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ISBN 978-3-7307-0187-4

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Frank Willmann

Kassiber

aus der

Gummizelle

Geschichten vom Fußball

VERLAG DIE WERKSTATT

Vorwort

Was gehört in ein Vorwort? Das habe ich meine Facebook-Freunde gefragt und dabei wirklich was gelernt. Denn sonst hätte ich hier womöglich zu einem weiteren Fußball-Leitartikel angesetzt. Stattdessen überzeugte mich die plausible, serviceorientierte Forderung: »Wenn ein Appetithäppchen drin stünde, würde ich es lesen …« Und wer das Vorwort liest, dachte ich mir, der kauft dann das Buch, so wie Sie zum Beispiel, die oder der Sie gerade in der Buchhandlung stehen und hier im neuen Buch von Frank Willmann blättern. Oder bei iBooks den kostenlosen Auszug durchforsten.

Und der FC Bayern müsse rein, meinte ein Bayernfan. Ich erwiderte noch, dass ich damit womöglich Bayernfans abschrecken könnte, weil der böse Willmann die Bayern gern als den Teufel an die Torwand malt, der mit seiner Dauerdominanz und mit seiner Politik, der Teilzeitkonkurrenz aus Dortmund oder sonstwo die besten Spieler wegzukaufen, die Bundesliga kaputt macht. Aber dann wurde mir klar, dass Bayernfans sowas als Kompliment auffassen und doch zugreifen.

Das Appetithäppchen kommt also aus dem Kapitel über den FC Bayern. Das geht auch deshalb, weil die Pointe der Kolumne dann doch im Ostfußball zu finden ist, Franks erklärtem und erlebtem Spezialgebiet, das einen Großteil seiner auf Tagesspiegel.de erschienenen Kolumnen ausmacht, aber eben längst nicht alles. Die Pointe verrate ich hier natürlich nicht. Vielleicht nur so viel: Sie hat mit RB Leipzig zu tun, dem Beelzebub. Und der unterklassige Fußball, für den Jena-Fan Willmann Passion im doppelten Wortsinn, kommt natürlich in dem Kapitel »Der FC Bayern zerstört die Bundesliga« auch vor. Als Gegenentwurf, der aber als Utopie nur noch taugt, wenn »wir in nächster Zeit ein paar Revolutiönchen hinlegen«. Dass der Beitrag im Onlineforum des Tagesspiegels und in den sozialen Medien Furore machte und Furor auslöste, dürfte niemanden überraschen. Ein Leser zitierte – zustimmend – Mario Adorf in »Kir Royal«: »Isch mach disch fertisch. Isch kleb dich zu von oben bis unten. … Mit meinem Geld. Isch kauf disch einfach. … Isch schieb et dir hinten und vorne rein. Isch scheiß dich sowat von zu mit meinem Geld, dass de keine ruhige Minute mehr hast.« Einer, der das anders sah, schrieb nur »Neid, Neid, Neid, Neid, Neid, Neid, Neid.«

»Fußballdeutschland ist neben der Nationalmannschaft einzig der FC Bayern«, schreibt also Willmann. »Alle anderen Teams sind hoffnungslose Stehgeiger. Keine Fabergéeier in der Hose. Keinen Saft auf der Batterie. Erfolg macht sexy. Nur Leistung zählt. Nicht umsonst hopsen viele Millionen frohgemuter Bayernfans im Freudentaumel vor der Glotze. Selbstverständlich haben sie nie das Münchner Stadion von innen gesehen. Immer diese altmodischen Spitzfindigkeiten.«

Das ist auch ein Klangsample. In seinen Texten schafft es Frank Willmann, ins etablierte, dauerironische Fußball-Feuilleton mit einem eigenen, berserkernd literarischen Sound reinzugrätschen. Ein bolzender Thomas Bernhard, mehr davon, bitte!

