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www.piper.de

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe.

Stand: 2. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-97051-8

© Piper Verlag GmbH, München 2005 und 2009

Coverkonzeption: Büro Hamburg

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de

Covermotiv: Kokerei Zollverein, Konzert der Bochumer Symphoniker (Peter Liedtke)

Karte: cartomedia, Karlsruhe

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Für Pia

Glück auf an: Andy, Zappo, Bochynek, Sammy, Helge, Schütte, Jamiri, Ramin, Kobler, -kopf, Goosen, Laurin, Benno, Odermann, Napi, Wilms & Wente.

Und Glück auf an Dietmar Clausing, Tom Mega, Pete Barany, Tana Schanzara, Dietrich Eggert und Hunter irgendwo im Himmel über der Ruhr.

And sanity is a full-time job
In a world that is always changing

(»SANITY«, BAD RELIGION)

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Ein 219 Kilometer langes Vorwort (denn so lang ist die Ruhr)

Tach. Da bin ich wieder. Fast fünf Jahre ist es her, dass ich die erste Gebrauchsanweisung für das Ruhrgebiet schrieb. Vielen Dank für die bundesweite Aufmerksamkeit und die guten Besprechungen in den großen Wochenblättern und überregionalen Magazinen, erst recht aber vielen Dank für die netten einheimischen Kommentare, Ergänzungen und Einladungen zu Lesungen umme Ecke! In fünf Jahren, sollte man meinen, passiert eigentlich gar nicht so viel. Das mag für die meisten Großstädte richtig sein. In Köln stürzt vielleicht mal das Stadtarchiv ein, in Hamburg wird über Nacht die HafenCity aus dem Boden gestampft, aber dass sich in Münchenberlinstuttgart groß etwas getan hätte, kann man nicht gerade behaupten.

Aber hier bei uns! Und wie. Kein Stein steht mehr auf dem anderen, hat man manchmal das Gefühl. Der Rhythmus, die Schlagzahl unseres Alltags scheinen sich zu verändern, schneller zu werden. Da wächst etwas, das gigantisch sein wird. Ich stehe manchmal mit offenem Mund da und denke, das kann doch alles nicht sein. Meine Heimat erfindet sich gerade neu, unsere Welt wird erneut von Menschenhand komplett umgestaltet, nun schon zum dritten Mal in 150 Jahren. Ich bin völlig fasziniert, finde aber nur schwer einen Weg, dieses Gefühl in ein noch so offenes Raster zu pressen. Hier explodiert gerade alles. Wow!

Wir sind Kulturhauptstadt! Wir sind U-Turm! Wir sind Zollverein! Wir sind aber auch Opel, wir sind Karstadt, wir sind arbeitslos. Wie viel positive und negative Energie unsere 4435-Quadratkilometer-Insel im Herzen Westeuropas, größer als Mallorca und Menorca zusammen, gerade durchpulst, das müsste man glatt aus dem Weltraum leuchten sehen können. Kann man sogar, es gibt Beweisfotos. Am 11. April 2006 jedenfalls entschied sich eine EU-Expertenjury für Essen und das Ruhrgebiet als Europäische Kulturhauptstadt 2010, wobei übrigens das Wort »Experte« im Ruhrgebietsdeutsch das genaue Gegenteil von »Fachmann« bedeutet: »Du bist mir vielleicht ’n Experte!« Seitdem drehen hier alle durch. Zieht man mal die üblichen Kloppereien um Geld, Macht und Einfluss ab, klammert man für einen Augenblick alle allzu abgedrehten Spinner und notorischen Bedenkenträger aus und vergisst knapp die Hälfte von allem, was je versprochen und geplant wurde – dann bleiben unterm Strich immer noch ein halbes Dutzend veritabler Großprojekte, von denen man die meisten eh dringend hätte in Angriff nehmen müssen, einige wunderschöne poetische Ideen wie die großen gelben Ballons, die als »Schachtzeichen« über unseren ehemaligen Grubeneinfahrten schweben werden, und zwei, drei Weichenstellungen, die das Leben im Ruhrgebiet in den nächsten Jahren entscheidend verändern.

