Über das Buch:
Südfrankreich 1961:

Die Missionarstochter Gabriella wird zum Studium nach Frankreich geschickt. Im romantischen, verschlafenen Städtchen Castelnau lernt sie den attraktiven amerikanischen Professor David kennen. Er kann mit ihrem unerschütterlichen Glauben an Gott nichts anfangen, dennoch fühlt sich Gabriella zu ihm hingezogen. Doch warum verschwindet er immer wieder in geheimer Mission? Wer ist David wirklich? Und was hat es mit der mysteriösen »Operation Hugo« auf sich?

Elizabeth Musser entführt den Leser in ein überaus spannendes Kapitel französisch-algerischer Geschichte und an faszinierende Orte. Ein mitreißendes, zu Herzen gehendes Buch!

Über die Autorin:
Elizabeth Musser wuchs in Atlanta auf. Seit dem Abschluss ihres Studiums englischer und französischer Literatur an der Vanderbilt Universität in Tennessee ist sie als Missionarin tätig. Heute lebt sie mit ihrem Mann Paul in der Nähe von Lyon in Frankreich. Die beiden haben zwei Söhne.

Kapitel 7

Monique Pons brachte zwei Tassen mit dampfend heißem Kaffee ins Wohnzimmer, wo ihre Freundin, Yvette Leclerc, am Tisch saß und einen Korb mit Obst und Gemüse betrachtete.

„Die Birnen waren heute auf dem Marché überhaupt nicht schön, das war sehr schade. Aber die Tomaten waren um zwanzig Centimes billiger! Und was für schöne Tomaten es gab! Es sind bestimmt die letzten in diesem Jahr.“ Yvette nahm die Demitasse mit Espresso lächelnd in die Hand und lehnte sich auf dem Sessel zurück. Es gab nichts Besseres als den Kaffee und das Plauderstündchen bei Monique. Das war seit über zwanzig Jahren ihr täglicher Brauch. Castelnau war eine Kleinstadt, aber es gab immer etwas Neues, das man weitererzählen oder erfahren konnte.

„Er kam triefend nass vom Strand zurück, aber er war glücklich“, verkündete Monique. „M. Hoffmann ist ein sonderbarer Mann. Er lächelt selten. Aber ich sehe ihm an, wenn er glücklich ist.“ Sie beugte sich vor und ihre Wangen waren von der frischen Luft ganz rosig. „Aber an diesem Nachmittag lächelte er richtig. Er gab mir sogar auf beide Wangen einen Kuss, als er kam. Stell dir das nur vor.“ Sie errötete. „Er hat mich geküsst und stand tropfnass auf meinem Fußboden. Ooh là là!“

Was für ein großes Glück, dass M. Hoffmann an Yvettes schöner amerikanischer Mieterin interessiert war! Wenn diese Romanze sich weiterentwickelte, wären die zwei Frauen praktisch miteinander verwandt!

„Und, Yvette, das musst du dir anhören: Er sagte, dass es ihm leidtue, dass sie nicht alles aufgegessen hätten, aber sie hätten sich so angeregt unterhalten. Man hätte meinen können, ein Vögelchen habe an meinem Korb geknabbert. Und die Weinflasche war immer noch halb voll. Stell dir das nur vor! Er sagte, sie habe keinen Tropfen getrunken. Kein Wein, der das Herz fröhlich macht, und trotzdem haben sie sich unterhalten und unterhalten. Das muss ein gutes Zeichen sein.“

Yvette nickte lächelnd. „Diese Gabriella rührt keinen Wein an. Sie ist ein interessantes Mädchen. Sehr klug, sage ich dir. Bestimmt genauso klug wie dieser amerikanische Professor. Aber sie ist anders, das stimmt. Sie will in Frankreich nicht ständig feiern und Wein trinken und … du weißt ja, wie die anderen Mädchen manchmal sind.“

Sie schauten sich an und lachten herzhaft. Oh, welche Schwierigkeiten sie mit einigen amerikanischen Mädchen schon gehabt hatten! Oh, die Skandale! Aber die zwei Witwen hatten immer einander und konnten sich ihre Sorgen anvertrauen und sich ihr Leid klagen. Natürlich liebten sie die amerikanischen Mädchen trotz aller Skandale und vor allem die zusätzlichen Einnahmen, mit der sie ihre Witwenrente aufstockten.

Plötzlich hörte Yvette auf zu lachen. „Aber ich kann mir nicht vorstellen, was Gabriella mit einem Mann wie deinem M. Hoffmann anfangen soll. Er ist nicht ihr Typ.“ Sie beugte sich vor und senkte die Stimme. „Sie ist sehr religiös, weißt du.“

Religion war gut, darin waren sich die zwei Frauen einig. Solange man in die katholische Kirche und zur Messe ging. Aber diese Gabriella war protestantisch.

„Und nicht so eine Protestantin wie die anderen Amerikanerinnen, die ich gesehen habe. Sie liest in der Bibel! Jeden Tag, glaube ich. Einmal habe ich sie sogar dabei überrascht, wie sie auf den Knien betete! Was soll ein Mädchen, das auf den Knien betet, an deinem eiskalten Professeur finden?“

Als sie genauer darüber nachdachten, konnten weder Monique noch Yvette sich erklären, warum eine so ungewöhnliche, gute junge Frau mit David Hoffmann an den Strand gefahren war.

* * *

Mutter Griolets kleines Büro war gemütlich und einladend. Die Bücherregale waren mit antiquarischen Büchern von den Heiligen früherer Zeiten auf Französisch und Englisch gefüllt. Gabriella berührte leicht die abgegriffenen Bände von L’Imitation de Jésus-Christ und The Pilgrim’s Progress. Zwischen den alten Klassikern befanden sich Bücher über Psychologie, Kinder, Erziehung und Theologie. Sie erinnerte sich an den Grund ihres Besuches, wandte sich von den Bücherregalen ab und setzte sich auf den dunklen Holzstuhl vor Mutter Griolets Schreibtisch.

