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Das Buch

 

Innsbruck, 2050: Seitdem die Wissenschaft das Klonen von Menschen perfektioniert hat, dienen seelenlose Hüllen als Forschungsobjekte und Organspender. Besorgt um das Leben ihrer todkranken Schwester, hat Samantha sich nie viel mit den zahlreichen Protesten gegen das Klonen befasst. Ohne schlechtes Gewissen tritt sie darum ihre neue Stelle in einem der renommiertesten Genetik-Labore der Welt an. Als sie jedoch den energischen Klon-Gegner Sevy kennenlernt und beginnt, erste Fragen zu stellen, kommt Samantha Geheimnissen auf die Spur, die ihr Leben in höchste Gefahr bringen.

 

 

 

Die Autorin

 

Die Schreibmaschine ihrer Eltern war vor Bettina Petrik nie sicher, seit die 1982 in Innsbruck geborene Redakteurin eines Kleinverlags Buchstaben in eine sinnvolle Reihenfolge bringen konnte. Die Liebhaberin klassischer Science-Fiction-Plots ist Stammgast bei der San Diego Comic-Con und verfasst seit vielen Jahren Artikel und Kolumnen für einschlägige Genre-Magazine.

Bettina Petrik

 


 

DER
K.A.I.N.-WIDERSTAND

 

 

Roman

 

 

 

 

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Originalveröffentlichung

 

© 2015 Verlag in Farbe und Bunt

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Cover-Gestaltung: Eileen Steinbach

E-Book-Satz: Winfried Brand

verantwortlicher Redakteur: Bettina Petrik

Lektorat: Katrin Hemmerling

Korrektorat: Nadine Sönnichsen

 

Herstellung und Verlag:

in Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100

45145 Essen

 

www.ifub-verlag.de

 

ISBN Taschenbuch: 978-3-941864-43-6

ISBN E-Book: 978-3-941864-44-3

ISBN Audiobuch: 978-3-941864-45-0

WIDMUNG

 

Für Alexandra, ohne die es dieses Buch nicht geben würde.

Für Mike, der immer für Engergydrink-Nachschub sorgt.

Für Hestia, meinen ganz persönlichen Link.

Prolog
Innsbruck, im Jahr 2050

 

Irgendwann einmal im Leben erreichte anscheinend jeder den Tiefpunkt: Hätte ich bloß auf meine Eltern gehört.

Kind, merk dir das, das Allerwichtigste im Leben ist finanzielle Sicherheit. Wenn du dir nicht gerade einen reichen Ehemann angeln kannst, such dir deinen Job ja gut aus. Um Himmels Willen nur nichts Gefährliches oder Brotloses! Wirklich, mit deinen Talenten, deiner Intelligenz, du kannst doch alles werden, wenn du dich nur ein bisschen anstrengst! Wie wäre es mit Ärztin oder Anwältin? Vielleicht lernst du dabei sogar jemand Interessantes kennen.

Naturgemäß machte Sam um jeden einzelnen dieser guten Ratschläge einen großen Bogen. Weder Popsängerin noch Rettungsschwimmerin war allerdings ein sonderlich realistischer Kindheitstraum, und die Anmeldung für die Polizeischule war mit dem diskreten Hinweis auf ihre Körpergröße von der Registrierungs-Datenbank zurückgekommen. Da waren ihr irgendwann die Ideen ausgegangen. Seitdem Larissa krank war, hatte es sowieso an Geld im Haushalt Strasser gemangelt. Und Sams Angehörigen an Geduld. Vor allem ihre Mutter hatte zu Lebzeiten immer an ihren strengen erzieherischen Grundsätzen festgehalten, gegen die nicht einmal ihr Mann hatte aufbegehren dürfen. Vermutlich hatte sich dieser deshalb irgendwann aus dem Staub gemacht.

Inzwischen hatte sie wenigstens einen ganz ordentlichen Abschluss an der Sekretärinnen-Schule in der Tasche. Also kein Anlass mehr für Nörgeleien des letzten noch verbliebenen Familienmitglieds. Eigentlich. Dass Sam sich ausgerechnet im hoch umstrittenen K.A.I.N.-Genetik-Forschungslabor bewerben und auch noch prompt zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden würde, damit hatte wohl niemand gerechnet. Sie selbst am wenigsten.

Erst als sie am Tag des Interviews nach über einer Stunde des Wartens immer noch in einem stickigen, verlassenen Vorzimmer saß, wünschte sie sich, sie hätte wenigstens ein einziges Mal einen guten Rat aus Kindertagen angenommen. Warum wollte sie überhaupt ausgerechnet hier anheuern? Nur wegen des fürstlichen Gehalts? Oder weil Genforschung so boomte, dass der Arbeitsplatz narrensicher war?

Mach dir nichts vor, Sam. Du willst das doch.

Nicht mehr die Stimme ihrer Mutter in ihrer Erinnerung, sondern die ihrer großen Schwester, vorhin im Pflegeheim. Natürlich hatte Larissa ihre gespielte Gleichgültigkeit durchschaut. Schon früher hatte sie auf einen Blick sagen können, wann Sam einen besonders schlimmen Schultag erlebt hatte und eine Umarmung brauchte. Und sie munterte Sam selbst dann mit einem gutmütigen Zwinkern auf, wenn sie sich in völlig Utopisches verrannte. Egal, ob es der zweiundzwanzigste Fehlgriff bei der Jobsuche oder der letzte spektakuläre Reinfall namens Mr. Lovebig aus dem Single-Chat war.

Du hast immer schon größere Ansprüche als wir alle gehabt, Kleines. Geh hin, sonst ärgerst du dich hinterher nur.

Larissa hatte ja auch nicht wissen können, dass man hier nach dem eigentlich noch sehr freundlichen Empfang ohne jede Information sitzen gelassen wurde, obwohl man pünktlich gewesen war. Überpünktlich sogar. Zugegebenermaßen sonst nicht Sams größte Stärke.

Als sie gerade einfach gehen wollte – es gab noch andere Stellenangebote im Netzwerk, vielen Dank – glitt die milchig-weiße Tür auf, hinter der man sie angeblich erwartete. Die gereizte Miene der aus dem Büro stürmenden Rothaarigen verhieß nichts Gutes. Die Frau war noch dabei, den Rock ihres Kostüms dorthin zu zerren, wo er hingehörte. »Sie sollen gleich rein gehen«, keifte sie Sam an. »Viel Glück

So ein pikanter Auftritt allein wäre Grund genug gewesen, auf dem Absatz umzudrehen. Die Tür stand jedoch weit auf, sodass Sam ihrem Schicksal zumindest nicht ohne eine Verabschiedung entkommen konnte. Sie straffte sich und strich sich zum zigsten Mal heute ihren Pony aus dem Gesicht.

Das Bild ihrer übertrieben zurechtgemachten Konkurrentin tauchte unweigerlich in ihrem Kopf auf. Hektisch fischte Sam Haarspangen aus ihrer Hosentasche, steckte die widerspenstigen Strähnen zurück und flocht sich einen festen Zopf, schloss auch noch die oberen zwei Knöpfe ihrer Bluse. Was in der Welt der Reichen und Mächtigen auch für ein Niveau herrschen mochte, sie würde sich nicht darauf herablassen.

Noch im Türrahmen stoppte sie abrupt. Der Raum war vollkommen leer.