Markus Hesselmann, Chefredakteur Online, Der Tagesspiegel

01   Dante in Belgrad

Beim Tatort, des Deutschen liebster Sonntagabendunterhaltung, darf der Serbe gern der Böse sein. Obwohl in letzter Zeit der Kroate in Sachen gestörter Psychopath durchaus mitzuhalten scheint.

Der Balkan. Hort des Schreckens. Heimat geheimnisvoller Frauen. Schmelztiegel der Religionen, des tollwütigen Nationalismus und der flink gezückten Messer. Das sind nur einige gewichtige Gründe, um einmal galant in diesen verrufenen Breiten durch die Stadien zu strolchen. Denn beim Fußball, insbesondere anlässlich des »Večiti Derbi« (Ewiges Derby) zwischen Roter Stern und Partizan Belgrad, soll der Wahnsinn zu nie gesehener Größe anschwellen.

Markus, den feinhumorigen, lernte ich in Zwickau bei einer Lesung im Stüberl von Red Kaos kennen. Red Kaos heißen die Zwickauer Ultras. Markus ist Hopper, er sammelt Fußballplätze. Irgendwann erwähnte er das Belgrader Derby. Für ihn DAS DERBY schlechthin. Ich lauschte mit roten Ohren bis tief in die Nacht. Mein Entschluss stand. Beim nächsten »Večiti Derbi« muss ich dabei sein.

Fliegen kann jeder, schrieb mir Markus ein paar Monate später und fragte, ob ich den harten Weg nach Belgrad nehmen würde. Harter Weg? Fliegen ist eine feine Sache, zumal wir auch noch das Derby in Sarajevo mitnehmen wollten und dazwischen viel Osteuropa lag. Sie würden den harten Weg nehmen, also Auto. Wir seien fünf. Zu fünft in einem Kombi war ich zuletzt 1984 unterwegs. Wenn ich den Abstecher auf den Balkan miterleben wollte, dann nur zu ihren Bedingungen. Also Ja. Markus hatte mir schon einige Infos zukommen lassen. Wir wollten Anhänger diverser Belgrader Clubs treffen, überdies Rumänen und Russen.

Für die erste Etappe wählte ich die Deutsche Bahn. Ich hätte besser laufen sollen. Der ICE nach Leipzig hatte Verspätung. Mein Anschlusszug nach Zwickau wartete nicht, eine Stunde Zwangsaufenthalt in Leipzig. Dann mit der Bimmelbahn nach Chemnitz. Auf dem Chemnitzer Bahnhof spielten Glatzen und Polizei »Fang mich«. Der Zug nach Zwickau eine Kloake auf Schienen. Mein Mitgefühl gehört allen Bahnreisenden.

Am 29. Oktober 2013 gegen 21 Uhr 45 fuhren wir in Zwickau los. Eine zähe Tour über die tschechischen, slowakischen, ungarischen, kroatischen, bosnischen und serbischen Dörfer wartete auf uns. Fünf Mann im Passat Kombi. Germ, Mirko, Holm, Markus, ich. Für Markus sollte es das 30. Derby werden.

Groundhopper können harte Hunde sein. Natürlich kann man nach Belgrad fliegen. Irgendwann dämmere ich weg. Markus weiß, wie Bleifuß geht. Durch Sachsenwälder, via Prag. Bratislava und Budapest huschen schemenhaft vorbei. Ungarn, Kroatien, an der Grenze zu Bosnien treffen wir fünf polnische Hopper, denen wir in der Folge noch öfter begegnen sollten.

