Dorothee Sölle/Fulbert Steffensky

Wider den Luxus
der Hoffnungslosigkeit

Herausgegeben von Matthias Mettner

KREUZ

Impressum

Titel der Originalausgabe:

Wider den Luxus der Hoffnungslosigkeit

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1995

ISBN 978-3-451-04257-7

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: agentur IDee

Umschlagfotos: © privat

ISBN (E-Book) 978-3-451-34588-3

ISBN (Buch) 978-3-451-61221-3


Inhalt


Dorothee Sölle: Ein Wildfang der Hoffnung
von Fulbert Steffensky

Einleitung

»Ich weiß nicht, worauf ich hoffen soll«

Blamierte Utopien und verkümmerte Visionen

»Ich kann sowieso nichts daran machen«

Todeswissen und ritualisierte Hoffnungslosigkeit

Kultur der Erinnerung

Lebensbilder und Hoffnungsgeschichten

Ein anderer Zugang zur Wirklichkeit

»Gott hat unsere Tränen geweint«

Gottesverflüchtigung

Sehnsucht nach Ganzheit

Glück-Wünsche

Innerlichkeit und Esoterik statt Engagement für die Befreiung?

Wie ernähren wir unsere Träume?

Anhang


Dorothee Sölle:


Ein Wildfang der Hoffnung


Zwei Adjektive wurden bei der Nennung von Dorothee Sölle am häufigsten gebraucht, das eine: die umstrittene Theologin; das zweite: die streitbare Theologin. So wurde sie von vielen wahrgenommen, und so will ich zuerst von ihrer Streitlust reden. Streit steht in christlichen Horizonten nicht hoch im Kurs. Die Bibel warnt oft genug vor Unfrieden und Zank. Paulus behauptet in seinem Hohen Lied der Liebe, dass diese alles erträgt, alles glaubt, alles hofft und alles erduldet. Dieser große Hymnus auf die Liebe ist eines der schönsten Stücke der Bibel. Aber es gibt keine Schönheit, die nicht missbraucht worden wäre. Sie konnte zu einer blutleeren Sanftmut und zu einer fahrlässigen Friedfertigkeit werden. Sie konnte zu einer Vertuschung der Wahrheit aus besten Absichten werden, gelegentlich auch zum Verschweigen der Wahrheit aus Feigheit und Faulheit. Der Prophet Amos war nicht gerade friedfertig, wenn er die verschwenderischen Frauen fette Kühe nennt, die den Geringen Gewalt antun und die Armen schinden (4, 1). Jesus war es nicht, wenn er den Reichen droht, die ihren Trost schon haben und die die Armen ungetröstet lassen (Lukas 6, 24). Die »streitbare Theologin« war es nicht, wenn sie gegen die »hilfreiche Hoffnungslosigkeit« derer kämpft, denen es gut geht und die keine Veränderung anpacken. Ja, sie hat gestritten; gestritten gegen die Trägheit ihrer eigenen Kirche; gestritten gegen die Militarisierung der Gesellschaft und gegen den ungeheuren Waffenexport. Sie war immer irgendwo am Zündeln, in ihrem eigenen Land, in Lateinamerika, in den USA. Ich erinnere mich an einen ihrer großen Zornesausbrüche. Sie hatte das Bild eines zehnjährigen Jungen gesehen, dem eine Streubombe einen Arm und ein Bein abgerissen hat. Streubomben: CBU-105 heißt ein amerikanisches Modell, eine große Bombe, die sich im Flug öffnet, und heraus fliegen vierzig kleine Sprengkörper, rund, etwa von der Größe eines Tennisballs, in der Sprache der Zyniker Bombletten genannt. Lange nach den Kriegen treten Menschen darauf, und sie werden zerrissen. Inzwischen sind die Bomben geächtet. Der Junge aus dem Libanon ist aber immer noch ohne Arm und Bein. Wie hart muss ein Herz sein, das darüber nicht in Wut entflammt!

Dorothee Sölle war ein Mensch der Sorge. Sorge ist eines der mütterlichsten Wörter unserer Sprache. Zu dieser Sorge gehört das Wissen darum, was Menschen angetan wird. Man muss die Stimmen der Kinder hören lernen. Man muss die Stimmen der Frauen hören lernen, die sagen: Mein Mann hat mich mit dem Bügeleisen gebrannt; die sagen: Er hat mich mit den Füßen in den Unterleib getreten; die sagen: Er schreibt mir vor, wohin ich gehen darf oder nicht. Es gibt eine leichtsinnige Unwissenheit, die des Erbarmens nicht fähig ist. Zu dieser Sorge gehören die Empörung, der Aufschrei und die Anklage. Man muss den Mut zur Angst haben über diese Zustände in unserem Land. »Auch den Mut, Angst zu machen!«, sagt Günter Anders, den Dorothee in einem Vortrag zitierte. Ängstige dich und »ängstige deinen Nachbarn wie dich selbst«.

