auch wurden die jedesmal Getödteten gezählt, um zu wißen, ob man sich beßere oder schlimmere.»37

«Wollüstige Furcht», um Goethes Formulierung aufzugreifen, beherrscht diese Kindheitsszenen. Bei allem Unbehagen bleibt bemerkenswert, dass der junge Jacob Grimm mit warmem Wasser gewaschen wird und nicht, wie es die Abhärtungspädagogik empfahl, mit kaltem.38 Es bleibt bemerkenswert, dass die hygienischen Bemühungen der Mutter geschildert werden, weil diese Praktiken ebenfalls zum Kanon der reformpädagogischen Empfehlungen gehörten. Und es bleibt bemerkenswert, wie ausführlich sich die Mutter mit ihrem Sohn beschäftigt: Die Eltern investieren Zeit in ihre Kinder, was sich früher nicht von selbst verstand. Das gilt besonders für die Mütter, die den Vorstellungen der neuen Pädagogik von Spätaufklärung und Romantik zufolge beständig um ihre Kinder sein sollten. Ihnen wurde, dem Ideal nach, die Rundumbetreuung mit Stillen, Hüten, Pflegen, Ankleiden oder Ausführen aufgegeben. Doch es gilt auch für die Väter. Fest eingeprägt hat sich Jacob eine Situation, in der er frühmorgens gemeinsam mit dem Vater am Fenster steht und die Mägde beobachtet, «mit Zubern auf dem Kopf worin das Waßer schwappte» – «der Vater sprach mit mir, ich weiß aber nicht was».39

Wie früher gehören zur Familie noch Mägde, Amtsdiener und anderes Dienstpersonal. Ein «armer Schüler» namens Zipf kommt einmal wöchentlich zu den Grimms zum Essen und wird dann, wie damals üblich, reihum an andere Haushalte weitergereicht. Auch Jacob und Wilhelm finden während ihrer Gymnasialzeit in Kassel als Kostgänger Unterkunft. Aber in dieser Großfamilie gilt die liebevolle Aufmerksamkeit nicht allen. Als Wilhelm etwa in Steinau einen «fürchterlichen Traum» von seinem kleinen Bruder Ferdinand hat, steht er mitten in der Nacht auf, weil er nicht mehr schlafen will. Er trifft auf die Magd Marie: «ich erzählte ihr meinen Traum, sie achtete aber nicht darauf».40 Die Brüder Grimm und ihre Mutter hingegen interessieren sich für nächtliche Phantasien und erzählen sich gegenseitig ihre Träume.

So schenken sich Eltern und Kinder eine ganz besondere Form der Zuwendung, die die Kinder regelrecht ‹traumatisiert›. Immer wieder werden die Brüder in ihren Träumen und Phantasien von den Eltern heimgesucht. Jacob erinnert sich, wie er im Hanauer Winter mit seinem Vater in ein Dorf gefahren ist, um dort Amtsgeschäfte zu erledigen: «Das Rollen der Räder, der Schnee und die laublosen Bäume fallen mir noch immer ein, wenn ich jetzt im Winter reise und denke mir noch beim Vater zu sitzen und alles andere sey ein Traum.»41 Wilhelm berichtet über die Gegenwart der toten Mutter: «der Traum führt mich manchmal zu ihr hin, sie sitzt meist, wie in den letzten Jahren ihres Lebens, auf einem kleinen Teppich vor einem Arbeitstischchen, reicht mir die magere, sanfte Hand und fragt, warum ich so lange nicht bei ihr gewesen sei?»42 Die Kinder entgelten die Aufmerksamkeit, die sie erfahren, damit, dass sie ihren Eltern lebenslang verbunden bleiben.

 

Zum engeren Familienkreis gehören die Großeltern und Tanten. Für die Brüder werden vor allem zwei Personen wichtig: Großvater Zimmer, bei dem die Kinder regelmäßig zum Essen vorbeischauen, und die Tante väterlicherseits: Juliane Charlotte Friederike Schlemmer. Die Witwe, die sich in ihrer Jugend um ihren sechzehn Jahre jüngeren Bruder gekümmert hatte, nimmt auch an der Erziehung von dessen Söhnen großen Anteil. Jacob hängt zeitweilig mehr an ihr als an den Eltern. Wilhelm und er besuchen sie tagsüber oft in ihrem kleinen Haus nur wenige Straßen entfernt von der Langen Gasse. Es gibt eine «Specereihandlung» an der einen und einen Schuhmacher an der anderen Ecke, in dessen Hof Jacob Sauerampfer für die Mittagssuppe pflückt.43