Auch mehrmaliges Blinzeln änderte nichts an dieser Feststellung. Nein, ihre Augen mussten sich nicht erst an die abstrakte Umgebung gewöhnen. Sam war allein mit einem wuchtigen ovalen Tisch und einem eierschalenförmigen Drehstuhl. Keine Schränke, völlig leere Wände, Neonstrahler, dicker Berberteppich … Das war alles, und alles war einheitlich in Schwarz gehalten.

Nur ein Flimmern an der Oberfläche des Tisches ließ darauf schließen, dass in diesem Zimmer von Zeit zu Zeit wohl doch jemand arbeiten musste. Die Bewegung kam vom Standby-Bild eines Monitors, dunkelgraue Längsstreifen, die in variierendem Tempo von oben nach unten glitten, wie Regentropfen an einem Fenster. Vielleicht als Ersatz dafür, dass so eines hier drin genauso wie auf dem Flur fehlte.

Die vielen künstlich beleuchteten Räumlichkeiten bei K.A.I.N.-Genetik hatten Sams Zeitgefühl vollkommen durcheinandergebracht. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass es draußen bereits dämmern musste. Lange genug gewartet. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab. Wenn sie sich beeilte, kam sie noch rechtzeitig nach Hause, um ihre Lieblings-Netzwerk-Soap zu sehen.

Erschrocken fuhr sie zusammen, als ihr Blick die einzige freie Ecke des Raums streifte und dort ein länglicher Fleck auftauchte, der sich als Silhouette eines groß gewachsenen Manns entpuppte.

Jetzt hörte sie auch endlich das Rauschen eines Wasserhahns, nahm mehr Details ihrer Umgebung wahr. Ein in die Wand eingefasstes Waschbecken, der winzige Spiegel darüber. Wirklich alles hier erfüllte einen nüchternen Zweck. Keine Zimmerpflanzen oder Fotos, nicht das kleinste Anzeichen einer Persönlichkeit. Wer um Himmels Willen arbeitete freiwillig in einem schwarz eingerichteten Büro? Einem derart unpersönlichen Büro? Diesem Raum hätte sogar ein Kaktus Charme verliehen.

Nun, das war nicht ihr Problem und würde es hoffentlich auch nie werden. Sam zwang sich, ihre Inquisition auf später zu verschieben. »Samantha Strasser. Wir haben einen Termin.«

»Vor einer Stunde, ja, tut mir leid.« Der Mann knöpfte seelenruhig weiter sein Hemd zu, rückte seine Krawatte und das weiße Jackett zurecht, bevor er sich zu seinem Schreibtisch bequemte. »Bitte.« Er zeigte auf einen ungepolsterten Plastikstuhl davor. »Ich war kurz … abgelenkt. Ihre Konkurrentin hat es vorgezogen, mit unmoralischen Mitteln für ihre neue Anstellung zu kämpfen.«

Sam stand schon wieder halb auf, bevor er den Satz beendet hatte, und das nicht nur, weil das der unbequemste Sessel war, auf dem sie je Platz genommen hatte. Die schräg nach hinten gegossene Lehne drückte schmerzhaft in die Schulterblätter, die Sitzfläche gab zu stark nach, sodass sie regelrecht darin versank. Und als sie endlich eine einigermaßen würdevolle Haltung gefunden hatte und peinlich berührt aufsah, ihrem Gegenüber zum ersten Mal ins Gesicht … Da erlitt sie auch noch einen akuten Anfall von Hitzewallungen.

Unter einem Personalchef hatte sie sich keinen schnittigen Typen Anfang dreißig vorgestellt, mit Augen wie Haselnüssen – genauso braun und genauso verführerisch – und pechschwarzen Haaren. Eine durchwegs anziehende Kombination, die einen das etwas zu lange Gesicht übersehen ließ. Ganz abgesehen von einem Lächeln, das ihre Wut in Sekunden zu schmelzen drohte. An irgendjemanden erinnerte der Kerl sie zudem …

Außerdem sollte sie schnell ihre Augen in die Höhlen zurück kurbeln, bevor man noch glaubte, sie würde sich ebenfalls für einen Job ausziehen. »Falls das die Voraussetzung für ein Gespräch mit Ihnen ist, bin ich hier falsch.«

Ihr Gegenüber lachte auf, völlig unbeeindruckt von ihrer Biestigkeit. »Ich schlage keine guten Angebote aus, das ist alles. Das werden Sie rasch merken, wenn Sie bei uns anfangen sollten.« Er machte keine Anstalten, ihr die Hand zu geben, stellte sich aber zumindest endlich vor. »Niklas Moore, ich bin der Leiter dieses bescheidenen Anwesens. Ich stelle meine Leute lieber selbst ein. Unsere beiden Personalchefs kommen erst ins Spiel, wenn es interne Probleme gibt. Aber das ist selten der Fall. Wir sind wie eine große Familie.«

Nach einem schamlos ausführlichen Blick auf Sams Körper tippte er auf die Tischfläche. Der obligatorische Fingerabdruck-Scan ersetzte das Standby-Bild mit einer puristisch aufgeräumten Ordneransicht und mit Sams Bewerbungsdaten. »Verzeihen Sie meine Indiskretion. Sie hatten kein Foto mitgeschickt. Weswegen ich Sie übrigens fast gar nicht eingeladen hätte. In meinem Geschäft zählt leider nicht nur die Leistung.«

»Und? Ist der optischen Ansprüche Genüge getan?« Sam wollte sofort hier raus. Wenn sie ihre große Klappe noch ein wenig weiter aufriss, ging das doch sicher am schnellsten.

Zu ihrem Erstaunen sah Niklas nur mit mildem Spott in den Augen auf. »Sie sind nicht auf den Mund gefallen, gut. In unserer Forschungsabteilung arbeiten fast nur Männer. Sie müssen sich durchsetzen können. Ihr formelles, gepflegtes Auftreten stimmt mich ebenfalls positiv. Ich kann weder mit Anziehpüppchen arbeiten, noch mit jemandem, der mehr Zeit mit internen Liebschaften als seinen Aufgaben verbringt.«

»Ich trenne Berufliches und Privates.« Wenigstens nahm das Gespräch jetzt eine vernünftige Wendung. »Außerdem habe ich bereits in Branchen gearbeitet, die als Männerdomänen gelten, wie Sie feststellen werden, wenn Sie meine Datei über die erste Seite hinaus lesen.«

»Sie haben aber noch nie hier gearbeitet.« Jetzt begann auch Niklas, gereizt zu klingen. »Unsere Wissenschaftler haben jahrelang sehr hart studiert, um zu dieser Anlage gehören zu dürfen. Viele dieser Leute haben ihre Heimat und ihre Familie für K.A.I.N. aufgegeben. Diese Leute stehen fest im Leben, wissen genau was sie wollen und erwarten von ihren Helfern und Helferinnen nicht weniger als präziseste Arbeit und vollen Einsatz.« Unvermittelt wechselte er in die englische Sprache. »Sehen Sie sich dieser Herausforderung gewachsen?«

»Sonst wäre ich nicht hergekommen«, erwiderte Sam, ebenfalls auf Englisch. In ihrer Familie war es üblich, bilingual aufzuwachsen, um dem wachsenden Druck auf dem Arbeitsmarkt nicht völlig hilflos gegenüber zu stehen. Nicht erst mit K.A.I.N. und seiner ausländischen Geschäftsführung war die weite Welt in ihre kleine österreichische Stadt eingezogen. Eigentlich hatte Sam diese Falle schon früher vermutet, obwohl dieser Niklas die deutsche Sprache nicht nur perfekt, sondern auch noch fast akzentfrei beherrschte. Seine Mutter war Deutsche, erinnerte sie sich von ihren Recherchen. Er schien diesen Teil der Welt wirklich zu mögen.

