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Karen Witemeyer

Eine Lady nach Maß

 

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

ISBN 978-3-86827-995-5

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2010 by Karen Witemeyer

Originally published in English under the title A Tailor-Made Bride

by Bethany House, a division of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, USA

All rights reserved.

German edition © 2012 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

35037 Marburg an der Lahn

Deutsch von Rebekka Jilg

Cover design by Dan Thornberg, Design Source Creative Services

Umschlagbild: © iStockphoto.com / MarsBars

Umschlaggestaltung: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH /

Christian Heinritz

Satz: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

Datenkonvertierung E-Book: Satz & Medien Wieser, Stolberg

 

www.francke-buch.de

Über die Autorin:

Karen Witemeyer lebt zusammen mit ihrem Mann und ihren 3 Kindern in Texas. Seit ihrer Kindheit hegt sie eine Vorliebe für historische Romane mit Happy End-Garantie und einer überzeugenden christlichen Botschaft. Nachdem sie an der Abilene Christian University ihren Abschluss in Psychologie gemacht hatte, begann sie selbst mit dem Schreiben. Eine Lady nach Maß ist ihr Debütroman.

Prolog

San Antonio, Texas

März 1881

Rot? Hast du keinen Anstand, Tante Vic? Du kannst dich doch nicht in einem roten Kleid beerdigen lassen.“

„Es ist Kirsche, Nan.“

Hannah Richards musste sich ein Lachen verkneifen, als Victoria Ashmont die Ehefrau ihres Neffen mit diesen einfachen Worten in ihre Schranken wies. Während sie sich angestrengt bemühte, so auszusehen, als bekäme sie kein Wort von der Unterhaltung ihrer Kundinnen mit, nahm Hannah die letzte Nadel und steckte sie in den Saum des umstrittenen Stoffes.

„Musst du denn bis zum bitteren Ende gegen die Konventionen verstoßen?“ Nans Nörgeln steigerte sich fast zu einem Schrei, als sie auf die Tür zulief. Ein leises Schniefen, gefolgt von einem kleinen Schluckauf, kündigte die Tränen an, die nicht mehr lange auf sich warten lassen würden. „Sherman und ich werden es ausbaden müssen. Du machst uns vor unseren Freunden zum Gespött. Aber du hast dich ja noch nie um jemand anderen als um dich gekümmert, nicht wahr?“

Miss Victoria wandte sich so abrupt um, dass sie Hannah beinahe mit ihrem Spazierstock am Kopf getroffen hätte.

„Du magst meinen Neffen um den Finger gewickelt haben, aber glaubte ja nicht, dass du mich mit deinem Jammern beeindrucken kannst.“ Victoria Ashmont stand da wie eine zornige Göttin der griechischen Mythologie. Mit erhobenem Kopf richtete sie ihre vom Alter gekrümmte Hand auf die Frau, die es wagte, ihre Entscheidungen infrage zu stellen. Hannah erwartete beinahe, dass ein Blitz ihrem Zeigefinger entfuhr, der Nan hier und jetzt zu Asche verbrannte.

„Seit Doktor Bowman festgestellt hat, dass ich ein schwaches Herz habe, umkreist du mich wie ein Geier. Du hast meinen Haushalt an dich gerissen und bestimmst, wie Shermans Erbe ausgegeben wird. Aber mich wirst du nicht kontrollieren, meine Liebe. Ich werde tragen, was ich aussuche, ob dir meine Wahl gefällt oder nicht. Und wenn deine Freunde auf einer Beerdigung nichts Besseres zu tun haben, als über den Kleidergeschmack der Toten herzuziehen, solltest du dir jemanden suchen, der etwas mehr Charakter besitzt.“

Nans beleidigter Aufschrei hallte im Raum nach wie der Peitschenknall eines Maultiertreibers.

„Mach dir keine Sorgen, Liebes“, rief Miss Victoria, als ihre Nichte die Schlafzimmertür aufriss. „Mit dem vielen Geld, das du von mir erbst, kannst du dich leicht trösten. Ich bin sicher, du erholst dich im Handumdrehen von allen eventuellen Peinlichkeiten, die ich dir zumute.“

Die Tür schlug zu. Dieses Geräusch schien Miss Victoria aller Kraft zu berauben. Der Stock fiel ihr aus der Hand und sofort sprang Hannah auf, um die schwankende Frau zu stützen.

„Vorsicht, Madam. Warum setzen Sie sich nicht für einen Augenblick?“ Hannah führte die alte Dame zu einem Sofa, das am Fuß des großen Himmelbettes stand. „Soll ich Ihnen einen Tee kommen lassen?“

„Seien Sie nicht albern, Mädchen. Ich bin noch nicht so geschwächt, dass mich eine solche Unterhaltung aus der Bahn wirft. Ich muss nur wieder zu Atem kommen.“

Hannah nickte, um zu vermeiden, ihrerseits einen Streit mit der alten Dame anzufangen. Stattdessen sammelte sie ihre Scheren und Stecknadeln auf, die auf dem dicken Teppich verstreut lagen.

In den letzten achtzehn Monaten hatte Hannah regelmäßig für Miss Victoria geschneidert. Es beunruhigte sie, zu sehen, wie sehr ein solch kurzes Streitgespräch die alte Dame mittlerweile aus der Fassung brachte. Die unverheiratete alte Dame, die schon immer ein wenig exzentrisch gewesen war, war mit ihrer rasiermesserscharfen Zunge nie einem Wortgefecht ausgewichen.

Auch Hannah hatte die bissigen Bemerkungen ab und an schon zu spüren bekommen, aber mit der Zeit hatte sie sich ein dickes Fell zugelegt. Eine Frau, die ihren eigenen Weg gehen wollte, musste abgehärtet sein, wenn sie nicht früher oder später scheitern wollte. Vielleicht war das der Grund, warum sie Victoria Ashmont so sehr respektierte, dass sie ihre gelegentlichen Rüffel ertragen konnte. Miss Victoria hatte jahrelang ihr eigenes unabhängiges Leben geführt und war damit sehr gut zurechtgekommen. Natürlich hatte sie immer genug Geld gehabt, ebenso wie ihr der Familienname Ashmon alle Türen hatte öffnen können. Nach dem zu urteilen, was sich in den besseren Kreisen herumgesprochen hatte – und auch nach dem, was man sich unter vier Augen erzählte – war Victoria Ashmonts Ansehen in ihrer Zeit als Familienoberhaupt ständig gewachsen. Und das war mehr, als viele Männer von sich behaupten konnten. Hannah hoffte, dass sie, wenn sie auch nur die geringste Möglichkeit dazu bekommen würde, den Erfolg dieser Frau kopieren könnte. Zumindest ein wenig.