Die Friedensgebete waren ihr wichtig, und wo sie konnte, hat sie daran teilgenommen. Sie wollte aber keinen Frieden, der die Opfer Opfer sein lässt. Es kann keinen Frieden geben, der nicht einhergeht mit dem Recht auf Unversehrtheit für alle. Frieden und Gerechtigkeit sollen sich küssen. Frieden ohne Gerechtigkeit würde den Gewalttätern schon passen. Aber das wäre der Friedhofsfrieden, der die Gräber füllte. Am Recht der Opfer arbeiten, das heißt, den Kuss ermöglichen, in dem Friede und Gerechtigkeit verschmelzen.

Ein eher lustiges Detail ihrer Friedensliebe: Sie hatte ein Foto der Darstellung von Isaaks Opferung aus einer Trierer Apotheke. Isaak liegt gebunden auf dem Opferaltar. Abraham, waffentechnisch schon modern ausgerüstet, zielt mit einem Gewehr auf den gebundenen Isaak. Am oberen Rand des Bildes ist ein Engel zu sehen, der Abraham auf das Gewehr pinkelt. Die Bildunterschrift: »Abraham, du zielst umsunst, ein Engel dir ins Zündloch brunst.« »Diesem Engel der Gewaltlosigkeit müssen wir pinkeln helfen!«, sagte Dorothee.

Den Zorn zu loben ist nicht gerade selbstverständlich. Viel eher lobt man die affektfreie Neutralität, von der man sagt, dass sie den Blick nicht trübt und das Urteil nicht fälscht. Die Behauptung ist falsch, dass man in emotionaler Neutralität ein klareres Urteil habe. Dorothee Sölle hat Recht: »Die größten und perfektesten Mörder in unserem Jahrhundert sind nicht emotional reich begabte und leidenschaftliche Menschen gewesen, sondern affektarme Bürokraten, die emotionsfrei Befehle ausführten.« Die Justitia mit der Binde vor den Augen ist in der Tat blind; sie sieht nicht, wen sie beurteilt und verurteilt. Sie sieht keine Umstände, und sie ist der Empörung nicht fähig. Zorn macht einseitig, und Einseitigkeit öffnet die Augen. Wer ohne Vermutung nach Südamerika fährt, kann wundervolle Strände sehen, betörende Sonnenaufgänge erleben, aber er ist nicht in der Lage, einen Armen zu sehen. Er sieht nicht, wo das Recht verletzt wird. Es gibt eine unerlässliche Voreingenommenheit, die die Augen öffnet. Wenn ich nicht voreingenommen bin von dem Wunsch nach Gerechtigkeit, dann nehme ich das Leiden der Gequälten nicht einmal wahr. Voreingenommenheit ist die Bildung des Herzens, die uns das Recht der Armen vermissen lässt. Ein Urteil zu haben, ist nicht nur die Sache des klugen Verstandes und der exakten Schlüsse, es ist eine Sache des gebildeten Herzens. Das gebildete Herz ist nicht neutral, es fährt auf, wenn es die Wahrheit verraten sieht. Der Zorn ist eines der Charismen des Herzens. Er ist eine der Eigenschaften Gottes, der nicht duldet, dass Menschen verhungern und dass seine Welt gequält wird. Dieser Zorn will niemanden vernichten, wie Gott den Tod des Sünders nicht will. Er will bekehren. Der gerechte Zorn verurteilt die Tat, aber bejaht den Täter und will ihn zur Veränderung locken. Er gibt ihm »das Recht, ein anderer zu werden«, sagt Dorothee Sölle. Sie warnte ihre Kirche vor der fahrlässigen Sanftmut, die der Empörung nicht fähig ist!

In einem kleinen Text, der erst nach ihrem Tod erschien, legt sie einen Vers aus dem Buch der Sprüche aus (16, 7): »Wenn eines Menschen Wege dem Herrn wohlgefallen, so lässt er auch seine Feinde mit ihm Frieden schließen.« Dazu schreibt sie: »Ich habe zeit meines Lebens ein ziemlich schwieriges Problem mit ›meinen Feinden‹ gehabt. Wenn ich irgendwo etwas zur Aufrüstung oder zur Privatisierung des Wassers sagte, kamen immer Zuhörer und meinten, ich habe da wohl ein ›Feindbild‹. Das galt vielen als undemokratisch und blind. Ich meinte dann, Jesus hat nicht gesagt ›Ihr habt keine Feinde‹, das ist liberales Geschwätz. Das Leben hat Feinde, und die 40 000 Menschen, die heute verhungern, wissen das ganz genau. Die Feinde lieben heißt nicht, die Feindschaft verleugnen. Es heißt, im anderen ›das von Gott‹, wie die Quäker so schön und so unbeholfen sagen, zu entdecken. Das Vertrauen darauf, dass es möglich ist, Frieden zu machen, setzt voraus, dass in jedem Menschen, auch im Feind, ein Funke von Gott steckt. Gott bläst den Funken an, und dann sitzen frühere Feinde und heutige Freunde um das Feuerchen herum und erzählen sich Geschichten.«

