Walter Boehlich
Die Antwort ist das Unglück der Frage
Ausgewählte Schriften
Fischer e-books
Herausgegeben von Walter Peitsch und Helen Thein-Peitsch
Mit einem Vorwort von Klaus Reichert
Literaturkritiker, Essayist, Übersetzer und Verlagslektor Walter Boehlich, geboren 1921 in Breslau, gestorben 2006 in Hamburg, studierte Philologie in Bonn und wurde Assistent von Ernst Robert Curtius. Er schrieb über Jahrzehnte regelmäßig unter anderem für »Die Zeit«, die FAZ und »Titanic«. Bei S. Fischer erschienen die von ihm herausgegebenen ›Jugendbriefe an Eduard Silberstein‹ von Sigmund Freud sowie seine Übersetzung von Virginia Woolfs ›Mrs Dalloway‹.
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Covergestaltung: Hißmann, Heilmann, Hamburg/Anna Lena Witte
Coverabbildung: B. Friedrich/Ullstein Bild
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401617-7
»Zur europäischen Literatur zwischen zwei Weltkriegen«, Atlantis-Verlag, Zürich 1943. »Zeitgenössische Literatur«, Manesse-Verlag, Zürich 1947. »Welt im Wort«, Manesse-Verlag, Zürich 1949.
»Allem höheren Denken lag immer das Wunder in der Gemeinschaft der Gegenwart mit dem Vergangenen, im Fortleben der Toten in uns, denn einzig wir denken, daß die wechselnden Zeiten wahrhaft inhaltsvoll sind und nicht als ewiger Gleichklang sinnlos wiederholter Takte erscheinen.« (»Wert und Ehre deutscher Sprache.«)
Albert Soergel, Curt Hohoff: »Dichtung und Dichter der Zeit. Vom Naturalismus bis zur Gegenwart«: August Bagel Verlag, Düsseldorf; 2 Bände, 895 und 893 S., je 48,– DM.
Diese Auswahl wurde seit 1909 ersetzt durch Søren Kierkegaards Papirer; es bedurfte großer finanzieller Opfer und der Arbeit von vier Jahrzehnten, um die Ausgabe abzuschließen; 1948 erschien der 20. und letzte Band. Erst mit diesem Augenblick war es möglich, Kierkegaard so zu verstehen, wie er mit unseren Mitteln überhaupt verstanden werden kann. Einige Jahre darauf waren ein paar Bände der Papiere bereits vergriffen; immerhin fanden sich im Winter 1952 noch große Restbestände von 16 Bänden. Wer die Papiere kennt, weiß, daß fast jeder einzelne Band dieser Ausgabe von großem Wert ist, daß viele Bände völlig abgeschlossene Abschnitte oder Arbeiten enthalten. Aber diese restlichen Bände waren natürlich nur langsam abzusetzen. Und nun ereignete sich das Unglaubliche: der Verleger ließ alle Restbestände einstampfen – sie nahmen ihm zu viel Platz! Was kümmert ihn das steigende Interesse der Welt an Kierkegaard, was kümmert ihn, daß es aller Wahrscheinlichkeit nach bald würde notwendig geworden sein, die fehlenden Bände nachzudrucken, um Bibliotheken und Liebhaber mit der vollständigen Ausgabe beliefern zu können! Er ist ja Kaufmann, und was nicht sofort umgesetzt wird, macht sich nicht recht bezahlt. Man kann es nicht fassen. – Es ist nicht anders mit der zweiten Auflage der Gesammelten Werke. Seit vielen Jahren fehlen einige Bände, alle Antiquare suchen sie; der Preis für vollständige Exemplare steigt und steigt – aber statt diese Bände nachzudrucken, werden die übrigen Bände verramscht.
Nicht nur die Philosophen haben Kierkegaard gegenüber versagt, auch die Literarhistoriker, und von ihnen natürlich gerade die, die keine rechten Philologen sind – wie auf der anderen Seite die fast ausschließlich philologisch eingestellte skandinavische Kierkegaardforschung Mängel einer zu eng verstandenen Philologie zeigt; aber das ist ein anderes Kapitel, dessen Behandlung an anderem Ort erfolgen muß und wird.
