Cover

Michael Böckler

Mord mit drei Sternen

Ein neuer kulinarischer Fall für Hippolyt Hermanus

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Michael Böckler

Michael Böckler ist Journalist und Mitinhaber einer Gesellschaft für Kommunikationsberatung in München. Sein Konzept, touristische Informationen in einen spannenden Roman zu integrieren, hat er bereits erfolgreich in den Büchern »Sturm über Mallorca«, »Wer stirbt schon gerne in Italien?« und »Nach dem Tod lebt es sich besser« umgesetzt. Mit dem vorliegenden Roman setzt er die kulinarischen Fälle um Hippolyt Hermanus fort, der erstmals in »Sterben wie Gott in Frankreich« aktiv wurde.

Über dieses Buch

Ein Roman aus der (mörderischen) Welt der deutschen Sternegastronomie

Ein Sternekoch trinkt im Rheingau ein letztes Glas Riesling und stürzt sich vom Kirchturm. Ein italienischer Gourmetjournalist fürchtet sich vor Pfälzer Saumagen. Und in München kämpft ein Edelrestaurant um den dritten Stern – mit allen Mitteln.

Hippolyt Hermanus ermittelt in einem Fall, in dem nicht nur gut gekocht und fein gegessen, sondern auch bizarr gemordet wird. Seine kulinarischen Recherchen führen durch die Küchen deutscher Spitzengastronomie – von München über Sylt bis nach Berlin.

Mit Deutschlands wichtigsten Köchen und Edelrestaurants im Anhang, Rezepten von Sterneköchen und einem Führer durch alle deutschen Weinbauregionen.

Impressum

eBook-Ausgabe 2010

Knaur eBook

© 2009 Droemer Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Dr. Gisela Menza

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Gettyimages / Stone / Monica Rodriguez

ISBN 978-3-426-40161-3

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Fußnoten

1

Amador ist mittlerweile von Langen nach Mannheim umgezogen. Siehe Amador im Anhang.

Für meine geliebte Verena!

Aperitif

Der Aperitif soll den Appetit anregen, er öffnet die Sinne und lockt den Gaumen. Er begleitet aufs angenehmste das beschwingte Studium der Speisekarte – in freudiger Erwartung der kulinarischen Genüsse, die da kommen mögen. Auch vor der Lektüre dieses Buches wäre ein Aperitif durchaus empfehlenswert. Wie wäre es mit einem Glas fein perlendem Riesling-Sekt? Ein Aperitif macht es womöglich leichter erträglich, dass auf den folgenden Seiten viel gegessen wird und getrunken. Und er könnte verhindern, dass einige ungustiöse Szenen auf den Magen schlagen. Aber natürlich, es geht auch ohne.

Im übertragenen Sinne ist auch dieses kurze Vorwort ein Aperitif. Es soll auf die Lektüre einstimmen und vorab einige geschmacksanregende Informationen geben. Der Roman spielt in der Welt der Sterneköche, der Feinschmecker, Weinliebhaber und Restaurantkritiker. Es wird gekocht, gespeist, gekostet – aber es kommen auch Menschen zu Tode, es wird intrigiert, erpresst, betrogen und hintergangen. Kurzum, die Zutaten für diesen kulinarischen Kriminalroman sind mit Liebe ausgewählt, die Geschmacksnoten reichen von süß über sauer bis bitter. Die beschriebene Verwendung mancher Küchenutensilien (wie Messer und Pfannen) verdient den Hinweis: Nicht zur Nachahmung empfohlen!

Einige Protagonisten in diesem Roman haben seltsame Ansichten: Sie betrachten die deutsche Küche abfällig durch die italienische Brille, entwickeln Aggressionen gegen Fernsehköche, verachten Restaurantkritiker und Journalisten, schimpfen auf Restaurantführer, machen sich über Promis lustig, die sich eines privilegierten Lebens erfreuen … Dem Autor ist es ein dringendes Anliegen, darauf hinzuweisen, dass despektierliche Auslassungen dieser Art allein dem Unterhaltungswert des Romans dienen und weder seine persönlichen Ansichten widerspiegeln noch etwas mit der Realität zu tun haben – zumindest in den allermeisten Fällen. Infolgedessen ist bei diesem fiktionalen Buch der obligatorische Hinweis besonders wichtig, dass die Handlung frei erfunden ist und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen rein zufällig und unbeabsichtigt wäre.

Schon beim Aperitif sollte klarwerden, dass sich der folgende Roman nicht allzu ernst nimmt und danach trachtet, selbst angesichts hingemeuchelter Menschen eine ironische Distanz zu bewahren. Gleichwohl sind dem Schreiben intensive Recherchen vorangegangen, aufopferungsvolle Restaurantbesuche und Weinverkostungen, konzentrierte Erkundungen in Profiküchen und Weinbergen, investigative Gespräche mit Spitzenköchen und leidenschaftlichen Gourmets. Die daraus resultierenden Erkenntnisgewinne schlagen sich nicht nur im Roman nieder, sondern auch im angehängten kulinarischen Supplement. In diesem gibt es einen Überblick über die bekanntesten Sterne- und Szenerestaurants in deutschen Landen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit), werden hundert der besten Köche beim Namen genannt, gibt es einen kompakten Weinführer durch alle Anbaugebiete, mit den bekanntesten Weingütern, mit Erläuterungen von Rebsorten und den Begrifflichkeiten der deutschen Weinkultur.

