Andreas Mang

Aufgeklärtes

HEIDENTUM

Philosophien • Konzepte • Vorstellungen

2. erweiterte Auflage 2014

Copyright © 2014 by Edition Roter Drache für die erweiterte Ausgabe.

Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel.

edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org

Buchgestaltung: Sarah Bräunlich.

Umschlaggestaltung: Edition Roter Drache.

Titelbild: © Anne-Cathrin Rost.

Korrektorat: Dr. phil. Baal Müller.

Hergestellt in Deutschland.

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-944180-56-4

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage

Einleitung

Was ist Religion?

Was ist Glaube?

Was ist ein Mythos?

Was ist ein Gott?

Was ist Atheismus?

Was ist ein Opfer?

Was ist Magie?

Was ist Toleranz?

Was ist ein Regenbogen?

Was kommt nach dem Tode?

Wo bleibt das Irrationale?

Warum ich ein Heide bin

Nachtrag – Rechtsextremismus und 3. Reich

Glossar

Literaturverzeichnis

Register

Fußnoten

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Tabelle 1:

Identifizierung römischer mit germanischen Gottheiten nach den Wochentagsbezeichnungen

Tabelle 2:

Konfessionszugehörigkeit im Dritten Reich

Tabelle 3:

Konfessionszugehörigkeit der Reichstagsabgeordneten

Tabelle 4:

Konfessionszugehörigkeit in der SS

Abbildung 1:

Häufige Gottesvorstellungen in primären und sekundären Religionen

Abbildung 2:

Gottesvorstellungen weiterer Religionsformen

Abbildung 3:

Aufbau einer sekundären Religion

Abbildung 4:

Aufbau einer primären Religion

Abbildung 5:

Grundformen heidnischer Gottesvorstellungen

Abbildung 6:

Der Regenbogen

Falls die Abbildungen für den Leser in gedruckter Form nicht genügend gut erkennbar sind: Auf http://andreas-mang.de/​nr1/​abb.html können sie in hoher Auflösung zur privaten Verwendung und verbesserter Ansicht heruntergeladen werden.

Vorwort zur 2. Auflage

2012 schrieb ich die erste Auflage dieses Buches. Einfach nur, um einmal zu sagen, was ich schon immer sagen wollte. Wegen eines schweren Unfalls hatte ich die notwendige Zeit dazu, und da zeigte das Schicksal einmal wieder, daß es auch bei unschönen Konsequenzen Raum für Gewolltes oder Ersehntes schaffen kann.

Ebenso erstaunt wie über die ernsthafteren Fügungen des Schicksals war ich über den relativ großen Erfolg dieses Werkes. Angesichts der winzigen Anzahl derjenigen, die ein entferntes Interesse an dem Thema haben könnten, hatte ich mit deutlich geringeren Absatzzahlen gerechnet. Mittlerweile glaube ich, daß die heidnische Subkultur weit größer ist, als allgemein und auch von mir angenommen. Zudem weiß ich von mindestens vier Katholiken, die die erste Auflage gelesen haben.

Wer sich über den obigen Begriff „Subkultur“ wundert, da meistens von der „heidnischen Szene“ die Rede ist: Das Wort „Szene“ mag ich aus mehreren Gründen nicht. Nun mag es den herrschenden realen Größenverhältnissen angemessen sein, es impliziert aber zum einen eine einheitliche Ausrichtung, sowohl gedanklich und ideologisch als auch im völlig Profanen in Bezug auf Mode, Musik und Marotten. In allem, ausgenommen die Annahme der Existenz von mehr als genau einem Gott, könnte das moderne Heidentum nicht weiter von Einheitlichkeit entfernt sein als das vollständige Chaos, selbst wenn sich nur zwei Heiden träfen. (Dasselbe gilt übrigens für die „Gothik-Szene“, die Ausnahme ist hier nur die Farbe Schwarz.)

Zum anderen enthält der Begriff als solcher eine implizite Herabwürdigung dahingehend, daß die Teilnehmer nur eine unbedeutende Randgruppe seien, wobei die fehlende Bedeutung des Inhaltlichen aus der fehlenden Masse der Praktizierenden geschlossen wird. Das ist ein logischer Fehler wie aus dem Lehrbuch. Der Begriff „Subkultur“ mag auf exakt dieselbe gesamtgesellschaftliche Belanglosigkeit hinweisen, aber Kultur1 allein deutet auf den Aufbau von Strukturen, die den Emsigen wichtiger als Frisuren oder Spaß in Discos und Wäldern sind.

Aufgrund des umfangreichen Rücklaufs sowie vieler Gespräche und Diskussionen gibt es jetzt eine zweite und erweiterte Auflage. Neben stellenweisen Ergänzungen im „alten“ Text wurden einige neue Kapitel hinzugefügt. Die zwei größten Kritikpunkte waren, daß es zu viele Fachbegriffe und zu wenig Betrachtung des Irrationalen in der Religion gäbe. Nun ist es wenig sinnvoll, große Absätze zu schreiben, wenn ein einzelnes Wort bereits alles aussagt, aber dazu müssen alle miteinander Redenden zunächst den Begriff als solchen kennen und obendrein schauen, ob sie ihm auch in etwa dieselbe Bedeutung beimessen. Deshalb gibt es nun zu den Fachbegriffen ein Glossar und zum Irrationalen ein eigenes Kapitel.

An der schwammigen Grenzlinie zwischen Rationalem und Irrationalem liegt die Pseudowissenschaft, die ich weder schätze noch als Weg erachte, dem religiösen Leben mehr Substanz zu verschaffen. Als Kritik daran wurde das Kapitel über den Regenbogen verfaßt – worum es in der Religion eigentlich gehen sollte, ist Aussage des gesamten Buches.

Ein weiterer zentraler Punkt in religiösen Diskussionen ist die Toleranz. Da um selbige viel Aufhebens gemacht wird, sie jeder haben sollte oder angeblich hat, die meisten sie aber, wie ich finde, völlig mißverstehen, auch hierzu ein eigenes und neues Kapitel.