Die alte Nonne lächelte. „Ah, Gabriella Madison. Du bist zu einer sehr hübschen, jungen Frau herangewachsen. Deine Eltern sind bestimmt stolz auf dich.“

Gabriella errötete. „Danke, Mutter Griolet. Ich bin gekommen, weil ich mit Ihnen über ein … ein Problem sprechen muss. Eigentlich ist es nicht wirklich ein Problem, sondern eine Frage. Es ist nur eine Idee und … und ich würde gern Ihren Rat hören.“

Mutter Griolet wartete geduldig auf Gabriellas Erklärung. „Ja, mein Kind. Ich helfe dir gern, so gut ich kann.“

„Es geht um Ihre Arbeit. Also, nicht direkt um die Arbeit, sondern …“ Sie brach unbeholfen ab und setzte dann erneut an. „Haben Sie schon einmal etwas Großes tun wollen? Nicht für sich selbst, sondern etwas, das anderen hilft?“

Mutter Griolet lehnte sich auf ihrem großen Bürostuhl zurück. Ihre grünen Augen leuchteten auf, als sie über Gabriellas Frage nachdachte. „Als ich in deinem Alter war, habe ich bestimmt davon geträumt, etwas Großes für Gott und die Menschen zu tun. Wir alle haben Träume. Und manchmal sind die Träume selbstlos und gut.“

„Ja. Ich weiß natürlich, dass einige meiner Gedanken falsch sind“, sagte Gabriella. „Ich würde nur gern Gewissheit haben, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Mutter und Vater waren so sicher, dass Gott sie nach Afrika berufen hat. Sie waren damals nicht älter als ich jetzt. Ich jedoch bin mir nicht einmal sicher, wohin ich gehöre. Ist Afrika mein Zuhause? Oder Amerika? Aber ich kenne Amerika kaum. Vielleicht spielt das auch überhaupt keine Rolle.“

„Liebes Kind, du wüsstest gern, wie deine Zukunft aussieht. Das wollte ich mit einundzwanzig Jahren auch wissen. Aber ich war in diesem Alter schon im Kloster. Meine Freundinnen heirateten alle. Sie hielten mich für ziemlich sonderbar und fromm.“

„Wollten Sie nicht auch heiraten und eine Familie haben?“

„Wie soll ich das erklären?“ Sie stützte die Arme auf den Schreibtisch und schob die Finger ineinander. „Es ging nicht so sehr darum, dass ich keinen Mann und keine Familie gewollt hätte. Ich war einfach überzeugt, dass ich etwas anderes tun musste. Das hier.“ Sie machte eine ausholende Handbewegung durch den Raum. „Ich habe mich für dieses Leben entschieden. Ich empfand es damals nicht als ein Opfer, weil ich das, was ich getan habe, liebte. Ich liebte es, Kinder zu unterrichten. Wir hatten gerade den Ersten Weltkrieg hinter uns und es gab so viele Waisen. Deshalb gründeten wir eine Schule und ein Waisenhaus. Ich hatte keine Zeit, um mir Gedanken um eine eigene Familie zu machen.“

„Und das hat genügt? Sie wollten nie etwas anderes? Eine höhere Stellung? In eine andere Stadt ziehen?“

„Es gab Gelegenheiten, Castelnau zu verlassen und an andere Stellen zu gehen, die sich besser anhörten. Aber ich konnte nicht. Gott war hier am Werk. Als der Zweite Weltkrieg kam und Frankreich 1940 fiel, hatten wir natürlich noch mehr Waisen. Wir haben viele jüdische Kinder versteckt.“

Gabriella war beeindruckt. „Es muss ein gutes Gefühl gewesen sein, so zu helfen. Das war doch bestimmt gefährlich.“

„Jeder von uns tat seinen Teil. Wir suchten keine Ehre. Wir kämpften ums Überleben. Ich ergreife in Kriegen keine Partei. Am Ende gewinnt niemand. Ich habe gebetet und Gott hat mir gezeigt, wem ich helfen soll. Durch Gottes Gnade haben einige Kinder überlebt, die sonst gestorben wären. Zu vielen habe ich heute noch Kontakt. Wie du siehst, habe ich also eine große Familie.“ Sie deutete mit dem Kopf zur gegenüberliegenden Wand, die mit Kinderfotos bedeckt war.

„Und woher wussten Sie, dass das alles von Gott war?“

„Gott ist immer am Werk, Kind. Das hast du zweifellos im Senegal gesehen. Die Frage ist nur, ob ich bei seiner Arbeit mitmache oder ob ich ihn bitte, bei meiner Arbeit mitzumachen. Das eine gelingt, das andere nicht. Ich habe vor langer Zeit auf die harte Tour gelernt, dass Gott meine hochtrabenden Pläne nicht braucht. Seine Pläne sind viel besser.“

Sie schwieg einen Moment und schwelgte in Erinnerungen. Gabriella betrachtete sie staunend. Diese Frau, die schon über siebzig war, hatte einen solchen Lebenseifer, ein solches Feuer und eine solche Zuversicht. Und einen Glauben, der echt war. Ohne nachzudenken, platzte Gabriella heraus: „Haben Sie der katholischen Kirche immer zugestimmt?“

Wieder lächelte die alte Frau. „Ich müsste wohl eher sagen, dass die Kirche mir nicht immer zugestimmt hat. Ich preschte immer wieder voran und lehrte Dinge, die mich in alle möglichen Schwierigkeiten brachten. Und die dafür sorgten, dass ich hier in dem unscheinbaren Castelnau blieb.“ Wieder ein verschmitztes Grinsen. „Ich wusste, dass ich dem Herrn im Himmel gehorche, und ich bekam meine Marschbefehle aus seinem Buch. Es steht mir natürlich nicht zu, zu urteilen. Ist dir schon einmal aufgefallen, dass es meistens leichter ist, zu urteilen als zu gehorchen? Religiöse Menschen sind darin besonders gut. Ich habe versucht, mich nicht an diesem zerstörerischen kleinen Spiel zu beteiligen. Gott handelt. Ich gehorche. Das ist kein leichtes Leben, Gabriella.“ Sie schaute der jungen Frau direkt ins Gesicht. „Es ist nie leicht, Befehle anzunehmen, aber ich kann dir versichern, dass es nie langweilig ist.“