Es lohnt also, zwischen Mord und Totschlag gelegentlich im Supplement nach dem Rechten zu sehen. Und noch ein Hinweis: Da das Aufkommen von Hungergefühlen beim Lesen des Romans zu den erwünschten Nebenwirkungen zählt, gibt es im Anhang für schöpferische Pausen ganz besondere Rezepte zum Nachkochen – sie stammen nämlich ausnahmslos von Sterneköchen! Der Autor möchte sich bei ihnen auch an dieser Stelle sehr herzlich dafür bedanken, bei Juan Amador, Mario Gamba, Johannes King, Sven Messerschmidt, Alfons Schuhbeck, Anibal Strubinger und Harald Wohlfahrt.

Beim Aperitif sollte man nicht allzu lang verweilen. Nur noch eine finale Bitte: Der Roman spielt zum großen Teil in Deutschland – etwa in München, auf Sylt und in Berlin. Also dort, wo auch viele Leser zu Hause sind und sich im Zweifelsfall viel besser auskennen als der Autor. Bei etwaigen Fehlern bittet er diese zu entschuldigen und um diskrete Benachrichtigung zwecks späterer Korrektur.

Es ist so weit, das Glas mit dem Aperitif ist leer, die Aromen haben sich verflüchtigt – es wird höchste Zeit für den Gruß aus der Küche!

Amuse bouche

Ein süßlicher Duft, der an Honig erinnerte. Reife Fruchtaromen. Aprikose, Mango, Ananas. Dazu ein verführerischer Schmelz … Sein Leben war voller Enttäuschungen. Aber dieser Wein hier, wenigstens der hielt, was er sich von ihm versprochen hatte. Eine Trockenbeerenauslese vom Riesling. Nein, natürlich nicht irgendeine, sondern ein Kiedricher Gräfenberg. Sündhaft teuer. Eigentlich unbezahlbar. Aber das spielte keine Rolle. Nicht heute, an diesem Tag des Abschieds.

Er hob das Glas, sah hindurch, drehte und schwenkte es, beobachtete die Schlieren, die ihm wie bernsteinfarbene Tränen erschienen. Als ob auch dem Wein zum Heulen wäre. Eine Trockenbeerenauslese konnte besonders schöne Tränen vergießen. Sie tat das stellvertretend für ihn. Er selbst würde klaren Auges bleiben. Das hatte er sich fest vorgenommen. Noch einmal ließ er den betörenden Duft in die Nase steigen. Der Apfel war ihm entgangen. Natürlich, ganz unverkennbar. Waren das die Aromen eines Bratapfels? Er sah sich in der Küche stehen, mit einem kraterförmigen Schnitt die Blüte und das Kerngehäuse entfernen, den ausgehöhlten Apfel mit in Rum getränkten Sultaninen füllen, etwas Marzipan, darauf einen Teelöffel Zucker, gemischt mit etwas Zimt, eine Messerspitze Butter, bei hundertachtzig Grad auf der Mittelschiene in den Ofen … Fast musste er lächeln. Ein Bratapfel? Wann zum Teufel hatte er zum letzten Mal einen Bratapfel gemacht? Er konnte sich nicht erinnern.

 

Kurzentschlossen nahm er einen letzten Schluck, schob den Stuhl zurück und stand auf. Dem herbeieilenden Kellner drückte er einige Geldscheine in die Hand, klopfte ihm auf die Schulter, murmelte ein »stimmt schon« – und verließ schnellen Schrittes die Weinstube. Der Kellner sah dem Gast verwundert hinterher. So viel Trinkgeld hatte er noch nie bekommen.

Draußen angelangt, blieb er kurz stehen, blinzelte, setzte sich eine Sonnenbrille auf. Er lief über das alte Kopfsteinpflaster hinunter zum Rheinufer. Dort hielt er kurz inne. Er folgte mit den Augen einem vorbeitreibenden Ast. Er blickte hinüber auf die andere Seite des Flusses, hinauf zur mächtigen Burg, die aussah wie auf einer Postkarte. Dann gab er sich einen Ruck. Er war nicht hier, um die touristischen Attraktionen des Rheintals zu bestaunen. Den Felsen der Loreley, die Statue der Germania, die Zisterzienserabtei Eberbach, die Burgen, Schlösser und Festungen … Sie würden auf seine Ehrerbietung verzichten müssen.

Er wendete dem Fluss den Rücken zu und schritt hinüber zur Pfarrkirche. Es interessierte ihn nicht, dass sie in Reiseführern als herausragendes Beispiel rheinischer Sakralbaukunst gepriesen wurde. Viel wichtiger war, dass er nicht nur die Kirchentür unverschlossen vorfand, sondern auch die Pforte, durch die man in den Glockenturm gelangen konnte. Er war schon mal hier gewesen. Einige Wochen erst war das her. Auch damals hatte ihn niemand gestört. Ganz so wie heute. Er war allein.

Langsam zog er die hölzerne Tür hinter sich ins Schloss. Was war ihm damals alles durch den Kopf gegangen? Er wusste es noch genau: Hier an dieser Stelle hatte er an Carpaccio vom Thunfisch gedacht, natürlich mit Limonenschaum. Einige Schritte weiter an gebratene Gänseleber auf mariniertem Zwiebellauch. Und da vorne, auf der ersten Stufe der Treppe, da hatte er an den widerwärtigen Gourmetkritiker gedacht, der diese beiden Gerichte als »kulinarisch uninspiriert« beschrieben hatte, der sich in einem renommierten Feinschmeckermagazin über seine »abgeschlafften Kochkünste« lustig gemacht hatte. Er hätte diesen Schmierenschreiber erwürgen können! Damals wie heute. Aber nicht nur ihn.