Das unprofessionelle Verhalten von vorhin machte das nicht vergessen. Vermutlich waren nur diese verflixt hübschen Augen, mit denen ihr Gegenüber sie fixierte, der Grund, dass sie noch nicht geflüchtet war. Ihre Mutter hätte bei diesem Gedanken ein verzücktes Lächeln zur Schau gestellt, hätte sie es noch erleben dürfen. Nach Niklas’ Einleitung über Beruf und Sex hätte Sam sie auch in dieser Hinsicht enttäuschen müssen: Dass sie sich ihren Chef angeln konnte, war so unwahrscheinlich wie nie. Ganz abgesehen davon, dass sie diesen sexistischen Schnösel nicht mal mit einer Hydro-Zange angefasst hätte.

»Mister Moore, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Sie kennen meine Qualifikationen. Ihre Ausschreibung war zudem sehr präzise. Wir wissen also beide, woran wir sind. Ich möchte Ihnen nicht Ihre Zeit stehlen.«

»Sie denken in effizienten Parametern.« Niklas widmete sich einem weiteren Datensatz aus Sams Unterlagen auf seinem Monitor und beugte sich dabei tiefer darüber, gerade so viel, dass sie ihn nicht mehr direkt ansehen konnte. »Was wissen Sie über uns?«

»K.A.I.N. produziert menschliche Klone.« Nur gut, dass Sam den Netzwerk-Eintrag über die Anlage so genau studiert hatte. »Sie leiten das erste Klon-Forschungszentrum in Österreich, eins der ersten weltweit. Klone werden zur Erforschung von Krankheiten und zur Bereitstellung von Organen hergestellt.«

»Sie scheinen das gelassen zu sehen. Menschliches Leben, das nur zu Forschungszwecken produziert wird, der Tod eines Lebewesens, wenn man es nicht mehr benötigt …«

»Leben beginnt mit einem Bewusstsein«, gab Sam so ruhig wie möglich zurück, auch wenn der plötzlich fehlende Blickkontakt sie unruhig machte. Tatsächlich hatte sie nie wirklich über die Problematik nachgedacht. Als die weltweiten Eugenik-Abkommen in Wien unterzeichnet worden waren, hatte sie gerade erst ihren 13. Geburtstag gefeiert. Larissas Erkrankung, Zukunftsangst … Sie hatte einfach immer andere Sorgen gehabt. »Klone werden im Koma gezeugt und gehalten. Sie denken und fühlen nicht, entwickeln keine Seele, keinen Geist. Es wundert mich, dass Sie sich darüber Gedanken machen. Sind diese Produkte nicht Ihr Job?«

»Sehr richtig.« Zum ersten Mal, seit Sam das Büro betreten hatte, bekam sie ein ehrliches Lächeln geschenkt. »Deshalb brauche ich Leute, die an diese delikate Problematik keine Gedanken verschwenden. Die diesen Job hier lassen können, wenn sie abends die Bürotür hinter sich zumachen. Sie fangen am ersten August an.«

Sam brauchte einen Moment, um den letzten Satz nach Niklas’ kühlen Ausführungen richtig zu verstehen. »Sie stellen mich ein?« In ihrer Verblüffung wechselte sie ganz automatisch zurück in die deutsche Sprache.

Moore schien es nicht zu stören. »Als Runner in der Chefetage. Kopieren, Daten übertragen und korrigieren, Akten anlegen und archivieren. Ich möchte Sie beobachten. Sie und zwei weitere Kandidatinnen kommen als meine persönliche Sekretärin in Frage.« Sowohl Niklas’ Tonfall als auch seine Miene wirkten sofort wieder distanziert. »Ohne Sie nervös machen zu wollen: Sie haben gute Aussichten auf den Posten. Wenn die Wahl nicht auf Sie fällt, finden wir auch eine Lösung, die Ihren Fähigkeiten entspricht. Besorgen Sie sich weiße Kleidung und einen Arbeitskittel. Die Rechnung geht an uns. Guten Tag.«

»Ihnen auch.« Völlig perplex, auf zittrigen Knien hielt Sam auf die Tür zu. Widerwillig blieb sie davor stehen, als der Bewegungssensor nicht reagierte. Sollte in einem solchen Hightech-Gebäude eine derart simple Technik nicht einwandfrei funktionieren?

Erst nach Sekunden wurde ihr klar, dass Niklas die Tür absichtlich geschlossen hielt. »Ist noch etwas?« Erstaunt sah sie zurück und senkte sofort den Blick. Sie hatte diesen Mann schon öfters in den Netzwerk-Nachrichten gesehen, deswegen war er ihr vorhin gleich bekannt vorgekommen. Doch nie war ihr aufgefallen, dass er mit seiner Jugendlichkeit und seinem selbstbewussten Auftreten so viel Attraktivität ausstrahlte. Wenn sie tatsächlich in diesem Haus arbeiten wollte, musste sie das ganz schnell vergessen, sonst war die Probezeit jetzt schon vorbei.

»Ich schlafe mit keinen Job-Anwärterinnen. Die Dame, die Sie vorhin getroffen haben, ist Ihre Vorgängerin.«

»Warum …?« Sam stockte, schüttelte den Kopf über ihre eigene Naivität. »Sie wollten mich testen.«

»Wie ich bereits sagte: Ich prüfe meine Mitarbeiter genau. Wenn Sie Erfolg haben wollen, streichen Sie ganz schnell diesen Schmollmund aus Ihrer Mimik. Es kommt hier mehr auf Sie zu als ungewöhnliche Einstellungstests.« Endlich ließ der Kerl die Tür aufgleiten. »Oh, und nennen Sie mich Niklas.«

»Ich nenne Sie Niklas, sobald ich Ihre persönliche Sekretärin bin, Mister Moore. Guten Tag.« Überstürzt flüchtete Sam durch das Vorzimmer in den Lift. Sie musste auf der Stelle an die frische Luft.

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Wie weit sie mit gesenktem Kopf die Promenade entlanggelaufen war, merkte Sam erst, als das Rauschen des Flusses leiser wurde. Verwirrt bemerkte sie, dass sie statt wie geplant einen kleinen Spaziergang zu machen, die halbe Stadt durchquert hatte, bis hin zu jenem privaten Wohnheim für schwer erkrankte Menschen, das sie heute schon mal von innen gesehen hatte. Wunderbar. Den gleichen Weg zurückgehen? Bis sie ankam, würde es dunkel sein. Geld für ein Busticket wollte sie eigentlich nicht ausgeben.

»Pass doch auf, Blondie!«

Ein harscher Ruf ließ sie erschrocken beiseite springen. In ihrer Gedankenversunkenheit hatte sie die silbern-reflektierende Linie zwischen Fußgänger- und dem Mobilweg überschritten, auf dem alles unterwegs war, was Räder hatte. Die Steuerauflagen für den Autoverkehr konnte sich kaum jemand leisten, Studenten erklärten die Promenade daher zu ihrem Privatrevier. Ein Kapitalverbrechen, als Fußgänger einem Solarroller im Weg zu stehen.

