K. T. Milner

Ritter Reloaded: Die Tafelrunde kehrt zurück

Aus dem Englischen übersetzt
von Ulrike Seeberger

Illustrationen von Timo Grubing

Herder

Impressum

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© KERLE

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.kerle.de

Titel der Originalausgabe: Knight

© Working Partners Limited 2014

Covergestaltung: Veronika Preisler, München

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80332-1

ISBN (Buch): 978-3-451-71295-1

Mit besonderem Dank an
Kathryn Borg

1

Der Tag, an dem man mir beinahe die Seele aus dem Körper gerissen hätte, fing in einer Limousine an.

Genauer gesagt in einem weißen Bentley, auf dessen Kühlerhaube Bänder flatterten. Ich saß in der Nobelkarosse mit Edwin, meinem zukünftigen Stiefbruder, und seiner Bande von idiotischen Freunden fest.

Ein kleiner Tipp, wenn ihr euch je in dieser Lage befinden solltet: Schenkt denen niemals Drinks aus der Minibar ein, weil ihr hofft, dass sie dann die Klappe halten. Das funktioniert nämlich nicht. Nach den Wodkas wurden sie nur noch lauter und sehr viel weniger komisch. Und dann fingen ihre Freundinnen auch noch an zu kichern und die Arme um mich zu legen und mich niedlich zu finden und mit Babystimmchen zu säuseln, sie liiiiiiebten meine Sommersprossen.

Ich wünschte, ich wäre zu Fuß zum Hotel gegangen. Ein langsamer Fußmarsch zum zweitschlimmsten Augenblick meines 14-jährigen Lebens.

Die Limousine glitt vor dem Claridges Hotel zum Halt. Dort stiegen schon Horden von laut redenden Männern in weißen Smokings und Frauen in Designerklamotten aus chauffeurgelenkten Autos aus und hauchten einander Küsschen an der Wange vorbei. Neben den herrschaftlichen Säulen am Eingang stand ein Portier in Uniform stramm. Ich machte schnell ein Bild mit meinem Handy und schickte es an Gavin, meinen besten Kumpel. Der musste jetzt gerade nachsitzen, weil ihm in der Hauswirtschaftsstunde ein kleines Missgeschick mit unserer Todessoße passiert war. Eigentlich sollte ich mit ihm dort sitzen, aber ich war wegen meines vorher ausgemachten Termins entschuldigt. „Ich Glückspilz“, dachte ich und musste grinsen. Doch dann sah ich das große Schild mit der Schnörkelschrift, und mir drehte sich der Magen um:

Claridges gibt sich die Ehre,

die Gäste zur Hochzeit von Hector Boomgardt

und Beth Veryan zu begrüßen.

Da stand es in Gold und Weiß. Meine Mum würde den guten alten Onkel Heck heiraten. Für mich ab jetzt nur schlicht Hector.

Man erwartete wohl von mir, dass ich aus der Limousine aussteigen würde, aber stattdessen starrte ich auf einen Obdachlosen, der auf der anderen Straßenseite auf dem Bürgersteig hockte. Ich glaube, er bildete sich ein, so eine Art Straßenzauberer zu sein: Er wirbelte Spielkarten herum wie ein Profi, aber niemand interessierte sich für ihn. Die Mütze, die vor ihm lag, schien leer zu sein. Na toll! Mir war sowieso schon übel, wenn ich bloß an die Hochzeit dachte, und jetzt musste ich auch noch ein schlechtes Gewissen haben, weil mein Smoking wahrscheinlich mehr gekostet hatte, als der Typ da drüben in einem ganzen Jahr einnimmt. Mein Handy piepste. Eine Antwort von Gav: Ohren steifhalten, Kumpel. Immer noch besser als Strafarbeiten.

Ich grinste vor mich hin und versuchte mit einem Finger, meinen viel zu engen und viel zu steifen Kragen ein bisschen zu lockern. Ich schwöre, die hatten mir das Hemd eine Größe zu klein gegeben; wahrscheinlich würde es mir noch während der Zeremonie die Luft abdrücken.

„Michael!“ Edwins Stimme brach dröhnend in meine Gedanken ein, und seine fleischige Riesenpranke zerrte mich vom Sitz. „Grins nicht so blöd. Wir warten auf dich!“

Edwin ist achtzehn und sieht aus, als hätte man ihn aus Corned Beef gebacken. Zu meinem persönlichen Pech hat er zudem die Statur eines Gorillas. Außer dass Gorillas ja ziemlich friedliche Tiere sind. Ich kletterte also auf den Bürgersteig raus und kratzte mich an der rechten Hand, die aus irgendeinem Grund wie verrückt juckte.

Ich sah mich um, während ich weiterkratzte. Was hatte ich hier verloren? Niemand beachtete mich, außer ein paar Männern in Jeans. Die starrten aber alle Leute der Reihe nach an. Ich wusste, wer die waren – Hectors private Sicherheitsleute. Mein Dad hat immer gesagt, dass man Sicherheitsleute in Zivil an ihren wachsamen Augen erkennen kann und daran, dass sie niemals lächeln. Zwischen ihnen stand Hector Boomgardt, der Mann, der gleich mein Stiefvater werden würde.

Er hatte sich neben der Tür postiert, damit er Leute begrüßen und Hände schütteln konnte. Es war leicht zu erkennen, woher Edwin seinen massigen Körperbau hatte. Hector wirkte eher wie ein Angreifer im Rugby als wie ein milliardenschwerer Energiebaron. Er sah mich und winkte mir. Ich hätte ihn wirklich gern gehasst, aber der Kerl gab nicht mal einen anständigen Bösewicht ab. Er war immer für unsere Familie da gewesen und hatte mir nie absichtlich wehgetan – außer natürlich, dass er sich mit meiner Mutter verlobt hatte.

Das Problem war, dass es ihn nur im Doppelpack gab. Wenn man einen Hector nahm, kriegte man kostenlos einen Edwin dazu.

Ich konnte gar nicht mehr mit dem Kratzen aufhören. Inzwischen breitete sich ein grellroter Fleck quer über meine ganze Handfläche aus.

„Was ist denn mit dir los?“, knurrte Edwin. „Hast du Flöhe?“

Seine unterbelichteten Freunde prusteten vor Lachen.