Nachdem Kierkegaard immerhin als Taufpate an der Wiege der modernen Philosophie gestanden hat, wendet diese sich mehr und mehr von ihm ab. In den Holzwegen hat Heidegger Kierkegaard den Rang eines Denkers abgesprochen; er zählt ihn jetzt unter die religiösen Schriftsteller – womit er sogar einer Intention Kierkegaards selbst folgt. Und Jaspers? »Ich bin überzeugt, daß weder Theologie noch Philosophie sich auf Kierkegaard gründen können. Jene Gründung vor 40 Jahren war nicht schon das Gewinnen eines neuen Bodens, – es war das Erwachen aus einem Schlafe.«
Theodor Haeckers Verdienste um Kierkegaard sind größer und tiefer als die von Schrempf, dessen Übersetzung er teils abgelöst, teils ergänzt hat. Ihm ist es zu danken, daß sich das allgemeine Interesse mehr und mehr auf Kierkegaards Religiöse Reden und die Tagebücher gerichtet hat. Seiner Auswahl aus den Tagebüchern hat man oft, nicht ganz zu Recht und nicht ganz zu Unrecht, eine einseitige katholische Tendenz vorgeworfen, aber man hätte dann nicht unterdrücken oder übersehen dürfen, daß Haecker ausdrücklich erklärt hat, Kierkegaard sei »in eminentem Sinn ein Protestant, ja der Vollender des Protestantismus« gewesen (Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit, 1913). Für Haecker ist Kierkegaard vor allem ein großer Religiöser gewesen, der Beter Kierkegaard steht im Vordergrund – aber er war auch imstande, Kierkegaard als den größten Stilisten und Schriftsteller dänischer Sprache aufzufassen. Der Wille, sich diesem sprachlichen Genie zu unterwerfen, hat seine Übersetzung, soweit sie zutreffend war, vor vielen anderen ausgezeichnet. Was kurz, klar und einfach war, wollte er auch kurz, klar und einfach wiedergeben, aber nie hat er versucht, Kierkegaards Dänisch in flüssiges Deutsch zu verwandeln, wo Kierkegaard selbst in voller Absicht kein flüssiges Dänisch geschrieben hatte. Er übersetzte so wörtlich, wie es ihm möglich war, weil er überzeugt war, daß Wort mit Geist zusammenhänge.
Während des Druckes erschien, von B. de Fallois herausgegeben: Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve.
Er erschien während des Druckes. Diese Textrevision ist von so großer Bedeutung, besonders für die letzten Bände, daß sie eine eigene Würdigung finden soll.
Die Proust-Literatur bis 1947 hat L. A. Bisson aus Anlaß des 25. Todestages in einem zusammenfassenden Artikel in French Studies I, 1947, p. 191–271, gewürdigt. – Diese Zeitschrift hat Proust ihr Interesse auch in anderen Fällen zugewandt.
Zu den Urbildern der einzelnen Figuren der »Recherche« vgl.A. Adam, Le roman de Proust et le problème des clefs. Revue des sciences humaines, 1952, p. 49ff.
Vollständiger ist das ältere Werk von Raoul Celly: Répertoire des thèmes de Marcel Proust (Cahiers Marcel Proust 7). 1935.
Ansätze dazu finden sich bei J. Nathan, Citations, références et allusions de Proust dans A la recherche … Nizet 1953.
Sie scheinen eine Selbstkritik Prousts zu enthalten, der als junger Mensch selbst zu solchen Spielereien neigte. In einem Brief des Vierzehnjährigen an seine Großmutter findet man den Satz: je te le jure par Artémis la blanche déesse et par Pluton aux yeux ardents (Lettres à Mme C.).
Gertrude Stein: »Drei Leben«, deutsch von Marlis Pörtner, mit einem Nachwort von Marie Anne Stiebel; im Verlag der Arche, Zürich; 309 S., 15,80 DM.
»Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache«; Verlag Bibliographisches Institut Mannheim; Band 1: A–Ci, 464 Seiten, 48 Mark.
»Deutsches Mosaik«. Ein Lesebuch für Zeitgenossen, herausgegeben von Dieter Hildebrandt und Siegfried Unseld. Suhrkamp Verlag, Frankfurt; »Klassenbuch«. Ein Lesebuch zu den Klassenkämpfen in Deutschland 1750–1970, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger, Rainer Nitsche, Klaus Roehler und Winfried Schafhausen. Luchterhand Verlag, Neuwied/Darmstadt; 3Bde., Sammlung Luchterhand.
Die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher. Herausgegeben von Fritz J. Raddatz, suhrkamp taschenbuch 645.
›Deutsche Gedichte‹, herausgegeben von Karl Carstens. C. Bertelsmann, München 1983.
Ramón del Valle-Inclán: »Tyrann Banderas«, Roman des tropischen Amerikas, aus dem Spanischen von Anton M. Rothbauer; Neue Bibliothek der Weltliteratur, Henry Goverts Verlag, Stuttgart 1961. 303 S., 18,– DM.
Ramiro Pinilla: Die blinden Ameisen. Roman. Aus dem Spanischen von Helmut Frielinghaus. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1963. 292 Seiten. DM 19,80.
Samuel Beckett: »Watt«, Suhrkamp Verlag Frankfurt, 312 Seiten.
Alejo Carpentier: »Staatsraison«, Roman, aus dem Spanischen von Heidrun Adler; S. Fischer Verlag; 1976.
Mercè Rodoreda: »Auf der Plaça del Diamant«. Aus dem Katalanischen von Hans Weiss, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.
Gabriel García Márquez: Die Liebe in den Zeiten der Cholera. Deutsch von Dagmar Ploetz, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1987.
Tania Blixen: Briefe aus Afrika. Herausgegeben von Frans Lasson. Aus dem Dänischen von Sigurd Daub. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1988.
Pinchas Kahanowitsch, genannt der Nister: Die Brüder Maschber. Deutsch von Hans-Joachim Maass. Ullstein Verlag, Frankfurt am Main, 1990.
G. G. Gervinus, Schriften zur Literatur. Hg. Gotthard Erler. Berlin 1962. S. Vff. (in Zukunft als Erler zitiert).
Franz Mehring, Gesammelte Schriften, Band 9. Berlin 1963. S. 48.
Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 1963. S. 129.
G. G. Gervinus, Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Band I. Leipzig 1855. – S. VII.
Friedrich Christoph Schlosser. Ein Nekrolog von G. G. Gervinus. Leipzig 1861, S. 24ff.
Historische Zeitschrift 27 (1872). S. 134ff.
Geist und Geschichte. München 1964. S. 172.
Geschichte und Geschichtsschreibung. Hg. Fritz Stern. München 1966. S. 327.
Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Band 43. Heidelberg 1844. S. 264.
Preußische Jahrbücher 9 (1862). S. 408.
Leonhard Müller, Biographische Untersuchungen zur Entfaltung von Persönlichkeit und Weltbild. Diss. Heidelberg 1950. S. 134.
G. G. Gervinus Leben. Von ihm selbst. Leipzig 1893. S. 298.
G. G. Gervinus, Hinterlassene Schriften. Wien 1872. S. 79.
G. G. Gervinus, Gesammelte kleine historische Schriften. Leipzig 1839. S. 327.
Ebda S. 575.
Ebda S. 600.
Erler S. 86 und 102.
Briefwechsel zwischen Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Dahlmann und Gervinus. Hg. Eduard Ippel, Bd. 2. Berlin 1886. S. 291f. (in Zukunft als Ippel zitiert).
Leonhard Müller, Biogr. Untersuchungen … S. 270.
G. G. Gervinus, Shakespeare Band 12. Leipzig 1850. S. Vf.
Hans Rosenberg (Gervinus und die deutsche Republik. In: Die Gesellschaft VI (1929, Bd. 2, S. 120ff.) hob seine universalhistorische Anlage hervor, während Gerhard Schilfert und Hans Schleier (Georg Gottfried Gervinus als Historiker. In: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Bd. 1. Berlin 1963. S. 148ff.) vor allem seinen radikal-bürgerlichen Gehalt rühmen.
Ippel. S. 340.
Vgl. Hans Rosenberg (s.Anm. 21) und Hermann Baumgarten (anonym), Gervinus und seine politischen Überzeugungen. Leipzig 1853.
Ausgewählter Briefwechsel Rudolf Hayms. Hg. Hans Rosenberg. Berlin und Leipzig 1930. S. 121f.
Erler. Seite XXXIV.
Gerhard Ritter, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft. Historische Zeitschrift 170 (1950). S. 5. Theodor Schieder erwähnt in seinem Aufsatz über das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert weder Gervinus noch einen der anderen Genannten. Historische Zeitschrift 170 (1950). S. 233ff.
Karl Hagen, Geschichte der neuesten Zeit, Bd. 2. Braunschweig 1851. S. IXf.
Stuttgart 1853. S. 218f. Auf Rochau hingewiesen hat Hans Rosenberg, Rudolf Haym und die Anfänge des klassischen Liberalismus. München und Berlin 1933. S. 205.
G. G. Gervinus Leben. Seite 275.
G. G. Gervinus, Gesammelte kleine historische Schriften. S. 595.
Klaus Lutze, Georg Gottfried Gervinus. Seine politische Ideenwelt … Diss. Berlin 1956. S. 9ff.
Göttingen 1815 3 . S. 446f. und 653ff.
Gerhard Schilfert, Friedrich Christoph Schlosser. In: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Band 1. Berlin 1963. S. 137.
Vgl. Hermann Baumgarten, Historische und politische Aufsätze. Hg. Erich Marcks. Straßburg 1894. S. XXIXff.
Ippel. S. 350.
Karl Wild, Karl Theodor Welcker. Heidelberg 1913. S. 204ff.
Vgl. Eduard Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts. Tübingen 1954. S. 76. Zur Privilegierung überhaupt: Christian Baltzer, Die geschichtlichen Grundlagen der privilegierten Behandlung politischer Straftäter im Reichsstrafgesetzbuch von 1871. Bonn 1966. Über die Lage in Baden informiert hinreichend: Gustav Wild, Die Mannheimer Gerichte seit dem Lüneviller Frieden. 1801–1907. Mannheim o.J. (1907).
Wo nicht anders angegeben, sind die oben angeführten Dokumente und Briefe bisher unveröffentlicht. Sie entstammen alle miteinander dem auf der Heidelberger Universitätsbibliothek befindlichen Nachlass von Gervinus.
Johann Jacoby: Briefwechsel 1816–1849. Herausgegeben und erläutert von Edmund Silberner. Fackelträger Verlag 1974.
»Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910–1955.« Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Inge Jens, Neske Verlag, Pfullingen 1960.
Walter Bußmann, Treitschke. Sein Welt- und Geschichtsbild. Göttingen 1952.
Hans Paul Bahrdt, Soziologische Reflexionen über die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Antisemitismus in Deutschland. In: Entscheidungsjahr 1932. Tübingen 1965.
In seiner chauvinistischen Festrede vom 3. VIII. 1870.