Wo sie schon einmal hier war … Aus dem gemütlichen Netzwerk-Abend würde ohnehin nichts werden, dafür war es zu spät geworden. Diesmal sah Sam ganz vorbildlich nach links und rechts, bevor sie durch die beginnende Dunkelheit auf das Wohnheim zuhielt. Keine Gegend, in der sie sich zu dieser Stunde aufhalten sollte, aber jetzt war sie ungeduldig, ihre Neuigkeiten loszuwerden. Flau im Magen war ihr trotzdem. Die Zeiten, als man Schüler ohne Begleitung in die Schule schicken konnte, kannte sie nur aus Erzählungen. In Grünanlagen wie dieser, in denen wenigstens tagsüber unter Aufsicht noch Kinder spielen konnten, traf sich spätestens wenn die Sonne unterging alles, das Tageslicht aus gutem Grund scheute.

Heute gelang es Sam, sich unauffällig an den vielen Leuten vorbei zu stehlen, die sich um die einzelnen Bänke versammelt hatten und sich gegenseitig mit der Lautstärke der Musik aus ihren Medias zu übertrumpfen versuchten. Trinkend, rauchend oder ungeniert mit irgendwelchen Ampullen handelnd. Auf den Wiesen zwischen den Gehwegen rauften sich zwei große Hunde so brutal, dass Blut floss, während ihre Besitzer Wetten auf den Gewinner abschlossen.

Bei so viel Trubel war eine untersetzte Frau in biederer Kleidung, die ganz in ihrer Traumwelt gefangen schien, keinen Seitenblick wert. Diesmal jedenfalls. Wieso tat Sam sich das immer wieder an? Unflätige Sprüche und aggressive Übergriffe ließen sich leicht mit einem kleinen Umweg über die nächste Querstraße umgehen. Ihre Mutter hätte nicht sehen dürfen, wie sie sich in solche Gefahr begab.

Und wenn schon! Sam schnaubte. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen, das sich jede erdenkliche Krankheit einfing und mit hundertprozentiger Trefferquote auf die Nase fiel, sobald etwas im Weg stand. Ihre Mutter war nicht mehr da, um ihr etwas vorzuschreiben. Vielleicht wurde sie aus diesem Trotz heraus langsamer statt schneller, als ihr der Gestank von Flight in die Nase stieg.

Den erkannte man, selbst wenn man noch nie Drogen angerührt hatte. Ein Hauch Vanille, fast so verlockend wie Schokolade, wäre nicht die saure Note von Chemie gewesen. Sam drehte sich der Magen um. Ausgerechnet hier. Das war mal ihr Viertel gewesen. Kinder, die sie seit Jahren kannte, spielten in diesem Park. Und die Bewohner des Heims gingen da spazieren, wenn ihr Zustand es zuließ. Allein die Möglichkeit, dass Larissa mit den Gestalten konfrontiert werden könnte, die dieses Zeug verkauften, trieb Sams Blutdruck in die Höhe.

Aus dem Anflug von Gereiztheit wurde echte Besorgnis, als sie sich so unauffällig wie möglich umsah und entdeckte, wer sich an der offenen Ampulle bediente, die immer penetranter ihren Geruch verbreitete. Das Mädchen war sicher nicht älter als 15 und auffällig teuer gekleidet. Es gehörte wohl zu den wenigen privilegierten Familien, die von den Sozialreformen nicht an den Rand des Existenzminimums gebracht worden waren. Jung, unerfahren, auf der Suche nach einem Abenteuer.

Für einen Moment sah Sam sich dort sitzen, zögerlich auf die Versuchung in ihrer Hand starrend. Sie hatte damals Larissa gehabt, die ihr die Einsamkeit und dummen Gedanken ausgetrieben hatte. Sonst wäre sie heute alles Mögliche, nur sicher nicht angehende persönliche Assistentin in einem Weltkonzern. Vielleicht war das ein guter Zeitpunkt, andere an ihrem Glück teilhaben zu lassen.

Ohne es richtig zu merken, war Sam bereits ein paar Schritte auf die Bank zugegangen, als sich ihr ein bulliger Mann in den Weg stellte. Seine nach hinten gegelten Haare glänzten im Laternenlicht mit seinen falschen Goldketten um die Wette. »Was ist, willst du auch was?«, schnauzte er Sam mit einer Stimme an, die verriet, dass das nicht das erste Bier in seiner Hand war. »Ansonsten schau gefälligst woanders hin.«

Sam blieb verunsichert stehen. Der Kerl war fast zweimal so groß wie sie. Vielleicht hatte der irgendwo ein Messer unter seiner schmuddeligen Jacke. Helfen würde ihr dann von diesen Leuten sicher niemand. Andererseits war der Kerl dreimal so alt wie das Mädchen und sicher nicht sein Vater. Gemessen an dem viel zu kurzen Rock der jungen Frau hatte er vermutlich ein ganz anderes Interesse.

Sam nahm allen Mut zusammen und ging an ihm vorbei. »Hey, du!«, rief sie halblaut. »Du solltest die Finger von dem Zeug lassen.«

»Schick die Schlampe weg, Manni«, war die schrille Antwort. Erst jetzt bemerkte Sam, wie glasig der Blick der Kleinen war, wie blass und fleckig ihre Haut. Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie den Inhalt der Ampulle verschüttet hätte, wäre noch etwas drin gewesen. Soviel zu jung und unschuldig.

»Hörst du nicht, was sie sagt?« Drohend trat »Manni« auf Sam zu und wollte sie am Arm packen.

Rasch wich sie aus, sodass der Kerl ins Leere griff und machte auf dem Absatz kehrt. Das Gelächter der Jugendlichen verfolgte sie, während sie fluchtartig den Park verließ, sich ständig umsehend, ob ihr auch niemand folgte.

Als sie das Wohnheim betrat, schlug ihr Herz ihr immer noch bis zum Hals. Genug gute Taten für heute.

 

Sam war kaum zur Tür hineingekommen, als ihre Schwester schon ihre verschwitzten Wangen bemerkte. »Bist du gerannt? Was war denn los?«

»Wir sind gleich fertig.« Die Krankenpflegerin warf Sam einen strafenden Blick zu und befahl Larissa, ihre Inhalatorklammer wieder an die Nasenlöcher zu setzen. Um diese Zeit waren Besucher nicht gern gesehen.

»Nichts. Ich habe nur beschlossen, keine Abkürzungen mehr zu nehmen.« Sam suchte an der Garderobenwand vergeblich nach einem freien Bügel, hängte ihre Jacke schließlich über einen von Larissas Blazern. Immer wieder erstaunlich, dass es ihre Schwester schaffte, solche Unordnung zu veranstalten, obwohl sie kaum nach draußen kam. Ungeduldig schlängelte sie sich zwischen Schuhschrank und Kommode zum Wohnraum durch, verfluchte wie so oft lautlos die platzsparende Bauweise, die sich immer mehr durchsetzte. Wenn man sich nicht einmal zu zweit in einem Gang aufhalten konnte, traf es Sardinenbüchse statt Schachtelsystem besser.

