CLINT LUKAS: 

„Das schwere Ende von Gustav Mahlers Sarg“
1. Auflage, April 2013, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2013 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Straße 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag, Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat & Projektleitung: Marion Alexa Müller
Coverbild: Nina Ball, www.ninaball.at
Autorenfoto: Stefan Riedl
Satz, Layout & Gestaltung: Thomas Manegold (www.manegold.de)

print ISBN: 978-3-943876-55-0
epub ISBN: 978-3-943876-36-9
E-Book-Version: 1.5


Dieser Roman ist in Teilen von Ereignissen um die Entstehung des tatsächlich existierenden Films "Coke and Tarts" inspiriert. Der Roman enthält sowohl autobiografische als auch fiktive Elemente, aber auch Szenen, die durch das Wechselspiel mit dem Film autobiografisch anmuten, es aber nicht sind. Dieses Zusammenspiel ist Teil des Werks. Alle Personen und Handlungen sind jedoch frei erfunden.




Clint Lukas


DAS SCHWERE ENDE VON

GUSTAV MAHLERS SARG

 


 

Roman



 

Periplaneta

periplaneta

 

 

"Der Mensch hat, um sein Lösegeld zu zahlen, zwei Äcker tiefen und reichen Tuffs, die mit der Pflugschar der Vernunft es umzugraben und zu roden gilt;

 

Um die geringste Rose zu erzielen, um ein paar Ähren zu erzwingen,muss er unermüdlich mit seiner grauen Stirne Salztränen sie begießen. Der eine ist die Kunst, der andere die Liebe. Um den Richter gnädig zu stimmen, wenn der Schreckenstag des strengen Gerichtes anbricht,

 

Muss man auf Scheuern voller Ernten weisen können und auf Blumen von solchen Formen, solchen Farben, dass sie der Engel Beifall finden."

 

Charles Baudelaire

Berlin

1

Ich nahm nicht immer den leichtesten Weg. Auch nicht den schwersten. Ich war kein Masochist. Nicht mal ein Kämpfer. Trotzdem kämpfte ich andauernd. Um eine Frau. Gegen irgendwelche Neonazis. Für eine Idee, die mir künstlerisch wertvoll vorkam. Warum das so war, wusste ich nicht. Im Grunde wollte ich meine Ruhe haben. Ich war nur nicht konsequent genug, dem Ärger aus dem Weg zu gehen.

Neulich wäre das sehr leicht gewesen. Ich hätte mich vom Puff fernhalten sollen. Einfach nicht hingehen. Es kam mir von Anfang an komisch vor, so aus dem Stegreif ficken zu müssen. Aber dass dann die Nutte – … dass dann diese Sache passierte … Kaum zu glauben, dass es so etwas gab.

Ich merkte, dass diese Nacht mich verändern würde. Ich wusste nur nicht, ob das gut oder schlecht war.

2

Es war Donnerstag und regnete auf dem Hackeschen Markt. Ich stand hier seit dem frühen Morgen, um irgendwann später Currywürste zu verkaufen. Meine Kollegin war gerade unterwegs, um sich eine Zeitung zu holen und ich lehnte am Tresen unserer Bude und rauchte eine nach der anderen und trank dazu mein erstes Bier. War eigentlich fast wie in der Kneipe.

Ich dachte noch immer über die Nutte nach. War sie ehrlich zu mir gewesen? Oder war das nur ihre Art, mit verqueren Typen wie mir umzugehen? Ich hätte sie das gerne gefragt. Doch das war nun nicht mehr möglich.

„So, jetzt mal ran hier, liebe Leute, nicht einfach weitergehen“, drängte sich der Obstverkäufer von nebenan in meine Gedanken. „Nehmt euch noch’n paar Vitamine mit, deutscher Wein, kernlos süß, Kilo 3,95. Deutsche Erdbeeren jetzt hier, die Schale 2,95, zwei für fünf, könnt ihr auch verschenken, dann sind sie billiger als’n Blumenstrauß.“

Ich fragte mich, wo die Anfang Mai deutsche Erdbeeren hernahmen. Ein Blick auf die Holzkisten, in denen sie gestapelt waren, klärte mich auf. Fragole dalla Basilicata. Das musste wohl irgendwo in Schwaben sein.