„Wie lange arbeiten Sie nun schon für Mrs Granbury, Miss Richards?“

Hannah sprang bei dieser fast unfreundlichen Frage auf und ging mit dem Nähkästchen unter dem Arm schnell zurück zu Miss Victoria. „Fast zwei Jahre, Madam.“

„Hm.“ Der Stock der Dame klopfte dreimal gegen das Sofabein. „Ich erzähle der Frau schon seit Jahren, dass sie endlich Mädchen anstellen soll, die ein bisschen Grips haben. Ich war froh, als sie meinen Rat endlich befolgt hat. Ihre Vorgängerinnen, Liebes, haben es nie länger als ein oder zwei Monate mit mir ausgehalten. Entweder war ich mit ihren Fähigkeiten nicht zufrieden oder sie kamen nicht mit meiner direkten Art zurecht. Es war ein ständiges Ärgernis, dass ich meine Wünsche immer und immer wieder erklären musste. Das vermisse ich nicht im Mindesten.“

„Ja, Madam.“ Hannah zog ihre Stirn in Falten. Sie war sich nicht sicher, aber sie vermutete, dass Victoria Ashmont ihr gerade ein Kompliment gemacht hatte.

„Haben Sie je daran gedacht, Ihr eigenes Geschäft zu eröffnen?“

Hannahs Blick richtete sich auf das Gesicht ihrer Kundin. Die durchdringenden grauen Augen durchbohrten sie, als versuchte Miss Victoria, die Wahrheit aus ihr herauszusaugen.

Schnell wandte Hannah den Blick ab und betrachtete das Nähkästchen in ihren Händen. „Mrs Granbury war bisher sehr gut zu mir, sodass ich schon ein wenig Geld zur Seite legen konnte. Es wird bestimmt noch ein paar Jahre dauern, aber eines Tages will ich mein eigenes Geschäft eröffnen.“

„Gut. Und jetzt helfen Sie mir bitte aus diesem Kleid.“

Verwirrt von dem abrupten Ende des Gespräches schwieg Hannah. Sie streifte die farbenfrohe Seide vorsichtig herunter, um weder den Stoff noch Miss Victorias Strümpfe durch die Stecknadeln in Mitleidenschaft zu ziehen. Als sie das Kleid behutsam entfernt hatte, legte sie es beiseite und half Miss Victoria, einen Morgenrock anzuziehen.

„Ich fürchte, ich muss mich jetzt um einiges kümmern“, sagte Miss Victoria, als sie sich an ihr Schreibpult setzte. „Ich zahle Ihnen einen Bonus, wenn Sie das Kleid gleich hier fertig machen, bevor Sie gehen. Sie können den Stuhl in der Ecke benutzen.“ Sie deutete in Richtung eines kleinen gepolsterten Hockers, der neben dem Schreibtisch stand.

Hannahs Hals zog sich zusammen. Hastig suchte sie nach einer angemessenen Entschuldigung, doch sie fand nichts, was Miss Victorias Überprüfung standgehalten hätte. Da sie offensichtlich keine Wahl hatte, schluckte sie ihre Bedenken hinunter und brachte eine passende Antwort über die Lippen.

„Wie Sie wünschen.“

Nachdem sie ihre Vorbereitungen getroffen hatte, stellte Hannah ihr Nähkästchen auf den Boden dicht neben Miss Victorias Stuhl und machte sich daran, an dem Kleid zu arbeiten.

Sie mochte es nicht, vor ihren Kundinnen zu nähen. Obwohl ihr kleines Zimmer, das sie in einer Pension bewohnte, sehr dunkel war, genoss sie die Ruhe und Abgeschiedenheit. Dort konnte sie arbeiten, ohne auf ablenkende Fragen eingehen zu müssen.

Hannah atmete tief ein. Ich werde das Beste daraus machen. Es war zwecklos, sich über das Unvermeidbare zu beklagen. Außerdem mussten ja nur der Saum gekürzt und ein paar zusätzliche Abnäher angebracht werden, da Miss Victoria in letzter Zeit viel Gewicht verloren hatte. In weniger als einer Stunde würde Hannah ihre Arbeit beendet haben.

Zunächst war Miss Victoria eine hervorragende Gesellschaft. Sie war mit ihren eigenen Schreibarbeiten beschäftigt und hielt Hannah nicht von ihrer Arbeit ab. Nachdem sie ihre Brille aus einem Silberetui hervorgeholt hatte, sah sie einen Stapel Briefe durch. Doch als Hannah sich schon darauf freute, schnell mit ihrer Arbeit fertig zu werden, wandte Miss Victoria sich an sie.

„Sie finden es bestimmt seltsam, dass ich meine Beerdigung schon im Vorhinein bis ins Kleinste plane.“

Hannah hob den Blick von ihrer Arbeit. „Nicht seltsam, Madam. Eher … vorausschauend.“

„Hm. Die Wahrheit ist, dass ich weiß, dass ich sterbe. Ich will auf eine Art und Weise gehen, mit der ich allen im Gedächtnis bleibe, und nicht einfach für immer verschwinden.“

„Ich bin sicher, Ihr Neffe wird sich an Sie erinnern.“ Hannah drehte das Kleid, sodass sie besser an die Naht kam, die sie als nächste in Angriff nehmen wollte.

„Sherman? Pah! Der Junge würde seinen eigenen Namen vergessen, wenn man ihm die Möglichkeit dazu gäbe.“ Miss Victoria zog ein Dokument aus einer Schachtel. Sie legte es vor sich, griff nach dem Tintenfässchen und öffnete es. „Ich habe schon daran gedacht, mein Vermögen für wohltätige Zwecke zu spenden, anstatt es meinem Neffen zu überlassen. Er und seine flatterhafte Frau werden es mit beiden Händen ausgeben.“ Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr. „Aber sie sind nun einmal meine Familie. Mittlerweile ist es mir fast egal, was mit meinem Geld geschieht, wenn ich nicht mehr hier bin.“

Hannah zog schnell und geschickt die Nadel mit dem roten Faden durch den Stoff, konzentriert darauf, dass jeder Stich sorgfältig und genau gesetzt wurde. Es war nicht an ihr, Ratschläge zu erteilen, aber trotzdem brannte es ihr auf der Zunge. Allein mit einem Bruchteil des Ashmontvermögens könnte eine Kirche oder Wohltätigkeitsorganisation viel Gutes tun. Miss Victoria könnte ein paar kleinere Spenden tätigen, ohne dass ihr Neffe auch nur das Geringste mitbekam. Hannah presste ihre Lippen fest aufeinander und behielt ihre unerbetene Meinung für sich.

Sie war erleichtert, als ein leises Klopfen an der Tür sie davor bewahrte, doch noch eine unüberlegte Antwort zu geben.

Ein junges Dienstmädchen trat ein und knickste. „Die Post ist da, Madam.“

„Danke, Millie.“ Miss Victoria nahm den Umschlag entgegen. „Du kannst gehen.“

Das Geräusch knisternden Papiers erfüllte den Raum, als Miss Victoria den Brief studierte.

„Nun, ich muss diesem Gentleman Respekt zollen“, murmelte die alte Dame. „Das ist der dritte Brief innerhalb von zwei Monaten.“

Wieder wendete Hannah das Kleid und beugte sich noch etwas dichter über ihre Arbeit. Sie hoffte, dass Miss Victoria aufhören würde, ihre privaten Dinge mit ihr zu besprechen. Doch es war nichts zu machen. Die Stimme der alten Dame wurde wieder lauter, als sie fortfuhr.