Es wurde auch nach einer Darstellung der aktuellen Gesamtsituation des heutigen Heidentums gefragt. Das ist aufgrund der Individualität und großzügigen Verteilung der Anhänger schwierig zu beantworten. Ich habe es versucht, soweit es aus meinem Blickwinkel und meinen Erfahrungen heraus möglich war, und dazu Ergänzungen im Kapitel Warum ich ein Heide bin vorgenommen.

Nun denn, auf zum nächsten Gang …

Einleitung

Erzählt man, man sei ein Heide, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß man vom Gegenüber viele Mißverständnisse und Vorurteile, aber wenig Einsicht und Verständnis erntet. Ob es sich beim Gegenüber um einen Christen, einen anderen Monotheisten oder Atheisten handelt, tut dabei wenig zur Sache. „Heide“ ist dabei kein Synonym für Atheist oder Nichtchrist, sondern beschreibt einen Anhänger einer oder mehrerer heidnischer Religionen, womit vorchristliche und im Rahmen dieses Buches europäische Polytheismen gemeint sind.

Die Hauptursache für Verständigungsschwierigkeiten liegt meines Erachtens darin, daß in der westlichen Welt Definitionen und Bedeutungen von religiösen Begriffen wie „Glaube“ und „Gott“ sowie „Religion“ selbst allesamt aus dem christlichen Umfeld stammen und im Heidentum teilweise oder komplett anders besetzt sind. Der Leser hat sich vielleicht schon am Ende des obigen Absatzes gefragt, wie jemand mehreren Religionen folgen kann. Im Heidentum ist das kein Problem, auch wenn man dort dann oft von verschiedenen „Kulten“ statt von „Religionen“ spricht. Angesichts der Tatsache allerdings, daß sich die Pantheons verschiedener – aber gemeinsam ausgeführter – Kulte deutlich voneinander unterscheiden können, halte ich die Kategorisierung in verschiedene Religionen für durchaus statthaft.

In diesem Buch werden zunächst die Begriffe „Religion“, „Glaube“, „Mythos“ und „Gott“ so beschrieben, wie sie zum Heidentum passen beziehungsweise wie sie im Heidentum verwendet werden. Bei Religion und Gott gibt es zwischen Heidentum und Monotheismen wie Christentum, Judentum und Islam enorme Unterschiede in der Begriffsdefinition, bei Glaube und Mythos ist die Bedeutung und Anwendung innerhalb einer heidnischen Religion eine deutlich andere.

Danach folgen ein paar Worte zum Atheismus. Nicht, weil ich darin eine Kritik oder Gegnerschaft zum Heidentum sehe, sondern um herauszustreichen, daß der westliche Atheismus, der seine philosophische Grundlage im 19. Jahrhundert erhielt, eine Gegenposition zum Christentum darstellt und dessen Kritikpunkte im Heidentum zumeist irrelevant sind. Desweiteren gibt es in diesem Kapitel einige Anmerkungen zur Religionsfreiheit.

Dann werden die Bereiche „Opfer“, „Magie“ und „Jenseits“ erläutert, über die es ebenso Mißverständnisse in der öffentlichen Wahrnehmung gibt wie über die grundlegenderen wie „Religion“ und „Gott“.

An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, daß ich mich zwar bemüht habe, in allen Aussagen einen möglichst breiten Konsens innerhalb des heutigen Heidentums zu treffen, es aber selbstverständlich Heiden geben wird, die nicht mit allem einverstanden sind, was ich hier von mir gebe. Im Bereich „Magie“ mag das besonders der Fall sein. Ich habe ein naturalistisches Weltbild und bin überzeugt, daß nichts von dem, was wir erfahren, übernatürlichen Ursprungs ist.

Philosophie und Theologie sind keine empirischen Wissenschaften. Ich persönlich halte sie gerade im Vergleich zu Naturwissenschaften für überhaupt keine Wissenschaften, sondern deren Inhalte für komplexe und auf hohem Niveau formulierte Meinungen. Das Niveau mag mitunter so hoch sein, daß man eine akademische Ausbildung benötigt, um sie zu formulieren, zu verstehen und weiterzuentwickeln, aber es bleiben unbeweisbare Ansichten, die man teilen oder ablehnen kann. In diesen Fächern eine objektive oder absolute Wahrheit anzunehmen oder gar zu propagieren, ist alles andere als statthaft, daher würde ich so etwas nie vertreten, und daher soll dieses Buch keinesfalls dahingehend verstanden werden.

Nach all den Erläuterungen über die heidnische Begriffswelt, stelle ich vor, was mir speziell am nordisch-germanischen Heidentum so zusagt, ihm zu folgen, wobei ich auch eine große Bewunderung für das griechisch-römische hege.

Gerade mit dem nordisch-germanischen Heidentum werden oft extrem rechts gerichtete politische Ansichten und somit die unheilvolle Vergangenheit des Dritten Reiches verbunden. Da all diese Umtriebe meines Erachtens aber keineswegs mit den in dem Mythen überlieferten Lehren übereinstimmen noch das Heidentum im Dritten Reich gesellschaftlich so relevant war, wie es heute manchmal hingestellt wird, hatte dies keinerlei Einfluß auf meine Entscheidung, ein Heide zu sein. Daher kommen einige ergänzende Erläuterungen zu diesem Thema in einem Nachtrag.

Ein paar Hinweise zum Aufbau der Literaturangaben:

Literaturhinweise sind in eckige Klammern gesetzt und bestehen aus einem Kürzel des im zitierten Werk zuerst genannten Autors sowie dem zweistelligen Erscheinungsjahr. Bei fehlender Eindeutigkeit ist der Hinweis durch einen kleinbuchstabigen Index ergänzt. Das Literaturverzeichnis ist nach Autorennamen und vollständigem Erscheinungsjahr sortiert.