Archiv für Kulturgeschichte VIII, 1910, S. 460f. Ein weiterer Brief, an W. Schrader, ebda X, 1912, S. 106, wo von Mitgliedern der Universität, die zu Treitschke hielten, die Rede ist. Nitzsch wäre der ›junge‹ Dilthey zuzugesellen, der am 13. Jan. 1881 an Treitschke schrieb: ›Mommsen’s Broschüre hat mich tief geschmerzt.‹ Vgl. Der junge Dilthey, Stuttgart und Göttingen 1960 2 , S. 316f.
Auch Droysen hat Treitschke – auf dessen Anfrage hin – mitgeteilt, daß sich die »Erklärung« vom 12. Nov. 1880 gegen ihn richte und daß er, was die »Judenfrage« angehe, Treitschkes Richtung entgegen sei. Vgl. Johann Gustav Droysen, Briefwechsel. Berlin und Leipzig 1929. 2. Bd., S. 937f.
Theodor Mommsen, Reden und Aufsätze, Berlin 1905, S. 9ff.
Levin Goldschmidt, Ein Lebensbild in Briefen. Berlin 1898, S. 432ff.
C. A. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freudschaft. Jena 1908, Bd. I, S. 364ff.
Historische Zeitschrift, Bd. 151 (1935), S. 332ff.
Neue Freie Presse, Wien, 20. Januar 1880. Es handelt sich dabei um einen Vorabdruck aus der Literaturgeschichte, dem eigens die auf die Gegenwart zielenden Passagen angehängt sind. Vgl. Geschichte der deutschen Litteratur, Berlin 1883, S. 87–99. Ein zweites Mal nahm Scherer gegen Treitschkes Antisemitismus Stellung, als er die 2. Auflage der ›Zehn Jahre deutscher Kämpfe‹ besprach. Vgl.W. Scherer, Kleine Schriften, Bd. 2, Berlin 1893, S. 287.
Vgl. Arthur Rosenberg, Treitschke und die Juden. Zur Soziologie der deutschen akademischen Reaktion. Die Gesellschaft VII, 2 (1930), S. 78ff.
Levin Goldschmidt, Zur Reichstagswahl vom 21. Februar und 2. März 1887. Berlin 1887, S. 3ff.
Alfred Dove, Ausgewählte Schriftchen vornehmlich historischen Inhalts. Leipzig 1898, S. 353ff.
Jacob Caro, Vorträge und Essays, Gotha 1906, S. 6ff.
Noch einen, törichten, Schritt weiter ging Isidor Singer, der in einer wirren Broschüre die Vermutung äußerte, daß auch Treitschke in Wahrheit jüdischer Abstammung sei. (Sollen die Juden Christen werden?, Wien 1884 2 , S. 87.) Singer hat dem politischen Antisemitismus wiederholt seine publizistische Aufmerksamkeit geschenkt und dabei Bismarck so wenig geschont wie Treitschke, den er bald den ›geistigen Vater des deutschen Antisemitismus‹ nennt (a.a.O., S. 66), bald den ›antisemitischen Papst‹ (Berlin, Wien und der Antisemitismus, Wien 1882, S. 16).
Iring Fetscher, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland. In: Antisemitismus. Frankfurt am Main 1965, S. 9ff. – Zum Begriff des »Gegenbildes« vgl. Eric Voegelin, Rasse und Staat. Tübingen 1933.
Allgemeine Zeitung des Judenthums, 1880, S. 21.
Reuwen Michael, Graetz contra Treitschke. Bulletin des Leo Baeck Instituts IV (1961), S. 301ff.
Vgl. Alexander Bein, »Der jüdische Parasit«. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte XIII (1965), S. 121ff.
Vgl. zur Rolle der Studentenschaft [Ludwig Quidde], Die Antisemitenagitation und die deutsche Studentenschaft. Göttingen 1881.
Die Judenfrage im preußischen Abgeordnetenhause. Breslau 1880, S. 106.
Vgl. dazu Kurt Wawrzinek, Die Entstehung der deutschen Antisemitenparteien (1873–1890), Berlin 1927 und Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Frankfurt 1959. Auf die wirtschaftlichen Grundlagen des Antisemitismus in allen seinen Spielarten geht Hans Rosenberg; Große Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967, besonders S. 88ff., ein.
Er erwähnt Bismarcks Freude über Treitschkes ›geistreiche Judenartikel‹ in seinen ›Tagebuchblättern‹ Bd. 2 (1899), S. 179.
Heinrich von Treitschke und das Judentum. Die Welt als Geschichte XXI (1961), S. 49ff.