„Er will eines meiner Grundstücke kaufen.“

Hannah beging den Fehler und sah von ihrer Arbeit auf. Miss Victorias Augen, vergrößert durch die Brille, die sie trug, forderten eine Antwort von ihr. Doch wie sollte eine einfache Schneiderin sich in einem Gespräch mit einer Dame der Gesellschaft verhalten, die so weit über ihr stand? Sie wollte Miss Victoria nicht beleidigen, indem sie kein Interesse zeigte. Doch zu neugierig zu sein konnte auch missverstanden werden. Hannah mühte sich fieberhaft, eine angemessene Antwort zu finden. „Oh?“

Das schien genug zu sein, denn Miss Victoria wandte sich wieder ihrer Korrespondenz zu.

„Als die Eisenbahnstrecken letztes Jahr ausgebaut werden sollten, habe ich einige Grundstücke erworben, die schon erschlossen waren. Ich habe guten Gewinn gemacht, als ich sie wieder verkaufte, doch an genau diesem Grundstück hänge ich.“

Eine erwartungsvolle Pause entstand. Hannah starrte wieder auf ihre Arbeit und stellte die erste Frage, die ihr in den Sinn kam.

„Macht der Herr denn kein angemessenes Angebot?“

„Doch. Mr Tucker bietet einen mehr als ausreichenden Preis.“ Miss Victoria klopfte mit dem Brieföffner auf den Tisch, dann schien sie zu bemerken, was sie tat, und legte ihn beiseite. „Vielleicht zögere ich, weil ich den Mann nicht persönlich kenne. Er scheint bei der Bank in Coventry einen guten Stand zu haben. Sein Ruf dort ist ausgezeichnet, aber in den letzten Jahren habe ich es mir angewöhnt, meine Geschäftspartner persönlich zu treffen. Leider lässt meine Gesundheit das nicht mehr zu.“

„Coventry?“ Hannah ging rasch auf dieses weniger persönliche Thema ein. „Ich kenne diese Stadt nicht sehr gut.“

„Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie etwa zweihundert Meilen nördlich von hier liegt, am North Bosque River – und sehr klein ist. Ich hatte gehofft, eines Tages dorthin reisen zu können, aber wie es im Moment aussieht, werde ich diese Möglichkeit nicht mehr bekommen.“

Hannah vernähte einen Faden und schnitt das Ende ab. Sie griff nach ihrer Spule und wickelte neues Garn ab, froh darüber, dass das Thema sich endlich in eine weniger verfängliche Richtung gewendet hatte. Sie hielt die Nadel hoch, um den Faden einfädeln zu können.

„Was meinen Sie, Miss Richards? Sollte ich dem Mann das Grundstück verkaufen?“

Die Nadel fiel ihr aus der Hand.

„Sie fragen mich?“

„Gibt es hier sonst noch irgendeine Miss Richards? Natürlich frage ich Sie.“ Miss Victoria schnalzte empört mit der Zunge. „Himmel, Mädchen. Ich habe gedacht, Sie seien von der intelligenten Sorte. Habe ich mich die ganze Zeit über geirrt?“

Das traf Hannah. Sie straffte die Schultern und hob ihr Kinn. „Nein, Madam.“

„Gut.“ Miss Victoria schlug mit der Handfläche auf ihren Schreibtisch. „Jetzt sagen Sie mir endlich, was Sie denken.“

Wenn diese Dame unbedingt ihre ehrliche Meinung hören wollte, würde Hannah gehorchen. Dieses Kleid war sowieso die letzte Arbeit, die sie für Miss Victoria erledigen würde. Es konnte also nicht schaden. Das einzige Problem war nur, dass Hannah sich im Laufe des Gespräches so sehr angestrengt hatte, keine eigene Meinung zu entwickeln, dass sie nun auch wirklich keine hatte. Sie versuchte, sich nicht zu einer überhasteten und dummen Antwort hinreißen zu lassen, und suchte deshalb erst einmal auf dem Fußboden nach ihrer Nähnadel.

„Es scheint mir“, sagte sie, nachdem sie die Nadel gefunden hatte, „als müssten Sie sich entscheiden, ob Sie Ihr Land einem Mann überlassen, den Sie nur von seinem guten Ruf her kennen, oder Ihrem Neffen, mit dem Sie schon Ihre Erfahrungen gemacht haben.“ Hannah hob ihren Blick und blickte Miss Victoria in die Augen. Sie gestattete nicht, dass der durchdringende Blick sie einschüchterte. „Mit welcher Vorstellung könnten Sie eher leben?“

Victoria Ashmont dachte einen Augenblick nach. Schließlich nickte sie und wandte sich ab. „Danke, Miss Richards. Ich denke, ich habe meine Antwort gefunden.“

Kurz flackerte Triumph in Hannah auf, doch das Gefühl erlosch, als sie daran dachte, dass es hier um das Vermächtnis einer sterbenden Frau ging.

„Verzeihen Sie mir meine Kühnheit, Madam.“

Miss Victoria wandte sich ihr wieder zu und erhob einen knöchernen Zeigefinger. „Kühnheit ist genau das, was Sie brauchen, wenn Sie Ihr eigenes Geschäft führen wollen, Mädchen. Kühnheit, Können und harte Arbeit. Wenn Sie Ihren Laden haben, werden Sie die eine oder andere Notlage kennenlernen. Vertrauen ist die einzige Möglichkeit, alles zu überstehen – Vertrauen in sich selbst und in Gott, mit dem uns alles möglich ist. Vergessen Sie das nie.“

„Ja, Madam.“

Hannah fühlte sich ermahnt und ermutigt zur selben Zeit. Mit neuem Eifer ging sie an ihre Näharbeit. Das Kratzen eines Stiftes auf Papier ersetzte Miss Victorias Stimme, als die Frau sich wieder ihrer Korrespondenz widmete. In kurzer Zeit war Hannah mit den Änderungen fertig.

Nachdem Miss Victoria das Kleid noch ein zweites Mal anprobiert und Hannahs Arbeit kritisch in Augenschein genommen hatte, wie es ihre Art war, begleitete sie Hannah in die große Empfangshalle.

„Mein Butler wird Sie nach Hause bringen, Miss Richards.“

„Danke, Madam.“ Hannah nahm ihre Haube in Empfang und verknotete die Enden unter ihrem Kinn.

„Ich werde am Ende der Woche meine Rechnung bei Mrs Granbury begleichen, aber hier ist schon einmal der Bonus, den ich Ihnen versprochen habe.“ Sie streckte Hannah einen weißen Briefumschlag entgegen.

Hannah nahm ihn an und steckte ihn behutsam in ihren Korb. Dann machte sie einen schnellen Knicks. „Vielen Dank. Es war mir eine Ehre, für Sie zu arbeiten, Madam. Ich bete dafür, dass Ihre Gesundheit sich bessert.“

Ein seltsames Licht trat in Miss Victorias Augen, ein geheimnisvolles Schimmern, als könne sie die Zukunft sehen. „Sie haben Besseres vor sich, als seltsamen alten Damen rote Kleider zu nähen, Miss Richards. Verschwenden Sie nicht Ihre Energie darauf, sich um mich zu sorgen. Ich werde gehen, wenn es Zeit für mich ist, keinen Moment früher.“

Hannah lächelte, als sie aus der Tür trat, und sie war sich sicher, dass nicht einmal die Engel persönlich Miss Victoria dazu bringen könnten, früher zu gehen als nötig. Doch unter der harten Schale der alten Dame schlug ein gütiges Herz.