„Und jetzt Beelitzer Spargel, meine Damen und Herren, frische, feste Ware, Spargel wie aus Marzipan, Sie mein Herr, Kilo für fünf Euro, schenken Sie’s Ihrer Frau, ist mal was anderes und billiger als’n Blumenstrauß.“

Ich steckte mir eine Fluppe an. Wendete die drei Würste, die schon eine beträchtliche Weile im Öl lagen und ein wenig mitgenommen aussahen. Vor zwölf kam hier eigentlich nie jemand essen, aber man musste immer bereit sein.

An sich hatte ich es mit dem Job ganz gut getroffen. Ich arbeitete nur zwei Tage die Woche und mein Chef ließ mich ohne Einschränkung in die Bierkiste greifen. Er betrieb ein ziemlich nobles Restaurant im Prenzlberg und mit seinem Sohn, dem Küchenchef, konnte man fabelhaft um die Häuser ziehen. Der war es auch gewesen, der mich in den Puff geschleppt hatte.

Wir Marktarbeiter waren die Punkrocker des Betriebes. Die Assis von der Frittenbude. Wenn wir uns nach Feierabend noch ein Bier im Restaurant genehmigten, rümpften die feinen Damen an den Tischen regelmäßig die Nase und schienen sich zu fragen, was Penner wie wir in diesem Stadtteil verloren hätten.

Obwohl wir an unserem Stand auch ziemlich auf vornehm machten. Wir verkauften so Sachen wie Fritten mit Trüffelmayonnaise und Currywurst mit Blattgold, worüber sich die Trottel und Touristen natürlich überhaupt nicht mehr einkriegen konnten und sich gegenseitig anstießen und auf die Speisekarte zeigten. Eine Mordsgaudi. Und dann scherzten sie mit uns, weil sie dachten, das wäre auf unseren Mist gewachsen. „Currywurst und Schampus? Was is’n das für ’ne Kombi? Höhöhö …“

Siebzig Mal am Tag hörte ich das, und dann blieben sie stehen und machten ein Foto und freuten sich, wie herrlich-skurril die Hauptstadt doch war. Rindviecher.

Nein, im Grunde hatte ich es satt, hier zu stehen. Das lag nicht am Markt und auch nicht an den Leuten, die waren nicht schlimmer als sonst wo. Ich kriegte einfach den Rappel, wenn ich länger als sechs Monate an einem Ort oder bei derselben Tätigkeit verharrte. Woche für Woche die gleichen Gesichter zu sehen, die Fischverkäufer, und die Türken mit ihren gebrannten Nüssen, die Käsefritzen, „Na, junge Frau, wollen Sie vielleicht mal’n Stückchen Käse naschen?“ – Nein, das war zuviel, da kotzte mich einfach jeder an.

„Haste schon eene fertig?“ Der Typ war wie aus dem Nichts aufgetaucht und ich zuckte entsprechend zusammen. Er trug einen Blaumann mit Vattenfall-Logo. Ein Arbeiter in der Mittagspause. Das waren immer die schlimmsten Klugscheißer.

„Hallo“, sagte ich.

„Häh?“

„Ich hab gesagt: Hallo.“

„Ja, hallo.“

„Ja, ich hab eine fertig.“

„Dann nehm ick eene.“

„Okay.“

„Mit extra viel Ketchup.“

„Ja.“ Ich schnitt ihm eine und stellte sie auf den Tresen. „Schrippe dazu?“

„Ja, äh … nee. Kostenpunkt?“

„Zwei fünfzig.“

„Wat?“

„Zwei fünfzig.“

„Ick glaube, ihr spinnt, da kann ick ja bei Feinkost Lindner billiger einkoofen.“

„Ja, und nu?“

„Die nehm ick nich!“

„Und was tu’ ich jetzt damit?“

„Is mir doch egal.“

Und damit machte er sich davon. Ich überlegte kurz, ob ich die Wurst dem Obstkollegen schenken sollte, aber er plärrte genau in dem Augenblick wieder los. „Kommt Leute, nehmt euch noch’n paar Vitamine mit, mir isses egal, ich bin hier nur Angestellter, aber bei dem Preis … Spargel wie aus Marzipan.“

Also schmiss ich das Ding, wie es war in die Blumenrabatte hinter dem Stand. Sollten die Ratten sich doch darüber hermachen. Viertel vor elf, sagte die Uhr. Und wenn schon der erste Kunde so ein Sacktreter war, verhieß der Tag meistens nichts Gutes. Wenigstens kam meine Kollegin nun wieder und stellte sich an den Grill. Ich zog meine Schürze aus und lümmelte vorne an einem unserer Stehtische rum, und machte dabei ein Gesicht, das wirklich jedem potentiellen Kunden die Lust verderben musste, bei uns einzukehren. Zum Teufel mit der Arbeitsmoral.