Der Tester eines renommierten Restaurantführers hatte geschrieben, dass seine verkochte Seezunge wohl »aus Schamgefühl in einer ebenso tiefen wie geschmacksneutralen Hummersauce« versunken sei. Allzu gerne hätte er den guten Mann in selbiger Hummersauce ertränkt. Und der Guide Michelin? Erst hatte man ihm den einen Stern genommen, dann den anderen. Er hatte keine Ahnung, wer dafür die Verantwortung trug, aber wenn es ein Franzose war, dann hätte er ihm gerne die Ehre einer Guillotine erwiesen. Der eine verliert einen Stern, der andere seinen Kopf! Pardon, Monsieur, c’est la vie. Vive la France!

Er spürte, wie sein Blut in Wallung geriet. Aber das machte nichts, im Gegenteil, das war gut so. Die steilen Stufen im Glockenturm strengten ihn an. Er musste einige Male stehen bleiben, um zu Atem zu kommen. Diese präpotenten Restaurantkritiker hatten doch keine Ahnung. Sich an den gedeckten Tisch setzen und mit spitzer Feder einen Steinbutt an Safransauce zu sezieren, das war nun wirklich keine besondere Leistung, weder körperlich noch intellektuell. Die aufreibende Tätigkeit eines Spitzenkochs würde diese Herren und Damen nach spätestens einer Woche in den frühen Herztod treiben. Exitus, finito! Schön wär’s!

Ihm fiel ein Koch aus dem 17. Jahrhundert ein, François Vatel, der geniale Küchenmeister des Prinzen von Condé. Er hatte sich wegen einer verspäteten Fischlieferung das Leben genommen. Mit dem Degen, nicht mit dem Filetiermesser. Zu groß war die Anspannung gewesen, zu übermächtig der Wunsch nach unbedingter Perfektion. Ein Fisch, der zu spät geliefert wurde? Bei einem Festmahl zu Ehren des Sonnenkönigs Ludwig XIV.? Grande catastrophe! Rien ne va plus! Würde sich ein Gourmetkritiker umbringen, weil ihm einige Zeilen nicht rechtzeitig einfielen, quasi Verspätung hätten – so wie Vatels Fischlieferung? Na also!

Nur noch einige Stufen, gleich war er am Ziel. Waren sich diese Schleimschmecker überhaupt ihrer Verantwortung bewusst? Woher nahmen sie das Recht, als Scharfrichter über Leben und Tod zu entscheiden? Ja, über Leben und Tod! Wie vor einigen Jahren beim Kollegen Bernard Loiseau aus dem burgundischen Saulieu. Nach einer Abwertung durch den Gault Millau und aus Angst davor, im Guide Michelin einen seiner drei Sterne zu verlieren, hatte sich Loiseau mit seinem Jagdgewehr das Leben genommen. Puff, peng, aus! Dafür hatte sich der arme Mann zehn Jahre keinen Urlaub gegönnt und tagaus, tagein in der Küche geschwitzt und um Höchstleistung gerungen. Paul Bocuse hatte recht: Restaurantkritiker sind wie Eunuchen. Sie wissen, wie es geht – aber sie können es nicht!

 

Mittlerweile hatte er die oberste Etage erreicht. Er trat hinaus auf den schmalen Balkon des Glockenturms, umklammerte das schmiedeeiserne Geländer. Statt den überwältigenden Blick aufs Rheintal zu genießen, erweiterte er in Gedanken den Kreis der Menschen, denen er die Schuld für seine hoffnungslose Situation gab. Herzlose Filialleiter von Banken zählten dazu, die den Geldhahn abdrehten, wenn man ihn am nötigsten brauchte. Dann gab es eine Spezies eitler Finanzsäcke, die nur so tat, als ob sie einem helfen wollte – um einen schließlich kaltlächelnd abzuservieren. Und es gab Frauen, die ihren Partnern nicht treu waren, die bereitwillig ihr Herz gegen eine goldene Kreditkarte eintauschten. Solche Frauen gab es. Mit einer hatte er das Bett geteilt.

Er spürte, dass nun doch Tränen über seine Wangen liefen, ganz so wie bei der Trockenbeerenauslese, nur nicht so süß. Nein, bittere Tränen des Selbstmitleids, Tränen der Wut und der Verzweiflung. Und Tränen des Abschieds. Er kletterte über das Geländer, das nicht hoch war. Er fand einen unsicheren Stand auf dem schmalen Mauersims davor. Noch hielt er sich mit einer Hand im Rücken fest. Er wagte nicht, nach unten zu sehen. Schon als Kind hatte er Angst vor der Höhe gehabt. Er schloss die Augen – und entschied sich, nicht länger zu warten. Er löste die Finger vom Geländer, nahm beide Hände nach vorne, blieb so einige Sekunden schwankend stehen. Von unten hörte er aufgeregte Stimmen, aber er war nicht mehr bereit zu hören. Nicht mehr bereit zu leben. Er machte einen Schritt nach vorne. François Vatel, Bernard Loiseau, ich komme …

1

Fast hätte Hippolyt Hermanus das Treffen zum Mittagessen verpasst. Nicht deshalb, weil er vergessen hatte, auf die Uhr zu schauen. Er hatte überhaupt keine Uhr, jedenfalls keine Armbanduhr. Aber dass heute Mittwoch war, das war ihm völlig entgangen. Wenn er zurückgezogen in der Toskana lebte, hatten die Wochentage keine Bedeutung. Er schätzte es, sich einfach treiben zu lassen. Irgendwann am späten Vormittag lief er hinunter in den Ort, um sich eine Tageszeitung zu kaufen und in der Bar Centrale zu frühstücken. Gab es keine Zeitung und die Dorfbewohner waren fein gekleidet, wenn dann noch die Kirchenglocken läuteten, dann wusste er, es war Sonntag. Diese zeitliche Orientierung schien ihm in Phasen des gepflegten Durchhängens völlig ausreichend.