Bei Webseiten und anderen Online-Quellen wird ggf. statt eines Autorenkürzels der Name oder Bezeichnung der Seite verwendet. Im Verzeichnis ist der Zeitpunkt in Monaten referiert, an dem ich die Online-Quelle zuletzt in Augenschein genommen hatte und auf den sich auch die Jahresangabe im Hinweis bezieht, da sich der Inhalt oder der genaue Ort des Auffindens in Zukunft ja schnell ändern könnte.

Bibelzitate sind in runde Klammern gefaßt und verwenden zum Teil die üblichen Abkürzungen. Deutsche Verse sind dabei generell der Einheitsübersetzung, lateinische der Vulgata entnommen [Bib12].

Ich möchte noch klarstellen, daß dieses Buch weder eine missionarische noch eine sonstwie bekehrende Funktion ausüben soll, auch wenn die Mitgliederzahlen des organisierten Heidentums nebst entsprechender Dunkelziffer weltweit so gering und damit statistisch so unbedeutend sind, daß ein wenig Zulauf gewiß nicht schaden würde.

Die Intention liegt darin, die vielfachen Mißverständnisse heutigem und altem Heidentum gegenüber aufzulösen und darzustellen, was einen Menschen am Heidentum faszinieren kann. Ich hoffe, so für eine bessere Einsicht in diese Religionsform auch für Außenstehende zu sorgen.

Zugegeben, ich würde mich über jeden freuen, bei dem die hier getätigten Aussagen zu einem ersten oder gesteigerten Interesse am Heidentum oder gar zu dem Wunsch, selbst das Heidentum zu praktizieren, führen würden. Ebenso würde es mich freuen, wenn Heiden durch diese Literatur auf bisher unerkannte Gedanken, Ideen oder Vorstellungen kämen.

Bedanken möchte ich mich noch bei all den Leuten, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre. Zuallererst danke ich meiner Frau, ohne die ich weder einen vor kurzem erlittenen schweren Unfall überlebt noch generell kein so schönes und erfülltes Leben hätte, das nebenbei erlaubt, ein Buch zu schreiben.

Dann meinen Eltern, deren Erziehung, die von ihnen ermöglichte Ausbildung und die eingeforderte Konfirmation meinerseits eine solide Grundlage für meine heutige Weltsicht schufen, die in diesem Werk ausgebreitet wird.

Weiterhin Freunden und guten Bekannten im realen Leben wie in der virtuellen Welt. Gemeinschaft, Zusammenarbeit und viele Diskussionen mit ihnen prägten meine vielfältigen Ansichten – auch die, die für die hier dargestellten Themen wichtig sind.

Schließlich noch Prof. Dr. Gerald Dyker, der sich als Korrekturleser zur Verfügung stellte und dessen Nachfragen und Ideen zu so mancher Ergänzung des ursprünglichen Textes geführt haben.

Περὶ θεῶν λέγε, ὡς εἰσἰν.

Von den Göttern sage:

Sie sind. (Bias von Priene)

Was ist Religion?

Sind Sie religiös?

Eine an sich einfache Frage, doch hätte ich Probleme, sie ebenso einfach mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten, stellte man sie mir. Antwortete ich mit „nein“, wäre das falsch und unwahr, antwortete ich mit „ja“, würde man mich mit hoher Wahrscheinlichkeit mißverstehen. Das rührt daher, daß die heute üblichen Definitionen des Begriffs „Religion“ im wesentlichen aus dem christlichen Umfeld stammen und sie deshalb nur für Religionen zutreffen, die dem Christentum oder den anderen abrahamitischen Monotheismen wie Judentum und Islam ähnlich sind.

Eine gängige Definition ist, Religion sei die „Rückbindung an Gott“. Diese Aussage habe ich selbst schon von Heiden gehört, nur daß sie „Gott“ durch „Götter“ ersetzt haben. Diese Definition wurde von dem nordafrikanischen christlichen Apologeten Lucius Caecilius Firmianus, genannt Lactantius, den man zu den Kirchenvätern zählt, im frühen 4. Jahrhundert niedergeschrieben. Lactantius leitet religio von religare = „zurückbinden“ ab, Religion bildet bei ihm ein Band der Frömmigkeit zwischen Mensch und Gott [Fir12].

In späteren Zeiten, speziell im Mittelalter, wurde Religion dann fest mit dem Glauben an Gott, Götter oder andere höhere Mächte in Verbindung gebracht, was bis heute Geltung hat. Knaurs großes Wörterbuch der deutschen Sprache definiert Religion folgendermaßen [Her85]:

1 Glaube an eine oder mehrere überirdische Mächte sowie deren Kult

2 Glaubensbekenntnis; christliche, jüdische R.“

Bezogen auf das Heidentum liefert diese Beschreibung zwei Schwierigkeiten. Zum einen spielt der notwendige Glaube im Heidentum eine andere Rolle als hier angedeutet (siehe Kapitel Was ist Glaube?). Zum anderen impliziert „überirdische Mächte“ eine Übernatürlichkeit oder Außerweltlichkeit, die leicht zu Mißverständnissen führt. Heidnische Götter werden eher als immanent denn als überirdisch im Sinne von transzendent oder jenseitig betrachtet (siehe Kapitel Was ist ein Gott?).

Das eigentliche Problem besteht allerdings in dem notwendigen Bezug auf höhere Mächte. Dies tangiert das Heidentum zwar nicht, aber beim Buddhismus zum Beispiel wird oft gefragt, ob dieser überhaupt eine Religion oder doch „nur“ eine Weltanschauung sei. Götter oder andere höhere Mächte sind im Buddhismus irrelevant, man kann an sie glauben, sie verehren, muß es aber nicht. Jemand, der höhere Mächte komplett ablehnt, kann dennoch Buddhist sein. Nun gibt es buddhistische Tempel, Klöster, Priester und Mönche sowie eine Lebenseinstellung und Verhaltensweisen, die auf das nächste Leben oder das Nirwana vorbereiten sollen. Für mich besteht keinerlei Zweifel, daß Buddhismus eine Religion ist, nur eine ohne Götter als konstituierende Elemente.