Bei den Menschen, die ihre Pulle Export und ihre Packung Zaretten »anne Bude« kaufen, bei den Fans auf der Südtribüne, beim Oppa im Schrebergarten ist die Kulturhauptstadt kurz vor ihrem Start noch gar nicht richtig angekommen. Was das alles soll, was das wieder kostet, und wem das am Ende nützt?! Und doch bedingt das Motto der Kulturhauptstadt »Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel« ein Umdenken und Sich-neu-Erfinden, womöglich wird daraus sogar eine Blaupause für andere alte Industrieregionen, die den Strukturwandel noch vor sich haben. Kunst, Kultur und Kreativwirtschaft lösen die industrielle Produktion ab, ausgerechnet im Ruhrgebiet, darauf muss man erst mal kommen. Heißt das, jeder Mensch kann Künstler? Und mit seiner Kreativität Geld verdienen? Demnächst also toll: Arbeitslose Opelaner informieren ihre Follower via Twitter über ihre Fortschritte als Fashiondesigner; die »Bread & Butter« findet ab sofort auf dem Bochumer Nokia-Gelände statt; Karstadt-Verkäuferinnen provozieren das einheimische Hörder Publikum mit Cyber-Installationen am Ufer des just gefluteten Dortmunder Phoenixsees; während ihrer Standzeiten am Hauptbahnhof entwerfen Taxifahrer immer neue Smartphone-Applikationen für ortsunkundige Städtetouristen; in verlassenen Stollen und Schächten züchtet derweil Prof. Dietrich Grönemeyer merkwürdige Heilpilze für gewinnbringende biomedizinische Anwendungen im »Medical Valley« an der Ruhr. Und Kreativdirektor Dieter Gorny zupft dazu versonnen den E-Bass.

Sie lachen? Warum? Bei uns im Ruhrgebiet ist alles möglich. Oder haben Sie auch gelacht, als die Süddeutsche Zeitung bereits im Oktober 2007 in einem zwölfseitigen Special zur Kulturhauptstadt erkannte: »Die Sonne ist längst nicht mehr verstaubt«? Es ging wie immer um Kohle, Stahl, Currywurst, Ruhrdeutsch und Brieftauben, aber auch um neue Landmarken und Leuchttürme. Ein Jahr später erschien der stern mit der Titelschlagzeile »Weltstadt Ruhrgebiet« und staunte in einer Zwanzigseiten-Strecke über den »iPOTT«, eine Wortschöpfung, auf die ich heute noch neidisch bin. Im selben Monat acht Seiten Süddeutsche unter der Headline »Hoffen auf die Strahlkraft«, im Januar 2009 dann ein düsteres ZEIT-Dossier über Bochum »Auf der Kippe«, gefolgt von sechs aufmunternden Seiten WELT im März ebenfalls über Bochum: »Neue Chancen der Stadt«. Nokia kaputt, Opel kaputt, aber von Chancen reden! Aber sie haben recht, genau das macht uns hier aus.

Das Getöse um die Kulturhauptstadt, die Diskussionen um die Kreativwirtschaft und die steigende Fremdwahrnehmung durch bundesweite Qualitätsmedien beeinflusst unsere Eigenwahrnehmung. Wir beschäftigen uns mit uns selbst, horchen in uns hinein, dröseln das Missverhältnis unserer Minderwertigkeitskomplexe und unseres Lokalstolzes auf. Dinge geraten ins Rutschen. »War schon immer so« und »Ham wa noch nie so gemacht« werden immer unglaubwürdiger. Zöpfe werden abgeschnitten. Neuerdings streiten die Jusos für ein neues Discoviertel in Dortmund, der Gelsenkirchener SPD-Oberbürgermeister fordert einen gemeinsamen Ruhr-OB, und selbst das Undenkbare wird denkbar: ein funktionierender Nahverkehr 