Ein starker, dunkler Kaffee in der bosnischen Republik Srpska. Arme Gegend. Maisfelder, orthodoxe Kirchen. Im Sommer werden am Straßenrand riesige Schweine am Spieß gebraten. Zur Wegzehrung, und um die Muslime zu necken. Zwei Polizisten mit selbstgebautem Geschwindigkeitsmessgerät halten uns im ersten Kaff hinter der Grenze an. Wir seien zu schnell unterwegs. Sie halten Markus einen Strafzettel hin. Er beachtet ihn nicht. Markus steigt aus und rennt an ihrem Messgerät vorbei. Sie lachen. Er zeigt auf das Display. Er sagt, da schlägt nichts aus, da hat noch nie etwas ausgeschlagen. Sie lachen. Markus sagt, ich war nicht zu schnell. Sie schauen ihn ernst an. Markus schaut ernst zurück und will Beweise. Fünfzehn Minuten lang werden zwischen Markus und den Polizisten Argumente ausgetauscht. Beide Seiten bleiben stur. Touristenautos fahren an uns vorbei. Den Polizisten entgeht wertvolle Beute, die vielleicht weniger an der Sinnhaftigkeit von Strafe zweifelt. Die Minuten verrinnen. Die Wegelagerer fragen Markus, ob er eine Idee hat. Er zuckt lächelnd mit den Schultern. Die Polizisten geben auf, schütteln Markus die Hand, dobar Dan (guten Tag).

Die Grenze zur Föderation Bosnien und Herzegowina. Ab sofort Maisfelder und Moscheen. Im Sommer sollen am Straßenrand Rinderhälften am Spieß gebraten werden. Zur Wegzehrung, und um die Orthodoxen zu necken.

Sarajevo. An der ersten Ampel treffen wir die Polen. Sie sind unseren Polizistenfreunden ins Netz gegangen. Einchecken im Hostel Tito 46. Zehnbettzimmer. Katzenwäsche, dann zum Stadion von Olimpic Sarajevo, ein muslimischer Club. Anpfiff 14 Uhr. Das kleine Erstligaderby gegen Slavija Sarajevo, den Club der serbischen Minderheit Sarajevos. Wir fahren über die wichtigste Hauptstraße, im Volksmund Heckenschützenallee genannt. Unzählige Zivilisten wurden auf dieser Straße, durch zumeist serbische Heckenschützen, im Bosnienkrieg (1992 bis 1995) erschossen. Bäume sehe ich notabene keine. Die breite Straße ist noch immer die Haupteinkaufsstraße Sarajevos. Im Stadion treffen wir die Polen. Außerdem etwa 150 Einheimische sowie ca. 50 deutschsprachige Hopper. Das am Abend stattfindende große Derby zwischen FK und Lok Sarajevo hat manchen Hopper auf den Balkan geführt. Stadion Marke zonaler Plattenbauranz mit schönem Blick auf Friedhöfe. Slavija, der Serbenclub von hinterm Berg, hat keine Fans mitgebracht. Zu gefährlich? Vielleicht haben sie auch keine. Wir trinken Limo und essen Sonnenblumenkerne. Die Sonne scheint, was kostet die Welt? Sarajevo, die Attentatsmetropole, ist jung, bunt und hellwach. Kaum Kriegsschäden, auch keine auffälligen Mahnmale.

Am späten Nachmittag treffen sich die Fans von FK Sarajevo im alten türkischen Viertel der Altstadt. Mittendrin zwanzig Dynamo-Dresden-Fans, die eine Fanfreundschaft mit FK verbindet. Die Farben FKs sind weinrotweiß. Ei der Daus! Der Gegner passt auch den Dresdnern. FK Željezničar Sarajevo. Bedeutet so viel wie Lok Sarajevo. Der Club der Eisenbahner, Farben blau-weiß. Vieltausendköpfiger FK-Fanmarsch zum Stadion. Dynamobanner anbei. Bei Gegenbesuchen passen die Dresdner Ultras auf, dass die Dynamoglatzen die Bosnier in Ruhe gen Mekka beten lassen. Stimmiges Bild.