Wie gütig es war, erkannte Hannah aber erst, als sie zu Hause angekommen war und den Briefumschlag öffnete. Anstatt der zwei oder drei Dollar, die sie erwartet hatte, fand sie ein Geschenk, das ihr den Atem und die Fassung raubte.

Sie ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand ihres Zimmers sinken und rutschte langsam daran hinunter. Zitternd saß sie minutenlang auf dem Boden und starrte auf das Papier vor sich. Sie blinzelte mehrmals, auch um die Tränen zu verdrängen, die in ihre Augen stiegen, aber nichts konnte die Tatsachen ändern.

In ihren Händen hielt sie die Besitzurkunde für ihr eigenes Grundstück mit Schneiderei in Coventry, Texas.

Kapitel 1

Coventry, Texas

September 1881

J.T.! J.T.! Ich habe eine Kundin für dich!“ Tom Packard trampelte in seinem unverkennbar ungleichmäßigen Gang die Straße hinunter und winkte wild mit den Armen in der Luft.

Jericho „J.T.“ Tucker trat mit einem Seufzer vor die Tür des Büros in seinem Mietstall und beobachtete seinen Gehilfen dabei, wie er an der Schmiede und dem Laden des Schuhmachers vorbeistolperte. Irgendwann hatte er aufgehört zu zählen, wie oft er Tom schon daran erinnert hatte, dass er es nicht lauthals verraten sollte, wenn sie einen Kunden hatten. Aber wenn der Junge aufgeregt war, gab es für ihn kein Halten mehr.

Es war auch nicht seine Schuld. Mit achtzehn Jahren hatte Tom zwar den Körper eines Mannes, doch sein Verstand hatte sich nicht so weit entwickelt. Er konnte kaum lesen und schaffte es nur mit großer Anstrengung, seinen eigenen Namen zu schreiben. Doch er hatte ein Händchen für Pferde, deshalb ließ J.T. ihn bei sich im Stall arbeiten und bezahlte ihn für die anfallenden Arbeiten. Als Gegenleistung gab sich der Junge alle Mühe, zu beweisen, dass er J.T.s Vertrauen verdiente. Er versuchte oft, unter den Bahnreisenden, die eine Meile südlich der Stadt aussteigen mussten, Kunden zu werben. Nach Wochen kleinerer Aufträge schien ihm nun endlich ein guter Fang ins Netz gegangen zu sein.

J.T. lehnte sich gegen den Türrahmen und zog einen Zahnstocher aus seiner Hemdtasche. Er steckte sich den hölzernen Stab zwischen die Zähne und versuchte, einen möglichst unbewegten Gesichtsausdruck zu zeigen, als Tom taumelnd vor ihm zum Stehen kam. Nur die rechte Augenbraue zog J.T. fragend in die Höhe. Der Junge stützte sich schnaufend auf seine Knie und rang mehrere Augenblicke lang nach Atem. Dann richtete er sich zu seiner vollen Größe auf, mit der er fast schon an seinen Arbeitgeber heranreichte, und seine roten Wangen wurden noch dunkler, als er J.T.s Gesichtsausdruck sah.

„Ich hab’s schon wieder vergessen mit dem Schreien, stimmt’s? Es tut mir leid.“ Tom ließ den Kopf hängen.

J.T. ergriff den Jungen bei der Schulter und richtete ihn auf. „Dann denkst du eben nächstes Mal dran. Also, was für eine Kundin ist das?“

Toms Gesichtsausdruck erhellte sich von einer Sekunde auf die andere. „Diesmal hab ich eine gute gefunden. Sie ist wunderhübsch und hat mehr Koffer und Taschen dabei, als ich je gesehen habe. Ich glaube, es ist genug, um den General vollzukriegen.“

„Den General, was?“ J.T. rieb sein Kinn, um ein Lächeln zu verbergen.

Tom hatte jedem Mietwagen einen Namen gegeben. Liebchen hieß der Wagen mit dem verzierten Dach, den sich meistens verliebte junge Männer ausliehen, um ihre Angebetete auszufahren. Den Einspänner hatte er Doc getauft, nach dem Mann, der ihn meistens auslieh. Die einfache offene Kutsche hieß einfach Kutsche und der Frachtwagen war der General. Die Männer in der Stadt mochten sich zwar über den einfältigen Tom lustig machen, aber die Namen, die er sich für die Wagen ausgedacht hatte, waren mittlerweile etabliert. Erst letzte Woche hatte Alistair Smythe einen Silberdollar auf J.T.s Schreibtisch gelegt und nach Liebchen verlangt.

J.T. verdrängte die Gedanken, verschränkte die Arme über der Brust und schob den Zahnstocher mit der Zunge von einem Mundwinkel in den anderen. „Die offene Kutsche wird es doch sicher auch tun.“

„Ich weiß nicht.“ Tom ahmte J.T.s Haltung nach, verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Stallwand. „Sie hat gesagt, ihr Zeug wäre ganz schön schwer und sie würde uns etwas extra bezahlen, wenn wir sie direkt zu ihrem Geschäft fahren würden.“

„Geschäft?“ J.T.s gute Laune war von einem Moment auf den anderen wie weggeblasen. Er ließ die Arme sinken, als sein Blick an Tom vorbei auf das einzige leer stehende Gebäude in Coventry fiel. Gegenüber von Louisa James‘ Wäscherei stand das Haus, das er versucht hatte zu erwerben – vergeblich. J.T. presste seine Zähne so fest aufeinander, dass der Zahnstocher zerbrach. Um sich abzulenken, ging er einige Schritte an der Stallwand entlang.

„Ich glaube, sie ist Schneiderin“, plapperte Tom weiter. „Es gab ein paar Puppen ohne Köpfe und Arme auf dem Bahnsteig. Sah wirklich komisch aus, wie sie da mittendrin stand, als wollte sie gleich ein Kaffeekränzchen mit ihren kopflosen Freunden abhalten.“ Der Junge gluckste vor sich hin, aber J.T. fand seine Bemerkungen überhaupt nicht lustig.

Eine Schneiderin? Eine Frau, die ihren Lebensunterhalt damit verdiente, die Eitelkeit ihrer Kunden auszunutzen? So jemand sollte seinen Laden bekommen?

Übelkeit machte sich in seinem Magen breit, als alte Erinnerungen, die er so gut hinter einer hohen Mauer in seinem Innern verborgen hatte, auszubrechen versuchten.

„Also nehmen wir jetzt den General, J.T.?“

Toms Frage brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück und half ihm dabei, die unangenehmen Gedanken an ihren Platz zurückzuschieben. Er löste seine Finger, von denen er gar nicht gemerkt hatte, dass er sie zur Faust ballte, und schob seinen Hut so ins Gesicht, dass er seine Augen bedeckte. Tom sollte die Wut darin nicht sehen. Am Ende würde er noch annehmen, er selbst hätte etwas falsch gemacht. Oder schlimmer, er könnte J.T. unangenehme Fragen stellen.

Er räusperte sich und klopfte dem Jungen auf die Schulter. „Wenn du meinst, dass wir den Frachtwagen brauchen, dann nehmen wir ihn auch. Warum spannst du nicht schon mal die Grauen an?“

„Jawohl, Sir!“ Tom rannte mit stolzgeschwellter Brust los, um die Pferde anzuspannen.