Verstreute Dörfer üben Metropole. Seien Sie live dabei, das müssen Sie erleben! Überall Aufbruch, überall Zukunft: gestern Stahlwerk, heute Baustelle, morgen Marina – der Phoenixsee auf einem alten Dortmunder Hoesch-Gelände. Gestern ein aufgegebener Duisburger Stadtteil, ein Migrantengetto, heute eine Prachtmoschee und das »Wunder von Marxloh«. Gestern Borussia Doofmund, heute Kloppomania. Gestern Schalker Kreisel, morgen Meister mit Magath. Gestern das Aus für Marabo, das älteste Stadtmagazin, und Galore, das spannende Interviewmagazin, heute unabhängiger Journalismus auf Ruhrbarone.de. Der Wandel erreicht sogar den eigenen Körper: Letzten Dienstag gab’s noch schwer verdaulichen Eintopf für Malocher, volle Teller mit Fleisch, Kartoffeln und Soße – heute entwickelt der Köcheclub FC Ruhrgebiet die Neue Ruhrgebietsküche und bastelt am Pfefferpotthast 2.0.

Die Currywurst lebt trotzdem weiter. Helge Schneider stirbt nicht, der Bolzplatz stirbt nicht, der Ruhrgebietshumor stirbt nicht. Das Ruhrgebiet wird weiter hilfsbereit und gastfreundlich sein, am Horizont sieht man immer irgendwas wie Kühlturm, Stahlwerk oder Schlot, und wie herrlich ist ein frisch Gezapftes! Ich freue mich, wenn Sie mich durchs Ruhrgebiet begleiten wollen – herzlich willkommen!

Aber vielleicht erzählen Sie erst mal etwas von sich. Sind Sie von hier? Ach was. Dann kennen Sie sich ja hier aus. Gehen Pommes-Rotweiß essen, stellen Ihren Liegestuhl am Rhein-Herne-Kanal auf und schleppen jährlich Ihren Eimer Fettkohle zu den Ruhrfestspielen, wie damals, nach dem Krieg, als Hamburger Schauspieler in Recklinghausen Theater für die ausgebombten Ruhrgebietler gemacht haben und mit Kohle bezahlt wurden, mit der das kalte Theater geheizt werden konnte. Oder Sie fahren mit der Straßenbahn durch Vororte mit hohen Mietshäusern, kaufen Ihre Tomaten beim Türken und schwenken in Süd- und Ostkurven schwarz-gelbe und blau-weiße Fahnen. Bestimmt haben Sie mindestens einmal mit Rusty im »Starlight Express« mitgefiebert, und Sie wissen, dass eine Menge Leute von außerhalb kommen, um sich Ihre ollen Zechen anzusehen. Soll’nse doch! Und wenn Sie Ihren Kindern am Wochenende den Familienopel leihen, ist am nächsten Morgen der Tank leer. Denn die Blagen fahren die ganze Nacht zwischen Dortmund und Duisburg hin und her, um in Fabrikhallen zu tanzen.

Oder kommen Sie etwa gar nicht aus dem Ruhrgebiet? Dann haben Sie aber doch sicher trotzdem längst eine genaue Vorstellung davon, wie’s hier zugeht. Sie wissen, dass seit der Kohlezeit den Ureinwohnern zwischen Rhein und A 1 Grubenlampen auf der Stirn wachsen und verrußte Wäsche tot von der Leine fällt. Sie sind sicher, dass der hiesige Menschenschlag Brieftauben züchtet und in seinem maulfaulen Dialekt sämtliche Wortendungen verschluckt. Er ist natürlich mehrheitlich arbeitslos, probt aber nach Jahrzehnten in selbst gebuddelten Stollen nunmehr den aufrechten Gang: eröffnet Universitäten, Shopping Malls und Technologiezentren, wird ab und zu Fußballmeister und nimmt zwanzig Meter von jeder Klümpchenbude entfernt reihenweise Comedy-CDs auf. Die Frauen im Ruhrgebiet werden von ihren Männern »Mutti« genannt, tragen saure Dauerkrause und lesen die Fachzeitschrift Für Ihr. Und Sie wissen auch: Seit die Ruhrgebietler entdeckt haben, dass sich der Tanz um den gepressten Schachtelhalm wirtschaftlich lohnt, dem die pittoreske Industrielandschaft ihr schwarzes Gold verdankt, geben sie sich plötzlich irgendwie kulturell wertvoll. So richtig mit Weltkulturerbe und RuhrTriennale.