Was eigentlich mit mir los war, wusste ich auch nicht so recht. Früher hatte es immer geholfen zu schreiben. Kurze Stories, die ich ohne Erfolg bei irgendwelchen Zeitschriften unterzubringen versuchte. Oder auf einer der Berliner Lesebühnen vorlas. Da hatte ich was zu tun. Und immer wieder fand mich dann eine Puppe so interessant, dass ich die Nacht nicht allein verbringen musste. Aber offenbar reichte das nicht mehr. Ich war immer noch fickrig. Vielleicht sollte ich mal was ganz anderes machen. Einen Film. Ein Drogenkartell aufbauen. Eine Weltreise. Aber stattdessen stand ich nur hier rum und glotzte dämlich aus der Wäsche.

„Habt ihr schon ’ne Wurst fertig?“

Ich kannte diese Stimme. Sie gehörte einer Stammkundin, die fast jeden Donnerstag herkam und sich ihre Wurst im Ketchup ersäufen ließ, den wir selbst kochten. Und dann stand sie da und schwärmte, wie toll der doch schmeckte. Vielleicht war ich verrückt oder störrisch, aber ich konnte mich einfach nicht für solche Gesprächsthemen begeistern.

Die Ische fing an zu essen und ich spähte gespannt über den Rand meiner Bierflasche. Mann, die war aber ausdauernd heute. Schon das zweite Stück Wurst im Mund und noch immer kein Gequatsche. Doch jetzt, sie runzelte ein bisschen die Stirn, tauchte da etwa eine Unregelmäßigkeit an ihrem Horizont auf? Sie legte noch ein Stück nach und näherte sich bereits dem Tresen. Pirschte sich an und fragte ganz beiläufig, so als wüsste sie, dass die Antwort nein lauten würde, aber sie wollte sich eben vergewissern: „Habt ihr heute andere Würste?“

Der Blick meiner Kollegin huschte kurz zu mir, sie wusste schon, was ich dachte, aber was sollte sie machen. „Ja, wir waren mit der Qualität von den alten nicht mehr zufrieden, deshalb haben wir den Schlachter gewechselt. Schmeckt sie Ihnen nicht?“

„Hmm … ich weiß nicht genau. Die ist ganz anders gewürzt, oder?“

„Ja, die schmeckt halt eher wie ’ne Bratwurst.“

„Ja, die ist viel würziger. Und ich glaube auch, dass der Fettgehalt höher ist.“ Das sagte sie ganz fachmännisch und zuzelte an der scheiß Wurst herum, als hätte sie einen Cuvée von 1962 im Mund.

Meine Kollegin holte eine Verpackung aus der Kiste, um zu schauen, ob da was vom Fettgehalt draufstand.

„Ich weiß nicht genau, hier steht nix.“

„Doch, doch, und Nelken müssten da mit drin sein. Und die Konsistenz ist auch ganz anders.“

„Ja, die ist halt ein bisschen fester.“

„Naja, ich muss sagen … die alte hat mir besser geschmeckt.“

„Ja?“

„Ja. Und ich bin mir sicher, dass der Fettgehalt da höher ist.“

„Kann schon sein.“

„Und habt ihr die jetzt immer?“

„Ja, ich glaub’ schon.“

„Hmm … nein, da muss ich schauen. Ich weiß nicht, ob ich dann wieder komme.“

„Mein Gott, dann lass es doch bleiben, du Kuh“, herrschte ich sie an und bereute es gleich wieder. Das war nicht recht, ich wusste es, aber ein Mann kann schließlich nicht alles ertragen. Und die Olle zahlte auch sofort und rauschte davon. Ich grinste ein bisschen, aber meine Kollegin schimpfte mich aus. Wenn ich keine Lust mehr auf den Job hätte, sollte ich ihn bleiben lassen. Das stimmte irgendwie und irgendwie auch wieder nicht. Scheiße aber auch, ich musste einfach etwas tun. Ich fing damit an, indem ich noch ein Bier aufmachte.