Eine in meinen Augen weitaus passendere Definition von Religion stammt aus vorchristlicher Zeit und läßt sich bei Cicero nachlesen [Cic95]. Cicero leitet religio von relegere = „aufsammeln“ oder „wieder auflesen“, im übertragenen Sinne „achtgeben“, ab. Einer Religion zu folgen, heißt hier, ihre Rituale, ihre Ethik, ihre Werte, ihre Ideale und ihre Traditionen zu beachten. Götter allgemein oder nur ganz bestimmte Götter oder höhere Mächte, egal in welcher Anzahl, zu einem exakt definierten Pantheon zusammenzustellen oder eine fest vorgeschriebene beziehungsweise dogmatisch festgelegte Vorstellung von diesen Mächten zu haben, ist hier nicht von Belang. Der Glaube an solche Konstellationen spielt dann nur eine untergeordnete Rolle; einen „falschen Glauben“, Häresien usw. gibt es im allgemeinen nicht.

So versteht Cicero an derselben Stelle auch etwas völlig anderes unter dem Begriff superstitio als im Christentum, welcher hier üblicherweise mit „Aberglaube“, das heißt den Glauben an falsche Götter oder falsche höhere Mächte, übersetzt wird. Superstitio ist für ihn übertriebene Frömmigkeit, d. h. überzogenes Beten oder Opfern, eine Überhöhung des Religiösen im Lebenswandel, so daß das Verhältnis von religiösem und „normalem“ Leben nicht mehr stimmt. Oben genannter Lactantius widerspricht dieser Auffassung übrigens vehement [Fir12].

Diese begriffliche Erklärung von Religion umgeht die Nachteile der heute üblichen. So zählt hier auch Buddhismus ohne jede Schwierigkeit oder zusätzliche Annahmen als Religion.

Bezüglich des germanischen Heidentums stellt sich nun die Frage, wie die Germanen wohl über den Begriff Religion gedacht haben. Leider gibt es hier keinerlei schriftliche Hinterlassenschaft, die mit den philosophischen Arbeiten der Griechen und Römer vergleichbar wären, so daß wir keine direkte Kenntnis haben. Angesichts der vielen Gemeinsamkeiten zwischen griechisch-römischer und germanischer Mythologie, auch wenn man von letzterer nicht annähernd so viel weiß und sie, so sie denn erst im Mittelalter notiert wurde, teilweise von christlichem Gedankengut beeinflußt ist, hege ich die Vermutung, daß der Grundgedanke hinter der Religion bei den Germanen nicht wesentlich anders als bei Griechen und Römern aussah. Selbiges vermute ich auch für Kelten und Slawen, um weitere europäische Ausprägungen des Heidentums zu nennen.

Ein weiterer interessanter Punkt bei Religion ist, daß viele meinen, man könne nur eine haben. Einer Religion zu folgen, bedeute, daß man alle anderen für falsch halten müsse.

Daß dies nicht korrekt sein kann, zeigt allein die Tatsache, daß ein Großteil der Japaner zwei Religionen folgt, die so gut wie nichts miteinander zu tun haben, nämlich Buddhismus und Shintoismus. Buddhismus lehrt u. a. die Überwindung des eigenen Egos, des eigenen Individuums, um der andauernden Wiedergeburt zu entgehen und ins Nirwana einzugehen. Shintoismus dagegen ist eine animistische Naturreligion; die Seele eines Toten fährt nach dieser Anschauung in einen Schrein oder einen Teil der Natur. Im Shintoismus werden kami () verehrt, was gewöhnlich mit „Götter“ übersetzt wird. Diese Übersetzung geht allerdings nicht weit genug, unter kami versteht man auch Naturgeister oder Seelen von Verstorbenen. Für eine Einführung in den Shintoismus siehe z. B. [Lok01].

Auch im antiken Heidentum war es üblich, mehrere Religionen parallel zu haben [Kla95], auch wenn man heute eher von „Kulten“ statt von Religionen sprechen würde. Angesichts der oben genannten Definition von Religion seitens Ciceros sehe ich zwischen einer Religion und einem Kult allerdings keinen wesentlichen Unterschied. Wer die Anforderungen zweier religiöser Kulte beachtet, folgt bei großen Unterschieden zwischen den Kulten halt zwei verschiedenen Religionen.

So hatte ein Römer mindestens die Staats- und die Hausreligion. Bei ersterer wurde das römische Pantheon verehrt, bei letzterer z. B. die Hausgeister, die Laren und Penaten. Nun passen diese beiden Vorstellungen noch gut zusammen und widersprechen sich auch in keiner Weise, so wie es Buddhismus und Shintoismus anscheinend in weiten Teilen tun. In der Antike nahm man allerdings noch häufig an religiösen Vereinen1 teil, zu denen auch die Mysterienkulte gehörten und die sich nach dem Zusammenbruch des griechischen Städtesystems bildeten [Kla95]. Die Gotteswelt des Isis-Kultes z. B. paßt überhaupt nicht mit dem römischen Pantheon zusammen, eine gedankliche Kombination ist hier kaum möglich. Aus politischen und ethischen Gründen, wobei die ethischen Gründe auch religiösen Ursprung haben konnten, schritt der römische Senat öfter gegen diesen ägyptischen Kult und andere ein, verbot sie sogar für kurze Zeiträume. Ihre Praktizierung und Ausbreitung verhindern konnte er nicht [Klo06].

Auch wenn wir jetzt ein wenig dem Kapitel Was ist ein Gott? vorgreifen, die scheinbaren Widersprüche beim Folgen von Religionen mit inkompatiblen Pantheons lösen sich auf, weil im Heidentum in der Regel ganz andere Gottesvorstellungen als in den Monotheismen vorherrschen. Betrachtet man einen Gott als menschliche Beschreibung für etwas schwer Beschreibbares, das dahinter steht, stellt ein anderes Pantheon einfach eine andere Sichtweise auf das dahinterstehende dar. Die Römer nannten es interpretatio Romana = „römische Deutung“, wenn sie Götter aus anderen Kulturen mit ihren identifizierten.