Gabriella dachte über Mutter Griolets Worte nach. „Mutter sagt über ihr Leben das Gleiche. Es stimmt. Unsere Tage waren ausgefüllt und anstrengend und aufregend … und furchtbar schmerzlich …“ Sie sprach nicht weiter. Mutter Griolet nickte verstehend. „Aber wenn ich nur wüsste, dass es richtig ist, hier zu sein, und wie ich helfen könnte. Ich sehe Sie mit den Waisenkindern und ich habe das Gefühl, dass ich das auch tun möchte. Mein Leben in diese Kinder zu investieren, die keine Familie haben. Ihnen eine Zukunft und eine Hoffnung zu geben, wie Jeremia sagt.“ Jetzt leuchteten Gabriellas Augen und eine Begeisterung erfüllte ihre Stimme. „Ich kann nicht viel, aber ich kann gut mit Kindern umgehen. Ich habe in Afrika oft unterrichtet. In der Sonntagsschule und im Sport und Werken und …“

„Gabriella, fragst du, ob du mir bei den Waisen helfen kannst? Ist das deine Frage?“ Die Nonne wirkte belustigt. „Denn, mein Kind, dazu werde ich sicher nicht Nein sagen.“

„Wirklich, Mutter Griolet? Wann kann ich anfangen?“

„Komm morgen nach deiner letzten Vorlesung ins Untergeschoss des Pfarrhauses“, schlug Mutter Griolet vor. „Dann stelle ich dich den Kindern vor.“

Am Ende des nächsten Nachmittags kannte Gabriella fast alle Kinder beim Namen. Sie war nach dem Spiel Un, deux, trois soleil im Pfarrgarten ganz außer Atem. Jetzt ergriff sie die weiche Hand des kleinen Christophe. Er war mit seinen knapp vier Jahren das jüngste Kind im Waisenhaus. Er hatte hellblaue Augen und runde, rosige Wangen, die ihm das Aussehen eines kleinen Engels verliehen.

Sein sechsjähriger Bruder, André, kam auf Gabriellas andere Seite. Er war für sein Alter groß und dünn und bildete einen deutlichen Kontrast zu seinem kleinen, stämmigen Bruder. André sagte nichts, sondern starrte Gabriella nur mit seinen braunen Augen, die von langen, zarten, braunen Wimpern eingerahmt waren, an. An ihren Blicken sah Gabriella, dass diese Brüder, wie eigentlich alle Kinder hier, Schmerz und Einsamkeit kannten und eine traurige Reife besaßen, die weit über ihr Alter hinausreichte. Aber in ihnen schlummerte auch eine Hoffnung und die Sehnsucht, dass diese neue Maîtresse, diese neue Lehrerin vielleicht genug Liebe hätte, um ihre verletzten Herzen zu trösten.

* * *

Der Bericht von der Bombenexplosion vor dem Monoprix schaffte es auf die Titelseite aller algerischen Zeitungen. SIEBEN TOTE BEI NÄCHTLICHEM ANSCHLAG lautete die Schlagzeile. Dieses Mal waren die Opfer alle Pieds-noirs, obwohl die Bombe davor auch zwei Algerier getötet hatte. Die Nationalität der Opfer spielte für die FLN keine Rolle. Ihre Botschaft war klar und deutlich: Passt auf. Niemand ist sicher. Mit dem Terror wurde allen, die immer noch ein französisches Algerien befürworteten, die versteckte Drohung zugeflüstert: Verschwindet aus dem Land, solange ihr noch könnt. Ehe es zu spät ist.

Ali war mit dem Bericht auf der Titelseite zufrieden. „Gute Arbeit, Rachid. Bei solchen Erfolgen bekommst du bald wichtigere Aufgaben. Vielleicht eine Stellung in der neuen Regierung! Die Unabhängigkeit ist nicht mehr weit, sage ich dir. Algerien wird frei sein! Die hirnlosen Pieds-noirs werden bald sehen, was ihr heiliger General de Gaulle mit seinen Worten ‚Ich verstehe euch!‘ meinte.“ Er lachte trocken. „Er meinte damit, dass er uns versteht! Er versteht, dass es für die Franzosen hoffnungslos ist. Sie können diesen Krieg nie gewinnen. Gebt auf! Wir sind bald frei!“

Rachid betrachtete seinen wahnsinnigen Anführer mit Angst und Bewunderung. Er hatte recht, davon war er überzeugt. Der Krieg, der bereits hunderttausende von Menschenleben gefordert hatte und sich schon seit sieben Jahren hinzog, näherte sich seinem Ende. Aber die Todesrate würde bis dahin sicher noch weiter steigen. Es war wie bei einem Mann, der vor einem Feuer flieht und feststellen muss, dass die Leiter, die ihn in Sicherheit bringen soll, ihn nur in immer dichteren Rauch und den sicheren Tod führt.

Die Franzosen hatten ihre eigenen Extremisten, die einen Terrorfeldzug gegen die FLN und die französische Führung startete. Die Brutalität der französischen OAS stand dem grausamen Treiben der FLN in nichts nach. Rachid lächelte Ali an. Das Ende war zwar in Sicht, aber der Krieg heizte sich jetzt erst richtig auf.

„Anne-Marie hat geredet?“, fragte Rachid in der Hoffnung, dass er bald Gelegenheit hätte, seine lebhafte Fantasie auszuleben und diese Frau und ihren Harki-Freund zu eliminieren.

Ali schüttelte den Kopf. „Nein. Es gab Wichtigeres zu tun. Es ist schon sehr befriedigend zu sehen, wie sie jedes Mal in diesem stinkenden Zimmer zusammenkauern, wenn wir kommen. Aber keine Sorge! Ihr Ende ist nicht mehr weit. Wir werden das Kind finden. Wir haben jemanden, der die Augen offenhält. Und seine Augen sind sehr gut.“

* * *

Anne-Marie saß auf dem Boden und hörte zu, als Moustafa die Bombenexplosion beim Monoprix beschrieb.