3

Am Abend stand ich unter der Dusche und wusch mir den Fettgeruch vom Leib. Das dauerte seine Zeit. Der Markttag hatte sich zäh in die Länge gezogen und jetzt war ich betrunken. Ich stellte den Wasserregler auf ganz kalt und wartete, dass ich wieder einen klaren Kopf bekam. Nach einer Weile klingelte das Telefon. Ich stieg aus der Kabine und ging hin. „Hallo?“

„Ja, hallo, hier ist Isabel vom Aurora. Daniel?“ Das war eine der Schwestern aus dem Hospiz, in dem ich manchmal arbeitete.

„Ja. Was gibt’s?“

„Ich wollte fragen, ob du morgen früh zur Sitzwache kommen kannst?“

„Uhh …, wann denn?“ Eigentlich wollte ich noch in die Kneipe.

„So um neun? Herr Kolja liegt im Sterben.“

„Was? Seit wann?“

„Er hat sich gestern verschlechtert.“

„Okay, ich komm. Ich weiß nur nicht, ob ich’s um neun schaffe.“

„Wäre schon toll.“

„Gut, ich versuch’s.“

„Super, dann bis morgen.“

Ich legte auf. Blutsauger, die ganze Bande. Da wollte man einmal lumpen gehen. Ständig nahm mich irgendwer in Beschlag. Ich musste an eine Geschichte von Michael Ende denken, bei der so ein Typ als einziger Flügel hat und wegfliegen könnte aus der ganzen Scheiße. Aber weil er nicht straight genug ist und sich von allen bequatschen lässt, verpasst er die Gelegenheit und stürzt vom Himmel. Aus der Traum.

Aber Kolja war mein Freund. Ich kannte ihn seit zwei Monaten. Er hatte Hodenkrebs und seine Eier waren ab und trotzdem besaß er mehr davon als die meisten, die ich kannte. Ich war der Einzige im Hospiz, mit dem er Weibergeschichten austauschen und sich dadurch wieder ein bisschen als Mann fühlen konnte. Alle anderen waren Frauen oder schwul. Es stand also außer Frage, wer zum Schluss an seinem Bett sitzen sollte. Ich zog mich an, um trotzdem in die Kneipe zu gehen. Die Flügel konnten sie mir nicht stutzen.

Es war voll da drin und mein Kumpel Tolstoi hatte Schicht. Er stellte mir ein Bier hin und grinste.

„Na, du Wurst. Warste heute arbeiten?“

Ich nickte.

„Und schon vorgeglüht?“

„Bin grade wieder nüchtern geworden.“

„Und jetzt fängste wieder an?“

„Ja.“

Er lehnte sich an die Bar und fing an, eine Tüte zu bauen. Als ich nach einer Weile immer noch nichts sagte, puffte er mir in die Seite. „Was los? Hängste durch, oder was?“

„Ach. Der Markt geht mir auf’n Zeiger.“

„Und? Jetzt?“

„Ich weiß nicht. Kotzt mich alles an. Ich will, dass mal wieder was passiert.“

„Du willst doch nur ficken.“

„Hab ich grade erst.“

Tolstoi zündete seinen Bomberjoint an und verzog das Gesicht. Schaute zu mir und zuckte dann mit den Schultern. „Schreib doch mal wieder was.“

„Ja, ich weiß. Aber das bringt’s auch nicht. Das bisschen Lob und Geficke, das ich dafür krieg, macht mich viel zu zufrieden.“

„Und? Ist das schlecht?“

„Was?“

„Zufrieden sein.“

„Ja. Ich fühl mich alt und fett.“

„Soso. Das sagst du junger Spund.“

„Ist halt so.“

„Naja, dann los. Attacke. Und heul mir nicht die Ohren voll.“

„Ja, Scheiße.“ Wir rauchten und tranken noch einiges.

Dann ging ich nach Hause.

4

Die Sache mit dem Hospiz war so: Als Zwanzigjähriger hatte ich mir eine Zivildienststelle in Italien besorgt, in einem SOS-Kinderdorf bei Vicenza. Wegen einer Frau. Dann hatte ich aber doch keinen Bock, mich ein Jahr lang mit irgendwelchen Bratzen rumzuschlagen. Schon gar nicht mit italienischen. Also kümmerte ich mich stattdessen um den Job in diesem Sterbedings in Berlin-Neukölln. Ich arbeitete dort neun Monate als Pfleger und der Staat bezahlte mir die Wohnung, die BVG-Karte, das Essen und die Klamotten.