Als ihm Franco in der Bar Centrale vor einer knappen Stunde den Cappuccino hingestellt hatte, war ihm der vorbeifahrende Müllwagen aufgefallen. Beim ersten Biss in das Butterhörnchen, das hier Cornetto hieß, hatte er darüber nachgedacht, dass der Müllwagen immer mittwochs kam. Beim zweiten Biss hatte er sich an eine mittägliche Essensverabredung erinnert, akkurat an einem Mittwoch. Und mit Blick auf die Uhr über der Bar hatte er festgestellt, dass er es kaum mehr schaffen würde, pünktlich zu sein.

Dann hatte Hipp etwas getan, was er zutiefst verabscheute, er hatte sich beeilt. Er hatte den Cappuccino ausgetrunken und sich vom Briefträger zu seinem Haus fahren lassen. Die Batterie seiner alten geliebten Giulietta Spider hatte er rasch angeschlossen, noch schnell die Hände gewaschen, dann war er losgefahren. Ohne sich groß umzuziehen, in verblichenen Jeans, Poloshirt und Tennisschuhen. Die langen Haare mit einem Gummi zum Pferdeschwanz gebunden. Das Verdeck des Alfa geöffnet, mit dunkler Sonnenbrille, den tiefen Sound der Auspuffanlage im Ohr.

 

Jetzt fuhr er im Schritttempo durch einen Pinienwald, wich einigen leichtbekleideten Fußgängern aus, die Badetaschen, Sonnenschirme und Liegen schleppten. Schließlich hielt er am Strand hinter einer barackenähnlichen Hütte – neben einem Ferrari mit Aufkleber eines Bologneser Autohauses. Hipp musste schmunzeln. Matteo, mit dem er verabredet war, fuhr immer die exklusivsten Autos, ohne aber je eines zu besitzen.

Hipp wurde vom Wirt mit Handschlag begrüßt. Sein Freund warte schon auf ihn. Von innen war das La Pineta alles andere als eine schlichte Strandbude. Nicht zu Unrecht galt es unter Feinschmeckern und Fischliebhabern als Geheimtipp. Das wusste auch Matteo, natürlich wusste er das, wohl keiner kannte sich in der italienischen Gastronomie so gut aus wie er. Matteo Pergustino war Herausgeber bei einem großen Verlag in Bologna, der sehr erfolgreich Gourmetzeitschriften, vor allem aber Restaurant- und Weinführer publizierte. Matteo stand auf, die Stoffserviette im Kragen. »Hipp, caro amico«, rief er unbekümmert durchs Lokal, »du bist spät dran, die göttlichen Vongole hast du bereits versäumt. Komm her, lass dich umarmen!«

Der Bellavista perlte ins Glas, Spaghetti mit Scampi wurden serviert. Matteo erzählte von einer Weinverkostung im nahe gelegenen Bolgheri. Hervorragende Jahrgänge vom Sassicaia habe es gegeben, exquisiten Ornellaia … Und danach habe er in San Vincenzo bei Fulvio Pierangelini gegessen, magnifico, meraviglioso … Übrigens, in Turin sei ein trendiges Lokal eröffnet worden, in einer ehemaligen Fabrik … Und in Rom, die neue Kunstgalerie, er habe sicher davon gelesen, die Frauen, er müsse sich das vorstellen, die römischen Signorine würden immer schöner … Aber die Premiere von Verdis Nabucco an der Mailänder Scala, eine einzige Katastrophe …

»Du kannst dich glücklich schätzen, du führst ein privilegiertes Leben«, stellte Hipp fest. Eine schwache Opernpremiere könne man wohl in Kauf nehmen. Wenn er sonst keine Probleme habe.

Nein, da täusche er sich, fiel ihm Matteo ins Wort. Erstens sei Giuseppe Verdi nun mal ein italienischer Mythos, missratene Inszenierungen seien infolgedessen völlig inakzeptabel, erst recht an der Scala. Und zweitens habe er sehr wohl Probleme, deshalb seien sie ja hier. Er wolle mit Hipp darüber sprechen.

»Probleme?«

»Ja, sehr ernste Probleme. Ich befinde mich seit einigen Tagen in einer tiefen Lebenskrise. Ich habe Depressionen, Schweißausbrüche, Sodbrennen, verspüre Übelkeit …«

»Das klingt nicht gut, du solltest zum Arzt gehen.«

»Der kann mir auch nicht helfen.«

»So schlimm ist es?«

Matteo nickte bestätigend. »Ja, so schlimm ist es. Es hat mit meiner Arbeit zu tun. Du bist meine letzte Hoffnung.«

Hipp schmunzelte. »Ich kenne dich, du neigst zu hemmungsloser Übertreibung. Ich hoffe, das trifft auch diesmal zu.«

»Schön wäre es. Allora, du sollst es erfahren. Hier, heute und jetzt! Mein Verlag hat mich beauftragt, einen neuen Restaurant- und Weinführer herauszugeben. So, nun weißt du es!«

Hipp sah seinen Freund ratlos an. »Aber das ist doch dein Job?«

»Nein, ist es nicht. Ich gebe nur zwei Stichwörter: Pfälzer Saumagen und Kröver Nacktarsch!«

»Saumagen und Nacktarsch? Heißt das …?«

»Ja, genau das heißt es. Ich soll einen Restaurantführer und Weinguide für Deutschland herausgeben. Ich, Matteo Pergustino, einziger Sohn einer schönen Neapolitanerin und eines Avvocato aus Bologna. Überragender Kenner der italienischen Küche, hochangesehener Herausgeber eines berühmten italienischen Restaurantführers. Hipp, du bist mittlerweile ein halber Italiener. Bei allem Respekt vor deiner Heimat, aber ich hoffe, du verstehst, was das für mich bedeutet. Was habe ich verbrochen, dass ausgerechnet ich einen neuen deutschen Restaurantführer aus der Taufe heben soll? Warum gerade ich?«

Hipp verkniff sich ein Lächeln. »Vielleicht, weil du Deutsch sprichst?«, merkte er vorsichtig an.