„Der halbe Häuserblock wurde zerstört. Drei Frauen und vier Kinder sind tot. Mehrere Männer werden vermisst. Alle waren Pieds-noirs.“

„Natürlich. Ich kenne diese Gegend gut.“ Sie seufzte. „Was haben sie von so vielen unschuldigen Toten?“

„Es geht ihnen darum, Angst zu verbreiten, Anne-Marie. Angst. Damit alle ihre Sachen packen und das Land verlassen, genauso wie wir es getan haben. Es ist wirklich Ironie des Schicksals, dass wir wieder da sind, wo wir angefangen haben. Nur in einer noch viel schlimmeren Lage.“

„Wir werden nie frei von ihnen sein, nicht wahr, Moustafa?“

Er sah zur Seite. „Nein. Sie sind überzeugt, dass du mehr Informationen hast. Oder dass wir beide etwas über die kleine Operation in Südfrankreich wissen.“ Er blickte sie direkt an.

„Ja, wir wissen etwas darüber. Aber nur die Namen der Harki-Kinder, die Algerien verlassen. Gott sei Dank kann ich sonst nichts verraten. Ophélie ist sicher nicht mehr bei M. Gady und ich habe keine Ahnung, wo der Beutel jetzt ist.“

„Wir müssen fliehen. Sie werden uns bald umbringen. Oder uns noch etwas Schlimmeres antun …“ Seine Augen wurden weich.

Anne-Marie wusste, was er damit meinte. Sie senkte den Blick. „Sie werden mich nicht noch einmal foltern, Moustafa. Nicht so wie damals. Sie bekommen mich nicht.“ Sie erschauerte bei der Erinnerung an die Nacht vor fünf Jahren, als sie gekommen waren, um sie zu holen. Sieben Araber. Am Ende hatte Jean-Claude sie davor gerettet, getötet zu werden. Wie hätte sie ahnen sollen, dass er auch für sie arbeitete? Wie hätte sie wissen sollen, was er einem schönen Pied-noir-Mädchen, das der französischen Armee half, antun konnte?

„Wir waren so dumm, du und ich“, sagte sie. „Wir dachten, Algerien würde französisch bleiben. Wir dachten, daran würde sich nie etwas ändern.“

„Du hast versucht zu helfen, Anne-Marie. Du hast das getan, was du für richtig gehalten hast. Die Pieds-noirs- und Harki-Kinder müssen nach Frankreich fliehen. Bei Alis Krieg geht es nicht nur um Algerien. Er tötet aus reiner Mordlust und Rachsucht. Und wir stehen ihm im Weg.“

Nach einem kurzen Moment zog Anne-Marie das kleine Fläschchen aus ihrem Ärmel. „Ich habe zwei davon. Zyankali. Wenn wir jetzt sterben …“

Moustafa wandte sich ab. „Selbstmord! Deine Religion erlaubt das nicht. Und meine auch nicht! Das ist falsch, Anne-Marie.“

„Du weißt, dass ich keine Religion habe, Moustafa. Mein Vater war Protestant, meine Mutter war Katholikin, aber ich gehöre nirgends dazu. Die Kirche will keine besudelte Frau. Eine Frau mit einem Kind und ohne Mann. Eine Frau, die mit dem Feind geschlafen hat, um ihre Haut zu retten. Eine Frau, die eine Pied-noire ist und ihr Erbe verraten hat. Meine Sünden sind für die Kirche und ihren Gott zu viel. Ich schäme mich nicht, Selbstmord zu begehen. Ophélie soll ein anderes Leben haben. Ich rette sie, indem ich sterbe, bevor sie mich zwingen zu reden.“

„Nein!“ Moustafa packte sie an den Schultern. „Noch nicht, Anne-Marie. Unsere Väter starben unter der Hand eines Mörders. Ihr Blut wurde gewaltsam vergossen. Meines vielleicht auch bald. Aber wir dürfen nicht feige sein. Ich werde im Kampf sterben, nicht durch meine eigene Hand. Gib mir noch einen Tag. Noch einen Tag Leben. Leben für uns beide.“ Er hielt sie in den Armen und sie weinte.

Kapitel 8

Jean-Claude Gachon stieg im Städtchen Aigues-Mortes aus dem Zug. Sein muskulöser Oberkörper wurde durch das dunkelgrüne Hemd, das er heute Morgen gewählt hatte, stark betont. Die Farbe unterstrich auch seine durchdringenden, nussbraunen Augen. Seine dichten, braunen Haare streiften den Kragen seines Hemdes.

Der Geruch nach Seetang und Fischen begrüßte ihn, als er über den Bahnsteig ging und in die Morgensonne hinaustrat. Sein Blick wanderte über einen Kanal zu dem Steinturm, der sich eindrucksvoll vor ihm erhob. Dann schritt er zum Eingang der befestigten Stadt. Die steinerne Stadtmauer mit ihren Türmen und der Zugbrücke erinnerte an frühere Zeiten. Jean-Claude kannte die Geschichte seines Landes und wusste, wie alt diese Stadt war.

Er marschierte schnellen Schrittes über eine Brücke und trat durch die Stadttore. In seiner Tasche steckte ein Zettel, auf dem das grob skizzierte Bild von einem Kreuz abgebildet war. Ein sonderbares Kreuz, von dem eine Taube hing. Darunter standen eilig hingeschrieben die Worte Bei dem Toten gefunden. Was hat es mit der Operation zu tun? Am 30. läuft laut unserem Freund Moustafa etwas in Aigues-Mortes. Finde heraus, was.

Jean-Claude arbeitete seit Kriegsausbruch als Porteur de valise, als heimlicher Kurier für die FLN. Es gab viele andere, eher links orientierte Franzosen wie ihn, die den Wunsch der Algerier nach Unabhängigkeit unterstützten und ihre Zeit, ihr Geld und ihren Verstand für diese Sache einsetzten. Auf diese Weise hatte er Ali kennengelernt, den brillanten, besessenen Soldaten mit einer persönlichen Mission, die Jean-Claude reizte. Es war eine grausame Mission, die gut bezahlt wurde.