Als es vorbei war, hatte ich mich in Berlin verliebt. Ich jobbte hier und da und schrieb und lernte Frauen kennen und dachte eigentlich gar nicht mehr an die Zeit im Hospiz zurück. Klar war ich manchmal nachts aufgewacht und erschrocken, weil ich auf dem Fußboden meines Zimmers eine Blutlache sah. Oder ein Ohr. Seltsame Abgesandte meines Unterbewusstseins. Und die Frau fragte mich dann schläfrig: „Was ist denn los?“ Und ich sagte: „Nichts. Schlaf weiter.“

Nur hin und wieder erinnerte ich mich. An all die Leute, bei denen ich gesessen war, als es ernst wurde. Die waren meistens schon in Ordnung gewesen.

Und mittlerweile fand ich, dass ich das Ganze ziemlich kaltschnäuzig durchgezogen hatte. Mir war, als hätte ich nicht im Geringsten die Tragweite des Ganzen begriffen. Wahrscheinlich war ich einfach zu jung dafür gewesen. Wer denkt schon mit zwanzig über den Tod nach? Aber nach ein, zwei Jahren, in denen ich in der Weltgeschichte herumgetigert war und noch ein bisschen was gesehen hatte, begann ich mich wieder für die Zeit im Hospiz zu interessieren. Zumal es da etliche Schwesternschülerinnen gegeben hatte, die ziemlich auf mich abgefahren waren. Und mit denen wahrscheinlich wer weiß welche Ferkeleien hätten laufen können, wenn ich damals nicht eine Braut gehabt hätte. Ich fing also wieder an, dort zu arbeiten. Ehrenamtlich.

Das war so eine Sache. Nicht nur, dass ich mir wie ein beschissener Christ vorkam. Jetzt nahmen die Frauen im Hospiz auch immer an, dass ich irgendwie absonderlich sein müsste oder schwul. Und fragten, warum jemand so Junges wie ich so was machte und ich war doch immer so faul, wenn es ums Erklären ging.

Sobald ich bei meinen Patienten im Zimmer war, zählte es sowieso nicht mehr, wo ich herkam. Sie brauchten jemanden, der ihnen aufrichtig zuhörte und ich brauchte aufrichtige Menschen, denen ich zuhören konnte. Ein sauberer Deal.

Leider gab es außerhalb der Patientenzimmer aber noch die gesunde Menschheit, die irgendwas dagegen zu haben schien, wenn bei mir mal was unkompliziert lief. Denn für den Kreis der Ehrenamtlichen war ich vor allem eines: nämlich einer von ihnen. Ständig wollten sie mich auf interessante Ausflüge mitnehmen, die irgendein scheiß Verein für uns edle Seelen gestiftet hatte. Oder ich sollte an einer Fortbildung teilnehmen über muslimische Bestattungsrituale oder den Umgang mit den Angehörigen oder die Bedeutung des Todes in der japanischen Kultur.

Aber das war mir alles scheißegal. Es kratzte mich nicht ein Stück. Ich hatte in meinem Leben doch bessere Sachen zu tun, als mich auf einen Spreedampfer zu setzen mit diesen schnatternden, alten Kühen, die mich mit ihren Vampiraugen anglotzten wie das goldene Kalb in ihrer Mitte. Viel bessere Sachen hatte ich zu tun. Ficken zum Beispiel. Oder nicht ficken, weil die Frauen nicht wollten und dann stattdessen allein an meiner Pfeife rumspielen. Oder einfach nur in der Nase bohren und den Schmodder zu kleinen Kügelchen formen und aus dem Fenster schnicken.

Alles war besser, als mit denen die Zeit zu verschwenden und deshalb machte ich es auch nicht. Höflich wie ich war, versuchte ich ihnen meistens zu erklären, warum ich nicht konnte. Und sie reagierten auch immer ganz freundlich und offenherzig. Aber es half alles nichts und unter ihrem Zuckerguss begannen sie, sich von meiner Teilnahmslosigkeit angepisst zu fühlen. Es war wie in der Schule, wo ich auch niemals Wert darauf gelegt hatte, ein Außenseiter zu sein. Aber was sollte man machen, wenn man als einzig normaler Mensch unter diesen Idioten herumkrauchte, deshalb lieber für sich blieb und ihnen das nicht passte.