„Nein, ich bin auf dich allergisch“, antwortete ich. Ich starrte auf sein Riesenkinn und überlegte, wie gern ich meine Faust da hineinrammen würde. Ich wette, damit würde ich das Jucken sofort los. Schade nur, dass ich mir dabei wahrscheinlich auch die Hand brechen würde.

Edwin packte mit seinen Schweißpfoten meine Revers und reckte sein Gesicht vor, bis es nur noch Zentimeter von meinem entfernt war.

„Wenn du irgendwas sagst oder tust, das meinen Daddy ärgert, bist du tot, okay?“

Er ließ mich los, zog einen Zehn-Pfund-Schein aus der Brieftasche und stopfte mir den Schein in die Brusttasche, als wäre ich sein Bediensteter. Seine Kumpel und die Mädchen kicherten. „O ja, und danke für die Drinks, Barmann“, höhnte Edwin.

Ich zerknüllte den Zehner in der Hand und wollte ihm den Schein hinterherwerfen, als mir der Obdachlose einfiel. Während Edwin mit seinen Freunden davonstolzierte, rannte ich über die Straße zu dem Mann.

Aus der Nähe betrachtet, bot er einen seltsamen Anblick. Er trug eine Trainingshose, dazu einen braunen Pullover und ein zerlumptes blaues Hemd, das er sich wie ein Cape um den Hals gebunden hatte. Sein Gesicht war hager, die Nase schmal und gebogen, die Augenbrauen schräg, und darüber prangte grelloranges Haar mit schwarzen Strähnen. Es stand ihm wie Stacheln vom Kopf und sah aus, als hätte er es mit einer stumpfen Schere selbst geschnitten. Er roch auch nicht besonders gut. Der Gestank erinnerte mich an die toten Mäuse, die wir in dem Wildpark, wo ich zweimal im Monat ehrenamtlich mitarbeite, an die Raubvögel verfüttern.

„Hier, bitte!“ Ich hielt ihm den Schein hin und versuchte, nicht einzuatmen.

Ich dachte, er würde mir das Geld aus der Hand reißen, aber er blickte nicht mal hoch. Seine langen dünnen Finger ließen weiter die Spielkarten tanzen.

Ich versuchte es noch einmal. „Äh, Geld.“

Immer noch keine Regung. Dann verschwanden die Spielkarten mit einer einzigen Bewegung seiner mageren Finger, und er starrte mich lang und eisig an.

„Sehr großzügig“, sagte er und nahm den Schein. Das Geld verschwand mit einer weiteren Drehung seiner Hand. Ich stand da und kratzte mich. Er bemerkte es und lächelte selbstgefällig, als belustigte ihn das.

„Gern geschehen“, murmelte ich und ließ ihn damit stehen. Komischer Kauz.

Als ich wieder über die Straße zurückging und dabei den Limousinen auswich, die weitere Hochzeitsgäste absetzten, sah ich, dass Hector mir wieder vom Eingang aus zuwinkte. „He, Michael!“

Er ignorierte ein paar Gäste und kam mit besorgter Miene zu mir herüber. Er legte mir eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft.

„Wie geht’s dir, Mike? Großer Tag für uns alle, was?“

„Irgendwie schon“, antwortete ich. „Ich bin es einfach nicht gewöhnt, mich so zu verkleiden.“

„Du siehst sehr elegant aus“, meinte Hector und ließ seine Hand von meiner Schulter gleiten. Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Hör mal, ich weiß, dass das heute für dich nicht einfach ist. Dein Dad war ein wunderbarer Freund … mein bester Freund …“

„Schon in Ordnung“, sagte ich, und meine Stimme schien von einer anderen Person zu kommen. „Ich vermisse ihn auch.“

„Gut.“ Er lächelte. „Es wird alles gut. Und jetzt gehst du besser rein.“

Nun gab es kein Entrinnen mehr.

2

Champagner?“

Ich nahm ein Glas von dem Tablett, das mir der Kellner hinhielt. Der in Weiß und Gold geschmückte Empfangssaal war voller Leute, die nicht wussten, was sie mit mir reden sollten, und das war in Ordnung, denn ich wusste auch nicht, was ich mit ihnen reden sollte. Also stand ich allein da und vermied jeden Blickkontakt, bis Edwin neben mir auftauchte. Er riss mir das Glas aus der Hand.

„Nichts für kleine Jungs“, sagte er und kippte es in einem Zug herunter. Obwohl er behauptete, er könnte nicht mal meinen Anblick ertragen, stürzte er sich doch immer wieder auf mich. Jetzt stolzierte er kichernd davon.

Als Nächstes hielt mir jemand ein silbernes Tablett mit kleinen Knabbereien vor die Nase. Die junge Frau, die es servierte, zwinkerte mir zu und lächelte mich freundlich an. Ich glaube, sie hatte mitbekommen, wie Edwin mich gepiesackt hatte. „Nimm dir gleich eine Handvoll. Eines ist ja gar nichts. Die sind so winzig.“

Ich befolgte ihren Rat. Zumindest eine Person war auf meiner Seite. Hätte ich bessere Laune gehabt, so hätte ich mir ein ruhiges Eckchen gesucht und Gavin ein Video geschickt, auf dem ich ihm bewies, wie viele von den Dingern ich mir auf einmal in den Mund stopfen konnte.

„Schon besser“, sagte die Kellnerin. „Du hast ausgesehen, als würde dir gleich übel.“

„Das wird’s mir vielleicht noch“, erwiderte ich.

Aber vor der Hochzeit hatte ich noch etwas zu erledigen, und das war wichtiger, als mich unter Hectors Freunde zu mischen. Hier gab es nur eine einzige Person, an der mir etwas lag.

„Können Sie mir sagen, wo das Ankleidezimmer der Braut ist?“, fragte ich die Kellnerin.

Sie führte mich durch einige weitere Empfangsräume, die ebenfalls mit weißen Rosen geschmückt waren. An den Wänden prangten große Spiegel, in denen ich mich sehen konnte: Blass und elend steckte ich in diesem blöden Anzug. Mein blondes Haar war nach hinten gegelt, und ich ging mit hängenden Schultern, wie ein Gefangener, den man in seine Zelle führt.

Endlich blieb die Kellnerin am Ende eines Korridors stehen und deutete mit dem Finger den Flur entlang. „Dritte Tür links.“

Ich dankte ihr und ging mit leisen Schritten über den dicken Teppich. Ein Wachmann stand draußen vor der Tür und starrte mich an, als hätte ich eine Kalaschnikow unter der Smokingjacke versteckt.