»No, no, solamente pochissimo …«, dementierte Matteo.

»Doch, ziemlich gut, ich weiß das.«

»Eine Laune des Schicksals, ich hatte mal eine deutsche Freundin …«

»Hast du nicht in Berlin studiert?«

»Zwei Semester, stimmt. Aber das ist lange her.«

Jetzt musste Hipp doch lachen. »Matteo, mein Freund, du wirst es überleben. In Deutschland kann man hervorragend essen, und es gibt ausgezeichnete Weine.«

Matteo sah ihn skeptisch an. »Das soll ich glauben? Warum lebst du dann in Italien?«

»Vielleicht ist es das Wetter, ich mag die Menschen …«

»Das Wetter, die Menschen. Na siehst du, es wird immer schlimmer.«

»Matteo, du täuschst dich. Außerdem wüsste ich nicht, wie ich dir helfen könnte. Soll ich deinen Verleger erschießen?«

Matteo nickte. »Das wäre eine gute Idee. Was willst du zum Dessert? Fragole all’aceto? Semifreddo? Zabaione?«

»Gibt es alles auch in Deutschland!«

»Aber ich soll keinen Führer über italienische Lokale in Deutschland herausbringen, das wäre leicht. Nein, der Guide soll in Italienisch erscheinen, in Englisch, Russisch und Japanisch. Kein Guide Michelin oder Gault Millau, die gibt es schon, sondern ein ultimativer Gourmetreiseführer für ausländische Gäste. Du weißt schon, wir leben im Zeitalter der Globalisierung.«

»Wenn wir davon Abstand nehmen, deinen Verleger zu erschießen, was kann ich dann für dich tun?«, fragte Hipp.

»Du kannst mir beim Recherchieren helfen. Du bist mein Freund, du bist Deutscher, du bist ein überragender Weinkenner, du hast gute Kontakte …«

»Allzu viele Kontakte habe ich nicht mehr. Und ich bin kein Journalist!«

»Natürlich nicht. Journalisten gibt’s genug. Ich brauche seelischen Beistand, ich brauche jemanden, der mich bei meinen Reisen begleitet …«

»Eine schöne Frau wäre dafür besser geeignet.«

Matteo gab Hipp einen freundschaftlichen Boxhieb. »Hai ragione. Das habe ich mir auch schon überlegt. Aber du verstehst mehr von Wein. Und wer weiß, vielleicht lernen wir eine kennen, besser zwei.«

Hipp schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Matteo, aber ich bin kein Spezialist für die gehobene Gastronomie in Deutschland. Ein paar Lokale kenne ich, das schon. Aber ich brauche für mein Glück keine Restaurants, in denen nur geflüstert wird, auch kein siebengängiges Degustationsmenü mit feinem Porzellan und silbernem Besteck. Und beim Recherchieren für ein Buch zu helfen, das ist nun mal überhaupt nicht mein Metier …«

»Gerade deshalb solltest du es dir überlegen. Ich bezahle dich dafür, wir reisen etwas herum, du kannst meinetwegen den kompletten Weinführer verantworten, wir gehen ganz entspannt zum Essen, auf Kosten des Verlages, suchen uns qualifizierte Autoren. Und es gibt ausnahmsweise keine Verbrechen, die du aufklären müsstest, es gibt keine Leichen – nur in Form toter Wachteln und zartrosa gebratener Lammfilets.«

»Das hast du schön formuliert. Das mit den Leichen wäre ein Argument. Jedenfalls habe ich schon schlechtere Angebote bekommen, grazie mille. Aber ich liege gerne in meiner Hängematte, lese ein Buch, höre Musik …«

»Du kannst doch dein Leben nicht in der Hängematte verbringen! Ich sag dir was: Mit dem Job hilfst du mir, und ich helfe dir. Wir können uns ja darauf verständigen, dass du nächste Woche nach Bologna in die Redaktion kommst. Dann begleitest du mich wenigstens bei der ersten Orientierungsfahrt nach Deutschland. Und dann sehen wir weiter. Was hältst du davon?«

»Culo nudo!«

»Wie bitte?«

»Culo nudo, auf Italienisch klingt Nacktarsch doch gar nicht so schlecht? Außerdem ist das eine geschichtsträchtige Weinlage an der Mosel. Zu neunzig Prozent mit Riesling bestockt …«

»Ich wusste doch, du kennst dich nicht nur beim Chianti aus. Bist du einverstanden?«

Hipp gab sich einen Ruck. »Einverstanden! Aber nur das reduzierte Programm. Bei der ersten Tour spiele ich Reiseleiter und bringe dir die Hochgenüsse deutscher Koch- und Weinkunst näher.«

Matteo hielt die flache Hand hoch. »Perfetto!«

Hipp schlug ein. »Geht’s dir jetzt besser?«, fragte er.

»Viel besser. Wir sollten einen Grappa bestellen, den besten, den Luciano hat.« Matteo dachte nach. »Übrigens gibt’s in Gavi als regionale Spezialität Ravioli a culo nudo!«, fiel ihm ein.