Sam entnahm dem Balken von Larissas Inhalator-Display, dass ihre Schwester noch nicht einmal die Hälfte der Heildämpfe eingeatmet hatte, also nutzte sie die Zeit, um ein wenig aufzuräumen. Erst als sämtliche schmutzigen Kleidungsstücke im Wäsche- und der Abfall im Entsorgungsschacht gelandet waren, das Strickzeug im Regal, und Sam sich anschicken wollte, die Foto-Displays an den Wänden abzustauben, gebot Larissa ihrem Tun Einhalt.

»Himmel, setz dich endlich. Ich werde wahnsinnig, wenn ich dir zusehe.« Sie ließ das Kopfende ihres Bettes nach oben fahren und wartete, bis die Pflegerin gegangen war, bevor sie sich neugierig zu Sam hin beugte. »Erzähl.«

»Da war nichts. Nur ein paar Besoffene und Dealer. Seit wann sind die denn hier?« Sam war immer noch wütend. »Bis jetzt haben die immer nur am Bahnhof Ärger gemacht.«

»Was läufst du auch durch den Park? Mama hat schon Recht damit gehabt, dass du viel zu leichtsinnig bist.« Larissa presste ihre rissigen Lippen zu einem kaum sichtbaren Strich zusammen. »Die sind schon länger da. Wir gehen gar nicht erst weit spazieren, das gibt nur Ärger. Im Hof starrt uns wenigstens keiner dumm an.«

»Das ist doch keine Lösung.« Sofort meldete sich das schlechte Gewissen bei Sam. Sie sollte viel öfter hierherkommen, mit Larissa etwas unternehmen, sie unterhalten. Hatte ihre Schwester vorhin eigentlich auch schon so besonders schwer geatmet? »Wir könnten morgen zum See gehen.«

»Durch die Alleen? Mitten in der Pollenzeit? Willst du, dass ich es endlich hinter mir habe?« Larissa lachte, ein rostiges Lachen, das kaum mehr einen Schatten ihrer früheren Fröhlichkeit darstellte.

»Sag so was nicht!« Instinktiv griff Sam nach ihrer Hand, als könne sie so sicherstellen, dass sie nicht auf der Stelle verschwinden würde, fort aus ihrem Leben. Galgenhumor mochte Larissas Weg sein, mit allem umzugehen. Sam hatte an aufwühlenden Tagen wie heute für solche Witze nichts übrig. »Du hast noch so viel Zeit.«

»Mit jedem Tag weniger. Ist lieb von dir, Kleines, aber ich fühle mich hier sehr wohl. Du sparst dir dieses Zimmer vom Mund ab, da will ich es doch auch genießen. Draußen gibt es ohnehin nicht mehr viel, was mich anlockt.« Mit einem weiteren Knopfdruck am Bett ließ Larissa die Jalousien vor der Fensterfront hinunter. »Es wird immer schlimmer, Sam. Als hätten wir noch EU-Zeiten. Die erdrücken die reichen und sicheren Länder mit Zuwanderern, anstatt dass alle zusammenarbeiten, um den ökologischen Verfall im Rest der Welt aufzuhalten. Wie soll das weitergehen?«

Sam zuckte mit den Achseln. Szenen wie vorhin waren die Regel, nicht die Ausnahme. Was man dagegen tun konnte, wusste sie nicht. Sie hätte vielleicht zur Abwechslung einmal Nachrichten verfolgen sollen, anstatt sich ständig von Musikvideos und Serien berieseln zu lassen. Wie sollte sie als einfache Tippse schon globale Probleme lösen? Wenn sie versuchte, sich zu engagieren, kam nur so etwas wie im Park heraus.

Larissa hätte etwas ändern können, mit ihrer bestechenden Intelligenz und ihrem Ehrgeiz. Fast hätte sie ihr Jura-Studium abgeschlossen, dann hatten die Medikamente zu sehr an ihrer Konzentration genagt. Inzwischen war sie zu geschwächt, um an Parteibeitritte und Kandidaturen zu denken. Nur das Interesse war nie verloren gegangen. Larissa wusste in ihrem kleinen Zimmer abgeschnitten von der Außenwelt um einiges mehr darüber als Sam, die tatsächlich darin lebte.

»Selbst schuld, dass ich dich langweile, wenn du abzulenken versuchst«, grinste Larissa, die ihr Schweigen richtig deutete. »Du weißt genau, dass ich nicht das gemeint habe. Wie war er?«

»Wer?« Sam hatte fast völlig vergessen, warum sie hergekommen war.

Immer wieder musterte sie die dunklen Ringe unter Larissas Augen. Nein, keine Einbildung, es war tatsächlich im Laufe des Tages schlimmer geworden. Vermutlich war die Morphin-Dosis erneut erhöht worden.

»Der Mann, wegen dem du mich gleich zweimal an einem Tag besuchst. Niklas Moore. Sag bloß, du bist auch seinem unwiderstehlichen Charme erlegen. Ich meine, er ist nicht unbedingt eine schlechte Partie, aber …«

»Was heißt hier auch

»Du solltest öfters fernsehen, Kleines.« Larissa angelte nach der Netzwerk-Bedienung auf ihrem Nachttisch und verzog das Gesicht, als diese klappernd zurückfiel. Der Tag war zu lang gewesen, eigentlich hätte sie um diese Zeit schon schlafen sollen. Als Sam ihr helfen wollte, hielt sie sie mit einer scharfen Geste auf, streckte noch einmal den Arm zur Seite und bekam das Gerät diesmal zu fassen. »Da haben wir es doch.« Der riesige Monitor gegenüber dem Bett war bereits auf eine Nachrichtenfrequenz eingestellt, wie immer.

Einer der Berichte, die aus dem Tagesmenü abgerufen werden konnten, drehte sich um die Ausstellung im städtischen Museum am Abend zuvor. Allerdings zeigte er nur wenig von den gewöhnungsbedürftigen Fotos der Künstlerin. Das Hauptaugenmerk lag auf der anwesenden Prominenz. Vor allem auf einem jungen Mann in einem strahlendweißen Armani-Anzug, dem besagte Malerin offenbar mit Haut und Haaren verfallen war, so wie sie ihn in Gespräche zu verwickeln versuchte, anstatt sich um die Gäste zu kümmern.

Immerhin, Niklas ließ die Flirtversuche mit derselben Distanz an sich abprallen, mit der er Sam gegenüber getreten war. Er schlief anscheinend auch mit keinen Frauen, die mit Tierblut malten.

»Doktor Niklas Moore nutzte die Gelegenheit, um im Gespräch mit T-TV einmal mehr die jüngsten Vorwürfe gegen K.A.I.N. und andere Klonlabore zu bestreiten, leichtfertig mit den Geldern ihrer Kunden umzugehen. So haben kürzlich veröffentlichte Jahresberichte enthüllt, dass ohne explizite Aufforderung im Regelfall gleich mehrere Produkte einzelner Spender erzeugt werden, um die jederzeitige Bereitstellung einzelner Organe zu gewährleisten, anstatt dass die Forschungsabteilungen mehr Mittel auf die Ausmerzung von tödlichen Krankheiten …«

Larissa, die den Bericht sicherlich schon auswendig kannte, hörte kaum auf die Nachrichtensprecherin, sondern studierte Sams neugierigen Blick nach oben. »Willst du mich weiter auf die Folter spannen oder sagst du mir, wie es gelaufen ist? Ich kenne diesen verträumten Ausdruck in deinen Augen. Hat er dich etwa zum Essen eingeladen?«

»Er hat mich eingestellt«, gab Sam zähneknirschend zu. Merkte man es ihr so offen an, dass sie ein Faible für diese Sorte Mann hatte? Bei Larissa fühlte sie sich manchmal wie eine laufende Röntgenaufnahme.