„Tut mir leid“, sagte er. „Mrs Boomgardt möchte nicht gestört werden.“

Der Name ließ mich zusammenzucken. „Gerade eben war sie noch Mrs Veryan“, antwortete ich. „Und ich bin ihr Sohn.“

Nach einem kleinen Zögern trat er zur Seite und erlaubte mir einzutreten.

Die Tür führte in eine Suite, die gestopft voll war mit Rüschenkleidern auf einer Kleiderstange und noch mehr weißen Rosen. Ihr Duft hing schwer in der Luft. Ich hasse Blumenduft – er erinnert mich an Beerdigungen. Aber dem Filmstar, der am Frisiertisch saß, schien er nichts auszumachen. Eine junge Frau rannte eifrig mit einem Make-up-Pinsel um die Frau herum.

Ich hüstelte nervös. Der Filmstar drehte sich um und verwandelte sich in meine Mum.

„Hallo, Mikey!“, rief sie fröhlich.

So begrüßte sie mich immer. Wir grinsten einander an.

„Also, Donnerwetter, Mütterlein, du siehst wirklich hinreißend aus“, sagte ich mit meiner vornehmsten Stimme.

Mum lachte leise. „Ach, hör doch auf!“

Die Make-up-Frau starrte uns an. Mum drehte sich zu ihr um.

„Lassen Sie uns ein paar Minuten allein, Sarah, seien Sie so gut, Schätzchen.“

Als die junge Frau gegangen war, hing ein Schweigen im Raum. Ich glaube, wir warteten beide darauf, dass der andere zuerst sprechen würde.

Beth Veryan, die schon bald Elizabeth Boomgardt sein würde. Meine Mum. Wie immer sie auch hieß, sie sah einfach umwerfend aus. Ihr Kleid bestand aus fantastisch vielen Metern Seide und Spitze. Wahrscheinlich hatte es auch fantastisch viel Geld gekostet, bei Hector wusste man das nie. Mir gefiel sie besser, wie sie vor einem Monat ausgesehen hatte, als wir noch in unserem alten Haus wohnten. Da war sie Yoga-Lehrerin. Das klingt ja eigentlich friedlich und sanft, aber da kennt ihr meine Mum schlecht. Ihr Yoga war die Wahnsinnssorte, von der man Muskeln wie Bruce Lee und eine unerschütterliche Ruhe bekommt.

„Das ist alles völlig abgefahren“, sagte ich.

Sie warf mir ein mitfühlendes Lächeln zu. „Ich hoffe, du fängst jetzt nicht wieder an zu schreien.“

„Nein.“ Ich legte die Hand aufs Herz. „Die Tobsuchtsanfälle sind vorbei. Versprochen.“

Sie reichte mir ein kleines dünnes Päckchen von ihrem Tisch.

„Es ist ein Geschenk von Hector. Zur Erinnerung an die Hochzeit. Er denkt immer an dich.“

Ich machte es auf. Es war einer von diesen schicken Füllern mit Goldfeder, die Sorte, bei der man immer vergisst, Tinte nachzufüllen, sodass man schließlich doch mit dem Kuli schreiben muss. Eingraviert waren die Worte: Für Michael, willkommen in der Familie Boomgardt.

Ich drehte den Füller in den Fingern und tat so, als bewunderte ich ihn. „Mmm. Glänzender Füller. Super.“

Mum unterdrückte ein Lachen. „Ach, hör auf! Es ist ein wunderschönes Geschenk.“

„Vielleicht werden damit meine Hausaufgaben besser. Zumindest verleiht er ihnen einen goldenen Schimmer“, sagte ich und steckte das Ding in die Tasche. Insgeheim dachte ich, dass ich auf gar keinen Fall in der Schule damit schreiben würde.

Als ich aufblickte, starrte mich Mum an. „Freu dich für mich, ja, Mikey?“, bat sie.

Ich war nicht sicher, ob ich das schaffen würde. Ich vergrub die Hände in den Hosentaschen und sah Mum nicht an.

Ich musste immer an das Foto denken, das in unserem alten Haus auf dem Kaminsims stand. Sie und Dad an ihrem Hochzeitstag, lachend, weil sie sich eine Stunde vom Lernen für die Abschlussprüfung an der Uni freigenommen hatten, um rasch zu heiraten. Hector war ihr Trauzeuge, verglichen mit heute eine schäbig gekleidete, langhaarige Bohnenstange. Mum hatte einen Knopf in der Nase, und sogar mein Dad hatte Piercings in den Ohren. Als er Rechtsanwalt wurde und vor Gericht Schwerverbrecher anklagte, musste er die rausnehmen. Man sieht ja, was ihm das gebracht hat.

„Dein Dad würde es verstehen“, sagte Mum. Meine Gedanken waren wohl nicht sonderlich schwer zu lesen. Ich wollte antworten, dass ich ihr das nicht abnahm. Ich wollte sagen, dass seit dem schlimmsten Tag meines Lebens erst achtzehn Monate vergangen waren. Damals hatten wir auf dem Friedhof von St. Marys gestanden und uns von Dad verabschiedet. Er war gestorben, während er tat, was er liebte – Hubschrauber fliegen. Pilotenfehler, hatten sie bei der Gerichtsverhandlung entschieden.

„Ich weiß“, sagte ich. „Ich freue mich für euch beide. Ehrlich.“

Mum stand auf. Sie strich mir das Haar zurück. Sie versuchte, Blickkontakt mit mir aufzunehmen, aber ich sah sie nicht an. Plötzlich schienen mir meine glänzenden schwarzen Schuhe das Interessanteste im ganzen Zimmer zu sein. „Heck hat uns geholfen, vergiss das nicht“, sagte sie leise. „In den schrecklichen Wochen nach dem Absturz. Er war für mich da.“

Ich hätte mich um dich gekümmert.“

Sie nahm mich beim Kinn und zwang mich, ihr in die Augen zu sehen. „Du versuchst immer, dich um alle zu kümmern! Dein Dad wäre stolz auf dich.“ Sie blinzelte ein paar Mal. „Aber ich bin keine ach so schwache Maid aus dem letzten Jahrhundert. Ich kann schon für mich selbst sorgen.“

Ich holte tief Luft und merkte, dass ich rot wurde. Aber ich musste es einfach fragen. „Bist du eigentlich … du weißt schon … in Hector verliebt?“

„Natürlich!“ Sie wich meinem Blick aus, zog aus der am nächsten stehenden Vase eine weiße Rose und steckte sie mir ins Knopfloch meines Smokings.