Die Eigenschaften und „Aufgabengebiete“ von Göttern verschiedener Pantheons sowie deren Beziehungen untereinander verhindern vielleicht, daß man sie in einem Ritual oder Gebet gleichzeitig ansprechen kann – bei verschiedenen Ritualen sich jedoch auf andere Pantheons zu beziehen, stellt für einen Heiden kein Problem dar, auch wenn er gewöhnlich zu einem Pantheon allein steht.

Jede andere Religion außer der eigenen, die die absolute Wahrheit darstellen soll, für grundfalsch zu halten, ist eine Eigenschaft der abrahamitischen Monotheismen. Der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann nennt dies Teil der „Mosaischen Unterscheidung“ und identifiziert ihr Auftreten mit dem Umbruch des Judentums vom Poly- oder Henotheismus zum Monotheismus, siehe [Ass03] oder [Ass07]. Ein allgemein bekanntes Indiz für diese These liefert das erste Gebot im Alten Testament. Dort ist nicht die Rede davon, daß es sich bei „Gott“ um einen verehrungswürdigen Gott handelte oder daß das Anbeten dieses Gottes eine positive Sache sei, dort wird einfach gesagt: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“ (2. Mose 20,3). Andere Götter zu haben, sei falsch, beim eigenen Gott liege die Wahrheit, bei allen anderen die Unwahrheit, und das hat direkten Einfluß auf den Wahrheitsgehalt der mit dem Gott oder den Göttern verbundenen Religionen. Heutzutage sehen das zum Glück für andere viele Anhänger der abrahamitischen Religionen weitaus toleranter als in früheren Zeiten. Der Vatikan zum Beispiel bezeichnet die römisch-katholische Kirche (RKK) seit dem 2. Vatikanischen Konzil nicht mehr als alleinige und einzige Quelle der selbst antizipierten Wahrheit, sondern gesteht auch anderen Religionen Teile dieser Wahrheit zu, wenn auch nicht in dem Umfang, wie ihn die RKK besitze [Vat65]. Alle anderen Religionen außer der eigenen für falsch zu halten, schwingt zwar als Grundgedanke immer noch mit, als offensives Argument taucht dieser Gedanke aber meistens nur noch im Fundamentalismus auf.

Man kann die Gebote allerdings auch als eine Sammlung von Werten und Tugenden sehen, an die man sich hält, wenn man den darin involvierten Gott verehrt. Sie sind dann keine Befehle Gottes, sondern die Verhaltensweisen der Gläubigen, die zur Gottesvorstellung passen. Wer einen monotheistischen Gott verehrt oder an ihn glaubt, hat selbstverständlich keine weiteren Götter, das ergäbe keinen Sinn. Die äußere Form der Gebote lautet dann nicht „du sollst folgendes“, sondern „wenn du an diesen Gott glaubst, dann tust oder unterläßt du folgendes“. Es geht also mehr um Ethik als um Justiz; dazu passen auch die fehlenden Strafmaße im Dekalog [Sch95].

Selbstverständlich halten auch die Anhänger anderer Religionen als der abrahamitischen ihre eigenen religiösen Ansichten für wahr, sie lehnen die anderer Religionen aber nicht unbedingt kategorisch ab. Ein gutes Beispiel dafür sind die oben schon erwähnten Japaner, die zwei nach westlichen Maßstäben widersprüchliche Religionen haben.

Viele religiöse Ansichten, insbesondere ethische und solche, die sich auf die Lebensführung beziehen, basieren auf der persönlichen Lebenseinstellung. Die Lebenseinstellung entwickelt sich aufgrund des gesellschaftlichen Umfeldes, der elterlichen Erziehung, persönlichen Erfahrungen und ebenso persönlichen Entscheidungen. Ich denke, es ist offensichtlich, daß eine solche Lebenseinstellung wegen der vielen involvierten Umweltfaktoren sich nicht allgemein naturwissenschaftlich herleiten läßt und ihr somit eine objektive Gültigkeit für alle Menschen abgeht. Eine solche Objektivität muß man aber annehmen beziehungsweise fordern, wenn man eine bestimmte Religion als die allein richtige für alle Menschen hält und propagiert.

Als Beispiel für eine religiöse Ansicht, die stark mit der Lebenseinstellung korreliert, möchte ich den Umgang mit dem Schicksal nennen. Stoiker z. B. glauben an eine beinahe ultimative Schicksalsabhängigkeit, der man laut Seneca eigentlich nur durch den Freitod entgehen kann [Kla96]. Auch bei vielen Christen, Juden und Moslems kann man einen fortgeschrittenen Fatalismus erkennen, weil sie das Schicksal als Ergebnis der Handlungen und Wünsche eines allmächtigen und allwissenden Gottes halten, an dem man als Mensch keinen Anteil hat. Den Freitod als Alternative akzeptieren diese natürlich nicht.

Eine gegensätzliche Position besteht darin, ein sich negativ anbahnendes Schicksal zu bekämpfen. Dies ist im germanischen Heidentum oft anzutreffen, weil hier die Götter genauso wie die Menschen im Schicksalsnetz gefangen sind und ebenfalls gegen ein sich schlecht entwickelndes Schicksal ankämpfen, selbst wenn der Kampf aussichtslos sein sollte. Ein gutes Beispiel dafür ist der Ragnarök-Mythos [Jor01]. Obwohl Odin weiß, daß er weder den drohenden Weltuntergang noch seinen Tod abwenden kann, rüstet er gegen dieses Schicksal und versucht, es zu verhindern. Dies kann man als Lehre nehmen, ein sich anbahnendes negatives Schicksal nicht hinzunehmen, sondern dagegen vorzugehen. Nur wenn man es bekämpft, hat man eine Chance, es abzuwenden. Auch im griechischen Heidentum, in dem die Götter im Gegensatz zum germanischen oft Schicksal für die Menschen spielen, sind sie nicht immer vor dem Schicksal selbst gefeit. Der Tod des Sarpedon, eines Sohnes des Zeus, im 16. Gesang der Ilias [Hom09] wird gerne so gedeutet.