J.T. ging in den Mietstall, schloss sein Büro ab und schritt dann zu dem großen Tor, durch das die Wagen auf die Straße gelangen konnten. Er griff nach dem ersten Torflügel und benutzte sein gesamtes Körpergewicht, um es aufzustoßen. Als seine Muskeln sich anspannten, rang er darum, seine aufsteigende Wut zu dämpfen.

Er hatte mittlerweile akzeptiert, dass die Besitzerin des Grundstückes nicht an ihn hatte verkaufen wollen. J.T. glaubte daran, dass Gott seine Schritte leiten würde. Er war zwar immer noch der Meinung, dass er das Grundstück hätte gebrauchen können, aber so kam er mit dieser Situation klar. Jedenfalls bis vor ein paar Minuten. Der Gedanke, dass Gott es in Ordnung fand, das Grundstück einer Schneiderin zu geben, passte ihm überhaupt nicht.

Er wollte das Geschäft ja nicht aus Eigennutz. Er hatte es als Möglichkeit gesehen, einer Witwe und ihren Kindern zu helfen. War es nicht das, was die Bibel als Nächstenliebe bezeichnete? Welcher besseren Verwendung hätte man das Geschäft denn zuführen sollen? Louisa James musste ihre drei kleinen Kinder versorgen und kam kaum über die Runden. Das Gebäude, in dem sie arbeitete, konnte ihr jeden Tag über dem Kopf zusammenbrechen, obwohl sie einen Großteil ihres Einkommens für die Miete ausgeben musste. Er hatte vorgehabt, den gegenüberliegenden Laden zu kaufen und ihn ihr für die Hälfte dessen zu vermieten, was sie momentan bezahlte. Er hätte den Kauf damit begründet, dass er die hinteren Lagerräume selbst nutzen wollte.

J.T. blinzelte in die Nachmittagssonne, die jetzt in den Stall strömte, und ging an die andere Torseite. Seine Empörung wuchs mit jedem Schritt. Er ignorierte den Griff und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Tor, um ihm seinen Willen aufzuzwingen.

Wie konnten Modetand und Rüschen der Stadt mehr nutzen als ein neues Heim für eine bedürftige Familie? Die meisten Frauen in und um Coventry nähten ihre Kleider selbst und die, die das nicht taten, bestellten fertig genähte Kleider aus dem Katalog. Praktische, einfache Kleider, keine Gewänder für Modepuppen, die in den Frauen hier den Wunsch nach Dingen weckten, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten. Eine Schneiderin hatte in Coventry keinen Platz.

Das kann nicht Gottes Wille sein. Die Eitelkeit der Welt hatte diese Frau hierhergebracht, nicht Gott.

Pferdehufe erklangen dumpf, als Tom die beiden Grauen vor den Stall führte.

J.T. fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Was auch immer sie hierhergebracht hatte, diese Schneiderin war immerhin eine Frau und sein Vater hatte ihm beigebracht, dass man alle Frauen mit Höflichkeit und Respekt behandeln sollte. Also würde er lächeln und seinen Hut abnehmen und sich freundlich mit ihr unterhalten. Er würde sogar ihre schweren Koffer tragen. Aber sobald sie seinen Wagen verlassen hatte, würde er ihr sorgsam aus dem Weg gehen.

* * *

Hannah saß auf ihren fünf Koffern und wartete darauf, dass Tom zurückkam. Die meisten Reisenden hatten den Bahnsteig mittlerweile verlassen. Viele waren zu Fuß gegangen oder von ihren Familien und Bekannten abgeholt worden. Doch Hannah würde ihre Sachen nicht aus den Augen lassen – oder sie jemandem anvertrauen, den sie nicht kannte. Also wartete sie.

Dank Victoria Ashmonts Großzügigkeit war es ihr möglich gewesen, ihr Erspartes in Stoffe und Zubehör zu investieren. Da sie nicht gewusst hatte, was es in dem kleinen Coventry zu kaufen gab, hatte sie alles mitgebracht, was sie vielleicht brauchen könnte. Einschließlich ihres wertvollsten Besitzes – einer Singer-Nähmaschine. Das Monster wog fast genauso viel wie die Lokomotive, die sie hierhergebracht hatte, aber es war wunderschön. Sie würde höchstpersönlich dafür sorgen, dass es ihr Geschäft wohlbehalten erreichen würde.

Ihre Zehen berührten den hölzernen Boden des Bahnsteiges. Nur noch eine staubige Straße lag zwischen ihr und ihrem Traum. Aber die letzten Minuten des Wartens fühlten sich wie Stunden an. Konnte sie wirklich ihr eigenes Geschäft führen? Oder würde sich Miss Ashmonts Vertrauen in sie als Irrtum herausstellen? Zweifel befielen sie. Was, wenn die Frauen in Coventry keine Schneiderin brauchten? Was, wenn sie ihre Entwürfe nicht mochten? Was, wenn …

Hannah sprang auf und schritt ungeduldig hin und her. Mutig und selbstsicher. Oh, und Vertrauen auf Gott. Hannah hielt inne. Ihr Blick wanderte über die Hügel, die sich wie die Wellen des Ozeans um sie erhoben. „Ich blicke hinauf zu den Bergen: Woher wird mir Hilfe kommen? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat!“ Der Psalm sickerte in ihre Seele und brachte ihr Ruhe und Sicherheit. Gott hatte sie hierhergeführt. Er würde für sie sorgen.

Sie nahm ihre Wanderung wieder auf und spürte, wie die Angst allmählich von ihr abfiel. Als sie gerade ihr Gepäck zum sechsten Mal umrundete, hörte sie endlich das Knarren von Wagenrädern, die über den trockenen Boden rollten.

Vor ihr tauchte ein Fuhrwerk auf. Hannahs Herzschlag verdoppelte sich. Es schien nicht dieser Tom zu sein, der fuhr. Ein Fremder mit abgewetztem braunen Hut über den Augen saß auf der Bank. Das musste dieser J.T.-Mensch sein, von dem Tom berichtet hatte. Nun, solange er stark genug war, um ihre Nähmaschine wohlbehalten in ihren Laden zu bringen, war es Hannah egal, wer den Wagen lenkte.

Eine Hand winkte freundlich aus dem Wagen heraus. Hannah war erleichtert, dass Tom wieder mitgekommen war. Erfreut winkte sie zurück. Zwei Männer würden ihr Gepäck sicher leichter schleppen können.

Der Fahrer brachte die Pferde zum Stehen und zog die Bremse an. Er sprang vom Wagen und machte sich auf den Weg zum Bahnsteig. Seine langen, zielsicheren Schritte zeugten von Selbstvertrauen und standen in krassem Gegensatz zu Toms torkelnden Schritten neben ihm. Wenn man von der Breite seiner Schultern ausging und davon, wie sehr sich das Hemd über seiner Brust und den Armen spannte, konnte sie sicher sein, dass er ihre Nähmaschine ohne Probleme transportieren würde.

Tom rannte vor dem Neuankömmling her und zog seinen grauen Schlapphut vom Kopf. Seine dunkelblonden Locken standen in alle Richtungen ab, aber in seinen Augen war ein freundliches Funkeln zu sehen. „Ich hab den General geholt, Ma’am. Wir haben in null Komma nix alles aufgeladen.“ Er zog den Hut wieder auf und ging zielstrebig an ihr vorbei.