Jean-Claude zog den Zettel aus der Tasche und betrachtete ihn. Ali war jetzt also auf der Suche nach Kreuzen. In den vier Jahren, in denen er mit diesem Wahnsinnigen zusammenarbeitete, hatte Jean-Claude noch nie eine so leichte Aufgabe gehabt. Er wusste alles über das Hugenottenkreuz. An Anne-Maries Hals hatte eines gefunkelt, in der Zeit, als sie jede Nacht neben ihm gelegen hatte. Er konnte sich gut an ihre Worte erinnern: Es gehörte meinem Vater. Er war Protestant, ein Nachfahre der Hugenotten. Er hat mir erzählt, dass ihre Pastoren gefoltert und getötet wurden und die Frauen in einem Turm in Aigues-Mortes eingesperrt waren …

Falls in Aigues-Mortes heute etwas passierte, wusste Jean-Claude genau, worauf er seinen Blick richten musste. Er schritt selbstsicher auf den Marché, auf dem am frühen Vormittag ein reger Betrieb herrschte. Endlich hatte er wieder einen Auftrag, der ihn auf dieser Seite des Mittelmeeres beschäftigte, bevor er über das Meer fahren und mit seinen Freunden Algeriens Sieg feiern konnte.

* * *

„Siehst du, Gabby, es ist überhaupt nicht weit“, bemerkte David, als seine Ente in einem gemütlichen Tempo ein kleines Schild passierte, auf dem „AIGUES-MORTES 5 KM“ stand.

„Das hier ist wirklich Sumpfgebiet“, stellte sie fest und beobachtete die weißen Möwen, die scharenweise aufs offene Meer in der Ferne hinausflogen.

„Ja, wir fahren an der Mittelmeerküste entlang, seit wir vor zwanzig Minuten Montpellier verlassen haben. Du weißt, was Aigues-Mortes heißt, nicht wahr?“

„Tote Gewässer?“

„Genau. Die Stadt ist rundherum von Lagunen umgeben. Ludwig der Heilige, der französische Kreuzfahrerkönig, hat die Stadt im dreizehnten Jahrhundert gebaut und sie in der Hoffnung, Händler anzulocken, als Hafen angelegt. Nach seinem Tod baute sein Sohn, Philippe der Kühne, die Stadtmauern. Du wirst sie in einer Minute sehen. Der größte Turm, der Tour de Constance, ist über dreißig Meter hoch und hat sieben Meter dicke Mauern.“

Gabriella sog erstaunt die Luft ein, als die Stadt mit der vollkommen erhaltenen Stadtmauer und dem massiven Turm, den er gerade beschrieben hatte, in ihrem Blickfeld auftauchte und sich wie eine Fata Morgana am Horizont erhob. „Das ist ja wie aus einem Märchenbuch!“

David stimmte ihr zu. „Die Stadt ist eines der schönsten und am besten erhaltenen Denkmäler des Mittelalters. In diesem Turm wurden die hugenottischen Frauen eingekerkert. Komm, wir stellen das Auto ab und schauen uns um.“

David fand gleich außerhalb der Stadtmauern einen Parkplatz. Sie stiegen aus dem Auto und schlenderten an den Händlern vorbei, die ihre Waren verkauften.

„Samstagvormittags ist immer viel Betrieb. Aber das heutige Aigues-Mortes ist ganz anders als zur Zeit des Mittelalters. Damals hatte Aigues-Mortes fünfzehntausend Einwohner und jetzt sind es gerade noch viertausend. Marseille wurde Frankreichs großer Mittelmeerhafen und der Schlamm des Rhône-Deltas schnitt Aigues-Mortes irgendwann ganz vom Meer ab.“

David nahm Gabriella am Arm und führte sie auf der Kopfsteinpflasterstraße an den schweren Holztüren des Stadttores vorbei. „Wir betreten die Stadt hier durch die Porte de la Gardette.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Es ist jetzt elf. Du hast genug Zeit, um dir vor dem Mittagessen den Turm anzusehen und auf der Stadtmauer spazieren zu gehen.“ Er grinste. „Aber sei vorsichtig. Die Mauern sind nicht gesichert. Wenn du nicht aufpasst, fällst du womöglich ins Wohnzimmer eines Knappen.“

„Du kommst nicht mit?“

„Mit der Zeit verliert auch die faszinierendste Geschichte ihren Reiz. Ich war schon fünfmal hier und habe jedes Mal den Turm und die Festungsanlage besichtigt. Lauf du ruhig los und genieße die alten Gemäuer. Ich warte dann in einer Stunde am Haupttor auf dich. Nein, sagen wir, um halb eins. Ah, aber wir sollten zuerst das Brot kaufen. Die Boulangeries schließen alle um zwölf. Hier …“ Er drückte ihr zehn Francs in die Hand. „Kauf ein Baguette und eine Ficelle, ein kleines Stangenweißbrot. Bist du so lieb? Eine Straße weiter ist eine schöne kleine Bäckerei mit einer grünweißen Markise. Ich gehe auf den Marché und kaufe uns Obst und Käse. Was möchtest du?“

„Eine Birne bitte“, sagte sie. „Und ein Stück Rohmilchkäse, am liebsten Morbier. Ich bin gleich wieder da.“

Gabriella bog in die Seitenstraße ein, auf die David gedeutet hatte, und fand die Bäckerei mit der Markise sofort. Köstliche Düfte wehten aus der Tür. Sie huschte in den Laden und wartete hinter zwei anderen Kunden.

„Bonjour, Mademoiselle“, begrüßte sie der freundliche Bäcker, als sie an die Reihe kam.

„Bonjour. Ich hätte gern ein Baguette und, und ein … wie hat er doch gleich gesagt? Ach ja, eine Ficelle! Ja, das war es.“

Der Bäcker griff mit seinen mehlbestäubten Armen hinter sich, wo Brotlaibe und Stangen in allen Formen und Größen sauber in Drahtkörben aufgereiht waren. Er holte ein besonders langes und schmales Brot heraus und legte es auf die Theke. „Eine Ficelle, sagten Sie?“ Seine dichten Augenbrauen zogen sich nach oben.

Gabriella errötete. „Ja, eine Ficelle. Und ein Baguette.“

„Sind Sie sicher?“

„Ja, natürlich.“ Sie legte die zehn Francs auf die Theke und wartete auf das Wechselgeld, bevor sie die Brote nahm, die der Bäcker um die Mitte herum in ein dünnes Papier gewickelt hatte.

Wenig später trafen sie und David sich auf dem großen Platz wieder und zeigten sich ihre Einkäufe.