»Was?« In ihrer Verblüffung ließ ihre Schwester die Bedienung fallen und bekam einen Hustenanfall, so lange, so trocken, dass Sam fast die Schwester gerufen hätte. Erst als sie schon aufstehen wollte, fing sich Larissa wieder. Diesmal nahm sie Hilfe in Form eines gereichten Wasserglases gerne an. »Alles okay. Er hat dich echt genommen?«

»Schmeichelnd, wie wenig du mir zutraust. Warum nicht? Bin ich vielleicht nicht fein genug für so einen Job?«

»Hör auf zu spinnen. Die Einzige, die sich so etwas immer einredet, bist du selbst. Ich war nur überrascht. Du hast schließlich keine Erfahrung im wissenschaftlichen Bereich.«

»Noch bin ich auch nicht Niklas‘ Assistentin«, gestand Sam. »Er will mich erst testen.«

»Niklas, so so, ihr duzt euch schon.« Larissa grinste schon wieder.

»Er hat es angeboten, was kann ich dafür?« Beleidigt verschränkte Sam die Arme. Dann war der Kerl eben recht einnehmend, was machte das schon? Besser als der geizige Choleriker, für den sie zuletzt geschuftet hatte. »Wahrscheinlich feuert er mich nach zwei Wochen sowieso wieder. Das ist nicht meine Welt, das sieht man mir doch aus zehn Metern Entfernung an.« Düster deutete sie auf den Bericht über die Vernissage.

»Und schon wieder Komplexe. Kauf dir ein paar neue Klamotten und polier dein Wirtschaftsenglisch auf, dann hast du nichts zu befürchten.« Seufzend deaktivierte Larissa den Monitor und ließ ihre Kopflehne nach unten gleiten. »Du schaffst das schon, Kleines. Halt mich auf dem Laufenden. Und jetzt raus hier, ich brauche Schlaf. Ich muss morgen endlich das Essay fertig schreiben.«

»Haben die von der Redaktion schon wieder nachgefragt?« Unwillig sah Sam zu Larissas Media auf dem Nachttisch, sehr versucht, es einfach mitzunehmen oder heimlich auszuschalten, damit die Leute von der Tageszeitung Ruhe gaben. Dann hätte Larissa jedoch auch keine Bücher und Musik mehr zur Verfügung gehabt und sich nicht einmal Nachschub bestellen können. Diese verdammten Dinger waren Fluch und Segen zugleich.

Ihre Schwester brauchte diese Beschäftigung, um nicht ganz vom Leben abgeschnitten zu sein. Schlimm genug, dass ihre Verfassung es nicht zuließ, ihren Roman zu beenden. »Keine Sorge, ich wehre mich schon, wenn es mir zu viel wird. Was wollen die machen, wenn ich nicht rechtzeitig abgebe? Mich verklagen? Jetzt geh, du hast genug Zeit mit mir verschwendet. Nimm den Bus. Einmal Nervenkitzel täglich reicht.«

»Das ist nicht verschwendet. Keine Minute.« Sam umarmte sie rasch und versuchte, den Geruch von Heildämpfen zu ignorieren, der in diesem Raum seit drei Jahren ständiger Begleiter war. Sie wollte nicht als erstes Kampfer im Kopf haben, wenn sie an Larissa dachte.

Ihre Schwester spürte ihre Tränen auf ihrem Hals, drückte sie sanft von sich weg und schloss demonstrativ die Augen. Solange es ihr noch einigermaßen gut ging, wollte sie nicht ständig daran erinnert werden, warum sie hier leben musste, anstatt in ihrer hübschen kleinen Wohnung mit ihren Katzen, Schlangen und Spinnen.

Sam akzeptierte das wortlos wie jedes Mal, aber von ihrer Hochstimmung war nichts mehr übrig, als sie eine Stunde später endlich die Haustür hinter sich schließen konnte.

 

»Jetzt hat es dich also auch erwischt. Willkommen in Frankensteins Labor.« Link öffnete die Tür für Sam, bevor sie auch nur die Klingel berührt hatte.

Vermutlich, weil sie zum Schlafen noch entschieden zu aufgekratzt war, hatte ihre Fingerspitze im Fahrstuhl ganz automatisch statt der 14-Taste für ihr Stockwerk die 2 erwischt, wie das immer geschah, wenn sie jemand anderen als Larissa zum Reden brauchte. Jemanden, der genug Abstand zu gewissen Dingen hatte, im Gegensatz zu einer manchmal etwas zu neugierigen Schwester.

Link und sie waren beste Freunde, seitdem sie hier eingezogen waren. Gleich nach der großen Sanierung, als ein Dutzend mehr Wohnungen im Gebäude geschaffen worden waren. Link, der eigentlich Tobias hieß, woran sich in seinem Umfeld kaum jemand erinnerte, kochte die beste Pasta, die ein Single-Hausmann mit hundertprozentig nicht-italienischer Abstammung überhaupt zustande bringen konnte. Außerdem war er Sams einziger ebenbürtiger Gegner bei ihrem Lieblings-Computerspiel. Und wichtiger noch: Link arbeitete seit Monaten bei K.A.I.N. als EDV-Administrator. Wenn ihr jemand etwas über diese Herausforderung sagen konnte, dann er.

Woher er allerdings von ihrem Erfolg wusste, war ihr ein Rätsel. Sie hatte ihm nicht einmal was von dem Gespräch erzählt, aus Sorge, dass er ihr vielleicht davon abraten würde. Dann hätte sie vielleicht wirklich nicht den Mut gefunden, hinzugehen. »Ist mein Foto etwa schon bei euch auf das Schwarze Brett programmiert? Und hast du eigentlich nichts Besseres zu tun als dein Spion-Display anzustarren?«

»Nö. Außerdem höre ich dich mit diesen Mörderabsätzen schon, wenn du aus dem Aufzug kommst.« Link ging voraus, weil sie sich sonst an ihm vorbei durch den Gang hätte schlängeln müssen. Das hätte bei seinem fülligem Körperbau einen weit intimeren Körperkontakt bedeutet, als es sich für eine Freundschaft ziemte. »Wie lange kennst du mich? Denkst du, mir bleibt irgendetwas in dieser Firma verborgen? Du weißt doch …« Grinsend zeigte er auf die Sammlung von Displays, welche eine ganze Wand im Wohnraum einnahm.

»Du bist der König des Netzwerks, schon klar.« Sam kickte ihre Schuhe mit einem erleichterten Aufseufzen in die nächste Ecke und ließ sich aufs Sofa fallen. Hohe Absätze waren eine Strafe an die Frauenwelt. »Vergiss deinen Größenwahn mal fünf Minuten, ja? Sag mir lieber, wie ich es anstellen kann, dass die mich nicht gleich feuern.«

»Leg keinen von deinen Kollegen flach.«

»Zu liebenswürdig.« Gekränkt verschränkte Sam die Arme.