Treitschke and Mommsen on Jewry and Judaism. Leo Baeck Institute, Year Book VII (1962), S. 153ff. Eine ausführliche Analyse von Treitschkes Antisemitismus enthält dagegen Hans Liebeschütz, Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber, Tübingen 1967, S. 157ff. – Was unter Hitler aus dem Antisemitismus geworden ist, scheint gerade in der Bundesrepublik forschenden Historikern den Blick dafür zu trüben, was Antisemitismus ohne seine letzte Konsequenz gewesen ist. Das Hangen an überlieferter Lehre und eine gewisse Scheu vor Ideologiekritik mögen dabei eine Rolle spielen. Andreas Dorpalen (Heinrich von Treitschke. New Haven und London 1957, S. 241ff.) läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß er Treitschke für einen militanten Antisemiten hält, aber Martin Broszat (Die antisemitische Bewegung im wilhelminischen Deutschland. Diss. Köln 1952, S. 42) findet bei ihm nur ein »Minimum an Antisemitismus«, und Walter Bußmann, der in seiner Treitschke-Monographie (a.a.O.) auf dieses Problem überhaupt nicht eingegangen war, sagt bei anderer Gelegenheit (Die großen Deutschen, Band V. Berlin 1957, S. 377): »Das in der publizistischen Erregung gefallene Wort ›Die Juden sind unser Unglück‹ wirft einen dunklen Schatten auf sein Bild und läßt ihn einem Antisemitismus zugehörig erscheinen, mit dem er seinen Motiven nach nichts zu tun hat, aber mit dem er durch seine Schuld identifiziert werden konnte.« Ganz für den Antisemitismus hat Ernst Leipprand aus Sympathiegründen Treitschke ›gerettet‹ (Heinrich von Treitschke im deutschen Geistesleben des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1935; S. 178ff.). – Eine extrem heftige Kritik an der westdeutschen Treitschke-Forschung findet man in einer äußerst kenntnisreichen, wenn auch oft dogmatischen Schrift von Hans Schleier (Sybel und Treitschke. Berlin 1965).
Der moderne Antisemitismus und seine Bedeutung für die Judenfrage. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte VI (1958), S. 340ff.
Alfred Heuss, Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert. Kiel 1956, S. 203.
Vgl. dazu: Erich Eyck, Bismarck. 3. Band, Erlenbach-Zürich 1944, S. 278ff.
Hermann Bahr, Der Antisemitismus. Berlin 1894, S. 8ff.
Friedrich Meinecke, Erlebtes 1862–1919. Stuttgart 1964, S. 132.
Albert Wucher, Theodor Mommsen. Göttingen 1956, S. 195.
Gustav Schmoler, Charakterbilder. München 1913, S. 202, und Walter Bußmann, a.a.O. S. 3ff. – Daß weniger Treitschkes Schwerhörigkeit als vielmehr seine feste Überzeugung, die Volksseele voll und ganz zu verstehen, Ursache seiner Halsstarrigkeit gewesen sei, meint Andreas Dorpalen, a.a.O. S. 78.
Hermann Hesse: Die politischen Schriften. Herausgegeben von Volker Michels. Mit einem Vorwort von Golo Mann. 2 Bde. im Schuber. Bd. I: 1914–1938, Bd. II: 1939–1962. Frankfurt am Main 1977.
Georg Lukács: Goethe und seine Zeit (1947).
Walter Benjamin: Schriften. Hg. von Th.W. Adorno und Gretel Adorno. 2 Bde. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1955.
»Schicksalwege deutscher Vergangenheit«. Festschrift für Siegfried A. Kaehler. Düsseldorf 1950, S. 455.
Ernst Robert Curtius: Büchertagebuch. Mit einem Nachwort von Max Rychner. Bern, München: Francke 1960.
Brief von Walter Boehlich an Max Rychner, Redakteur der »Tat«, 18. 4. 1958. Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: Rychner, S. 2.
Ebd. S. 1.
Brief von Günther Busch an Walter Boehlich, 16. 9. 1981. Nachlass von Walter Boehlich in der Autorenstiftung Frankfurt/M. Mappe: Briefe zu Boehlichs 60. Geburtstag.
Lothar Müller: Der Aufständische. Zum Tode des großen Polemikers Walter Boehlich. In: Süddeutsche Zeitung, 8. 4. 2006.
Joachim Güntner: Lob des Schulmeisters. Zum Tod des Publizisten Walter Boehlich. In: Neue Zürcher Zeitung, 8. 4. 2006.
Jörg Sundermeier: Der sträflich Vergessene. Zum Tod des Publizisten Walter Boehlich. In: Jungle World, 12. 4. 2006.
Heinrich Vormweg: Prosa in der Bundesrepublik seit 1945. In: Dieter Lattmann (Hrsg.): Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland I. Aktualisierte Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer 1980 (= Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart; 1), S. 167–420, hier S. 316.
Vgl. ddp-Meldung: Sigrid Löffler kritisiert Boulevardisierung. In: Frankfurter Rundschau, 25. 9. 2008.
Brief von Walter Boehlich an Max Rychner, 29. 12. 1949, DLA, A: Rychner.
F.C. Delius: Wie scheintot war die Literatur? Kursbuch 15 und die Folgen. In: Frankfurter Rundschau 6. 2. 1999.
Walter Boehlich: Vom Kreuz des Übersetzens. Zu einer neuen Strindberg-Ausgabe. In: Der Monat 9 (1956/57) H. 105, S. 63–70, hier S. 65.
Vgl. die Bibliographie in: Walter Boehlich: Kritiker. Hrsg. von Helmut Peitsch und Helen Thein. Berlin: Akademie 2011.
Brief von Eberhard Lämmert an Helmut Peitsch, 28. 11. 2009, im Besitz der Herausgeber.
Von seinen umfangreichen Rundfunkarbeiten können nur Kopien der Sendemanuskripte eingesehen werden, die sich im Nachlass befinden. Die Fernseharbeiten von Walter Boehlich konnten nicht gesichtet, aber bibliographiert werden.