Als es dunkelt, geht’s los. Aus den Nebenstraßen strömen unablässig Fanmassen hinzu. Passanten und Ladenbesitzer gaffen, ringsum Polizei. Auf einem Platz neben einer alten Kirche zeigt die Menge, was in ihr steckt. Raue, dunkle Gesänge, viel Pyrotechnik, mordsmäßige Böller. Die Altstadt im Nebel. Am Rande verfolgen deutschsprachige Hopper das Geschehen. Wir mittendrin, weil einer aus dem Auto Dresdner ist, und die Bosnier Deutsche mögen. Was sich von den Serben nicht behaupten lässt. Weiter die Hauptstraße entlang. Polizei treibt den Mob von der Straße. Im schnellen Tempo den Berg hoch zum Stadion. Vorbei an endlosen Friedhöfen diverser Religionen. Die Friedhöfe nah an der Innenstadt als stumme Zeugen vergangener Gemetzel. Pyro auch auf dem Stadionvorplatz und im Garten der Fankneipe. Endlich richtiges Essen! Čevapčići vom dampfenden Grill und Bier! Die Fans trinken Bier und scharfe Schnäpse. Kehliger Gesang. Allah ist groß, aber er sieht vermutlich nicht alles. Das Stadion liegt auf einem Hügel. Grandioses Panorama. Unten die Stadt im Licht. Dauergesang der tausendköpfigen bosnischen Ultras. Beide Vereine mit großer Fanszene. Kleinteiliger Hass. Kein »ich schlitz dich auf und fick deine Mutter«-Zwang. Alle sind Muslime. Man lässt sich wohl im Großen und Ganzen in Ruhe. Am Zaun werden trotzdem während des Kicks Schals, Jacken und Schärpen in den gegnerischen Farben abgefackelt. Seht her, ein bisschen böser Mann muss sein. Die Ränge des Olympiastadions mit knapp zwanzigtausend Fans etwa zur Hälfte gefüllt. Gute Stimmung. Pyrotechnik und Böller. Polizei und Ordner lassen die Fans gewähren. Leider sehen wir ein 0:0. Der gespielte Fußball erinnert an eine gute Drittligapartie. Nach dem Spiel eilen die Fangruppen nach Hause. Es soll vereinzelte hitzköpfige Kampeleien gegeben haben, erzählen uns die Polen am nächsten Tag im Hostel.

Episode Zehnmannzimmer. Ein Chinese die Nacht über im Dauereinsatz am Wischphone, furzt mich in den Schlaf. Geht nur mit Ohropax, völlig fertig, letzte Kippe auf dem Balkon. So geht Hopperleben. Früh sechs Uhr raus, duschen, eiliger Kaffee unter schweigsamen Menschen. Schlafen kann ich, wenn ich tot bin. Nebenan erwacht ein Markt langsam zum Leben. Serpentinenreiche Fahrt durch Berge zur Grenze. Mordstempo, übern Fluss der Grenzübergang, hinter einer Brücke Serbien. Orthodoxe Kirchen ersetzen wieder die Moscheen, fernerhin wenig Unterschiede.

Belgrad. Auf eine charmante Art in die Jahre gekommen. Alle Bewohner über vierzig in Herzleid gefallen. Zu viele verlorene Schlachten. Eine wilde Partystadt für die Jungen. Die Durchschnittsbevölkerung hat wenig Geld zum Leben. All jene, die ich treffe, die mit Fußball zu tun haben, scheinen Händler zu sein. Ihre Imperien bammeln zwischen Altpapier, Fußballzeugs, Partykram, Waffen. Stolze Frauen und Männer. In der Geschichte Europas landeten die Serben gern auf dem Arsch. Immer wieder höre ich in Belgrad: von den Türken auf dem Amselfeld gedemütigt. Von K&K-Schergen schikaniert. Von den Nazis zu Untermenschen erklärt. Von der Ustascha massakriert. Von der Nato bombardiert. Ganz so einfach ist es natürlich nicht.

Ihre Fußballvereine sind für manche Bewohner Belgrads alles, was sie haben. Alles für den Club! Liebe, Hass – wenn es sein muss, das Leben. Noch zwei Tage bis zum Derby. Zuvor: Frauenfußball in Belgrad.