»Dafür magst du mich doch so.« Link zupfte beiläufig seinen Rock zurecht. »Im Ernst, das sind knallharte Geschäftsleute. Niklas vor allem, den haben seine Eltern schon mit 6 nach London ins Internat abgeschoben. Der kennt nur das Schuften. Wenn du da Erfolg haben willst, sei still und erledige deine Aufgaben. Da ist kein Privatleben gefragt. Übrigens auch keine Individualität. Dafür bekommt man sonst nirgends so viel bezahlt. Noch ein paar Jahre, dann nehme ich mir ein paar Wochen Urlaub, komme in voller Montur zurück ins Büro und lege denen in der Personalabteilung meinen neuen Pass vor. Ich freue mich jetzt schon auf das Gesicht von diesen eingebildeten Papierschubsen – Anwesende natürlich ausgenommen.« Die Vorstellung ließ ihn verträumt grinsen.

»Du willst das wirklich durchziehen?« Skeptisch ließ Sam ihren Blick über Links rüschenbesetztes Kostüm wandern. Bis jetzt hatte sie seine transsexuellen Neigungen eigentlich mehr als Provokation gesehen, vor allem, seit er nicht mehr als Frau auf die Straße ging. Jetzt erst wurde ihr klar, dass das mehr seinem Beruf als seiner Einstellung zu verdanken war und er es ernster denn je meinte.

»Fang du nicht auch noch an. Bis zur Operation muss ich noch genug Beratungsgespräche über mich ergehen lassen.« Link schob das Thema mit einer kleinen Grimasse beiseite und aktivierte einen seiner Freizeitmonitore. »Eine Runde Lost In Dimension? Ich hab gerade die neuen Module für Teil dreißig gezogen. Das rockt, sage ich dir, Protectors mit verbessertem Healing Factor und …«

»Lass mal. Ich muss los, sonst schlafe ich noch auf deiner Couch ein.« Mit einem hörbaren Gähnen quälte sich Sam auf die Beine.

»Warum nicht?« Link musterte sie betont zweideutig von oben bis unten und bemühte sich vergeblich, ernst zu bleiben. »Ich leg mich einfach zu dir. Hey, ich hab noch ein paar alte Pornos von 1990 auf der Festplatte. Was meinst du? Nur du, ich, eine Flasche Wein und ganz viel Nostalgie.«

»Du stehst auf Männer, schon vergessen?« Sam gab ihm einen kräftigen Klaps auf den Hinterkopf. Das sollte ja angeblich das Denkvermögen anregen.

 

»Zu schreiben ist ein Abschlussbericht, Projekt Infektionsgrundlagen, Akte AUTI-KaKo II. Aktenzeichen NM, Datum der Ausfertigung, Verteiler: wie gehabt. Testphase: letales Stadium. Ergebnisse Beobachtung: Am ersten … Was zum Henker …?« Niklas ließ abrupt den Aufnahme-Button los, weil er von einer Sekunde auf die andere in einem stockfinsteren Raum saß.

Schon aus Reflex ließ er seine Hand zur obersten Schublade seines Schreibtisches wandern, zum einzigen Abdruckscanner in diesem Raum, der mit Batterien gespeist wurde. Aus gewissen Fehlern lernte man. Seine Hand umschloss den Griff seiner Waffe noch bevor er aufgesprungen war. Wenn man sein Leben in vorwiegend schwarz gestalteten Räumen verbrachte, lernte man, im Dunkeln zu sehen.

Erst als sich seine Augen an den kurzen Schock gewöhnten, wurde ihm klar, dass sein Instinkt schneller als sein Verstand reagiert hatte. Kein Überfall, kein kompletter Stromausfall, nur die Beleuchtung war deaktiviert worden. Er musste sich einen neuen Bildschirmschoner zulegen, dieses Grau war trügerisch. Und einen Satz besserer Nerven dazu. Er wusste doch genau, dass an den Leuten vom Sicherheitsdienst niemand Unbefugtes vorbei kam, nicht ins Gebäude hinein und noch weniger auf diese Etage. Und falls es jemand doch mit falschen Absichten bis in sein Büro schaffen würde, würde ihm eine 38er auch nichts nützen.

Rasch schloss er die Schublade wieder und reaktivierte den Bildschirm, um eine Audioverbindung zum Nebenraum herzustellen. »Willst du mich ins Grab bringen?«

»Die Geschäftsleitungsassistenz hat beschlossen, dass Sie für heute genug gearbeitet haben, Mister Moore.« Cassy lachte leise. Sie wusste genau, dass sie ihm einen heilsamen Schrecken eingejagt hatte. »Es ist fast Mitternacht. Mach Schluss. Die Akte kann bis morgen warten.«

Niklas setzte schon zu einer protestierenden Antwort an, hielt aber inne, um die Daten zu prüfen, die das Spracherkennungsprogramm übertragen hatte. Was hatte er denn da für einen Unsinn diktiert? Zu wenig Schlaf und viel zu viel Routine wegen eintöniger Untersuchungen an ungeeigneten Objekten, eindeutig. Resignierend versetzte er die Arbeitsstation in Standby und beendete damit auch das Gespräch. Wie an jedem Abend, wenn er keine Besucher mehr erwartete, lehnte er sich im Sessel zurück und legte die Beine auf der Tischplatte ab. Der Weg zu seinen persönlichen Wohnräumen erschien ihm plötzlich meilenweit. Ein paar Minuten Ausruhen, bevor er den letzten Rundgang machte, das klang wie eine richtig gute Idee.

Erst der Duft von grünem Tee weckte ihn wieder. Verwirrt fuhr er sich über die Augen und blinzelte zu Cassy hoch, die auf dem Tisch saß und ihm eine Tasse hinhielt. Er versenkte seine Nase dankbar in dem würzigen Aroma und stürzte einen ersten Schluck hinunter. »Was mache ich bloß, wenn du weg bist?«

»Dasselbe wie vorher, nur ohne jemanden, der ständig meckert, dass du dich noch zu Tode arbeitest. Und vielleicht suchst du dir endlich eine Freundin«, fügte sie hinzu, mit genervtem Unterton, als Niklas‘ Blick an ihrem Körper hinunterglitt, zu ihrem kurzen Rock. »Vergiss es. Andi wartet. Wir haben Jahrestag.«

»Wenn du mit ihm feiern wolltest, wärst du schon längst weg.« Niklas steckte die Abfuhr mit einem Achselzucken weg. »Wie du dir deinen Lebensstil zukünftig finanzierst, kann mir egal sein. Lass dich nur nicht von ihm erwischen, wenn du das nächste Mal jemanden zum Spielen brauchst.«

»Ich bekomme mein Privatleben durchaus ohne Tipps von jemandem auf die Reihe, der Rabatte beim Escort-Service bekommt. Tob dich lieber an deinen neuen Häschen aus.«

»Selbst High School-Ballprinzen werden irgendwann erwachsen, keine Sorge. Dieses Mädchen …« Nachdenklich sah Niklas auf den erloschenen Monitor, wo vorhin immer wieder die Daten einer gewissen Blondine aufgetaucht waren, als hätte seine Hand ein Eigenleben entwickelt. »Diesmal brauche ich mehr Distanz. Es schnüffeln schon zu viele Leute herum, die nichts von meinen Forschungen verstehen.«

»Das geht mich nichts mehr an. Du wirst schon wissen, was du tust.« Cassy stellte ihre eigene Tasse weg, wollte vom Tisch rutschen und schob unwillig Niklas‘ Hand von ihrem Oberschenkel. »Ich sagte, nein.«