„Gut gemacht, Gabby! Viel Spaß! Wenn du zurückkommst, wartet das köstlichste Käsebrot, das du je gegessen hast, auf dich.“

Gabriella schlenderte über die Zugbrücke, die früher offenbar über einen Burggraben geführt hatte, und trat durch die schweren Tore des Turms. Der Raum im Erdgeschoss war bis auf einen jungen Mann in einem dunkelgrünen Hemd leer. Er stand in der Mitte des runden Raums und schaute zum Deckengewölbe hinauf. Gabriella las in ihrem Reiseführer, während sie durch den Raum schlenderte und die kühlen Steine berührte. Ein Gefängnis.

Sie stieg eine schmale, steinerne Wendeltreppe hinauf und reiste in ihrer Fantasie mehrere Jahrhunderte zurück. Im ersten Stock waren die weiblichen Gefangenen eingekerkert gewesen. In der medizinischen Fakultät in Montpellier hatte sie ein Gemälde gesehen, auf dem sich die Frauen auf dem Turmdach zusammenkauerten, aber als sie hier stand, war alles noch viel realer.

Der Raum sah wie eine exakte Nachbildung des darunterliegenden Raumes aus. In der Mitte des Bodens befand sich eine runde Öffnung, die mit einem Eisengitter bedeckt war. Sie setzte sich auf den Steinrand, der das Loch umgab, und fuhr mit den Fingern darüber. Plötzlich entdeckte sie auf einem Stein eine Inschrift.

Sie stieß einen leisen Schrei aus. Das war es! Hier hatte Marie Durand mit dem Fingernagel das berühmte Wort in den Stein geritzt: Résistez. Gebt nicht auf, haltet durch, ertragt es bis zum Ende! Sie war mit neunzehn Jahren gefangen genommen worden und hatte siebenunddreißig Jahre in diesem Turm gelebt. Sie hatte fest zu ihrem Glauben gestanden und die anderen Frauen ermutigt, das auch zu tun. Gabriella saß ehrfurchtsvoll da. Marie Durand hatte nicht ahnen können, dass dieses eine Wort, das sie geschrieben hatte, die Grausamkeit der Könige, die ihre Untertanen in Aigues-Mortes folterten und töteten, überleben würde.

Nach einer Weile hob Gabriella den Kopf und sah ein altes, vergilbtes Plakat, das an der Wand hing. In der Mitte des Plakats befand sich das Hugenottenkreuz. Instinktiv trat sie näher und zog ihr eigenes Kreuz aus der Bluse, um es zu betrachten.

Es war das gleiche Kreuz. Die dicken Seiten des Kreuzes zeigten wie vier Pfeilspitzen, die auf den Mittelpunkt einer Zielscheibe gerichtet waren, nach innen. Dazwischen lagen bourbonische Lilien, die die Seiten der Pfeile berührten, das königliche Wappen Frankreichs. Eine Taube hing vom unteren Pfeil nach unten.

Gabriella war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie den jungen Franzosen erst bemerkte, als er direkt hinter ihr stand und über ihre Schulter auf das Kreuz in ihrer Hand spähte.

„Interessant“, flüsterte er auf Französisch.

Gabriella fuhr herum und stieß einen scharfen Schrei aus. „Oh! Sie haben mich erschreckt!“, sagte sie. „Entschuldigung, ich hätte nicht schreien sollen.“

„Ganz im Gegenteil, Mademoiselle, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich dachte, Sie hätten mich kommen hören.“ Sie standen sich einen Moment schweigend gegenüber, bevor der junge Mann sagte: „Mir ist unwillkürlich aufgefallen, dass Sie das gleiche Kreuz tragen wie das, das auf dem Plakat abgebildet ist. Was für ein ungewöhnliches Kreuz! Was bedeutet es?“

„Ah, ja … das ist das Hugenottenkreuz.“ Sie sprach schnell, um ihre Verlegenheit zu überspielen. „Kennen Sie die Geschichte der Hugenotten? Sie wurden verfolgt und entweder getötet oder hier in diesem Turm eingesperrt, nachdem 1685 das Edikt von Nantes aufgehoben wurde.“

„Ja, natürlich. Das war, als unser König entschied, dass alle katholisch sein sollten. Aber diese Hugenotten, woran glaubten sie? Wissen Sie das, Mademoiselle?“

„Das weiß ich nicht im Detail, aber ich weiß, dass sie ungefähr das Gleiche glaubten wie die Protestanten heute. Sie waren Anhänger Calvins und der Reformation. Sie glaubten an Jesus und an die Bibel.“

„Mais, oui! Und Sie sind von weither gereist, um diesen Turm zu besichtigen? Eine Pilgerreise für Ihren Glauben?“

„Ach, so weit war meine Reise nicht. Ich bin nur heute aus Montpellier hierhergekommen. Das heißt, ich komme natürlich nicht ursprünglich aus Montpellier … Ich studiere nur dort.“

„Warum tragen Sie dann dieses Kreuz, wenn ich fragen darf?“

Gabriella schaute ihn überrascht an. „Ich? Es war ein Geschenk meiner Mutter. Wir sind Protestanten und ich nehme an, dass sie die Geschichte dieses Kreuzes kennt und wollte, dass ich seine Symbolkraft verstehe.“

Der junge Mann trat näher. „Eine Symbolkraft wofür? Vergeben Sie mir, aber könnte ich Ihr Kreuz sehen?“

Plötzlich fühlte sich Gabriella unwohl und wich zurück. Dabei stolperte sie über einen unebenen Stein. „Ach, es ist das gleiche Kreuz wie auf dem Banner. Nichts Ungewöhnliches. Ich … ich muss jetzt gehen.“

Sie drehte sich um und ging auf die Stufen zu, aber er hielt sie am Arm fest. „Bitte, Mademoiselle. Ich würde wirklich gern ein bisschen mehr über diese Geschichte wissen. Vielleicht könnten wir miteinander essen gehen. Ich lade Sie ein.“

„Oh, nein danke. Das ist leider nicht möglich. Ein Freund erwartet mich zum Mittagessen.“

„Dieser Freund wollte den Turm nicht besichtigen?“

„Nein, leider hat er kein großes Interesse an Protestanten und Hugenottenkreuzen.“ Sie lachte nervös und hatte, wie so oft, das Gefühl, zu viel gesagt zu haben. Wieder ein Franzose, der nur flirten wollte.