Ein weiterer Fehler, den viele Religiöse, insbesondere Monotheisten, machen, und der ebenso mit einer vorgeblichen Objektivität der eigenen religiösen Texte zusammenhängt, ist zu glauben, die eigene Religion würde erklären, wie die Welt im naturwissenschaftlichen Sinne funktioniert. Sei es nun, seine Schöpfungsgeschichte oder diverse Mythen für historische Tatsachenberichte oder die Evolution aus obskuren Glaubensdogmen heraus für falsch zu halten. Da gibt es Christen, die für die Welt ein Alter von 6000 Jahren annehmen, was zwar angesichts der geologischen, astronomischen und kosmologischen Kenntnisse unsinnig ist, sich so aber mittels des Alten Testamentes ausrechnen läßt, wie es der anglikanische Bischof Ussher getan hat [Uss50].

Ich sage dagegen: Wer wissen will, wie der Kosmos funktioniert, soll Physik-, Chemie- oder Biologiebücher lesen. Wer eine bildhafte und poetische Beschreibung haben möchte, wie man in der Welt leben sollte, der lese einen Mythos. Und wer mit Leidenschaft spüren will, wie sich die im Mythos geschilderte Welt verhält, der feiere ein religiöses Ritual. Die Religion kann einem sagen, wie er in der Welt leben soll. Das ist etwas, was die Wissenschaft, speziell die Naturwissenschaft, nicht leisten kann. Das hat nichts mit fehlender Wahrheit zu tun, sondern mit Wahrheiten in Bereichen, die der Naturwissenschaft nicht so einfach oder auch gar nicht zugänglich sind, wie zum Beispiel Ethik oder Lebenseinstellungen.

Ein weiteres gutes und bekanntes Beispiel dafür, welchen Schaden naturwissenschaftlich interpretierte Mythen anrichten können, ist die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes durch die römisch-katholische Kirche. Erst vor kurzem wurde Galileo Galilei diesbezüglich rehabilitiert. Dabei wurde das heliozentrische Weltbild schon im 3. Jhd. v. Chr. von Aristarchos von Samos aufgestellt [Sag82], der vermutlich auch die Möglichkeit des empirischen Nachweises durch stellare Parallaxe2 vorgeschlagen hat, welche allerdings zu klein ist, als daß man sie ohne Ferngläser und nur mit bloßen Auge feststellen könnte. Leider ist von Aristarchos nichts Schriftliches direkt erhalten, man kennt sein Werk nur durch Sekundärliteratur. Vermutungen über seine wissenschaftlichen Experimente, ob vorgeschlagen, geplant oder durchgeführt, sind daher sehr vage. Aristarchos mag auch sehr weit bis unendlich weit entfernte Sterne angenommen haben, was der fehlenden Möglichkeit des Nachweises der Parallaxe mit bloßem Auge entspricht.

Das Schlimme hierbei ist, daß dieses Weltbild nicht aufgrund des fehlenden empirischen Nachweises bis in die Neuzeit abgelehnt wurde, sondern wegen des Inhalts religiöser Mythen, die in eine andere Richtung deuteten, und der Dogmatisierung philosophischer und astronomischer Aussagen wie des ptolemäischen geozentrischen Weltbildes. Erfolgt dann der naturwissenschaftliche Nachweis, entsteht automatisch der Eindruck, daß die damit verbundenen religiösen Mythen falsch seien, egal welche sonstigen Lehren sie noch für die Lebensführung oder anderes enthalten mögen. Eine solche naturwissenschaftliche Aushebelung derartig interpretierter Mythen fördert natürlich den Atheismus als Ablehnung jedweder Religion. Mythen sollten daher anders interpretiert werden als naturwissenschaftlich, wie wir genauer im Kapitel Was ist ein Mythos? sehen werden.

Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Begriffsbestimmung von Religion ist ihre Kategorisierung nach bestimmten Typen oder Formen. Gewöhnlich wird zwischen Monotheismus und Polytheismus unterschieden, allerdings bereiten diese Kategorien einige Schwierigkeiten. Allein dem Namen nach unterscheiden sie Religionen, die entweder genau einen Gott oder mehrere Götter haben. Der wesentliche Unterschied zwischen abrahamitischen Monotheismen und europäischen Polytheismen liegt aber weniger in der Anzahl der Götter sondern in der Art und Weise, wie sie angesehen werden.

Desweiteren paßt der Hinduismus nur schwerlich in diese Kategorisierung. Mit seinen 330 Millionen Göttern würde man ihn sofort dem Polytheismus zurechnen, allerdings sind alle diese Götter letztlich Inkarnationen eines einzigen höheren Geistes, was zum Typus des Monotheismus passen würde [Cot08]. Da dieser Geist aber weit weniger personale Elemente enthält und oft als kosmologisches Prinzip dargestellt wird, ist eine gemeinsame Kategorie mit Christentum, Judentum und Islam als weiteren Monotheismen nicht gerade statthaft.

Jan Assmann kritisiert die Verwendung dieser Kategorien, weil die Begriffe erst in „kontroverstheologischen Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts“ entstanden und „für die Beschreibung antiker Religionen vollkommen ungeeignet“ seien [Ass03]. Wie viele Götter man habe, wäre nicht von Interesse gewesen, und er zählt auch nicht-göttliche, aber dennoch höhere Wesen wie Engel, Dämonen oder im Heidentum Wesen der niederen Mythologie zur Religion dazu, so daß der Begriff Monotheismus auch bei nur einem Gott unzureichend ist.