»Warum hörst du wirklich auf?« Das hätte er sie schon längst fragen sollen. Es war nicht das erste Mal, dass er eine Assistentin gehen lassen musste, doch diesmal war es besonders unangenehm. Als Cassy seinem Blick auswich, stellte er sich vor sie hin, zwischen ihre Beine, damit sie nicht doch noch flüchten konnte. »Komm mir nicht wieder mit Familienplanung. Du hasst Kinder, und du hasst diesen Andi.«

»Ich bin zweiunddreißig. Ich habe genug geschuftet. Jetzt habe ich einen Mann, der mich liebt und der mich heiraten will. Warum sollte ich etwas anderes wollen?« Das sagte sie, aber sie starrte dabei seine Hemdknöpfe an. Sie war lange genug dabei gewesen, um mitzubekommen, mit welchen Argusaugen Niklas ausscheidende Mitarbeiter verfolgte. »Kann ich nicht mal meine Meinung ändern?«

»Ich weiß nicht. Kannst du?« Niklas stützte sich auf der Tischplatte auf, sodass ihre Gesichter nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren. »Was ist los mit dir? Wir beide waren doch immer ein perfektes Team.«

Diesmal erzitterte sie, als er ihr Bein berührte, an ihrem Strumpf entlang nach oben strich, als hätte sie ihn nicht gerade noch nach Hause geschickt wie einen ungezogenen Schuljungen. »Zu perfekt. Du bist charmant, Niklas, und du bist sexy. Ich habe es genossen für dich zu arbeiten. Vielleicht mehr als die Arbeit selbst. Ich will nicht mehr darüber nachdenken müssen, ob ich hier richtig bin.« Sie zuckte zusammen, als unvermittelt ihre Strumpfbänder aufschnappten, eins nach dem anderen, aber diesmal hielt sie still, und die halb erwartete Ohrfeige blieb auch aus. »Du brauchst wirklich dringend eine Freundin, Niklas.«

»Lenk nicht ab.« Mit der freien Hand fasste er sie am Kinn und näherte sich ihr, bis ihr schneller gehender Atem über seine Lippen strich. Zufrieden beobachtete er, wie sich ihre Augen weiteten, ihr Rücken kerzengerade wurde. Solange sie wusste, woran sie war, auch später, wenn sie ihren Schreibtisch geräumt haben würde, war alles im grünen Bereich. »Du hast immer an mich geglaubt. Was ist anders geworden?«

»Ich bin anders. Ich möchte vergessen, was ich gesehen habe. Ich möchte ein neues Leben. Du gehst deinen Weg und ich meinen. Ich mache Platz für jemanden, der nicht nachdenkt, genau so, wie du es für deinen Traum brauchst.« Selbst als sie sich an seine Brust schmiegte, bebte ihr Körper noch von der kleinen Machtdemonstration. Ihre Worte kamen ehrlich, jede einzelne Silbe. Sie wollte nur weg. Nichts weiter.

Das musste ihm nicht gefallen. Wenigstens brauchte er sich keine Sorgen zu machen, dass sie sich bei irgendjemandem verplappern würde. Trotzdem hinterließ der endgültige Verlust einen bitteren Nachgeschmack, der auch jegliches Verlangen nach Nähe schnell zunichtemachte. Enttäuscht ließ er sie los und trat zurück, kam aber nicht weit, weil Cassy ihre langen Beine um seine schlang und ihn zu sich zurückzog.

»Noch bin ich nicht weg.« Während er noch überlegte, ob ihre Bemühungen reichten, um seine Lebensgeister noch einmal zu wecken, machte sie sich bereits an seinem Hemd zu schaffen, zum zweiten Mal heute.

»Und Andi?«, brachte Niklas noch hervor, bevor sein Gehirn vollständig auscheckte.

»Vergiss Andi.«

Es dauerte gar nicht so lange wie gedacht, wieder in Stimmung zu kommen.

2

 

Heute war es wirklich nicht ihre Schuld. Der dumme Aufzug reagierte auf den Rufknopf wieder mal nur mit einem Fehlerton. Sam hegte den Verdacht, dass die Elektriker absichtlich immer neue Fehler bei dem Ding einbauten. In Zeiten von Wirtschaftskrisen musste man schließlich sehen, wo man blieb.

Bis sie endlich zur Schwebebus-Station laufen konnte, hatte sie noch ein stolzes Zeitpolster von 30 Sekunden, um ein Ticket zu kaufen, wenn sie nicht schon wieder wegen Schwarzfahrens erwischt werden wollte. Noch einmal würden ihr die Kontrolleure das mit dem nicht funktionierenden Abo-Programm auf ihrem Media nicht abkaufen. Die Wohlfahrt-Ärztin war völlig überbucht mit Terminen, Sam durfte also auf keinen Fall zu spät kommen.

Nachdem sie ja in drei Tagen ihre ultracoole neue Stelle antreten würde, konnte sie Zusatzmedikamente für Larissa hoffentlich bald ganz regulär in der Apotheke kaufen. Jedenfalls, wenn sie rechtzeitig zum Ausverkauf in den Berufskleidungsladen kam. Niklas' großzügiges Angebot, die Rechnung zu bezahlen hin oder her, auf Sams Konto sah es nicht gerade rosig aus. Der neuerliche Frust weckte ihren Ehrgeiz nur noch. Sie würde diese Chance, ihrem Leben am Existenzminimum zu entkommen, nicht vergeben, diesmal nicht.

Geschafft. Sie nahm sich nur noch eine rasche Sekunde, ihren Rock geradezuziehen und ihren Lidstrich mit der Kamerafunktion ihres Medias zu prüfen. Dieses Auftakeln war ihr immer noch zuwider, doch bei einem Termin als Bittsteller war es ratsam, seriös aufzutreten. Als sie das Media dann an den Automaten halten wollte, zwängte just eine Hand von der anderen Seite ein weiteres Gerät an den Eingabescanner, sodass dieser ein überfordertes Piepsen von sich gab.

»Hey«, entfuhr es Sam verärgert. »Ich war zuerst da.« Sie machte keine Anstalten, ihre Hand zurückzuziehen. In der Ferne zeichnete sich bereits die kreischend neongelbe Silhouette des Zugs ab. Wer immer sein Ticket nicht sofort zog, würde mindestens 10 Minuten, die Sam nicht hatte, auf den nächsten Wagen warten müssen.

Der Fremde schien leider zu der ekelhaften Sorte Mensch zu gehören, die grundsätzlich im Recht waren. »Falsch, Teuerste. Sie waren mit Ihrem Spiegelbild beschäftigt. Wenn ich dann mal ran dürfte …« Er wedelte mit der freien Hand, offenbar genauso fest entschlossen wie sie, die andere nicht wegzunehmen, bis er sein Ziel erreicht hatte.

»Das ist doch gar nicht …« Es war absurd, das diesem Klotz erklären zu wollen. »Pech gehabt, Freund. Sie hätten das schon die ganze Zeit erledigen können.« Sie war sicher, diese polizeiwidrig dunkelviolette Jacke schon beim Weg die Treppen hinauf erspäht zu haben. Waren Lederimitationen etwa wieder in? Dazu weißer Schal und ungepflegter Bart, alles klar. Hippie oder Öko-Reicher, der nur aus Prestigegründen auf ein Auto verzichtete.

»Und Sie hätten pünktlich sein können. Hat vielleicht der Lippenstift nicht zu den Schuhen gepasst?«