Es macht großen Spaß, im Ruhrgebiet zu leben. Wenn Sie auf dem Markt am Fischstand stehen und auf den Seeteufel zeigen, sagt der Oppa neben Ihnen garantiert: »Kärl, wenn ich schon den Wirsing von dem Fisch seh!« Manche Viecher haben aber auch monstermäßige Köpfe. Die schlitzohrige Bodenständigkeit, der selbstironische, lakonische Pommesbudenhumor: Davon kann ich nicht genug bekommen. Aber bitte, wir sind ja nicht im Zoo. Glauben Sie bloß nicht, dass wir hier alle so sprechen. Immerhin, in der Arbeitersiedlung im Wanne-Eickeler Dannekamp können Sie heute noch Sätze hören wie: »Wennze am malochen biss, musse auch oantlich achilen. Und pass auf, datdat Blaach nich teilacken geht!« Das ist doch herrlich! Diese endlose Ruhrpottsprache: »Sachich für Meine, hömma sachich, watt meinze denn jezz?« So etwas hören Sie nur, wenn Sie zum Beispiel in Recklinghausen auf die Trabrennbahn gehen, wo in der VIP-Lounge grellgrüne Plastikschalensitze installiert sind. Oder auf der Liegewiese in einem unserer alten Freibäder, im Herner Sommerbad etwa. Oder wenn Sie am Stehtisch bei Tchibo ihren Kaffee nehmen oder mit dem Bus durch die Gegend jückeln. Dann erleben Sie die Kraft der Vororte.

Wir Ruhrgebietler sind ja gestandene Lokalpatrioten, sogar auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Ich habe den Eindruck, dass etliche von uns eine Ebene überspringen in ihrem Zugehörigkeitsgefühl: In erster Linie identifizieren wir uns nämlich mit unseren Dörfern. Wahrscheinlich liegen starke Wasseradern oder Magnetfelder unter Wambel und Borbeck, unter Erle und Homberg. Da kommen wir nicht von los. Aber statt dann in der nächsten Ebene stolze Essener oder Mülheimer zu sein, überspringen viele diesen Status und fühlen sich als Gesamt-Ruhrgebietler. Das ist fast so wie auf europäischer Ebene, wo Politiker immer fordern, wir müssen ein Europa der Regionen schaffen, aber den Nationalstaat überwinden und gemeinsam auf die EU blicken. So etwas machen wir hier mit links.

Das Bild, das ich Ihnen vom Ruhrgebiet zeichne, ist ein sehr subjektives. Es ist ein Bild, in dem Gustav und Alfried Krupp, Berthold Beitz und Fritz Thyssen nicht vorkommen. Sagen wir, es ist die Perspektive eines Berufsjugendlichen mit journalistischem Background, der in Langendreer und auf dem Riemker Tippelsberg aufwuchs und in seiner Schulzeit neun Jahre lang von Herne aus durch U-Bahn-Baustellen zur Goethe-Schule nach Bochum fuhr. Der der Erste in einer Familie kleiner Angestellter war, der studieren durfte. Der das dann 33 Semester lang ganz gerne gemacht hat, ohne Abschluss natürlich. Und seinem Amerikanistikprofessor David Galloway noch immer von Herzen dankbar ist. Der seine Semesterferien im Wittener Edelstahlwerk verbrachte und nebenbei fünf Jahre Taxi in Herne fuhr. Für den es spannender war, schlecht-, unter- oder gar nicht bezahlter Musikredakteur des dienstältesten Stadtmagazins im Ruhrgebiet zu sein, als endlich etwas Anständiges zu arbeiten. Der in der führenden Rockdisse des Ruhrgebiets, im Bochumer Logo, arbeitete, Bücher über Jugendmarketing schrieb und sich mit einer Medienagentur selbstständig machte. Der heute Restaurantführer für Essen und Dortmund verantwortet, mal wieder an seinem VfL verzweifelt und längst einen Roman hätte schreiben sollen. Der ein bisschen zu viel trinkt. Aber das tun ja alle im Ruhrgebiet. Und der Ihnen nun endlich etwas über seine wunderbare Heimat erzählen will. Viel Vergnügen dabei.