„Da. Und jetzt raus mit dir.“ Sie schob mich sanft in Richtung Tür. „Du bist ein zäher Bursche, Mikey. Du wirst es überleben. Und eines Tages verstehst du es.“

„Was?“, fragte ich.

„Dass ich alles nur für dich mache, Babe.“

Aus irgendeinem Grund lief es mir kalt den Rücken herunter, aber ich brachte mit Mühe ein lahmes Grinsen zustande. „Tausend Dank, Ma.“ Ich verneigte mich förmlich. „Dein liebster Sohn verlässt dich jetzt, damit du dich fertig machen kannst.“

Auf dem Weg nach draußen ließ ich den Kopf hängen, damit ich ihr nicht noch einmal in die Augen schauen musste. Jetzt drückte mir nicht nur der Kragen meines Hemdes die Luft ab, sondern auch der Kloß, den ich im Hals hatte.

3

Wie vorauszusehen, entpuppte sich die Hochzeit als Albtraum. Eigentlich hätte ich in dem prunkvollen Ballsaal in der ersten Reihe neben Edwin sitzen und sie mir ansehen sollen, aber als die Zeremonie anfing und die Musik aufbrauste, reichte ein Blick auf Mum, die in ihrem atemberaubenden Kleid den Mittelgang entlangkam, und ich hielt es nicht mehr aus. Ich brauchte frische Luft. Ich verdrückte mich vom Ende der Reihe und ergriff die Flucht.

Ich machte mich auf den Weg zum Seiteneingang des Hotels. Als ich durch die Schwingtür rannte, krachte ich mit einem Mädchen mit leuchtend grünen Haaren zusammen. Es waren keine grünen Strähnchen oder Strähnen, sondern das Haar war durch und durch grün wie gerade gegossenes Gras. Als wir uns beide wieder gefangen und von dem Aufprall erholt hatten, starrten wir einander an. Auch ihre Augen waren grün.

„Wo ist er? Wo ist Hector Boomgardt?“, wollte sie wissen.

„Er ist … äh … er heiratet gerade. Meine Mum, meine Mutter. Ich bin sein … äh … Stiefdings.“

Großartig! Genau der richtige Moment, um sich in einen stotternden Trottel zu verwandeln.

Sie schwenkte ein Plakat und wedelte mir damit vor dem Gesicht herum. Darauf stand: „SOS! Rettet unsere Seevögel!“ Jetzt wusste ich, zu wem sie gehörte. Man hatte mich vor den Protestierern gewarnt. Boomgardt Energy, Hectors Unternehmen, wollte in der kommenden Woche vor der Küste von Cornwall eine Ölbohrinsel in Betrieb nehmen. Die Umweltschützer waren wirklich sauer deswegen.

„Du kannst nicht mitten in die Hochzeit platzen“, murmelte ich. „Mir liegen die Vögel auch am Herzen, aber ich kann dir nicht helfen …“

„Warum?“, wollte sie wissen, und ihre Edelsteinaugen sprühten Funken.

Ich zögerte. Wie sollte ich ihr erklären, dass ich jetzt zur Familie Boomgardt gehörte und um Mums willen das Spiel mitmachen musste? Obwohl ich das wirklich nicht wollte? Doch ich bekam gar keine Gelegenheit, irgendwas zu sagen. Einer von Hectors Wachmännern tauchte hinter ihr auf und packte sie bei den Schultern.

„Lass mich los!“, schrie sie, ließ ihr Plakat fallen und trat nach ihm. Ich schaute zu, wie sie weggeschleift wurde, während mein Mund auf- und zuklappte, als wäre ich ein gestrandeter Fisch. Als ich meine Sinne wieder beisammen hatte, folgte ich ihr.

Draußen stand eine Wand aus schwarzen Anzügen, dahinter wurden Plakate geschwenkt. Sprechchöre riefen: „Was, was, was? – Boomgardt raus! Wann, wann, wann? – Heute noch!“

Ich quetschte mich zwischen den aufgereihten Wachmännern zum Bürgersteig durch und bahnte mir einen Weg durch die protestierende Menge. Während ich nach dem Mädchen suchte – ich wollte den Sicherheitsleuten sagen, sie sollten es nicht so grob behandeln –, packte mich plötzlich eine Hand am Arm. Eine Sekunde lang meinte ich, ich hätte das Mädchen gefunden, aber der starke Gestank nach toter Maus belehrte mich eines Besseren.

Der Obdachlose war wieder da. Ein Teil von mir dachte: „Mann, ich hab dir schon einen Zehner gegeben.“

„Geh wieder rein“, sagte er in bestimmtem Ton. „Hier draußen ist es nicht sicher.“

Ich schüttelte seine Hand ab. „Die sind harmlos“, erwiderte ich und warf einen Blick zurück auf die Protestierenden. „Die haben es nicht auf mich abgesehen.“

Er seufzte ungeduldig. „Die doch nicht. Hier gibt es ganz andere Gefahren.“

Ich runzelte die Stirn. „Ich komm schon klar, danke“, sagte ich und schob mich an ihm vorbei.

Der Verrückte versuchte mich noch einmal zu packen, aber diesmal war das Glück auf meiner Seite. Gerade kam eine Gruppe von Hotelgästen an, und ein ganzes Team von Hotelpagen schob Wagen mit teuren Gepäck-Sets vor sich her. Rasch sprang ich vor ihnen auf die andere Seite. Der Obdachlose war nicht so schnell. Er blieb hinter ihnen stecken.

„Immer das Gleiche“, hörte ich ihn murmeln. „Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe mache.“

„Dann lass es doch“, rief ich ihm zu.

Ich gab den Versuch auf, das Mädchen zu finden, und beschleunigte meine Schritte. Ich wollte einfach nur weg von allem. Am Ende der Straße bog ich in die Oxford Street ein. Hier musste ich langsamer gehen, weil sich jede Menge Touristen und Einkaufslustige auf den Bürgersteigen drängten. Immer wieder stieß ich mit Leuten zusammen. Nach ein paar Minuten hielt ich es nicht mehr aus und ging in einer Nebenstraße weiter. Ich bog nach links, dann nach rechts ab.