Ja, Dorothee Sölle war einseitig – produktiv einseitig, wie ich es beschrieben habe. Einseitigkeit öffnet die Augen, aber sie kann auch blind machen. Dorothee hatte ihre Lieblingsfeinde, und sie war geübt darin, diese schwarz zu malen. Überhaupt waren schwarz oder weiß ihre Lieblingsfarben. »Die Experten«, »die Wissenschaftler«, »die Theologen«, »die Journalisten«, »die Amerikaner«, »die Männer« – mit der Nennung dieser Gruppen schien schon alles gesagt. Die Namen waren gelegentlich schon das Urteil über sie. Es fiel ihr oft schwer, sich mit der Widersprüchlichkeit von Situationen, politischen Lagen und Zeitströmungen auseinanderzusetzen. Ihre wundervolle Liebe zur jesuanischen Eindeutigkeit ließ sie manchmal verzwickte, moralisch und politisch unklare Situationen unerlaubt vereinfachen. Sie hatte oft wenig Gefühl für die Tragik einer Situation. Die moralischen Urteile lagen ihr näher, und so hat man ihr nicht selten politischen Moralismus vorgeworfen. In einer Zeit schwindender Moral ist der Vorwurf eher ehrenvoll. Dieser Welt mangelt es ja nicht an »ausgewogenen« Leuten, die manchmal vor lauter Ausgewogenheit nicht zu einem Urteil, geschweige denn zu einem Engagement kommen. Außerdem muss ein Mensch ja nicht alles sein und können. Es gibt kein Charisma, das nicht zugleich seine Macken hat; keine Stärke, die nicht ihre Komik hat. Man konnte ja mit ihr darüber streiten, und das konnte man wundervoll.

Wir haben viel miteinander gestritten. Die Streite waren anstrengend und wunderbar. Nach einer dieser Auseinandersetzungen habe ich ihr »Warnungen an eine Prophetin« geschrieben:

»Prophetin, sei genau in der Beschreibung des Unglücks. Ergötze dich nicht am Panorama des Untergangs, wie es manchmal deine Art ist.

Prophetin, sei kein Streithansel und glaube nicht, dass du jederzeit im Recht bist, nur weil du die richtige Sache vertrittst!

Prophetin, halte dich selber für irrtumsfähig und deine Geschwister für wahrheitsfähig!

Prophetin, sage deine Wahrheit so, dass sie Kritik und Trost in einem ist!

Prophetin, sage deine Wahrheit so, dass sie eine Verlockung zur Lebensschönheit ist. In deinem prophetischen Nein muss das Ja Gottes auftauchen. Halte dich an den Satz von Helder Camara: ›Herr, lehre mich ein Nein sagen, dass nach Ja schmeckt!‹

Prophetin, denke daran, dass deine Wahrheit nicht zu deinem eigenen Schmuck gedacht ist! Es ist die Wahrheit für die Kirche.«

Sie hat mit einem Zettel geantwortet: »Es kann sein, dass es unerlaubte Streite gibt. Aber mehr Angst habe ich vor unerlaubten Versöhnungen.« Warum nenne ich hier die Kritik an einem Menschen, der meiner Stimme nicht mehr antworten kann? Weil ich sie liebe, weil ich sie ehre und achte und weil ich wie sie bei der Wahrheit bleiben will. Dorothee Sölle war eine Frau, die sich gelegentlich irrte, die aber nie gelogen hat. Ich habe nie einen Menschen mit einer größeren Wahrheitsliebe getroffen. Sie war unfähig, sich zu verstellen oder mit einer Wahrheit hinter dem Berg zu halten, auch nicht aus Gutmütigkeit. Zugegeben, manchmal ging sie einem auf die Nerven, wenn sie mit ihrer Wahrheit sofort zur Attacke blies. Erträglich war dies, weil sie selbst alle Attacken ertrug, und diese waren oft bösartig genug.

Nun klingt dies, als sei Dorothee Sölle ein ganzes Leben gepanzert durch feindliche Landschaften geritten. Ein Freund hat sie einmal spottend »unseren Winkelried« genannt. Jener Winkelried hat bei der Schlacht von Sempach in der Schweiz (1386) die Lanzen der habsburgischen Reiter auf seine eigene Brust gezogen und damit den Eidgenossen eine Bresche geschlagen und sie gerettet. Sie wäre unerträglich gewesen, wenn sie nur dieser Winkelried oder nur jene Johanna von Orleans gewesen wäre.

Ich finde in ihrem ersten Tagebuch eine Eintragung vom Silvesterabend 1941, sie war damals 12. Sie überlegt: »Wenn ich jetzt einen Überblick über 1941 mache, dann stellt sich mir oft die Frage: Bist du vorwärts gekommen in diesem Jahr? Hast du viel an dir gefeilt, dass das Böse sich vermindere und das Gute stärker wird?« Dann fasst sie einen Vorsatz in zwei Zeilen (die sie Schiller zuschreibt): »Das Rechte tun, am Schönen sich erfreuen. Das Leben lieben und den Tod nicht scheuen.« Sie war ein unglücksfähiger und ein glücksfähiger Mensch. Freude und Glück sind Grundwörter in ihren Texten.