Walter Boehlich 1977
© Isolde Ohlbaum
Ein kleines Porträt von Klaus Reichert
Seinesgleichen gab es nicht noch einmal in diesem Land. Er war ein Intellektueller vom Schlage Börnes, ein Gelehrter, der ein Dutzend Sprachen las, ein gefürchteter Kritiker, weil seine Urteile aus Sachverstand und historischem Wissen stammten. Er war ein Querdenker, ein Widerspruchsgeist, zornig, bissig, ein Polemiker aus Liebe und Leidenschaft, von dem sich immer wieder neu lernen ließ, was es heißt, selber zu denken. Er vertrat niemandes Position außer der eigenen, und die gründete in einer Vernunft, die mehr mit Diderot und den französischen Enzyklopädisten zu tun hatte als mit irgendwelchen Ideologien oder deren angesagter Kritik aus dieser oder jener Ecke. Er war für nichts und von niemandem vereinnehmbar, ein freier, unabhängiger Geist und ein meisterhafter Stilist.
Walter Boehlich war Verlagslektor, Übersetzer, politischer Publizist, genauer Kenner der unseligen Geschichte der Germanistik, für die sich vor ’68 noch kaum jemand interessierte, Polemiker gegen die deutschen Formen der Lexikographie (etwa des ›Grimm‹), denen er die gelungenen Wörterbücher der Dänen, Spanier und Engländer gegenüberstellte, Entdecker vergessener Seiten der deutschen Geschichte. Doch am bekanntesten war er wohl als Literaturkritiker – ganz früh, in den vierziger Jahren, im Merkur, dann in der Zeit, in der Süddeutschen, in der Frankfurter Rundschau, später in der Titanic: immer auf den Gegenstand bezogen, immer überprüfbar, das heißt ohne Gefälligkeiten, ohne Geschmacksurteile, ohne Literaturpolitik betreiben zu wollen, dabei oft erbost über die Leichtfertigkeit, mit der jemand es wagte, kenntnislos zu schreiben, zu übersetzen, zu kommentieren. Wenn er etwas nicht wußte, ruhte er nicht, bis er es wußte – welcher Rezensent gibt sich solche Mühe? – und machte die Arbeit, die ein Autor, ein Übersetzer sich hätte machen sollen.
Ich entsinne mich einer langen Rezension der deutschen Ausgabe von Gertrude Steins Drei Leben in den späten fünfziger Jahren – es war die erste längere Arbeit überhaupt, die über diese Autorin in Deutschland erschien –, in der er dem Übersetzer erst einmal geduldig die unverstandene Struktur des Buches erklärte, um dann zu einem großen Verriß auszuholen, der um so plausibler war, als er das Verfehlte immer wieder mit einer gelungenen Übersetzung, der von Cesare Pavese, kontrastierte. Dem gegenüber, was heute so eilig und eifernd an Übersetzungen rezensiert wird – denn eine Übersetzungskritik, die diesen Namen verdient, gibt es bis heute nicht –, sind Walter Boehlichs Besprechungen Kabinettstücke der Gelehrsamkeit – oder schlicht: der Bildung –, die man vielleicht nicht gleich bemerkt, weil sie in der Eleganz seines makellosen Stils aufgegangen ist.
Unbestritten, wenn auch erst spät gewürdigt, ist seine Leistung als Übersetzer aus einem halben Dutzend Sprachen. Sieht man ab von Kierkegaards Briefen und Debrays Chilenischem Weg, hat er nur Werke der sogenannten schönen Literatur übersetzt, deren Tod – wie solche, die sich nur von Gerüchten nährten, behaupteten – er verkündet haben soll: Giraudoux und Duras, Bang, Blicher, Söderberg und Karen Blixen, Valle-Inclán und Ramón J. Sender, den er für das deutsche Publikum entdeckte. Wer nur den scharfen Kritiker kannte, staunte über die Zartheit und Leichtigkeit, mit der er etwa den dänischen Sommer des für unübersetzbar geltenden Herman Bang nachgeschaffen hatte. Der letzte große Roman, den er übersetzte, war Virginia Woolfs Mrs Dalloway. Es war erstaunlich mitzuerleben, welche Mühe er jahrelang auf sich nahm, um bis in die kleinsten Verästelungen hinein den so schwer zu treffenden Ton zu finden und dabei, Satz für Satz, dem Original treu zu bleiben.