Schon bald war ich ganz allein. Mit den hohen, fensterlosen Bürogebäuden zu beiden Seiten wirkte diese schmale Straße wie ein Canyon. Meine Schritte hallten laut, und ein kalter Windstoß wehte eine Cola-Dose und Fast-Food-Behälter durch den Rinnstein.

Irgendwas stimmte hier nicht. Mir standen die Nackenhaare zu Berge. Ich machte kehrt, um wieder zur Hauptstraße zurückzugehen – und blieb stehen. Drei Männer in Kapuzenshirts kamen nebeneinander auf mich zu. Die Köpfe gesenkt, alle im perfekten Gleichschritt, mit im Takt schwingenden Armen. Es war gruselig, als wäre es eigentlich nur eine einzige, dreimal wiederholte Person.

„Reiß dich zusammen“, ermahnte ich mich. Vielleicht gingen die immer so, vielleicht interessierten sie sich überhaupt nicht für einen Jungen im Smoking, der ganz allein hier unterwegs war. Ich trat zur Seite. Sie schwenkten ebenfalls ab und bewegten sich weiter schnurstracks auf mich zu. Oh, oh. In meinen Taschen waren nur mein Handy und Hectors Erinnerungsfüller, aber das konnten die drei ja nicht wissen.

Links von mir war eine schmale Gasse. Rasch bog ich dort ein und hoffte, dass sie mich aus den Augen verlieren würden. Typisch für mich – es war eine Sackgasse! Mit klopfendem Herzen machte ich auf dem Absatz kehrt, betete, dass sie vorbeigehen würden, dass sie mich doch nicht überfallen wollten. Keine Chance. Da standen die drei und versperrten mir den Weg aus der Gasse.

Sie hatten ihre Kapuzen so tief heruntergezogen, dass ich ihre Gesichter nicht sehen konnte. Zu beiden Seiten hingen weiße, zottelige Haarsträhnen heraus. Noch seltsamer: Ich bemerkte, dass ihre Kleidung klatschnass und völlig verdreckt war. Ihre schlammigen Schuhe patschten. Aus zehn Metern Entfernung wehte mir ein widerwärtiger Gestank nach faulen Eiern entgegen. Wo waren die hergekommen? Aus der Kanalisation?

„’tschuldigung, darf ich mal vorbei?“, fragte ich und bemühte mich nach Kräften, nicht mit Kieksstimme zu sprechen.

Unter den Kapuzen hervor war ein Zischen zu hören. Ich streckte die Hände aus und zuckte die Achseln. „Hört mal, ich hab kein Geld dabei.“

Mein Herz pochte wie wild, als ich ein paar Schritte auf die drei zu machte. Einer von ihnen schob sich mit einer geschmeidigen Bewegung direkt vor mich. Ich konnte nur seine verdreckte Kapuze, die schmutzigen Haarsträhnen und widerliche weiße Hände mit schwarzen Fingernägeln sehen. Erst die Limousine und Edwin, dann die Hochzeit meiner Mutter – und jetzt das hier. Konnte mein Leben noch schlimmer werden?

Der Anführer warf mit einem gemeinen Kichern seine Kapuze zurück, und ich erblickte sein Gesicht.

Ich würgte. Ja, es konnte noch schlimmer werden.

4

Sein Kopf sah aus, als hätte man einen Totenschädel mit der pulsierenden, durchscheinenden Haut einer Made überzogen. Sein Kiefer klaffte unglaublich weit auf und war mit nadelspitzen Zähnen bestückt. Kleine, unmenschlich schwarze Augen glitzerten in tiefen Höhlen, und die Nase dieses Geschöpfes bestand nur aus zwei Schlitzen als Nasenlöchern.

Als auch die beiden anderen ihre durchnässten Kapuzen zurückstreiften, hob sich mir von dem Gestank nach faulen Eiern der Magen.

Das waren keine Straßenräuber. Das waren nicht einmal Menschen.

Einer stieß ein gurgelndes Flüstern aus: „Er erinnert sich nicht mehr an uns.“

„Ich – ich glaube, ihr verwechselt mich mit jemandem“, stammelte ich.

„Nein, du bist es!“, röchelte ein anderer.

„Ich zuerst“, hauchte der Letzte und sabberte.

Er schaute mich gierig an, während sich die anderen beiden mit einem enttäuschten Zischen zurückzogen. Eine lange dünne Zunge schnellte zwischen seinen Zähnen hervor.

„Meine Kumpel sind nur um die Ecke“, bluffte ich. „Macht besser, dass ihr wegkommt.“

„Bei dir ist überhaupt niemand. Du bist ihm entwischt“, zischte das Monster. Seine totenbleichen Finger schossen vor und packten mich beim Handgelenk. Ich schrie auf, als ich die kalte, schleimige Berührung spürte. Es fühlte sich an, als wären die Knochen in meinem Arm zu glibberigem Gelee geworden. Eine Woge der Müdigkeit schwappte über mich hinweg.

Befreie dich oder stirb, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Leichter gesagt als getan! Alle Farbe wich aus der Welt, machte die trostlose Straße noch grauer. Ich schwöre, ich merkte, wie sich mein Herzschlag verlangsamte. Eine ausgefranste Schwärze drang vom Rand meines Gesichtsfeldes immer weiter vor.

„Er spürt schon die Schwächung“, flüsterte die Kreatur.

Mein Körper sagte schlafen, aber die kleine Stimme in meinem Kopf sagte kämpfen. Meine Muskeln erwachten mit einem Ruck wieder zum Leben. Es war, als bewegte ich mich durch dicken Sirup, aber nun brachte ich meinen anderen Arm nach vorn und schlug dem Kerl ins Gesicht.

Er lachte zischend und packte mein Handgelenk noch fester. Ich trat und schlug mit aller Kraft um mich, während die anderen beiden um uns herumgingen. „Saug ihn aus!“, flüsterte der eine.

Ich fiel auf ein Knie und versuchte noch weiterzukämpfen, aber langsam raubte mir dieser eisige Klammergriff jeden Willen zum Widerstand. Irgendwo in meinem immer leerer werdenden Schädel drängte mich die kleine Stimme, mir eine Waffe zu suchen, egal welche. Aber es war nichts da, kein Stock oder Stein, den ich erreichen konnte, und in meinen Taschen hatte ich nur ein Telefon und einen Füller. Moment – der Füller! Ich kramte in meiner Tasche danach.