Meistens lachte ich über das Ganze. Es war doch wirklich nicht auszuhalten. Überall der gleiche Scheiß. Da hatte ich endlich eine Nische gefunden, denn meine Todeskandidaten hatten es nun wirklich nicht mehr nötig, sich irgendwelche biestigen Masken aufzusetzen. Und dann fielen mir meine eigenen Kollegen in den Rücken. Wieder so eine Dolchstoßlegende.

Als ich nun verkatert in der U-Bahn Richtung Hermannstraße saß, dachte ich zum hundertsten Mal über all das nach. Und wieder kam ich zu dem Ergebnis, dass ich ausbrechen musste. Irgendwas ändern. Die Kontrolle verlieren. So frustriert, wie ich war, konnte ich keinem eine Hilfe sein. Mir selbst am wenigsten.

Am liebsten hätte ich dem alten Kolja mein Leid geklagt, aber als ich schließlich im Hospiz ankam, war er schon gestorben.

„Wir haben noch versucht, dich anzurufen.“

„Ja, mein Handy spinnt manchmal.“

„Er ist im Nachtdienst gegangen, so um vier, ganz friedlich.“

„Hmm …“ Ich hatte einen Kloß im Hals.

„Möchtest du dich noch von ihm verabschieden?“

Da konnten die aber einen drauf lassen, dass ich mich verabschieden wollte. Ich ging in sein Zimmer. Es roch nach Sandelholz oder irgendwas anderem und auf dem Tisch brannte eine Kerze. Ich setzte mich zu Kolja ans Bett. Jetzt hatte ich ihn also verpasst. Das war okay, er hätte an sich gar nicht gewollt, dass ich dabei war. Ich konnte trotzdem nicht verhindern, dass mir Tränen über die Wangen liefen.

Ich war erbärmlich, ein Spanner. Ich heulte wegen eines fremden Toten, mit dem ich nichts zu tun hatte. Irgendwie. Andererseits auch nicht. Eigentlich kam es von woanders her. Weil ich nicht wusste, ob das mit mir noch was werden würde. Das Schreiben klappte nicht und das mit den Frauen auch nicht. Und im Hospiz verkackte ich auch.

„Oh, entschuldige …“

In der Tür war eine Schwester erschienen und verschwand gleich wieder. Na toll, jetzt hatten die mich auch noch beim Flennen erwischt. Ich stand auf und wischte mir den Rotz aus dem Gesicht.

„Mach’s gut, Alter“, sagte ich zum toten Kolja und der Klang meiner Stimme in dem leeren Raum war mir peinlich. Dann verließ ich ihn und stürmte den Flur entlang. Mir rief irgendwer hinterher, aber ich ging einfach weiter. Den Triumph würde ich ihnen nicht gönnen, mich mit ihrem Gewäsch wieder aufzubauen. Ich stieg in den Lift und fuhr nach unten.

5

Zuhause machte ich das, was ich immer machte, wenn ich mich lausig fühlte. Ich schnappte mir eine Flasche Bier und stieg unter die Dusche. Ja, das würde mir den Rücken schon wieder stärken, ich kannte doch die Tricks. Ich drehte das Wasser auf und hielt die Brause so lange von mir weg, bis es richtig heiß wurde. Dann steckte ich sie in die Halterung und biss die Zähne zusammen. Das Wasser verbrannte mir den Rücken, aber ich wartete einfach, bis es erträglicher wurde. Dann machte ich das Bier auf, eiskalt war es, und nahm einen tüchtigen Schluck.

„Jaah, hahaa …“, lachte ich leise, nur für mich. Ich schloss die Augen und trank noch mal. „Hahaha …“

Das war gut, da konnte keine Sauna mithalten und keine Badewanne. Ich machte in aller Ruhe das Bier leer und ließ mir von den stahlharten Strahlen den Rücken massieren. Mich kriegt ihr nicht klein, dachte ich. Kolja trat wahrscheinlich in genau diesem Moment vor seinen Herrgott oder wurde wiedergeboren oder hatte ab jetzt für immer seine Ruhe. Aber ich war noch da und sowas von auf Zack.

Ohne mich vorher abgetrocknet zu haben, legte ich mich ins Bett. Holte mir einen runter und dachte dabei an die ein, zwei Frauen in meinem Leben, mit denen es sich hatte aushalten lassen. Dann stand ich wieder auf und sah nach meinen E-Mails. Eine einzige Nachricht war da und sie kam von Linda. Mit Linda war ich mal für ein paar Monate zusammen gewesen. Sie lebte in Wien. Ich las und wählte dann ihre Nummer.