Hannahs Blick wandte sich dem Mann zu, der ein paar Meter vor ihr stand. Er sah nicht wie ein General aus. Keine Militäruniform. Stattdessen trug er Cowboystiefel und Jeans, die an den Knien langsam fadenscheinig wurden. Ein Zahnstocher steckte zwischen seinen Lippen und bewegte sich hin und her, als der Mann darauf herumkaute. Vielleicht war General ein Spitzname. Er hatte noch kein Wort gesagt, aber etwas an seiner Haltung verlieh ihm eine gewisse Autorität.

Sie straffte ihre Schultern und trat auf ihn zu. Immer noch aufgeregt, weil heute ihr neues Leben beginnen würde, konnte sie dem Drang nicht widerstehen, den stoischen Mann zu necken.

„Danke, dass Sie mir heute behilflich sind, General.“ Sie lächelte ihn an, während sie auf ihn zuging, und konnte endlich mehr von seinem Gesicht erkennen als nur sein Kinn. Er hatte schöne, bernsteinfarbene Augen, obwohl sie ein wenig kalt wirkten. „Soll ich salutieren oder so etwas?“

Er hob seine rechte Augenbraue. Dann verzog sich sein Mund tatsächlich zu einem winzigen Lächeln. Hannah wusste, dass ihre Bemerkung das Eis ein wenig gebrochen hatte.

„Ich befürchte, ich bin nur Zivilist, Ma’am.“ Der Mann wandte seinen Kopf in Richtung des Wagens. „Das ist der General. Tom mag es, Dingen Namen zu geben.“

Hannah lachte. „Ich verstehe. Also, ich bin froh, dass Sie beide mir helfen. Mein Name ist Hannah Richards.“

Der Mann lupfte kurz seinen Hut. „J.T. Tucker.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Tucker.“

Er nickte knapp. Kein sehr gesprächiger Kerl.

„Leg das wieder hin, Tom“, rief er, als er an Hannah vorbeiging. „Wir wollen doch nicht, dass die Koffer über den Rand fallen, wenn wir über eine Wurzel fahren.“

„Oh! Warten Sie einen Moment, bitte.“ Hannah konnte nicht wissen, was für dreckige Dinge vorher in dem Wagen transportiert worden waren. Ihren Koffern und der Nähmaschine würde das nichts ausmachen, aber das Leinen, das ihre Puppen bedeckte, konnte leicht ruiniert werden.

„Ich habe eine alte Decke, die wir auf die Ladefläche legen können. Lassen Sie mich die schnell holen.“

Hannah spürte Mr Tuckers Seufzen mehr, als dass sie es hörte, während sie die Decke aus dem Koffer zog, auf dem sie eben noch gesessen hatte. Er konnte so viel seufzen, wie er wollte. Ihre Ausstellungspuppen mussten geschützt werden. Sie hatte nur eine Möglichkeit, einen ersten guten Eindruck bei den Damen Coventrys zu hinterlassen, und die würde sie sich nicht nehmen lassen.

Als sie mit der Decke zurück zum Wagen ging, schaute sie bewusst nicht in Mr Tuckers Richtung. Hannah warf die Decke über den Rand der Ladefläche und kletterte dann hinauf, wie sie es als Kind getan hatte. Schnell breitete sie die Decke aus und legte die sechs Puppen vorsichtig darauf. Am Schluss schlug sie die Decke über die Puppen und wickelte sie sorgfältig ein. Als sie fertig war, erschütterte ein lauter Knall hinter ihr den Wagen, sodass die Ladefläche hin und her schwankte. Hannah taumelte zur Seite. Als sie einen Blick über ihre Schulter warf, sah sie Mr Tucker, der gerade ihren ersten Koffer auf die Ladefläche gewuchtet hatte. Die metallenen Füße kratzten auf dem hölzernen Boden.

Der Mann hätte sie ruhig warnen können, anstatt sie halb zu Tode zu erschrecken. Aber wenn sie ihn darauf hingewiesen hätte, hätte sie sich nur zum Narren gemacht, deshalb ignorierte sie ihn. Als Tom mit dem zweiten Koffer kam, hatte sie die Puppen sicher verstaut. Nachdem er ihn abgestellt hatte, ging sie zum Ende der Ladefläche.

„Würden Sie mir bitte runterhelfen?“

Tom grinste sie an. „Na klar.“

Hannah legte ihre Hand auf seine Schulter, als er sie um die Hüfte fasste und hinunterhob. Eine kleine Stimme des Bedauerns schalt sie dafür, dass sie nicht Mr Tucker um diesen Gefallen gebeten hatte, aber Hannah überhörte sie. Tom war die bessere Wahl gewesen. Außerdem fühlte sie sich in der Gegenwart des Jungen wohl – im Gegensatz zu seinem Begleiter, der von einer Minute zur anderen entweder ihr Interesse oder ihren Zorn entfachte.

Sie schluckte ihren Ärger hinunter, während die Männer ihre Nähmaschine auf die Ladefläche hoben. Zum Glück schafften sie es ohne große Probleme. Nachdem das schwerste Stück verstaut war, dauerte es nicht mehr lange, bis auch der Rest ihrer Habseligkeiten aufgeladen war. Als sie fertig waren, reichte Tom ihr seine Hand, um ihr auf den Kutschbock zu helfen, kletterte dann selbst auf die Ladefläche und ließ sie mit Mr Tucker allein.

Ein sanfter Herbstwind kühlte ihre Wangen und zupfte leicht an ihrer Haube, als sich der Wagen in Bewegung setzte. Hannah strich ihren Rock glatt und wusste nicht genau, was sie zu dem abweisenden Mann neben sich sagen sollte. Zu ihrer Überraschung fing er jedoch mit der Unterhaltung an.

„Warum haben Sie sich ausgerechnet für Coventry entschieden, Miss Richards?“

Sie wandte sich ihm zu, aber seine Augen blieben auf die Straße geheftet.

„Ich denke, Coventry hat sich eher für mich entschieden.“

„Wie das?“

„Es war wirklich eine außergewöhnliche Reihe von Ereignissen. Ich zweifle nicht daran, dass es Gottes Vorsehung ist, dass ich hier bin.“

Endlich reagierte er. Er wandte ihr sein Gesicht zu und unter seinem Hut starrten seine durchdringenden Augen sie an, bevor er blinzelte und sich wieder abwandte.

Sie schluckte schwer, als er seinen Blick wieder von ihr abgewandt hatte, und fuhr fort.

„Vor zwei Jahren wurde ich von Mrs Granbury in San Antonio als Schneiderin angestellt. Eine Kundin war eine alte unverheiratete Dame, die den Ruf hatte, dass man unmöglich mit ihr arbeiten könne. Nun, ich brauchte die Arbeit zu dringend und war zu dickköpfig, um mich von ihr abschrecken zu lassen. Wir haben einen Weg gefunden, wie wir miteinander auskommen und uns sogar gegenseitig respektieren konnten. Bevor sie starb, rief sie mich zu sich, damit ich ihr ein letztes Kleid schneidere. Wir fingen an, über ihr Erbe zu reden. Sie hatte früher einige Grundstücke erworben, die mittlerweile sehr wertvoll waren. Eines davon hatte sie noch nicht verkauft. In einem Akt der Großzügigkeit, den ich immer noch nicht begreifen kann, hat sie mir dieses Grundstück als Bezahlung für das Kleid gegeben. Sie wusste, dass ich davon träumte, mein eigenes Geschäft zu eröffnen.“

„Was hat sie davon abgehalten, das Grundstück schon früher zu verkaufen?“ In Mr Tuckers tiefer Stimme schwang noch etwas anderes als Neugierde mit.