„Wehr dich nicht“, schlabberte mir das Monster ins Ohr. „Du weißt, dass es nichts nutzt.“

Die Müdigkeit klatschte wie eine Welle gegen mich. Mit verschwommenem Blick sah ich das triumphierende Lächeln des Ungeheuers. Er pflückte mir die Blume aus dem Knopfloch und hielt sie mir vor die versagenden Augen.

„Keine Hochzeit mehr für dich!“ Dann warf er die Rose weg.

Die weiße Rose ließ das Gesicht meiner Mum deutlich vor meinem inneren Auge erscheinen. Ich würde sie niemals wiedersehen. Nach meinem Vater würde sie nun auch mich verlieren. Ich erinnerte mich daran, wie sie mir die Blume ins Knopfloch gesteckt hatte. Ihre Stimme hallte in meinem Kopf wider: Du bist stark, Michael. Du kannst das hier überstehen. Von irgendwo kam auf einmal neue Energie.

Ich zog den Füller aus der Tasche, hebelte die Kappe ab und stach mit letzter Kraft damit wie wild auf das Geschöpf ein. Die scharfe Metallspitze traf mit einem Quatschen auf die Madenhaut am Hals der Kreatur. Ein Schrei, und dann wehte mir eine Woge stinkender Luft ins Gesicht. Der Klammergriff an meinem Arm lockerte sich, und die Farben fluteten in die Welt zurück. Das Geschöpf sackte neben mir zusammen. Es war kein Aufprall zu hören, als seine Knie auf den Bürgersteig auftrafen, nur ein knochenloses Quatschen. Es lag da und krümmte sich und verging vor meinen Augen wie eine mit Salz bestreute Nacktschnecke. Seine Schultern sackten nach unten, und das Kapuzenshirt zerknitterte, als sein Kopf und sein Körper dahinschmolzen. Noch ein paar Sekunden, und ich starrte nur noch auf einen Haufen stinkender, nasser Kleider und eine Schleimpfütze. Ich hatte das Ding umgebracht!

Sein Kumpel versetzte mir einen Schlag vor die Brust und warf mich platt auf den Rücken. Ich war wie am Boden festgenagelt. Das grausige Gesicht des Kerls schwebte über mir, weil er auf meinem Brustkorb hockte.

„Jetzt bin ich dran!“ Spucke sabberte aus seinem weit offen stehenden Maul.

Ich zielte erneut mit dem Füller, aber er war darauf vorbereitet und schlug ihn mir aus der Hand. Verzweifelt streckte ich die Hand nach dem Füller aus, der über den Asphalt rollte. Die dritte Kreatur stieß ein zischendes Lachen aus und kickte den Füller noch weiter weg.

„Hm. Jetzt kriegen wir seine leckere Seele“, höhnte der Kerl, der auf meiner Brust saß.

Seine Hände glitten um meinen Hals, und die Finger verströmten Kälte. Die Welt wurde wieder grau, während mir der Hals, der Kopf und dann sogar das Gehirn einzufrieren begannen. Ich packte seine Hände und zerrte, aber der Schleim quoll mir zwischen den Fingern hervor. Ich konnte meine Finger nicht bewegen. Meine Hände gruben sich weiter ein – hatte der Kerl keine Knochen?

Irgendwo hinter diesem grässlichen Kopf bemerkte ich etwas am Himmel. Einen kleinen schwarzen Punkt ganz weit oben. Ich konzentrierte mich mit aller Kraft darauf. Ich wusste, wenn mir jetzt die Augen zufielen, würde ich sie nie wieder öffnen.

Die Lider wurden mir schwer.

Iiiiiick! Über mir kreischte gespenstisch die Todesfee.

Der Punkt wurde größer. Und größer. Er nahm Gestalt an. Eine schwarze Silhouette. Die Flügel waren geschwungen, der Schweif aufgefächert, während er reglos über mir in der Luft stand. Dieser Umriss war unverwechselbar: ein Falke!

Der Vogel hing einen Augenblick lang in der Luft. Dann legte er die Flügel an.

Er stürzte sich herab.

Zweihundert Meilen in der Stunde – so schnell ist ein Falke im Sturzflug, er ist das schnellste Lebewesen auf Erden. Mit ausgestreckten Krallen kam er herabgesaust. Flatsch! Er krachte geradewegs in die Kreatur, und es klang, als hätte man mit dem flachen Spaten auf einen Wackelpudding geschlagen. Die Krallen des Falken packten den Madenkopf. Einen Moment lang sahen mich die bösartigen kleinen Augen der Kreatur voller Hass an. Dann traten sie dem Geschöpf wie Murmeln aus dem Kopf. Und dann explodierte es in einem Schwall von Schleim, der mich mitten ins Gesicht traf.

Ich rollte mich zur Seite und erhob mich taumelnd, wischte mir Teile des Schleimwesens aus den Augen und zwinkerte wie verrückt. Ich erwartete, dass mich jeden Moment eine weitere glibberig kalte Hand packen würde. Stattdessen hörte ich von der Straßenmitte ein Schleifen. Metall auf Metall. Ich wirbelte herum und sah gerade noch, wie das dritte Geschöpf in einem offenen Abwasserschacht verschwand und den Kanaldeckel hinter sich zuzog.

Was zum Teufel war hier gerade passiert? Die drei waren weg, und ich lebte noch! Die zwei Schleimflecken auf der Straße verschwanden allmählich wie trocknende Pfützen. Benommen hob ich die zerzauste weiße Rose vom Gehsteig auf und steckte sie in die Überreste meiner Jackentasche. Der Smoking sah schlimm aus, er war völlig verdreckt, und ein Ärmel war zerrissen. Mein Handgelenk und mein Hals schmerzten wie verrückt, wo diese Kreaturen mich gepackt hatten. In dem Augenblick konnte ich nur einen Gedanken fassen: Das glaubt mir Gavin nie im Leben!

Ich glaubte es ja selbst nicht.

Ein Krächzen ließ mich herumfahren. Der Falke saß mitten auf der Straße und blitzte mich mit wilden Augen an. Er hatte keinen Ring am Fuß, es musste also ein wilder Falke sein. Aber der natürliche Lebensraum eines Falken ist doch der Wald, nicht die Stadtmitte von London. Ich streckte den Arm aus und pfiff leise, wie es die Falkner in den Tierparks machen. Der Vogel starrte mich weiter an, und einen Augenblick lang dachte ich, er bereitete sich darauf vor, diesmal mich zu attackieren.