Stattdessen kategorisiert Assmann in primäre und sekundäre Religionen, die auf der Unterscheidung von primärer und sekundärer Religionserfahrung nach dem Theologen Theo Sundermeier aufbauen [Mue87]. Primäre Religionen sind prähistorisch entstanden, man kennt hier weder den Zeitpunkt der Entstehung, vermutlich weil sie eine stetige Weiterentwicklung von weit in der Vergangenheit liegenden religiösen Ansichten sind, noch einen oder mehrere Stifter. Bei sekundären Religionen sind diese beiden Punkte definitiv der Fall, man kennt den groben Zeitrahmen der Entstehung und mindestens einen Stifter. Europäische heidnische Religionen und der Hinduismus sind nach diesem Muster primär, Christentum, Islam und Buddhismus sekundär. Beim monotheistischen Judentum kennt man zwar keinen Stifter namentlich, aber der Zeitrahmen und die stiftenden Priester als Gruppe sind gut eingrenzbar, so daß man auch das Judentum als sekundär bezeichnen kann. Assmann bemerkt an derselben Stelle noch, daß jede sekundäre Religion eine Buchreligion sei, so daß eine Unterscheidung zwischen Buch- und Nicht-Buchreligionen in etwa seiner Kategorisierung entspricht. Eine Ansammlung schriftlich fixierter Mythen und Geschichten ohne dogmatische oder glaubensbekennende Aussagen zählt nicht als Buchreligion. Dieser Typus trifft daher nicht auf griechisches, römisches oder germanisches Heidentum zu.

Abbildung 1: Häufige Gottesvorstellungen in primären und sekundären Religionen

Eine besonders im modernen Heidentum verbreitete Kategorisierung ist die Unterscheidung zwischen Offenbarungs- und Erfahrungsreligionen. Diese bezieht sich allerdings mehr auf den persönlichen Umgang mit der eigenen Religion als auf deren äußere Form. Eine Offenbarungsreligion fußt zum größten Teil oder gar komplett auf einer oder mehreren Offenbarungen, die einem oder mehreren Stiftern zuteil geworden ist, was stark mit Buch- und sekundären Religionen korreliert. In einer Erfahrungsreligion ist dagegen die persönliche Erfahrung mit den Göttern wichtig, sei es im Ritus, im Gebet, in der Meditation, in der Reflexion von Mythen oder auf anderen Wegen wie der Rekonstruktion älterer Formen der eigenen Religion. So sinnig diese Unterscheidung auch ist, in der Praxis kann sie durchaus zu Problemen führen. Das Christentum beispielsweise ist natürlich im wesentlichen eine Offenbarungsreligion, deren Offenbarung in der Bibel aufgeschrieben ist; viele Christen sehen es aber als Erfahrungsreligion, was bezüglich des Auf- oder Ausbaus einer persönlichen Beziehung zu Jesus ja durchaus korrekt ist.

Animistische Vorstellungen – das heißt, daß so ziemlich alles in der Welt beseelt sei – sind auch im Heidentum sowie in den meisten anderen Religionen anzutreffen. Dies rührt vermutlich daher, daß der Animismus als Archetyp einer Naturreligion eine der ersten Religionsformen überhaupt darstellt und sich in zeitlich darauffolgenden Religionen vererbt hat. Ebenso ursprünglich sind wohl Bestattungsriten und damit verbundene Jenseitsvorstellungen und Ahnenkulte [Rie93].

Abbildung 2: Gottesvorstellungen weiterer Religionsformen

Es gibt noch weitere Religionsformen, die mit den bisher genannten Kategorien kaum beschreibbar sind. Sie haben zwar keinen oder nur geringen Bezug zum Heidentum und dessen Abgrenzung zum Christentum beziehungsweise den anderen abrahamitischen Monotheismen, sollen aber der Vollständigkeit halber hier erwähnt werden.

Pantheismus: Die Vorstellung, daß das Universum und Gott identisch seien oder daß dem Universum ein göttlicher Geist oder ein göttliches Prinzip innewohne.

Panentheismus: Ähnlich dem Pantheismus, nur daß hier das Universum lediglich einen Teilbereich eines umfassenderen göttlichen Wesens darstellt.

Deismus: Die Annahme eines Schöpfergottes, der nach der Schöpfung des Universums allerdings nicht mehr in dasselbe eingreift.

Pandeismus: Eine Mischung aus Deismus und Pantheismus, d. h. der Schöpfergott geht nach der Schöpfung vollständig im Universum auf.

Was ist Glaube?

Allgemein wird Glaube als der Grundbestandteil einer Religion gesehen. Das liegt daran, daß er ein zentrales Element im Christentum darstellt und dies im schulischen Religionsunterricht und kirchlichen Unterweisungen wie z. B. dem Konfirmandenunterricht so vermittelt wird. Glaube ist Bestandteil der drei christlichen Tugenden Glaube (fides), Liebe (caritas) und Hoffnung (spes) (1. Kor 13,13).

Glaube bedeutet im religiösen Zusammenhang nicht einfach, etwas für wahr zu halten, sondern bezieht sich meistens auf Dinge, deren Vorhandensein sich nicht empirisch nachweisen oder objektiv herleiten läßt, und beinhaltet auf jeden Fall, das Geglaubte zu begehren, zu lieben oder gutzuheißen, wenn man Glauben etymologisch vom indogermanischen leubh ableitet, das „begehren“, „gutheißen“, „loben“ oder „lieb haben“ bedeutet [Gri12].

Nun ist es nicht so, daß im europäischen Heidentum oder anderen primären Religionen Glaube keine Rolle spielte, er hat dort aber einen deutlich anderen Stellenwert und Bezug als im Christentum oder anderen sekundären Religionen. Man heißt dort zwar auch Werte, ethische Grundsätze und in Mythen formulierte Weisheiten gut, ein dogmatisch festgelegter Glaube an eine bestimmte Gottes- oder Göttervorstellung gibt es aber eher nicht. Wie wir später im Kapitel Was ist ein Gott? detailliert sehen werden, gibt es besonders im modernen Heidentum diverse, zum Teil widersprüchliche Gottesvorstellungen. Die religiöse Grundlage bilden hier mythologisch festgelegte, anthropomorphe Gottesbilder, so daß man gemeinsam dieselben Götter verehren kann, selbst wenn man von ihnen unterschiedliche philosophische, theologische oder sogar wissenschaftliche Vorstellungen hat.