„Hallo?“

„Hey, ich bin’s.“

„Daniel, wie schön! Hast du mein E-Mail gelesen?“

„Hab ich, ja.“

„Und, kommst du nach Wien?“

„Naja, wann hast du denn gedacht?“

„Sofort.“

„Ach so. Dann muss ich mal schauen, ob ich noch ’nen Zug kriege.“

„Juhu!“, schrie sie.

Ich nahm den Zug am nächsten Morgen. Einen von denen, die durch Tschechien fuhren. Mein Gepäck beschränkte sich auf ein einzelnes Buch, den vierten Band von Sartres Der Idiot der Familie. Das allerdings auch nur für kurze Zeit, denn ich hatte das Buch an irgendeiner Kasse liegen lassen, als ich mich mit Bier für die Fahrt eindeckte. Na, scheiß drauf, war sowieso langweilig. Ich saß also nur da und trank und schaute mir die Brandenburger Felder und Wälder an.

Was Linda wohl vorhatte? Ich mochte sie sehr gern und war froh, dass wir uns damals so entspannt getrennt hatten. Das konnte ich ganz gut, mich entspannt trennen. Außer einmal, mit Henrike, da war ich richtig ausgezuckt. Nach sechs Monaten mit ihr fühlte ich mich wie ein fader Wochenendkünstler. Im Grunde so wie jetzt. Und dann wurde ich zickig, aber so richtig, und setzte sie vor die Tür und wollte auch nicht mehr befreundet sein. Von einem Tag auf den anderen. Sie verstand die Welt nicht mehr und war wohl auch in mich verliebt und heulte und klingelte an meiner Tür, aber ich blieb hart. Zum ersten Mal in meinem Leben verhielt ich mich wie ein Arschloch. Es war eine merkwürdig berauschende Erfahrung.

Jedenfalls war es mir schleierhaft, warum Linda mich unbedingt sehen wollte. Aber so ein bisschen Sex mit der Ex, warum nicht. Da fragte man doch nicht nach. Ich machte eine Büchse nach der anderen leer und erntete dafür böse Blicke von einer alten Kuh, die mir gegenübersaß. Wer frühmorgens schon trinkt, ist auch nicht mehr weit davon entfernt, Schulkinder zu sich ins Auto zu zerren.

An der tschechischen Grenze teilten sie uns über Lautsprecher mit, dass die beiden hinteren Waggons nicht mehr fahrtüchtig seien. Daraufhin kamen all die Passagiere von dort zu uns. Die Alte in meinem Abteil ärgerte sich darüber und fischte nach meiner Solidarität. Wenn es ans Keifen und Motzen ging, überwanden die Deutschen noch jede soziale Kluft. Aber den Gefallen tat ich ihr nicht. Schaute stattdessen zu, wie sie mit giftigem Gesicht die Sitze räumte, auf denen sie sich ausgebreitet hatte. Dann machte ich die Augen zu und pennte weg.

Eine tschechische Durchsage weckte mich. Der Zug stand mitten in der Pampa. Die Alte war nicht mehr da und plötzlich standen auch alle anderen auf. Mit einem unguten Gefühl in der Brust beobachtete ich, wie sie ihr Gepäck von den Ablagen nahmen. Dann stiegen sie aus. Ich wartete ein bisschen und kam mir vor wie der letzte Mensch auf Erden. Hatte ich was verpasst? Ein großes Unglück? Nach zehn Minuten kam endlich jemand vom Personal an meinem Abteil vorbei.

„Hallo! Hallo, können Sie mir sagen, was los ist?“

Aber der Kerl rannte einfach weiter und quasselte irgendwas auf Tschechisch und deutete dabei auf seine Armbanduhr. Ich wartete nochmal zwanzig Minuten. Nichts passierte. Das war das Ende. Es würde mir nichts anderes übrig bleiben, als den langen Weg durch die Wildnis anzutreten. Zurück zur Grenze oder wenigstens in einen Ort mit Telefon. Aber ich hatte wenig Hoffnung. In der Fremde war ich nicht besonders gut.

Auf einmal setzte der Zug sich wieder in Bewegung. Wir fuhren einfach weiter, immer weiter, genau wie es sein sollte. Erleichtert atmete ich durch. Ich war gerettet.