Stattdessen sagte er: „Na, das ist ja eigentlich ganz gut gelaufen, unter den Umständen.“

Ich machte vor Schreck einen Sprung zurück. „Das kann doch jetzt nicht wahr sein!“

Der Vogel begann zu beben und … sich zu verändern.

Er schwoll an. Sein Umriss verzog sich, die schwarz und golden getupften Federn explodierten zu einer Punkfrisur, die blaugrauen Schwingen reckten sich und wurden zu einem Hemd, das sich ein Mann um den Hals gebunden hatte. Die fedrigen Beine wuchsen nach unten, und die Krallen verwandelten sich in ramponierte Turnschuhe.

Der Obdachlose stand vor mir.

Er schüttelte sich wie ein Vogel, der sein Gefieder richtet, und fixierte mich mit Augen, die genauso scharf waren wie die des Falken. Dann deutete er mit einer schmalen Hand auf die Schleimpfützen.

„Das nächste Mal hörst du vielleicht auf mich, hmm?“, sagte er.

Meine Beine wollten losrennen und nicht eher stehen bleiben, bis ich ganz weit weg war. Aber der Rest von mir wollte Antworten. Ich fand die Sprache wieder.

„Wie hast du das gemacht?“, platzte es aus mir heraus. „Hat Edwin dich dazu angestiftet?“

Der Mann verschränkte die Arme. „Was meinst du?“, fragte er zurück.

Ich kramte mein Handy aus der Tasche. „Ich rufe die Polizei.“

Der Mann zog eine Augenbraue in die Höhe. „Wirklich? Das wäre interessant. Ich bin mir sicher, dass die Bobbys in London bestens über die Geh-Abruki Bescheid wissen.“

„Wie bitte?“ Es hörte sich an, als hätte er geniest.

Er kickte die Kleidung der Monster in den Rinnstein. „Geh-Abruki. Seelenfresser. Sie leben wie die Nacktschnecken in der Friedhofserde. Nachts graben sie sich aus und bewegen sich durch die Kanalisation, um ihre Opfer zu finden.“

Das war’s! Edwin hatte die Knabbereien vergiftet, und jetzt hatte ich Wahnvorstellungen.

„Nein, hast du nicht“, sagte der Mann.

Ich zuckte zusammen. Ich hatte nicht laut gesprochen.

„Die wollten deine Seele“, fuhr er fort und begann, in schnellem Tempo die Straße hinunterzugehen. „Wenn es ihnen gelungen wäre, dann wäre deine Verbindung zur Tafelrunde verloren gegangen.“

Ich rannte hinter ihm her und streckte die Hand aus. „Was hast du gesagt?“

Der Mann blieb stehen. „Wir müssen uns unterhalten. Hast du Hunger?“

Wie konnte er nach allem, was geschehen war, über Essen sprechen? Dann knurrte mein Magen. Ich hatte heute nicht einmal gefrühstückt.

„Ich habe auch Hunger“, meinte er. „Die Fliegerei verbraucht Tausende von Kalorien.“ Er zwinkerte mir zu. „Und Mäuse können einfach mit einem Hamburger nicht mithalten.“ Er ging weiter die Straße entlang. „Komm schon“, rief er mir über die Schulter zu.

Ich blieb wie angewurzelt stehen. „Wer bist du?“, schrie ich.

Er drehte sich um und ging rückwärts weiter.

„Wer du bist, das ist wichtig.“

5

Ich bin Michael Veryan.“

Wir saßen im Burger King an der Oxford Street beim Fenster. Ich hatte mein Jackett und meine Krawatte abgelegt und versuchte, mir mit einer Serviette den Schleim von der Hose zu wischen, aber die Leute schauten immer noch, besonders die beiden jungen Frauen am Nebentisch. Wir hatten jeder einen Hamburger verschlungen, die – peinlich genug – er bezahlt hatte.

„Ja und nein“, meinte er.

Er saß mir gegenüber und ließ eine Ein-Pfund-Münze von einem Finger zum anderen tanzen, hin und her, vor und zurück. Es machte mich wahnsinnig.

„Was soll das denn heißen?“, fragte ich.

Er fixierte mich mit seinen scharfen Augen. „Was weißt du über die Ritter der Tafelrunde?“

Na großartig! Er wollte über Mythen und Sagen reden. „Die Ritter von König Artus?“, fragte ich, um ihn bei Laune zu halten. „Camelot und Heiliger Gral und Excalibur?“

„Das findest du komisch?“, fragte er.

„Na ja, wenn man an Zauberschwerter und Märchen glauben möchte …“

„Schon mal ein Zauberschwert gesehen?“, fragte er brüsk. „Nein? Dachte ich mir. Das Schwert Excalibur ist aus reinstem Stahl geschmiedet und tausendmal gefaltet und geschlagen worden. Seine Schneide ist so scharf, dass es ein einzelnes in die Luft geworfenes Haar von einem Ende zum anderen spalten könnte.“

„Ja, gut …“, setzte ich an. Aber plötzlich wirbelte vor meinem geistigen Auge das Bild eines Schwertes, dessen Stahlklinge schimmerte und dessen Griff mit Smaragden verziert war, die so grün leuchteten wie die Augen des protestierenden Mädchens. Ich sah es so klar vor mir, dass ich unwillkürlich den Kopf schütteln musste. Die beiden jungen Frauen am Nebentisch begannen, hinter vorgehaltener Hand zu lachen. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. „Hast du das gerade gemacht?“, fragte ich den Mann.

Der lächelte nur und schnipste seine Münze. Ich schwöre, obwohl ich ihn gerade erst kennengelernt hatte, war mir so, als hätte er mich schon seit ewigen Zeiten genervt.

„Unser Geschichtslehrer sagt, es gäbe keinerlei Beweise dafür, dass Camelot je existiert hat“, meinte ich. „Das ist nur eine Sage.“

„Schön wär’s!“, erwiderte der Mann. „Mein Leben wäre viel einfacher gewesen, wenn ich nicht auf einen Haufen störrischer, heißblütiger Ritter hätte aufpassen müssen.“ Aus irgendeinem Grund starrte er mich an, während er das sagte.

„Du bist verrückt.“

Ich stand auf. Er machte eine komplizierte Handbewegung, und seltsamerweise setzte ich mich wieder hin.