»Gefüllte Teigtaschen auf Nacktarsch-Art?«

Matteo sah Hipp entsetzt an. »So würde man auf Deutsch dazu sagen?«

Hipp zuckte mit den Schultern. »Wohl eher nicht, aber das wäre die wörtliche Übersetzung.«

»Grauenvoll. Ich würde sie nicht bestellen.«

2

Rufus Martinek parkte den Jaguar mit blockierenden Rädern vor seiner Villa im Münchner Nobelvorort Grünwald. Er stürmte ins Haus, warf den Wagenschlüssel auf den Tisch, eilte durch die aufgeschobene Terrassentür in den Garten, entdeckte seine Frau auf einer Sonnenliege am Pool, drückte ihr grußlos ein Magazin in die Hände, um schließlich erschöpft in einen Korbsessel zu sinken.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Cora. »Ist was passiert? Ich bekomm keinen Kuss, und du hast einen roten Kopf.«

»Den roten Kopf habe ich, weil ich offen gefahren bin.«

»Aber du bist stinkesauer, das merke ich doch.«

»Stimmt, das bin ich.« Rufus löste den Krawattenknoten und zog die Schuhe aus. »Brauchst nur in das Journal zu schauen, dann weißt du auch, warum. Ich könnte sie alle umbringen.«

»Wen willst du umbringen, mein Schnuckelbär?«

»Anfangen würde ich mit dem Journalisten, der dieses blödsinnige Ranking verzapft hat. Die hundert besten Lokale in Deutschland! Und auf welcher Position ist mein Palladio? Auf einem jämmerlichen siebenundzwanzigsten Platz. Das ist grotesk, absurd …«

»Nun beruhig dich wieder …«

»Ich denke nicht daran. Ich habe mit Tobias Lauterer einen Spitzenmann in der Küche. Mein Lokal hat zwei Sterne im Guide Michelin, drei Kochmützen im Gault Millau, unzählige Bestecke, Kochlöffel und Diamanten – und dann auf Platz siebenundzwanzig. Der Journalist hat doch einen Vollschuss.«

»Soll ich dir was zu trinken bringen? Vielleicht einen Prosecco?«

»Nein, vielen Dank. Platz siebenundzwanzig, das ist völlig inakzeptabel. Ich habe mit Computersoftware Millionen verdient …«

»Ich weiß, mein Schnuckelbär!«

»… und ich gönne mir aus Leidenschaft ein eigenes Spitzenrestaurant. Andere haben eine Rennyacht oder eine Insel in der Karibik, ich besitze ein Restaurant. Aber ich gebe kein Heidengeld aus, um auf Platz siebenundzwanzig zu landen. Außerdem muss endlich der dritte Stern her und die vierte Kochmütze. Punktum. Ein Martinek macht keine halben Sachen. Ich bin auf Erfolg programmiert, will immer das Maximum.«

»Deshalb hast du mich zur Frau.«

»Du bist ganz schön selbstbewusst«, stellte er fest.

»Natürlich, da geht es mir nicht anders als dir.«

»Jedenfalls werde ich jetzt einen Gang höher schalten. Das Niveau vom Palladio ist absolute Weltklasse, wir sind auf Augenhöhe mit einer Schwarzwaldstube in Baiersbronn, mit dem Vendôme in Bergisch Gladbach oder dem Sonnora in Wittlich. Wenn dies von den ignoranten Gourmetkritikern nicht erkannt wird, dann muss man ihnen kräftig in den Arsch treten! Ich kann’s auch weniger drastisch formulieren: Corriger la fortune! Das war ein Wahlspruch von Friedrich dem Großen. Und der hat immerhin zwölf Schlachten gewonnen.«

»Corriger la fortune? Wie stellst du dir das vor? Glaubst du allen Ernstes, du könntest die Restaurantführer und die Feinschmeckerpresse bestechen?«

Rufus nickte. »Ja, genau das glaube ich. Warum soll es in dieser Branche anders zugehen als sonst wo im Business? Wer denkt, dass alles mit rechten Dingen zugeht, der ist naiv. Naiv und blöd!«

Cora schüttelte den Kopf. »Dass immer nach den Regeln gespielt wird, glaube ich zwar auch nicht. So gesehen bin ich weder naiv noch blöd.«

»Ich hab doch nicht dich gemeint.«

»Aber wie du weißt«, fuhr Cora fort, »habe ich aus meinem früheren Leben leidvolle Erfahrungen mit Restaurantbewertungen. Du spielst mit deinem Palladio ganz oben in der Champions League, da wird nichts mehr geschoben, jedenfalls nicht gegen cash.«

Rufus stand auf. »Ich werde dir das Gegenteil beweisen. Die erforderlichen Weichen habe ich längst gestellt. Nur spuren noch nicht alle. Jetzt wird der Einsatz verdoppelt. Und es gibt einige Pappenheimer, die werden mich von einer anderen Seite kennenlernen.« Er deutete auf das Magazin. »Diesen Chefredakteur werde ich mir als Erstes greifen. Platz siebenundzwanzig! Wie kann der so was durchgehen lassen. Hat wohl zu viel Gänsestopfleber gegessen, und die Blähungen haben ihm das Hirn vernebelt.«