Ein leichtes Unbehagen stieg in Hannah auf, aber sie wusste nicht, woran es lag.

„Sie hat mir erzählt, dass sie es bevorzuge, ihre Geschäftspartner persönlich zu kennen. Ihren Charakter kennenzulernen. Leider ging es ihr gesundheitlich immer schlechter und sie konnte keine Reisen mehr unternehmen. Es gab einen Gentleman mit sehr gutem Ruf, der der Dame mehrere Angebote gemacht hat. Ein Mr Tuck –“

Ein Kloß bildete sich in Hannahs Hals.

„Oh nein. Bitte sagen Sie mir nicht, dass Sie dieser Mr Tucker sind!“

Kapitel 2

J.T. warf einen Blick auf die Frau neben sich. Sie war genau so angezogen, wie er es erwartet hatte. Sie trug ein Reisekleid, bei dem so viel Stoff benutzt worden war, dass man sicherlich noch ein Kleid daraus hätte machen können, wenn man auf Nützlichkeit und nicht auf Extravaganz achtete. Doch selbst er hatte bemerkt, wie wunderbar der kornblumenblaue Stoff zu ihren Augen passte und die geknöpfte Jacke ihre schmale Taille betonte. Und als sie sich gebückt hatte, um die Puppen auf der Ladefläche zu verstauen, war er froh gewesen, dass der Stoff ihre Figur verborgen hatte.

Als er nun sah, wie sie auf ihrer Lippe kaute und überlegte, was sie sagen sollte, nachdem sie von seiner Verbindung zu ihrem Geschäft erfahren hatte, musste er zugeben, dass seine Vorurteile nur auf ihr Äußeres zutrafen. Die meisten schönen Frauen, die er in seinen siebenundzwanzig Jahren kennengelernt hatte, neigten dazu, die Menschen in ihrer Umgebung zu manipulieren. Ein schüchternes Lächeln, ein Schmollmund, ein Augenzwinkern – und sie bekamen, was sie wollten.

Miss Hannah Richards schien sich jedoch nicht zu so etwas herabzulassen. Ihr blondes Haar, die zarte Figur und die schönen Gesichtszüge machten sie zu einer attraktiven Frau. Aber wenn es darum ging, einzuspringen und selbst etwas in die Hand zu nehmen, tat sie es offenbar auch selbst und klimperte nicht mit den Lidern, damit ein anderer ihre Aufgaben übernahm.

Natürlich hatte er sie gerade erst kennengelernt. Er bezweifelte, dass sie sich auch weiterhin als Ausnahme der Regel herausstellen würde.

„Verzeihen Sie mir, dass ich so plump mit der Tür ins Haus gefallen bin, Mr Tucker. Ich wusste es wirklich nicht …“

J.T. starrte geradeaus und presste die Lippen zusammen, aber er beobachtete sie aus dem Augenwinkel.

„All dieses Gerede von Gottes Vorsehung muss für Sie wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein. Es tut mir leid. Es scheint falsch, dass mein Segen für Sie eine Enttäuschung ist.“ Sie atmete langsam aus, dann richtete sie sich auf und wandte sich ihm zu. „Ich habe eine Idee! Ich gebe Ihnen Rabatt, wenn Sie etwas bei mir reparieren lassen oder neu bestellen.“

Er biss weiter auf seinem Zahnstocher herum. „Nicht nötig. Meine Schwester Cordelia näht für mich.“

„Oh.“

Ihr fröhliches Lächeln verschwand, sodass er das Gefühl bekam, als hätte er soeben eine Blume zertreten. Doch er wappnete sich gegen das Gefühl des Bedauerns, das ihn nur weich machen würde. Er wollte keinen Gefallen von ihr. Außerdem bot sie es ihm nur an, damit sie selbst sich besser fühlte.

„Gut“, fuhr sie fort und schien schon wieder eine neue Idee zu haben. „Dann kann ich vielleicht Ihrer Schwester einen Rabatt auf ihr erstes Kleid geben. Ich habe eine wunderbare Auswahl an Modellen –“

„Nein.“ Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war eine Schwester, die anfing, sich für Modegeschichten zu interessieren. Sie würde mit Sicherheit in diese Falle tappen. Er würde sie dieser Gefahr einfach nicht aussetzen.

Miss Richards sagte nichts mehr. Für den Rest der Fahrt schwieg sie beharrlich. Als die ersten Gebäude der Stadt in Sicht kamen, hatte J.T. so ein schlechtes Gewissen, als ob schwere Gewichte auf seinen Schultern lasteten.

„Sehen Sie, ich meine das nicht böse.“ Er rückte auf der Sitzbank hin und her. „Ich danke Ihnen, dass Sie dieses Angebot gemacht haben, aber es gibt keinen Grund dazu. Sie sind offiziell die Besitzerin des Grundstückes. Sie müssen sich nicht entschuldigen oder mich entschädigen. Ich kann damit leben.“

Er schob seinen Hut zurecht, damit er sie besser sehen konnte. Sie würdigte ihn keines Blickes, aber ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie auf ihre Hände starrte. Er war froh, dass er das geklärt hatte.

„Danke für Ihr Verständnis, Mr Tucker. Ich hoffe, zwischen uns wird es deshalb keine Uneinigkeiten geben.“

J.T. murmelte eine unverständliche Antwort. Er konnte wohl kaum widersprechen und sagen, dass ihre Uneinigkeiten schon begonnen hatten, bevor sie sich überhaupt kennengelernt hatten. Das würde ihn engstirnig erscheinen lassen. Was er nicht war. Nicht wirklich. Er hatte ja kein Problem mit Miss Richards als Person. Sie schien nett zu sein. Doch ihr Beruf war eine ganz andere Sache.

Er hatte unmittelbar miterlebt, welchen Schaden Geltungssucht einer Frau antun konnte, einer ganzen Familie. Frauen schwärmten von Kleidern aus Paris, bis sie mit ihrem einfachen Leben unzufrieden wurden. Dann fingen sie an, ihre Männer zu verachten, die ihnen einen aufwendigen Lebensstil nicht bezahlen konnten.

Er war schon des Öfteren in Gottesdiensten gewesen und hatte Frauen gesehen, denen es offensichtlich eher darum ging, eine Modenschau zu veranstalten, als Gott zu ehren. Wer hatte den ausgefallensten Hut? Wessen Kleid war nach der neusten Mode geschneidert? Wessen Kleid war aus dem teuersten Stoff? Sich sonntags ordentlich zu kleiden war eine Sache, doch mehr Aufmerksamkeit erheischen zu wollen, als Gott gebührte, war seiner Meinung nach unanständig.

Engstirnig? Keinesfalls. War es engstirnig, Saloons und Bordelle zu meiden? Sie boten Dinge, die die Menschen vom rechten Weg abbrachten. Ausgefallene Kleider taten genau das Gleiche, nur auf eine Art und Weise, die die Gesellschaft akzeptierte.