Charlotte Schlemmer, «eine verständige, wohlmeinende, aber ernste Frau», übernahm die Rolle der ersten Lehrerin von Jacob und Wilhelm. In den Besinnungen aus meinem Leben schildert Jacob ausführlich die Unterweisung: «Die Tante hatte mich sehr lieb und lehrte mich lesen und Religion. Ich saß oben auf dem Fenstertritt am Tisch und weiß noch wie das Abc angefangen wurde. Das Buch ist lange aufgehoben worden und entweder mein oder des Wilhelms Exemplar noch jetzt vorhanden. Die Deckel waren von Holz mit gemahlten Bildern, auf der einen Seite ein Fähnrich in roth, auf der andern Kinder die Seifenblasen bliesen und solche allegorische Vorstellungen. Die Tante hatte sich aus einer alten Vogte [Fächer, S. M.], einen elfenbeinenen Deuter gemacht, der nach der Lection zum Zeichen ins Buch gelegt wurde. Meistentheils aber nahm sie eine Stecknadel um feiner zu deuten zur Hülfe, woher es kam daß alle Buchstaben mehr oder weniger zuletzt zerstochen wurden. Einige Buchstaben lernte ich eher und leichter, wie n m, andere schwerer, z. B. den Unterschied zwischen q und p nachdem das Ohr auf der einen oder der andern Seite schloß. Die großen Buchstaben waren verwickelter und schwerer. Das ganze Geschäft bin ich mir außerordentlich deutlich bewußt und kann mir denken, daß es erst vor einigen Wochen geschehen wäre und alles weitere wie ein Traum dazwischen läge.»44

Dass Jacob sich so deutlich an die Mühsal des Lesenlernens erinnert, liegt auch an der Methode, die Charlotte Schlemmer anwendet. In den reformpädagogischen Diskussionen der Aufklärung konkurrierte das Buchstabieren, wie es Jacob praktizierte, mit dem sogenannten Lautieren, bei dem nicht einzelne Buchstaben, sondern Lautkombinationen vermittelt wurden. Auf diese Weise sollte das Kind fast wie von selbst den Umgang mit der Schrift erfassen. Carl Friedrich Splittegarb beispielsweise bewarb sein Neues Bilder ABC. Eine Anleitung zum Lesen, dergleichen es bisher noch nicht gab (1787) damit, dass es die Kinder «ohne Schwierigkeit und Schmerz in unsere Bücherwelt» einführe.45 Bei der Tante jedoch erleidet Jacob das Gegenteil einer natürlichen Sprachvermittlung. Im Durchlöchern der Seite mit der Stecknadel möchte man fast ein Symbol für die Gewalt der Buchstabenvermittlung sehen.

Gegen Ende der Hanauer Zeit ergänzen ein Französischlehrer und der Besuch in einer öffentlichen Schule den Unterricht bei der Tante. Jacob und Wilhelm erhalten zudem Tanzstunden. Auf Gesellschaftstauglichkeit haben die Eltern offenbar geachtet.

Jacob war der Lieblingsneffe der Tante, vielleicht, vermutet Wilhelm, weil er dem Vater ähnlich sah. Bis zum Tod ihres Bruders wird Tante Schlemmer mit der Mutter ein wenig um die Zuneigung Philipp Wilhelm Grimms ringen. Danach, so Jacob, «hingen sie fester aneinander und wahren soviel ich mir besinne, immer einig».46 Schon hier zeigt sich ein für die Beziehung der Brüder Jacob und Wilhelm typisches Gefälle: Der Ältere nämlich lernt sehr schnell. Er habe bereits lesen können, berichtet seine Mutter, als andere Kinder gerade mit dem Lernen begannen.47 An dieser Schnelligkeit Jacobs und an dem Vorsprung, den er dadurch erringt, wird sich nichts mehr ändern. Wilhelm ist der Bedächtige, Jacob der Zupackende, in wissenschaftlichen Angelegenheiten wie im alltäglichen Umgang. «Er ging langsam», erinnert sich Wilhelms Sohn Herman später an die Spaziergänge seines Vaters, «Jacob rasch», und fügt hinzu: «Zusammen sind sie nie gegangen.»48