Ich brauche manchmal den nötigen Abstand zur Entscheidungsfindung. Reitstunden nehmen oder besser doch gleich ins Kloster? Kindliche Gefühle, verwunschene Gärten, feministische Fiktionen. Alle Welt war vollkommen überrascht, als ich im Stadion von FK Obilić Belgrad erschien. Um mein erstes Frauenfußballspiel zu sehen. WM-Qualifikation. Serbien gegen Island. Wird ein Liebeshändel daraus? Ausgerechnet im Stadion von Obilić, dem einstigen Club von Arkan, alias »der Schlächter vom Balkan«. Der Bösewicht war im Jugoslawienkrieg Anführer der weißen Tiger. Eine paramilitärische Organisation, stiernackige Zombies fürs Grobe. Der kleinwüchsige Arkan erlangte im Krieg großen Reichtum und kaufte sich seinen Lieblingsclub, den er zu Meisterehren führte und zur Geldwäsche nutzte. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ermittelte gegen ihn wegen Völkermordes. Im Jahr 2000 holte ihn sein Schicksal in Form einer Kugel ein. Er war diversen Personen zu gefährlich geworden. Seither ging es mit FK Obilić Belgrad abwärts. Im halbfertigen Stadion des aktuellen Fünftligisten, lagernd am Popo der Tabelle, stoben nun zarte isländische Elfen über den Rasen. Die erste Erkenntnis: Nicht alle Isländerinnen sind blond. Die zweite Erkenntnis: Nicht einmal bei einem abgefuckten Qualispiel ist man als Deutscher allein. Ich war ja mit zwei Altgroundhoppern unterwegs. Bei ihnen kamen komische Gedanken hoch. Das verdammte Hoppervolk abschwarten (westsächsisch für verkloppen). Um wenige Minuten später mit tiefer Betroffenheit und Reue festzustellen, wir sind auch nix anderes als Hopper. Die dritte Erkenntnis: freier Eintritt. Wohl um das eh schon bescheidene öffentliche Interesse nicht zu schmälern. An der Außenmauer des Stadions prangt noch immer ein verwaschenes Portrait von Arkan. Konsequent nagt der Zahn der Zeit an diesem Überbleibsel. Das hat fast schon symbolischen Charakter. Serbien will irgendwann in die Bundesliga, alias EU. Da passen alte Henkersknechte nicht gut ins Bild vom lieb gewordenen Serbien. Das Stadion liegt inmitten eines Wohngebiets. Das erlaubt in Momenten der Muße tiefe Blicke in den Alltag der umliegenden Behausungen. Uns hatten es ganz besonders die fantasievollen Wintergärten der Hochhäuser angetan. Wir stellten, während des zugegebenermaßen etwas zähen Ringens der Amazonen, allerhand Mutmaßungen über den Bienenfleiß der Wintergartenerbauer an.

Dann holte uns ein isländischer Kunstlupfer in die Wirklichkeit zurück. Sieben blonde und vier brünette Isländerinnen jauchzten froh. Ein Funktionär schlenkerte mit den Armen.

Frauen kommen schlechter mit dem Fußball klar als Männer, stellte die dickwanstige Wurstfee kategorisch fest. Sie stillte in ihrem Büdchen in der Halbzeitpause unseren rechtschaffenen Hunger mit Köstlichkeiten aus ihrem Fleischtopf. Wir blieben stumm, schüttelten indessen innerlich den Kopf. Alle modernen Fußballerklärer sind natürlich Feministen. Das ist ein Gebot der Zeit. Frauenfußball als Versöhnung im Kampf der Geschlechter. Früher hieß es ich Tarzan, du Jane. Heute heißt es ich kochen, du Fußball. Das Leben ist, je nach Betrachtung, eine Komödie oder eine Tragödie. Ich habe mich für die Illusion der Komödie entschieden. Mit leicht buddhistischem Touch. Den erreicht man im fünfzigsten Lebensjahr.