„Schade. Dann werde ich mich jetzt oben umsehen. Dort hat man einen ausgezeichneten Blick auf den Ort, hat man mir gesagt. Sind Sie sicher, dass Sie mich nicht begleiten wollen?“ Er trat wieder auf sie zu.

„Ja, ich muss jetzt gehen.“ Gabriella drehte sich um und stieg schnell die Wendeltreppe hinab, bis sie in das große Zimmer im Erdgeschoss kam. Sie blieb stehen und lauschte, ob sie den jungen Mann hörte, aber er folgte ihr nicht. Wieder berührte sie das Kreuz an ihrem Hals und schob es dann vorsichtig unter ihre Bluse.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Halb zwölf. Sie hatte immer noch genug Zeit, um die Stadtmauer zu besichtigen. Als sie die Zugbrücke überquert hatte, bog sie nach rechts ab, wo ein Schild ihr den Weg wies. Unzählige Steintreppen, die durch die jahrhundertelange Benutzung in der Mitte abgetreten waren, führten zur eindrucksvollen Stadtmauer empor. Sie stieg die Treppe hinauf, bis sie auf dem schmalen Wehrgang oben auf der Mauer stand. Rechts sah sie einen Kanal, auf dem sich Fischerboote und fröhliche Seeleute tummelten. Der Kanal bahnte sich einen gewundenen Weg hinaus zum Mittelmeer, das am Horizont schwach zu sehen war. Sie betrachtete einen Moment die stille Sumpflandschaft und die weißen Möwen, die auf der Suche nach einem unbekannten Ziel der Sonne entgegenflogen.

Der Wehrgang auf der Mauer wurde von vielen kräftigen Türmen unterbrochen, die jedoch alle viel kleiner waren als der Tour de Constance. Gabriella schlenderte über die Mauer und war fasziniert, als sie nach links in das Innere der Stadt hinunterschauen konnte. Von hier oben genoss sie den wundervollen Blick auf die roten Ziegeldächer, die die Straßen wie ein großer Sombrero vor der Sonne schützten, aus der Vogelperspektive. Gelegentlich öffnete sich eine Lücke im Meer der Dächer und gab den Blick frei auf einen schönen, perfekt gepflegten Garten mit üppig blühenden Geranien, die die Hauswände zierten. Die Blätter von Olivenbäumen, Zedern und Magnolienbäumen bewegten sich leise im Wind und schienen dieser alten Stadt zu applaudieren, die mit der gleichen Liebe zum Detail errichtet worden war wie die Innenhöfe, in denen die Bäume standen.

Gabriella war von dieser Kulisse so fasziniert, dass sie kaum merkte, dass sie schon fast ein Drittel des Wehrgangs um die Stadt zurückgelegt hatte. Sie blieb stehen, um in ein kleines Gewölbe mit einer alten Feuerstelle und drei Fenstern, die den Blick auf die Sümpfe und das Wasser freigaben, zu schauen. Sie zog ihren Rock eng um sich und setzte sich an ein kleines, offenes Fenster, um mehr über die Geschichte dieser Stadt zu lesen.

* * *

Vom Dach über dem Rittersaal konnte Jean-Claude Gachon kilometerweit in alle Richtungen sehen. Eine kleine Plastiklandkarte, die für die Touristen aufgestellt worden war, verriet, dass Paris achthundert Kilometer im Norden lag und die große Hafenstadt Marseille nur etwas über eine Stunde im Osten. Jean-Claude lächelte. Was für ein Glück, dass er die rothaarige Schönheit hier getroffen hatte! Und sie trug ein Hugenottenkreuz um den Hals! Das war bestimmt kein Zufall.

Er ging um das Türmchen herum, um nach unten und hinaus in Richtung Süden und auf das Meer zu blicken. Achthundert Kilometer in dieser Richtung konnte er in seiner Fantasie die Stadt Algier, die kämpfenden Männer, die Bombenexplosionen und die Toten sehen. Algerien war der Schauplatz, an dem etwas passierte … und Jean-Claude wollte unbedingt dabei sein.

Er schaute immer noch nach Süden und hatte einen guten Blick über die ganze Stadt, die sich wie ein riesiges Parallelogramm mit sauberen Straßen- und Gebäudereihen innerhalb der Stadtmauer unter ihm ausbreitete. Er griff in seine lederne Schultertasche und zog ein kleines Fernglas heraus. Er hielt es an die Augen und ließ seinen Blick über die Dächer schweifen, die sich in einem wellenförmigen Muster unter der warmen Sonne aufheizten. Ein paar Antennen ragten willkürlich mit ihren dürren Armen zum Himmel hinauf, Zeugen der modernen Technik. Ein alter Mann mit einer Schirmmütze, einer Casquette, kniete auf einem Dach und reparierte kaputte Ziegel. Eine rothaarige Frau stieg auf dem Wehrgang eine Treppe hinauf und verschwand in einem Mauerturm …

Die Rothaarige! Sie ging also wirklich auf der Stadtmauer spazieren. Er lachte wieder über sein Glück. Sie hatte keine Fluchtmöglichkeit. Entweder musste sie den ganzen Weg zurückgehen oder die Mauer vollständig umrunden. In beiden Fällen hatte er reichlich Zeit, sie einzuholen. Vielleicht würde eine dezente Warnung genügen. Ja, Ali würde das gut finden. Eine dezente Warnung an die Frau mit den leuchtend roten Haaren, die ein Hugenottenkreuz um den Hals trug. Jean-Claude steckte das Fernglas wieder in die Ledertasche und eilte die Wendeltreppe hinab.

Er brauchte keine fünf Minuten, bis er den Turm erreicht hatte, in dem er die Frau hatte verschwinden sehen. Der Raum war leer, aber er war sicher, dass sie noch nicht wieder herausgekommen war. Dann sah er eine kleine Wendeltreppe, die nach oben führte. Er trat geräuschlos an die schmale Treppe, legte seine Ledertasche auf eine Stufe, schlich auf Zehenspitzen wieder weg und wartete direkt vor dem Raum auf der Stadtmauer.