„Ich spreche von den Rittern der Tafelrunde“, sagte er mit strenger Stimme. „Galahad, Lancelot, Gawain. Weißt du wirklich gar nichts darüber?“

„Die Namen kommen mir irgendwie bekannt vor“, antwortete ich. „Ein bisschen wie Frodo und Gandalf.“

Er seufzte. „Also, ich sage dir jetzt, wie es wirklich war. Die Filme und Bücher kannst du vergessen. Artus war unser größter Kriegerkönig. Er hat das Land geeint und das Volk gerettet. Er scharte die tapfersten und besten Ritter aus aller Welt um sich und bildete sie dazu aus, an seiner Seite zu kämpfen. Und damit keiner von ihnen glaubte, über den anderen zu stehen, schuf er die Tafelrunde – so saßen sie alle an gleich wichtiger Stelle. Dann kämpften sie miteinander, um das Land zu befreien – und zwar von Drachen, Werwölfen …“

„Und Geh-Abruki?“, fragte ich.

Er nickte. „Aber du hast auch keine bessere Erklärung für das, was dir eben zugestoßen ist, scheint mir.“

Ich schaute mich um, aber die beiden jungen Frauen benutzten ihre Handys, und niemand sonst hörte zu.

„Keine Sorge, ich versuche, mir gerade eine auszudenken“, dachte ich. „Was hat das alles mit mir zu tun?“

Der Penner saugte an seinem Strohhalm und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Als Artus starb“, sagte er, „hat man seinen Leichnam auf die Insel Avalon gebracht, und dort wurde er beigesetzt. Weißt du, was auf seinem Grabmal stand?“

„Ich lass mich überraschen.“

Hier liegt Artus, der vergangene und künftige wahre König“, sagte er. „Artus’ letztes Versprechen. Wann immer sein Königreich in Gefahr schwebte, würde er wiedergeboren und erneut kämpfen. Als seine Ritter …“, er deutete mit einer Fritte auf mich, „diese Worte lasen, legten sie einer nach dem anderen die Hand auf das Grabmal und verschrieben ihre Seele seiner Sache. Wenn Artus zurückkehrte, dann würden sie wieder an seiner Seite kämpfen.“

Mein Herz klopfte wie verrückt. „Willst du mir etwa sagen, dass da irgendwo eine Armee von Rittern im Verborgenen nur auf seinen Aufruf wartet?“

Der Mann lachte und deutete mit einem Finger auf mich. „Nein, nicht im Verborgenen. Du bist doch hier direkt vor meiner Nase!“

Ein weiteres Bild schoss durch meine Gedanken. Ich saß auf dem Rücken eines Pferdes, tief nach vorn gebeugt, eine Lanze in der Hand. Das Donnern der Hufe erfüllte meinen Kopf. Ich zwinkerte das Bild fort. „Hör bitte damit auf!“

„Betrachte das als deinen Aufruf“, erwiderte er. „Du hast die Seele eines Ritters. Seit deiner Geburt wartest du auf diesen Augenblick.“

„Ich sollte auf jeden Fall die Polizei rufen“, dachte ich. „Und diesen Verrückten verhaften lassen.“ Aber irgendwas ließ mich zögern. „Warum ich?“, fragte ich.

„Nicht nur du. Deine Ritterfreunde wachen auch gerade auf“, sagte er so ruhig, als erklärte er mir, es würde morgen Regen geben.

„Wo?“, wollte ich wissen.

„Ganz in der Nähe. Sie sind nie weit entfernt. Du musst sie finden, bevor Geschöpfe wie die Geh-Abruki sie aufspüren.“

„Also halte ich einfach nach den Jungs in voller Rüstung Ausschau, die die Straße entlanggeritten kommen?“

Er wedelte unbeeindruckt mit der Hand. „Nimm die Sache bitte ernst.“

Das war ein starkes Stück, ausgerechnet aus seinem Mund. „Und Artus? Ich nehme an, der spaziert auch irgendwo herum?“

Er nickte. „Euer König wird erscheinen, wenn die Zeit reif ist. Eure Aufgabe ist es, darauf vorbereitet zu sein.“ Er begann, in aller Seelenruhe unsere Pappschachteln und Becher auf das Tablett zu packen, so als ginge hier überhaupt nichts Ungewöhnliches vor sich.

„Also, wenn ich ein Ritter bin – wer bist dann du?“, fragte ich.

Das brachte ihn zum Lachen. Eine schräge Augenbraue wanderte nach oben. „Ich bin nur ein Bote“, antwortete er. „Nenn mich Falke.“

„Wie, Mr Falke?“

Er zuckte die Achseln, warf mir noch ein irritierendes allwissendes Lächeln zu und schob dann seinen Stuhl nach hinten. „Es ist spät. Du solltest jetzt besser zur Hochzeitsfeier zurückkehren, ehe man dich vermisst. Wir sprechen uns bald wieder.“

Ich schaute aus dem Fenster. Er hatte recht, die Dämmerung brach bereits herein. Ich würde wohl Probleme bekommen, weil ich so lange weg war.

Ich wandte mich wieder zu ihm um. „Und wann werde ich …“

Der Platz mir gegenüber war leer.

Ich blickte mich hektisch um, aber er hatte sich in Luft aufgelöst. Die beiden jungen Frauen am Nebentisch saßen mit weit geöffnetem Mund da. Jetzt lachten sie nicht mehr. Sie sahen aus, als hätten sie ein Gespenst gesehen.

„Vogel“, murmelte eine von ihnen mit benommener Stimme.

Von der offenen Tür her waren Flügelschlagen und ein paar Schreie zu hören. Jemand hatte sein Tablett fallen lassen.

Das war alles völlig verrückt.

Ich rannte den ganzen Weg zum Claridges Hotel zurück, stürzte mich durch die Tür und an dem verdattert dreinschauenden Portier vorbei. Während ich durch die Flure flitzte, fischte ich in meiner zerfetzten Jackentasche nach Mums Rose und steckte sie mir ins Knopfloch. Endlich stand ich vor der großen, zweiflügligen Tür, auf der ein Schild verkündete: PRIVATEMPFANG BOOMGARDT.

Ich blieb stehen und versuchte, den zerrissenen Ärmel irgendwie zurechtzuzupfen. Vielleicht würde drinnen das Licht so schummrig sein, dass niemand meinen Zustand bemerkte. Ich holte tief Luft, drückte die Türflügel auf …