J.T. biss die Zähne zusammen, sodass der Zahnstocher wieder einmal zerbrach. Er wandte den Kopf zur Seite und spuckte die beiden Hälften aus. Er legte den Kopf in den Nacken, um seine innere Anspannung zu vertreiben. In Gedanken alles breitzutreten, half ihm nicht weiter.

Außerdem hatte ihn das Gespräch über Gottes Vorsehung ins Grübeln gebracht, ob nicht vielleicht doch der Herr Miss Richards nach Coventry gebracht hatte. Er vermutete, dass Gott durchaus einen Platz für eine Schneiderin in der Stadt haben könnte, wenn er sogar Rahab mit ihrem unmoralischen Lebenswandel dazu hatte gebrauchen können, seinem Volk zum Sieg zu verhelfen. Es war unwahrscheinlich. Sehr unwahrscheinlich. Aber möglich.

* * *

Hannah konnte immer noch nicht glauben, dass sie endlich in ihrem neuen Zuhause angekommen war. Neugierig sog sie die ersten Eindrücke von Coventry in sich auf, als sie an den Geschäften vorbeirollten. Zwei gut gekleidete Männer unterbrachen ihre Unterhaltung vor einem großen Gebäude und sahen zu ihr hinüber. Sie nickten zum Gruß. Hannah lächelte zurück.

„Wir haben dieses Hotel erst vor ein paar Monaten fertiggestellt“, erklärte Mr Tucker, als er seinerseits die Männer gegrüßt hatte.

Hoffnung keimte in ihr auf. Obwohl Coventry viel kleiner war als San Antonio, schien es zu wachsen. Die Bahnstrecke, ein neues Hotel, Geschäftsmänner, die die Stadt besuchten. Geschäftsmänner, die Ehefrauen hatten. Ehefrauen, die Kleider nach der neusten Mode haben wollten. Ja, hier gab es definitiv die besten Möglichkeiten.

Als sie ein Stück weitergefahren waren, ließ ihre Hoffnung wieder ein wenig nach. Während Mr Tucker ihr pflichtbewusst die verschiedenen Häuser zeigte, die Bank, das Telegrafenbüro, die Apotheke, beobachtete Hannah die Frauen, die auf den Bürgersteigen mit Einkaufskörben am Arm vorbeigingen. Ihre Kleider waren einfach, schlicht. Kümmerten sie sich nicht um Mode? Oder schlimmer: Hatten sie etwa kein Geld, um sich bessere Kleider zu leisten? Hannah war überzeugt, dass ihre Kleider hier gut ankommen würden, aber wenn niemand sie sich leisten könnte …

Hannahs Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen. Nein. Sie würde nicht schon wieder in ihren Zweifeln versinken. Gott hatte sie aus einem bestimmten Grund nach Coventry gebracht. Es hatte nichts zu bedeuten, dass die Stadt klein war oder die Einwohner nicht zur besseren Gesellschaft gehörten. Sie hatte sich genau auf diesen Fall vorbereitet, hatte praktische, alltagstaugliche Schnitte entworfen und strapazierfähige Materialien mitgebracht. Außerdem wäre es eine hübsche Abwechslung, wenn sie endlich einmal für Menschen schneiderte, die der gleichen Gesellschaftsschicht wie sie selbst angehörten, Frauen, mit denen sie sich unterhalten und Freundschaften schließen konnte. Vielleicht sogar mit Mr Tuckers Schwester.

Hannah warf dem grimmigen Mann neben sich einen verstohlenen Blick zu. Er war nicht sehr freundlich, aber das musste ja nicht bedeuten, dass auch seine Schwester kurz angebunden war. Aber vielleicht wäre auch sie verstimmt, wenn sie herausfand, dass das Geschäft, das in ihren Familienbesitz übergehen sollte, nun jemand anderem gehörte.

Die Pferde wurden langsamer. Hannahs Gedanken verflogen im Nu, denn sie war angekommen.

Hannahs Herz hüpfte. Ihr Blick wanderte über das Gebäude, das ihre Zukunft bedeutete. Es hatte eine schöne Vorderfront und große Fenster, die in Richtung Straße zeigten. Sofort kamen ihr Ideen, wie sie ihre Puppen kleiden und anordnen könnte, in den Sinn. Vielleicht den lavendelfarbenen Morgenmantel oder das olivfarbene Kostüm. Die Kleider waren zwar nach der neusten Mode geschneidert, aber nicht zu pompös oder unpraktisch für Frauen, die arbeiten mussten. Keine Schärpen oder Rüschen, die im täglichen Leben behindern konnten. Keine Schleppen, die man durch den Straßenstaub einer texanischen Kleinstadt ziehen musste. Wenig Seide oder andere Stoffe, die man in einer Westernstadt nicht gebrauchen konnte.

„Soll ich Ihnen jetzt helfen oder nicht?“

Hannah fuhr bei der kurz angebundenen Frage zusammen. „Oh, natürlich.“ Hitze stieg ihr in die Wangen. Sie erhob sich und legte eine Hand auf Mr Tuckers Schulter. Sie konnte es nicht vermeiden, seine Muskeln und den starken Griff um ihre Hüfte zu spüren. Ihr Gesicht wurde noch heißer. Diese Nähe … Sie konnte einen leichten Geruch nach Leder und nach Pferden an ihm wahrnehmen. Der Duft eines arbeitenden Mannes.

„Danke.“ Sie vermied es, ihn anzuschauen, und kramte stattdessen in ihrer Handtasche. „Ich suche den Schlüssel.“

Hannah zog einen kleinen Schlüssel hervor und trat auf den hölzernen Bürgersteig. Vor der Tür hielt sie inne und presste eine zitternde Hand auf ihren Magen. Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, steckte sie den Schlüssel in das Schlüsselloch und drehte ihn. Ein verheißungsvolles Klicken ertönte und die Tür öffnete sich.

Als Hannah den Laden betrat, erkannte sie sofort, welche Möglichkeiten sich auftaten. Trotz des Staubes, der sich in den vergangenen Monaten angesammelt hatte, sah sie innerlich schon den fertig eingeräumten Laden vor sich. An der linken Wand stand eine Theke. Dort würde sie ihre Kataloge und Modemagazine auslegen. An den Wänden würde sie Regale anbringen, in denen die verschiedenen Stoffballen nach Farben sortiert wären, damit ihre Kunden genug Auswahl hatten. Die fertigen Kleider könnten an der hinteren Wand drapiert werden, damit die Kundinnen sie sich genau ansehen könnten.

Hannahs Schritte klangen dumpf auf den Holzdielen, als sie den Raum durchquerte. Sie war glücklich, als sie eine kleine Abstellkammer entdeckte, in der sie ihr Nähzubehör aufbewahren konnte. Der Raum erschien ihr sogar groß genug, um darin ihre Nähmaschine aufzubauen.

Ja, dieses kleine Geschäft war perfekt für sie.

Hinter ihr erklangen Schritte. Sie wandte sich um und sah Tom und Mr Tucker, jeder mit einem ihrer Koffer auf der Schulter.

„Wenn Sie damit fertig sind, Löcher in die Luft zu starren, könnten Sie uns vielleicht sagen, wohin die Sachen sollen“, grummelte Mr Tucker.