Und dann seine Tätigkeit als Herausgeber – die Briefe Prousts zu seinem Werk, Kardinal Retz, Gutzkow, Gervinus, David Friedrich Strauß, die von ihm betreute Bibliothek Suhrkamp, später eine Romanreihe bei Rowohlt. Vor allem galt sein – darf man sagen: geradezu existentielles – Interesse der Herausgabe übergangener oder verdrängter, nicht zur deutschen Nationalgeschichte zählender historischer Schriften aus dem 19. Jahrhundert. Mehrfach aufgelegt wurde seine Dokumentation des Berliner Antisemitismusstreits von 1880, der mit dem Namen Treitschkes und, auf der Gegenseite, dem Mommsens verbunden ist. Er wies nach, daß der Antisemitismus, damals schon akademisch vielerorts abgesichert, als Waffe in politischen Interessenzusammenhängen benutzt wurde, die mit Antiliberalismus, Antisozialismus, Antiemanzipation, Gegenaufklärung usw. gekoppelt waren. Aber er konnte auch zeigen, mit welcher Empörung, damals noch, viele von Treitschkes auch nicht-jüdischen Kollegen auf seine Judenhetze (»Die Juden sind unser Unglück«) reagierten. Der Streit hätte ein Exempel sein können für das, was ’33 kam beziehungsweise nicht kam. – Das zuletzt herausgegebene Werk, an dem er mit großer Liebe hing, kam wieder aus einer anderen Ecke: es war der Briefwechsel des jungen Freud mit seinem Freund Silberstein, der zum Teil auf spanisch geschrieben ist, das die Jünglinge zu lernen versuchten. Hier mußte entziffert werden, gemutmaßt, was gemeint sein könnte, übersetzt, kommentiert. Mit detektivischem Scharfsinn und der Hartnäckigkeit eines Gelehrten, wie es ihn heute nicht mehr gibt, in jahrelanger Kleinstarbeit, fand und verfolgte er die Spuren und konnte manche biographische Lücke schließen.
Schließlich ist an den politischen Kommentator zu erinnern, der in seinen Beiträgen für den Westdeutschen oder den Hessischen Rundfunk, für Konkret oder Titanic Dinge sagte, wie man sie in solcher Klarheit der Argumentation anderswo nicht hören oder lesen konnte. Er nahm zur Wiedervereinigung ebenso Stellung wie zu Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, zu Fassbinders angeblich antisemitischem Stück wie zum Fahneneid der Bundeswehr, zur Politisierung der Frankfurter Buchmesse 1967 wie zur Boykottierung der Leipziger, deren Land er, zur Empörung vieler, nicht in Anführungszeichen setzte, zu den Notstandsgesetzen in den sechziger Jahren ebenso wie zu der von oben angemaßten verunglückten Rechtschreibreform in den Neunzigern. Nie ließ sich von seinen Kommentaren vorhersagen, in welche Richtung er argumentieren würde. Er legte sich mit den Linken ebenso an wie mit den Rechten und der Grauzone dazwischen. Liest man heute Walter Boehlichs Kommentare in ihrer chronologischen Folge, ergibt sich ein ganz anderes Bild der politischen Geschichte der Bundesrepublik als das in den überregionalen, ›meinungsbildenden‹ Blättern vertretene.
Leidenschaft, Zorn und die unerschöpfliche Geduld im Erklären, in der Hoffnung auf Vernunft – sie gründen in den drei großen Traumen seines Lebens (die er so nicht genannt hätte, weil es ihm widerstrebte, persönliche Erfahrungen publik zu machen). Für den am 16. September 1921 in Breslau als Zwilling Geborenen war die Nazi-Barbarei die erste Erschütterung. Er wurde zur Infanterie eingezogen, aber bald wegen Wehrunwürdigkeit (seine Mutter war Jüdin) wieder entlassen und wurde Automechaniker, was ihm später nichts nützte, weil er nur Holzvergaser reparieren konnte. Nebenher studierte er als Gasthörer (einschreiben durfte er sich ja nicht) Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. Ein paar mutige Professoren – Paul Merker, Will-Erich Peuckert – ließen ihn in ihren Fachzeitschriften publizieren. Im Februar ’45 verließ er auf dem Fahrrad die ›Festung Breslau‹ und geriet bei einer Tante in Dresden in die Bombardierung am 13. Februar.
Nach dem Krieg nahm er das Studium in Hamburg wieder auf und wurde danach – ohne Examen – Assistent des großen Romanisten Ernst Robert Curtius in Bonn, den er bei keiner Erwähnung des Namens »meinen verehrten Lehrer« zu nennen vergaß. (Als er sich Curtius vorstellte, wurde er gefragt, welche Sprachen er könne. Er nannte ein halbes Dutzend. »Und wo ist Ihr Spanisch?« Also war das noch zu lernen.) Curtius, das hieß gründlichste philologische Ausbildung in vielen Sprachen, älteste und neueste Literatur, von Dante und dem Rosenroman bis zu Proust, Joyce und Eliot, Valéry, Ortega und Dámaso Alonso. Bonn hieß – die zweite Erschütterung –, daß es mit einer wirklichen Erneuerung – der Universität, der Justiz, der Beamtenschaft – so ernst nicht gemeint war. (Als er einem braunen Breslauer Germanisten in Bonn wieder begegnete, sagte der: »Sie wissen doch auch, daß ich immer dagegen war.« Boehlich: »Ich erinnere mich nur an das Gegenteil.« Der Professor: »Gerade Ihnen gegenüber konnte ich das ja nicht zeigen.«) Liest man die wissenschaftlichen Publikationen jener Jahre, so spürt man an dem immensen Wissen, welche akademische Karriere sich daraus hätte entwickeln lassen. Aber er verfolgte sie nicht, sondern beschloß, ein unabhängiger Kopf zu werden, undeformiert und unkorrumpierbar durch Institutionen.