Wie jeder weiß, stehen echte Frauenfußballfans und singen laut und ausdauernd während des Spiels. Das war auch in Belgrad so. Teilweise. Von handgezählten dreiundachtzig Zuschauern standen immerhin drei. Ok, sie schwiegen. Aber sie standen. Meistens. Im überdachten und vollverglasten Teil der Tribüne. Sie sahen wie Funktionäre aus. Wie verdammte Funktionäre. Wie furchtbar muss sich so ein unbedeutendes, langweiliges Spiel für FIFA- und sonstige Bonzen anfühlen? Versteckt hinter einer schmutzigen Glaswand. Dahinter knapp achtzig Supporter, von denen die Hälfte deutsche Hopper sind? Anstatt bei einem vollbesetzten Derby Huldigungen entgegenzunehmen. Und nach Spielende melodiöse Weisheiten, in Bezug auf moralische Grundsätze, in eines der dutzend hingereichten Mikrophone zu hauchen. Im hiesigen Stadion nicht mal zehn Polizisten, die apathisch an ihren Schlagknüppeln nagten. Die Mehrheit der Zuschauerinnen war unter achtzehn Jahre alt. Ob sie zwangsverpflichtet waren? Einige hielten in ihren grazilen Händen Zigaretten der Marke Eve. Obgleich Nichtraucher, rüsselten wir den ausgestoßenen Nikotinschwaden nach. Im Schatten der jungen Mädchenblüte führten wir uns galant und wohlfeil auf. Wir plauderten distinguiert über Themen des öffentlichen Interesses. Leider durchbrachen wir das Phlegma der jungen Damen nicht. So schauten wir stoisch den kickenden Serbinnen zu, die wiederum einem 2:0-Vorsprung der Damen des Nordens hinterherliefen. Auf dem Platz wurde wenig gemault. Schauspiel- und Jammereinlagen, die uns in höheren deutschen Ligen schurigeln, kamen nicht vor. Es ging langsam zu, aber immer fair. Kein Zickenterror Herkunftszeichen Klopp. Keine verzärtelten Redensarten. Wohlklingendes, angespanntes Damenkeuchen schwappte über den Ground. Ab und an unterbrochen von zaghaften vaterländischen Gesängen seitens der Heimfans. Immerhin führten die Arien zum 1:2. Wenn man es so will, war es reiner, epischer Fußball.

Die beste Fußballschule ist das Spiel selbst, soll einst Tito gesagt haben. In einem Akt der Demut senkten wir die Köpfe und beobachteten die Isländerinnen, die nach dem Schlusspfiff die süßen Früchte des Sieges genossen.

Nun zum Stadion von Roter Stern. Derbykarten für die Tribüne kaufen. Kosten etwa zwölf Euro. Dort sollen beim Spiel die einigermaßen zivilen Fans von Roter Stern stehen. Angeblich auch Frauen und Kinder. Kinder sehe ich später am Tag der Tage keine. Auch keine Frauen. Die Kasse wird von blutjungen Griechen belagert. Meine Mitreisenden sagen, ich solle nicht deutsch sprechen. Irgendwas in Englisch nuscheln und »Tribuna« sagen. Die Griechen schauen uns misstrauisch an. Knapp einen Kilometer weiter steht das Partizanstadion. Wohl, damit sie es nicht so weit haben, beim Sich-gegenseitig-aufs-Maul-Hauen. Wir umrunden einmal das Partizanstadion. In einer spätsozialistischen Kneipe, die noch den Charme des großen Jugoslawien ausstrahlt, sollen sich die schlimmen Finger der Partizanszene treffen. Wir gehen rein, trinken einen Kaffee. Tatsächlich, am zentralen Tisch sitzen ein paar Herren in schmucken Jogginganzügen. Ballonseide, ganz alte Schule. Zählen sie Geld? Wetzen sie ihre Messer? Vielleicht schlagen sie nur die Zeit tot.