Kurze Zeit später hörte er Schritte über sich. Die junge Frau hüpfte leichtfüßig die dunkle Treppe herab. Im nächsten Moment ertönte ein Schrei. Ein dumpfes Poltern verriet, dass sie gestürzt war. Jean-Claude wartete noch einen Moment, bevor er in den Raum trat. Die Frau lag am Fuß der Treppe. Jean-Claude bückte sich schnell, um seine Ledertasche aufzuheben, bevor er neben sie trat. Er bückte sich im Schatten zu ihr hinab und gab sich besorgt. „Mademoiselle, sind Sie verletzt? Was ist passiert?“

Mit schmerzverzerrtem Gesicht setzte sie sich auf. „Ich glaube, ich habe mich nicht verletzt. Ich bin nur auf der Treppe über etwas gestolpert.“

Jean-Claude ging hinüber und schaute die Treppe hinauf. „Diese Treppen sind schmal und uneben.“

„Ja, wahrscheinlich. Ich dachte, ich wäre auf etwas gestiegen. Sie sehen nichts?“

„Nein, hier ist nichts, Mademoiselle.“

„Sie haben recht. Es ist dunkel und die Stufen sind uneben. Ich habe einfach nicht richtig aufgepasst.“

Jean-Claude half ihr auf die Beine, aber als sie versuchte, allein zu stehen, taumelte sie und griff nach seinem Arm. „Oh nein! Ich glaube, ich habe mir den Knöchel verstaucht.“

„Ich helfe Ihnen zurück zum Eingang.“

Sie humpelte neben ihm her, während sie langsam auf der Stadtmauer zurückgingen. „Mein Freund wird bald hier sein“, versicherte sie ihm. „Danke für Ihre Hilfe.“

„Gern geschehen.“ Er flüsterte: „Sie müssen vorsichtig sein, Mademoiselle. Hugenottenkreuze bringen anscheinend Unglück.“

Er verschwand in einer Seitenstraße und grinste bei sich. Eigentlich war nichts passiert. Nur ein kleiner Unfall. Aber bei dem einen Unfall würde es nicht bleiben.

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Gabriella saß auf einer Stufe neben dem Eingang zur Stadt, als David sie fand. „Da bist du ja, Gabby! Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen. Ich dachte schon fast, du wärst von der Mauer gefallen.“

Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen zu ihm hinauf. „Mach bitte keine Witze. Ich habe etwas getan, das fast genauso dumm war. Ich glaube, ich habe mir den Knöchel verstaucht.“

David bückte sich und untersuchte ihr geschwollenes Bein. „Oh, Gabby, das tut mir leid. Was ist passiert?“

„Ich war nur ungeschickt. Ich ging auf der Stadtmauer spazieren und betrat einen der Türme da drüben.“ Sie deutete mit der Hand. „Oben befand sich eine kleine Terrasse mit einem schönen Blick auf das Mittelmeer. Aber die Stufen sind schmal und uneben und es ist stockdunkel. Deshalb bin ich auf dem Weg nach unten gestolpert und gestürzt. Wenn dieser nette junge Franzose nicht gewesen wäre, hätte ich es wahrscheinlich nicht zurückgeschafft.“

„Ein junger Franzose? Er hat dich begleitet?“

Gabriella lachte. „Nein. Ich habe ihn zufällig im Turm getroffen. Ehrlich gesagt, hatte ich den Eindruck, dass er mit mir flirten wollte. Er hat viele Fragen gestellt. Jedenfalls ging ich danach auf der Stadtmauer spazieren und er muss ein wenig später aus dem Turm gekommen sein, denn er hörte mich schreien und kam, um zu sehen, ob ich mich verletzt hätte. Er hat mich hierhergebracht, aber ich musste ihm versichern, dass ich einen Freund habe, der sich um mich kümmert. Sonst hätte er mich nicht in Ruhe gelassen, glaube ich.“

„Das kann ich mir gut vorstellen.“ Er stellte ihr keine weiteren Fragen. „Komm, ich helfe dir aufzustehen. Du brauchst Eis für deinen Knöchel. Wir müssen unsere Käsebrote wohl im Auto essen.“

„Es tut mir so leid, dass ich so unbeholfen war. Wir können trotzdem picknicken, wenn du möchtest.“ Aber als sie aufstand, verzog sie vor Schmerzen das Gesicht.

Ohne lange zu überlegen, schwang David sie auf die Arme und trug sie trotz ihres verlegenen Protests zum Auto zurück.

Auf dem Rückweg sprach er nicht viel. Er dachte an den jungen Franzosen und die hübsche rothaarige Frau und die Information, die in der Tasche seiner Lederjacke steckte. Es war trotz allem ein sehr interessanter Tag gewesen.

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Gabriella saß auf dem Bett und hielt eine Eispackung auf ihren geschwollenen Knöchel. Eis auf den Knöchel! Mme. Leclerc hatte sich furchtbar aufgeregt. Woher sollte sie bei dieser Hitze Eis nehmen? Aber sie hatte Wasser in das winzige Gefrierfach gestellt, das sich in ihrem Kühlschrank befand, und sie hatten eine Eispackung gemacht. Jetzt wachte sie wie ein übertrieben besorgtes Kindermädchen über Gabriella.

„Ooh là là. Ma pauvre petite fille! Wie schade, dass dieser Unfall passiert ist!“

Gabriella versuchte, fröhlich zu klingen. „Das wird schon wieder. Ganz bestimmt.“

Nach einigen weiteren Ooh là làs ließ die Vermieterin Gabriella allein und sie konnte ihren Gedanken nachhängen. Sie waren düster. Das kam nicht oft vor, aber wenn diese Schwermut sie befiel, war sie dagegen machtlos.

Sie war wütend, weil David nicht mehr Mitgefühl gezeigt hatte. Er hatte distanziert und besorgt gewirkt, aber nicht ihretwegen. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie auf der Treppe gestolpert war. Und sie fühlte sich unbehaglich, als sie an den jungen Franzosen dachte, der ihr geholfen und diese seltsame Bemerkung über Hugenottenkreuze geflüstert hatte.

Sie vermisste ihre Familie. Sie sehnte sich danach, mit ihrer Mutter zu sprechen. Die Eispackung fiel auf den Boden und schmolz langsam auf den Fliesen, während Gabriella sich umdrehte und sich in den Schlaf weinte.