Nach der Emeritierung von Curtius wurde er zunächst Lektor für deutsche Sprache an der Universität in Aarhus, dann in Madrid. Von dort holte ihn Peter Suhrkamp – aufmerksam auf ihn geworden durch eine sehr kritische Rezension der neuen Proust-Übersetzung – als Cheflektor in seinen damals noch kleinen Verlag. Elf Jahre lang arbeitete er prägend mit an der Entwicklung dieses Verlages zu einem der großen intellektuellen Zentren der Bundesrepublik, in dem Literatur und politische Veränderung zusammengedacht wurden – ein großes Projekt, das im Umkreis von ’68 eine praxisbezogene Eigendynamik bekam. Aber was da in den sechziger Jahren möglich zu werden schien, dann versickerte oder sich in einer Form, die ihn entsetzte, radikalisierte, das war das dritte Trauma. Ende 1968 verließ Walter Boehlich den Suhrkamp Verlag und gründete mit ein paar Gleichgesinnten den Verlag der Autoren, den ersten Verlag auf genossenschaftlicher Basis – »Der Verlag der Autoren gehört den Autoren des Verlages« –, der ohne seine Beharrlichkeit und Geduld nicht geworden wäre, was er heute ist. Für den Verlag der Autoren machte er ein Sprechstück aus den Protokollen der ersten deutschen Nationalversammlung von 1848/49, wieder um zu dokumentieren, was einmal nicht nur denkbar, sondern möglich gewesen wäre in einem Land, von dem Marx sagte, es habe nur die Reaktionen gehabt auf nicht stattgefundene Revolutionen.
Nichts von diesen weiten Interessen und Aktivitäten läßt ahnen, worin die Faszination seiner Person bestand. Er war ein großer Plauderer, witzig und schlagfertig, voller Geschichten und Anekdoten, für die er sich alle Zeit ließ, die Pointen durch Züge aus der Pfeife hinauszögernd. Er haßte große Worte. Wenn ein Gespräch zu tiefsinnig zu werden drohte, unterbrach er: »Habe ich Ihnen schon die-und-die Geschichte erzählt?« Er haßte Dünkel, Heuchelei, Opportunismus, Geltungssucht, Gedankenlosigkeit. Das machte ihm das Leben nicht eben leicht. Für viele war er daher zum Fürchten in seiner Bissigkeit und Streitlust, seinem Zorn, seiner Schroffheit, seinem manchmal ungerechten Urteil. Zu seinen Lebzeiten hat man eher die provozierende, irritierende, ständig in Frage stellende Seite Boehlichs gesehen. Das kam wohl daher, daß es schwer ist, einem wahrhaft unabhängigen Geist zu folgen. Rücksichten mußte er keine nehmen, weil er nach der Suhrkamp-Zeit in niemandes Sold mehr stand, auch nichts erreichen wollte, außer daß seine Leser oder Hörer vielleicht ein bißchen aufmerksamer würden. In diesem Optimismus blieb er unverbesserlich.
Aber er war auch ein großer Liebender. Er liebte Diderot (nicht Rousseau), Alexander von Humboldt (nicht den für mäßig begabt gehaltenen Bruder Wilhelm) und besaß auch seine entlegensten Schriften, liebte den ihm in der Streitlust ebenbürtigen Gershom Scholem (nicht Buber), liebte Plessner (nicht Adorno), García Marquez (nicht Borges), Proust, Virginia Woolf, Claude Simon, Benn. Über alles liebte er Beckett, mit dem er ›auf Augenhöhe‹ über die Bibel, Antike und Mittelalter, Shakespeare, Barock und die französische Klassik, Swift und Joyce sprechen konnte. Boehlich hat als erster die lebenslange Bedeutung, die Dante für das Werk Becketts hatte, gesehen.
Aggressiv und skeptisch, fragend und nachfragend, zornig und unsentimental, von spröder Herzlichkeit und schroffer Liebenswürdigkeit, begabt mit dem schlagenden Witz eines Swift und wie dieser ein Menschenfreund im Gewand eines Misanthropen – wie kann einer sich ehrlicher dem täglichen Entsetzen stellen?
Seine Freunde seit der gemeinsamen Lektorenzeit bei Suhrkamp bis zu seinem Tod – Karlheinz Braun, Peter Urban, Urs Widmer und ich – wollten seit seinem sechzigsten Geburtstag – in Fünfjahresabständen – Auswahlen aus seinen Schriften zusammenstellen. Er hat das immer abgelehnt – die Sachen seien nur für den Tag geschrieben. Überraschenderweise fanden sich bei der Auflösung seiner Wohnung Pappmäppchen, in denen er Jahr für Jahr das Veröffentlichte oder für den Funk Geschriebene, selbst Interviews, gesammelt hatte. Das alles war also, der eigenen Einschätzung nach, wohl doch nicht nur ›für den Tag‹ geschrieben, sondern wartete auf den Tag, an dem es hervorgeholt werden würde.
Aus dem umfangreichen Nachlaß liegt hier eine Auswahl vor, die das ganze Spektrum seines Wissens, Denkens und Schreibens zeigt. Es ist zu hoffen, daß Walter Boehlich in seiner Einzigartigkeit wieder sichtbar wird. Seine Stelle hat niemand eingenommen.