Elf Freunde (1):
»Wo, bitte, geht’s zum Eierberch?«

Mein Ruhrgebiet früher: Aufgewachsen bin ich an einer viel befahrenen Hauptverkehrsstraße, der Alleestraße. Gleich neben unserem Haus war der Kundenparkplatz des Kaufhauses Wertheim, obwohl das noch mal ein paar Hundert Meter entfernt war. Ging man über den Parkplatz bis ganz nach hinten durch, kam man in eine Gegend, die »Gurke« genannt wurde oder auch »Eierberg«. Andere sagen »Rotlichtbezirk« oder auch »Puff«.

Rätselhafterweise wurde ich schon im zarten Alter von acht Jahren aus am Straßenrand entlangrollenden Autos gefragt: »Ey, kannze mir sagen, wie ich au’m Eierberch komm?« Habe ich schon damals diese animalische Erotik ausgestrahlt, die ich mir selbst heute nachsage?

Mein Ruhrgebiet heute: Obwohl ich finde, dass gerade »das viele Grün« im Ruhrgebiet krass überschätzt wird, stehe ich doch gern mit meinen Sühnen am Ruderteich des Stadtparks, werfe mit schimmeligem Brot nach ausgehungerten Enten und sage: »Guck mal, wie schön die Laternen durch die nackten Zweige leuchten«, während der Ältere einfach nur stolz ist, wenn er wieder ein Tier mit einem harten, trockenen Kanten am Kopf getroffen hat. Das ist schön.

Was nicht schön ist: Kaum habe ich mir eine Dauerkarte zugelegt, spielt der VfL Bochum wieder so wie in der Zeit, als meine Eltern sich Sorgen wegen meiner sexuellen Orientierung machten, weil ich für Ata Lameck und Jupp Tenhagen schwärmte. Aber das ist bestimmt schon überholt, wenn dieses Buch erscheint.

Frank Goosen, 42, Erfolgsautor (Liegen lernen) und Kabarett-Betreiber, Bochum

Warum es uns so schwer fällt, Städter zu sein

»Supi«, jubelt die Endverbraucherin, »jetzt müssen hier nur noch Aldi und Lidl aufmachen, dann sind wir eine richtige Stadt!« So geschehen und von den Ruhr Nachrichten kolportiert im August 2004. Anlass der konsumbesoffenen Freude ist die Eröffnung einer Saturn-Filiale in Dortmund-Eving. Die Vorhut der Geizgeilen hat sich tatsächlich schon morgens um halb sechs vor den Türen des Unterhaltungsschrotthändlers angekettet, um sich nur ja nicht das annoncierte Elektroschnäppchen mit integrierter 2D-HCL-360°-Schnittstelle und aufblasbarem Plasma-Turbo entgehen zu lassen. Braucht zwar niemand, haben aber alle. Der ganze Spuk wird von den Ruhr Nachrichten (RN) redaktionell begleitet; leider kommt kein Redakteur auf die Idee, die anwesende, mutmaßlich überwiegend arbeitslose Sozialhilfeempfängerschar als fehlernährtes Mutantenpack zu beschimpfen, seinen Job zu kündigen und als Gauleiter bei attac anzufangen.