Wir besuchen eine Art Pub, DIE Belgrader Fußballkneipe. Geschäftsführer jeweils ein Delije und ein Grobari. Grobari, übersetzt »Totengräber«, nennen sich die Partizanfans. Delije, übersetzt »Helden«, ist der Oberbegriff aller Fans von Roter Stern Belgrad. Wir sitzen im unteren, etwas abgeschirmten Bereich der Kneipe. Und reden über das Derby und die Feindschaft der Anhänger. Bei den Alten ist sie weniger ausgeprägt, man frotzelt, hat alle Kämpfe mehrfach geschlagen. Bei den unter Dreißigjährigen tobt der Krieg umso hitziger. Mit uns am Tisch ein Russe, ZSKA-Moskau-Fan. Beruf: Händler. Ein Rad-Belgrad-Fan, auch eine berüchtigte, kleinere Schlägertruppe. Beruf: Händler. Diverse Grobari, alles Händler. Sie sehen nicht so aus, als würden sie morgen früh um sieben an der Stechuhr stehen. Die Stadt soll voll Griechen und Russen sein. Neben Fußball verbindet die griechisch-orthodoxe Religion Serben und Russen. Roter Stern kuschelt mit Spartak Moskau und Olympiakos Piräus. Partizan mit ZSKA Moskau und PAOK Saloniki. Alle hassen einander selbstverständlich aufs Vortrefflichste. Daneben gibt es unzählige griechische Ultras, die lose mit einem der Clubs verbunden sind. Beide Belgrader Fangruppen vereint mehrheitlich die Verachtung der Roma, hiesiges Schimpfwort Cigani. Obwohl sehr viele Roma in Belgrad leben, sieht man sie in der Stadt kaum. Sie sollen nachts aus den Außenbezirken und Ghettos der Stadt in die Innenstadtbezirke kommen. Ihre Haupteinnahmequelle ist das Altpapiersammeln.

Aus alltäglicher, beständiger Gedankenlosigkeit und Ignoranz werden Minderheiten beleidigt oder angegriffen, siehe z. B. Angriffe auf die CSD-Parade in Belgrad und ähnliche Veranstaltungen, wo Fans beider Vereine massiv ihr nationalistisches und homophobes Mütchen kühlen. In Sachen Nationalismus hinken uns die Serben zwanzig Jahre hinterher. Die Idiotendichte innerhalb der serbischen Fans ist fast unerträglich hoch. In Belgrad kommt nur sehr mühsam ein Umdenken in den Fanszenen in Gang. Selbst der serbische Präsident meinte 2013, 80 Prozent der Serben seien gegen die Homosexuellen-Parade. Da gibt es noch einiges in den Köpfen zurechtzurücken. Ich frage eine grauhaarige Roter-Stern-Legende, wovon er lebt. Er lächelt. Dann folgt eine Lehrstunde in Völkerverständigung.

Die Grobari sind untereinander verfeindet. Auf der einen Seite die Zabranjeni – die Ausgesperrten bzw. die Verbotenen. Auf der anderen Seite die wichtigste Fangruppe innerhalb der Grobari, die Alcatraz. Die Grobari-Gruppen bekämpfen sich seit einigen Jahren, besonders gern sollen sie das beim Derby im Stadion von Roter Stern tun. Es gab schon Tote auf beiden Seiten. Die Partizanfans sind in getrennten Blöcken untergebracht. Die Zabranjeni verstehen sich als die wahren Fans und werfen Alcatraz u. a. Zusammenarbeit mit der Polizei und Geldschinderei vor. Zum Eklat kam es vor ein paar Jahren, als Alcatraz den Zabranjeni verbot, die Mannschaft zu einem Auswärtsspiel nach Genk in der Champions League zu begleiten. Seither ist Kampf bis aufs Messer angesagt.