»Aber Schnuckelbär …«

»Und sag nicht immer Schnuckelbär zu mir! Ich hasse das!«

3

Hipp stand barfuß im Weinkeller seines toskanischen Bauernhauses. Der Boden war aus festgestampfter Erde, die Regale aus altem Holz, einige ungeöffnete Weinkisten dienten als Sitzgelegenheit. Elektrisches Licht gab es nicht, dafür standen reichlich Kerzenleuchter herum, die bei Bedarf für eine stimmungsvolle Atmosphäre sorgten. Sabrina, mit der er eine lose, gleichwohl intensive Beziehung pflegte, jedenfalls bis vor kurzem, hatte sich gerne mit ihm hierher zurückgezogen. Sie hatten Kissen mitgenommen, ein Tablett mit Gläsern, mit toskanischem Bauernbrot, mit Parmaschinken, altem Parmesan und Oliven. Dann hatten sie alle Kerzen angezündet und ganze Batterien von Flaschen entkorkt, hatten die Weine schluckweise verkostet, hatten über die Duftnoten philosophiert, über den Eindruck am Gaumen und über den Abgang. Sie hatten sich zugeprostet, sich Parmesanstücke in den Mund gesteckt, hatten gelacht – auch mal geweint.

Und heute? Heute stand er alleine hier unten. Ob Sabrina so bald wiederkommen würde? Er hatte seine Zweifel. Nicht, weil sie sich entzweit hätten, nein, das war nicht der Grund, noch nicht. Vielmehr war ihr Vater gestorben, schon vor einigen Monaten. Roberto Valentino war ein angesehener Winzer im amerikanischen Napa Valley. Hipp war mit Sabrina zur Beerdigung nach Kalifornien geflogen, schließlich war Roberto ein alter Freund. Und dann war Sabrina einfach drüben geblieben. Er hatte es geahnt. Irgendwer musste ja die Führung der großen Weinkellerei der Familie übernehmen. Und Sabrina war dafür mehr als qualifiziert.

Der Abschied war ihnen schwergefallen. Sabrinas Vorschlag, einfach zu ihr nach Kalifornien zu ziehen, hatte er abgelehnt. Obwohl es ihm im Napa Valley gefiel, konnte er sich mit dem Gedanken nicht anfreunden, auf längere Zeit dort zu leben, erst recht nicht für immer. Er kam sich vor wie ein Rebstock, der nicht umgepfropft werden wollte. Er hatte zwar keine wirklichen Wurzeln, er fühlte sich genauso wohl in Frankreich wie in Italien oder Spanien. Auch sprach nichts Grundsätzliches gegen Deutschland – höchstens das oftmals schlechte Wetter und die miese Laune vieler Menschen. Deshalb liebte er den mediterranen Raum, hier waren auch die Winter erträglich, hier waren die Leute besser drauf, es gab gute Weine und eine leichte Küche. Ob er Tapas bestellte, Antipasti oder ein Horsd’œuvre, das war ihm so ziemlich egal. Wobei ihm zugutekam, dass er ohne Probleme zwischen den Landessprachen wechseln konnte. Kurzum, er fühlte sich als überzeugter Europäer mit einer Präferenz für den sonnigen Süden.

Hipp nahm eine Flasche aus dem Regal und betrachtete das Etikett. Ein Brunello aus Montalcino, ein Spitzenweingut, beste Lage, erstklassiger Jahrgang. Den Wein hätte auch Sabrina gemocht, immerhin hatte sie fast zwei Jahre in Montalcino gearbeitet. Aber gerade deshalb verspürte er keine Lust, diese Flasche zu entkorken. Wenn Sabrina fortan in Amerika lebte, dann würden sie sich nur noch selten sehen, so viel war klar. Sie hatten sich zwar versprochen, sich einmal im Monat zu besuchen, abwechselnd in Kalifornien und in der Toskana. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass das wirklich funktionierte – jedenfalls nicht über einen längeren Zeitraum. Dennoch, das Leben war voller Überraschungen, man würde sehen.

Hipp erinnerte sich, warum er in den Weinkeller gegangen war. Ob er auch deutsche Weine in den Regalen hatte? Er war sich nicht sicher, viele waren es bestimmt nicht. Das Angebot von Matteo hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt, vielleicht hatte er deshalb spontan und ohne nachzudenken zugesagt. Matteo bei den Recherchen für einen deutschen Gastronomie- und Weinführer zu helfen war nun wirklich nicht sein Ding. Er ermittelte gelegentlich in Betrugsfällen, vor allem, wenn es um Wein ging. Das war okay, da kannte er sich aus. In letzter Zeit war ihm gleich mehrmals das Unglück widerfahren, sich in Kriminalfälle mit Mord und Totschlag zu verstricken. Darauf hätte er verzichten können, vor allem, weil er zu den beteiligten Menschen eine emotionale Beziehung entwickelt hatte. Das machte alles nur schwieriger. Aber deshalb musste er doch nicht gleich von einem Extrem ins andere fallen. Er sah sich nun wirklich nicht als Reiseführer für feines Essen und Trinken in Deutschland. Und seine diesbezüglichen Kenntnisse waren nicht mehr auf dem neuesten Stand. Außerdem hatte er so seine Probleme mit der überspannten Küche der privilegierten Oberschicht. In Italien liebte er die »cucina povera«, die Küche der armen Leute, der Bauern. Ehrlich und bodenständig, mit regionalen Produkten – aber in der Zubereitung verfeinert. Dass er ein Snob war, was Weine betraf, nun gut, das mochte sein. Aber das war es dann schon.