Wenn der Ruhrgebietler den Begriff »Stadt« gerade nicht mit der Anhäufung preisaggressiver Discounter mit nutzlosem Sortiment verwechselt, hängt er gern Vorstellungen nach, die schon in der Wiederaufbauzeit unmodern waren. Zum umstrittenen, aber nie verwirklichten Bahnhofsprojekt »3do«, das einen futuristischen, mit einem Einkaufszentrum überdachten neuen Dortmunder Hauptbahnhof vorsah (Bauzeit 2005–2008 haha; Mitte 2009 begann man dann widerwillig mit ein paar Containerschiebereien), schrieb ein Leser Anfang Juni 2004 den RN: »Wir brauchen keine Kulisse für Besucher aus Düsseldorf oder Berlin – ordentliche Toiletten, sauber und preiswert, eine Bratwurst und eine Zeitung: Das reicht doch völlig.«

Nein, das reicht eben nicht. Aber was ist hier schiefgelaufen? Nun, die vergangenen 170 Jahre waren einfach zu kurz. Sorry. Sehen Sie, der Römer oder Athener stolziert mit dem Bewusstsein einer über 2000-jährigen Stadthistorie durch seine Polis. Was bedeuten da 170 Jahre? Selbst das vergleichsweise junge Berlin spielt seine Rolle seit dem späten 15., verstärkt seit dem späten 17. Jahrhundert – Zeit genug, sich in Sachen Weltläufigkeit zu üben. (Betonung liegt in Berlin natürlich auf »üben«.) Drehen wir aber die Ruhrpottzeit zurück auf 1840, landen wir in einer fast pastoralen Idylle. Lieblich schlängeln sich Ruhr und Emscher durch eine flache Auenlandschaft, Schäfer weiden ihre Herden, Flusskrebse sind das verbreitete Alltagsgericht. Machen wir uns nichts vor, es sind Kleinbauern, die hier leben, Handwerker, kleine Händler. Nicht die große weite Welt, beileibe nicht. Obwohl: Städte gibt es hier durchaus. Viele Städte, alte Städte. Recklinghausen etwa war um 800 ein karolingischer Königshof. Bochum, Herne, Dortmund, Duisburg wurden um 880 bis 890 erstmals erwähnt, meist in Dokumenten des Klosters Werden, das um 800 gegründet wurde. Duisburgs »Alter Markt« war schon im fünften Jahrhundert Handelszentrum. Karl der Große eroberte 775 erst die Syburg an der heutigen Stadtgrenze Dortmund-Hagen, dann ließ er den Hellweg bauen, die wichtige West-Ost-Achse und (Salz-)Handelsstraße. Dortmund erhielt 990 das Marktrecht, war 1220 Freie Reichs-, später auch Hansestadt. Essen: um 850 Gründung des Stifts Essen für Höhere Töchter, 1041 Marktrecht, 1244 Stadtrecht. Recklinghausen: Stadtrecht 1236, Bochum 1321. Und so weiter. Eine bunte, dezentral angelegte, spätmittelalterlich geprägte, kleinstädtische Landschaft, die sich vom Niederrhein bis zur Soester Börde und vom Vest bis ins Bergische Land erstreckt.

Die schwarzen Steine glühen noch am nächsten Tag

Auftritt Jörgen. Ein Hirtenbub. Der treibt um 1700 seine Schweine durch die Eicheln, irgendwo im Ruhrtal, auf heutigem Wittener Gebiet. »Mutt, Mutt«, ruft er die Sauen, und weil ihm kalt ist, entfacht er das legendäre Feuer im Muttental, von dem wir Kinder im Heimatkundeunterricht der Sechziger gelernt haben. Damals in der Grundschule an der Hiltroper Straße in Bochum-Riemke, bei strenger Trennung zwischen Evangelischen und Katholiken, und wehe, einer verirrte sich auf den fremden Schulhof.