Ich unterscheide hier strikt zwischen „Gottesbild“ und „Gottesvorstellung“, was in der Literatur so nicht vorkommen dürfte. Ein Gottesbild ist das, was die jeweiligen Mythen als bildlich vorstellbare Gestalt darbieten. Der Religiöse weiß in der Regel, daß es ein Bild von etwas anderem ist. Falsch dagegen ist die weitverbreitete Ansicht, daß Menschen, in deren Religion Statuen und ähnliches verwendet werden, diese Bildnisse statt der dahinterstehenden Götter anbeten.

Die Gottesvorstellung beschreibt nun das, was man für die Grundlage des menschengemachten und menschenähnlichen Bildes hält. Diese Unterscheidung ist gerade im Heidentum wichtig, in dem es recht eindeutige Bilder, aber eine ganze Reihe von verschiedenen Vorstellungen gibt, eben weil letztere keineswegs dogmatisch zu glauben sind. Die religiöse Praxis und Rede stützt sich auf die Bilder, die persönliche Beziehung oder das, was ein Monotheist Glaube nennen würde, auf die Vorstellung.

Im heutigen wie im früheren Heidentum ist die Gottesverehrung in der rituellen Praxis das Wichtige, Gottesglaube dagegen eher zweitrangig. Dies kann man schon den Schriften Ciceros entnehmen [Cic95] und ist ebenso in modernen Publikationen nachzulesen. So schreibt Fritz Steinbock [Ste04]:

Wir fragen nicht: „Was glaubst du? Was weißt du? Was kannst du?“

Wir fragen: „Welchen Göttern opferst du?“

Es gibt auch Gottesvorstellungen, die keinen Glauben benötigen, wie meine persönlichen zum Beispiel. Außenstehende oder Atheisten mögen diese Vorstellungen für unsinnig oder überflüssig halten, die Existenz der Götter läßt sich mit diesen Vorstellungen allerdings kaum bestreiten, so daß hier religiöser Glaube einer vernunftgeleiteten Definition weicht (siehe Seiten 51 ff).

Mit dieser Einstellung erntet man oft Unverständnis. Warum man einem Gott opfern oder ihn verehren sollte, ohne im herkömmlichen Sinne gläubig zu sein, ist vielen nicht einsichtig. Das Problem ist wieder, daß die meisten Menschen hierzulande an die Grundsätze des Christentums gebunden sind, beziehungsweise nur diese kennen, und man den Stellenwert und die tiefere Bedeutung eines Begriffs innerhalb eines religiösen Systems nicht einfach auf ein anderes anwenden kann. Ich persönlich vermeide daher in Gesprächen möglichst den Begriff „Glaube“, weil er meistens falsche Assoziationen hervorruft. Man muß nicht die anthropomorphe Existenz eines Gottes, wie im Mythos beschrieben, für physikalische Realität halten, wenn man weiß oder auch nur vermutet, daß das, was dieses Bild symbolisiert und was man sich darunter vorstellt, tatsächlich existiert.

Bei den abrahamitischen Monotheismen stellt sich dabei noch das Problem, daß Gottesbilder generell verboten sind oder daß zumindest, in moderateren Kreisen, davon abgeraten wird, sie zu benutzen oder als Grundlage des Glaubens zu nehmen. Dies bezog sich im frühen Judentum zwar nur auf die Herstellung von Gottesstatuen und ähnlichem (2. Mose 20, 4)1, wurde aber im Laufe der Zeit auch auf gedankliche Gottesbilder ausgedehnt. Deren Gottesglaube muß sich also auf die theologische und meistens dogmatisierte Gottesvorstellung beziehen, so daß Abweichungen davon schnell zu neuen Konfessionen führen, weil die Gläubigen mit den unterschiedlichen Vorstellungen nur schwerlich zusammen einen Ritus begehen beziehungsweise eine Gemeinschaft bilden können. Ein gutes Beispiel dafür liefert das Christentum, in dem es diverse Gottesvorstellungen insbesondere bezüglich der Verbindung von Gottvater und Jesus gegeben hat, die zu enormen Streitigkeiten geführt haben, und wo sich erst mit dem 1. Konzil von Nicäa im Jahre 325 die trinitarische Vorstellung, also die Dreieinigkeit, gegenüber dem Arianismus durchgesetzt hat. Daneben gab und gibt es noch Nestorianer und Miaphysiten und wissen die Götter, was sonst noch.

Interessanterweise hat die Trinität Vorbilder im gesamten indogermanischen Kulturraum, wo es diverse Götter-Triaden, also Götter-Dreiheiten gibt, auch wenn die nichtchristlichen sich auf mehrere Götter statt nur einen beziehen. Im Hinduismus bilden Brahma, Vishnu und Shiva das Trimurti (= Sanskrit für „drei Formen“), im griechischen Heidentum gibt es die Trias Zeus, Poseidon und Hades, im römischen Jupiter, Juno und Minerva, im germanischen Wodan, Wili und We (auch Odin, Vili, Ve genannt). In allen dreien gibt es die drei Moiren, Parzen beziehungsweise Nornen. Der im römischen Reich gerne praktizierte ägyptische Isis-Kult hatte Isis, Osiris und Horus.

Der Theologe Rudolf Bultmann schrieb, daß für das Christentum „nicht Erkenntnis (γνῶσις), sondern Glaube (πίστις)“ charakteristisch sei [Bul98]. Diese Abgrenzung macht einen entscheidenden Unterschied zwischen primären und sekundären Religionen aus. Hat man eine Offenbarungs- oder eine Buchreligion, dann soll beziehungsweise muß man glauben, was in der besagten Offenbarung oder dem Buch beschrieben wird. Heutzutage beschränken sich die meisten Gläubigen auf Kernaussagen und ignorieren Dinge, die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen. Es gibt aber auch zahlreiche Gläubige, die ihre schriftlichen Grundlagen insgesamt für wortwörtlich nehmen und jede Abweichung vom Niedergeschriebenen konsequent ablehnen.

Abbildung 3: Aufbau einer sekundären Religion