Zu seiner Überraschung entdeckte er in einem Regal einige Flaschen Spätburgunder von der Ahr. Er nahm eine, holte ein Glas, einen Korkenzieher und setzte sich auf eine Weinkiste. Ein trockener Spätburgunder vom Ahrweiler Klosterberg, im Barrique ausgebaut. Stimmt, da hatte er mal einen Karton auf einer Weinmesse gekauft, aber nie probiert. Er schnitt die Kapsel ab und öffnete die Flasche, roch am Korken, machte das Glas am Hemd sauber und goss ein. Er ließ den Wein im Glas rotieren, roch daran, nahm einen ersten Schluck. Reife Frucht, feine Würze, ausgewogene Struktur, etwas Vanille, aber nicht zu viel, sehr verführerisch … Nun, vielleicht war Matteos Vorschlag gar nicht so blöd. Er hatte in den letzten Jahren den deutschen Weinen nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Dieser vortreffliche Spätburgunder könnte ihn motivieren, einen Auffrischungskurs zu absolvieren. Hipp schmunzelte. Und in einem hatte Matteo sicher recht: Zur Abwechslung würde es diesmal keine Leichen geben – nur in Form toter Wachteln! Der Ausflug würde ihn nicht immer an Sabrina denken lassen. Er würde reichlich deutsche Weine verkosten können. Mit Matteo hätte er immer was zu lachen. Und verhungern würden sie auch nicht.

Hipp lehrte das Glas, klemmte sich die Flasche unter den Arm, blies die Kerzen aus und verließ den Weinkeller. Im Bücherregal fand er einen deutschen Weinführer. Er rückte den Liegestuhl unter dem alten Olivenbaum in den Schatten und goss sich ein weiteres Glas vom Spätburgunder ein. Er stellte fest, dass der Wein keinen Vergleich mit den Pinot Noirs aus dem Burgund scheuen musste. Im Weinführer schlug er das entsprechende Kapitel auf. »Mit 548 Hektar Rebfläche bildet die Ahr, die bei Remagen in den Rhein fließt, das nördlichste Rotweinanbaugebiet der Welt …« Er las über die wärmespeichernden Böden aus Schiefer- und Vulkangestein, von berühmten Lagen wie die Walporzheimer Gärkammer oder den Mayschosser Mönchberg. Er stellte fest, dass er das meiste noch wusste, dass er sich trotz der intensiven Beschäftigung mit Barolo, Barbaresco und Brunello noch gut auskannte in den Weinbauregionen seiner deutschen Heimat. Selbst die wichtigsten Winzer hatte er noch präsent, sogar an der Ahr: Adeneuer, Meyer-Näkel, Jean Stodden, Deutzerhof, Kreuzberg, Brogsitter … Nur bei den Jahrgängen war er nicht mehr firm. Aber das ließ sich leicht ändern. Hipp murmelte etwas von Mostgewicht, Fruchtdichte und harmonischer Säure – dann schlief er ein.

4

Beim Milchlamm fehlen die glasierten Spitzmorcheln. Das Quintett von Amuse bouches auf Tisch vier. Roulade vom Seesaibling in zwei Minuten. Jakobsmuscheln in Langustinengelee …«

Die Küche vom Palladio lief auf Hochtouren. Das Lokal war bis auf den letzten Platz besetzt. Die Zurufe waren kurz und präzise. Tobias Lauterer, der Chef de Cuisine, hatte alles im Griff. Entremetier, Poissonnier, Gardemanger, Pâtissier, sie alle griffen wie Zahnräder ineinander.

Im Gastraum dirigierte Oskar Hechenmoser den Service mit souveräner Eleganz. »Eine kleine Pause vor dem Coq au Vin vom Stubenküken? Sehr gerne, selbstverständlich.«

Rufus Martinek machte einen kurzen Besuch in der Küche, klopfte Tobias Lauterer aufmunternd auf die Schulter. Der Küchenchef war gebürtiger Österreicher. Er hatte bei berühmten Köchen in Frankreich gelernt, war danach Souschef in einem Spitzenrestaurant in der Schweiz gewesen und hatte sich in Berlin den ersten Stern erkocht. Jetzt strebte er im Palladio nach Höherem. »Und vergiss nicht das Maggi in der Suppe!« Rufus lachte schallend über seinen Witz. Er wechselte einige Worte mit dem Chef de Service, der im Palladio vornehm Maître genannt wurde, schließlich durfte sich Oskar nicht missachtet fühlen. Dann ging er im Lokal von Tisch zu Tisch, um als Patron alle Gäste persönlich zu begrüßen. Rufus liebte diese Auftritte. Tobias stand am Herd, warum also sollte nicht er sich das Vergnügen gönnen. Der Vorstand einer Bank. »Sehr angenehm, genießen Sie den Abend!« Und die Schauspielerin am Fenstertisch? Perfekt, da war sie gut zu sehen, von außen wie von innen. Küsschen auf die Wange. Nein, natürlich musste sie nichts bezahlen. Promis waren seine Gäste, durften umsonst speisen. Hauptsache, man sprach darüber. »Weißt du, wen ich gestern im Palladio gesehen habe?« Sehr gut, so sollte es sein. Noch besser war es, wenn die Zeitungen darüber berichteten. »Am Abend nach der Premiere feierte der berühmte Tenor den großen Erfolg mit seinen besten Freunden im Palladio.« Hervorragend, da übernahm er gerne die Zeche. Und vor einigen Tagen, der Star aus Hollywood: Anfahrt in der Stretchlimousine, Blitzlichtgewitter, ein Team vom Fernsehen … Eine bessere Werbung konnte sich das Palladio nicht wünschen.

 

Rufus zog sich diskret in einen kleinen Nebenraum zurück. Nicht alleine, sondern mit seiner Frau Cora und mit Dirk Graef, dem Chefredakteur des Gourmetmagazins, das sein Palladio auf Platz siebenundzwanzig herabgewürdigt hatte.