image

Geraubtes

Gewissen

 

SGU 3

 

 

 

Lisa Gibbs

 

 

Geraubtes Gewissen - SGU 3

Lisa Gibbs

 

Copyright © 2015 Sieben Verlag, 64354 Reinheim

Umschlaggestaltung: © Andrea Gunschera

Lektorat Christine Hochberger www.buchreif.de

 

ISBN Buch: 9783864432774

ISBN ebook-PDF: 9783864432781

ISBN ebook-epub: 9783864433535

 

www.sieben-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Epilog

die Autorin

Heißkalter Marmor - Kim Henry

Prolog

 

Es war fast fertig.

Der kleine Junge spürte, wie sein Herz vor Aufregung rasend schnell schlug. Beim Zeichnen der letzten Striche zog ein stechender Schmerz durch seine blutigen Fingerkuppen. Die kalte Erde hatte sich beißend unter den letzten Nagelrest gepresst. Mit dem Blut bildete sie eine feuchte, schmierige Masse, die in seinen Händen zu grober Farbe wurde. Zeit existierte nicht mehr, er hatte aufgehört, die Stunden zu zählen. Die Wut war wie eine Flutwelle über ihn hinweggerauscht und hatte alles ausgelöscht. Nun versickerte sein Wesen wie Wasser in blutiger Erde. Langsam machte sein Körper nicht mehr mit, die Kräfte schwanden, aber alles war perfekt für diesen einen Augenblick vorbereitet.

Jedes Detail passte vor seinem zornigen Inneren. Er presste beide Hände zusammen, damit der Druck den Schmerz besiegte, dann setzte er sich in die Mitte seines runden Gefängnisses. Obwohl er in der Dunkelheit kaum etwas erkennen konnte, wusste er, dass er fertig war. Er spürte, dass sein Körper leicht hin- und herwippte, er wusste nicht, warum. Aber ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, weil er es geschafft hatte. Jedes kleine Sinnbild, das er auf die klammen Steine gemalt und in die dunkle Erde geritzt hatte, war vollkommen. Er hatte all seinen Zorn darin eingefangen.

Er saß in der Mitte des Schachtes und fühlte, wie ab und zu ein Tropfen des geschmolzenen Schnees auf seiner Haut zerplatzte. Aber er fror nicht mehr, er wartete. Bald würde sich eins der Bretter über ihm bewegen, dann musste alles schnell gehen. Egal, ob seine blau angelaufenen Beine taub waren, oder nicht. Wahrscheinlich würde Vlad kommen, weil er es gern tat.

Das hatte er Vlad schon oft angesehen, immer wenn der seine Fäuste auf ihn einprasseln ließ. Vlad würde sein hässliches Gesicht durch die Bretter schieben, herunterspucken, das gammlige Brot hinterherwerfen und lächeln. Vlad konnte ihn nicht sehen, dafür war der Schacht zu tief, das Lächeln diente dem Zweck, dass der Kleine sah, wie viel Spaß Vlad dabei hatte, ihn in der Tiefe verrotten zu lassen.

Schon als sie ihn nach Istra gebracht hatten, war Vlad einer der Pfleger im Kinderheim gewesen. Vom ersten Augenblick an war ihm der dunkle Gelbton in der Aura des Pflegers aufgefallen.

Gelb war eine tückische Farbe. Sie konnte für Krankheit stehen, aber auch für Selbstsucht, Gier und Lügen. In Istra gab es viel Gelb.

Er sah nach oben. Ein leises Rascheln ließ ihn erstarren.

Jemand kam.

Still hoffte er, dass es Vlad war, denn der hatte es verdient. Die Zeichnung war perfekt für ihn. Noch niemals zuvor hatte er seine Fähigkeit auf diese Weise genutzt und eine Emotion vorgezeichnet. Es musste funktionieren. Mit einem lauten Geräusch zog jemand ein Brett von der Öffnung des ehemaligen Brunnens, Schnee rieselte von oben herab. Das Holz stieß an das Gewinde, an dem das Seil befestigt war, das die einzige Möglichkeit bot, wieder aus dem Loch herauszukommen. Der Lichtschein war schwach, doch er erkannte schon an der Silhouette des Kopfes, dass es tatsächlich Vlad war. Als sich zudem der gelbe Schimmer gegen das Licht durchsetzte, war er absolut sicher. Adrenalin schoss durch seine Venen und ließ ihn den Schmerz vergessen, während er seine Fingerkuppen manisch in die Erde rammte. Als Erstes musste er das Sinnbild der Faszination mit Vlads Aura verbinden, damit der Pfleger stehen blieb. Er brauchte mehr Zeit, um die vorbereiteten Skizzen mit Vlads Aura zu verbinden und sie zu den Emotionen des Pflegers werden zu lassen. Die neuen Eindrücke, die er aus Vlads gelbem Schimmer lesen konnte, strömten intuitiv in seine Gedanken. Es war wie eine Brücke zwischen Vlads Aura und der Zeichnung, die er vorbereitet hatte. Bilder von großen Augen, Händen und Tränen mischten sich zu neuen Skizzen. Vlad verharrte regungslos, es schien zu funktionieren. Der Kleine traute sich kaum zu atmen, während er Vlads Aura durch neue kleine Skizzen mit den Bildern verband, die er schon vorbereitet hatte. Mitleid war eine Emotion, die bei Vlad schwer zu zeichnen war.

Aber er brauchte dieses Seil, um aus dem Schacht herauszukommen. Die Sinnbilder für Mitleid hatte er über der Faszination vorbereitet, er brauchte sie nur noch zu modifizieren.

Während sich seine Fingerkuppen in die Erde bohrten und neue Bilder entstehen ließen, dachte er an Schmerz und an Ungerechtigkeit.

Als der Knoten am Ende des Seils neben ihm auf dem Boden aufschlug, hätte er vor Erleichterung am liebsten laut aufgeschrien, stattdessen warf er sich nach vorn, um die letzten Bilder schnell zu erreichen. Seine Wut berauschte ihn, sie benebelte seine Sinne und überschlug sich in ihm zu einer unerträglichen Verzweiflung. Er hämmerte mit seinen Händen auf die Skizzen in der Erde, um die letzte Verbindung zu Vlad zu bekommen. Als er nach oben sah, loderte der gelbe Schimmer in Vlads Aura auf und mischte sich mit grellrot lodernden Feuerzungen, dann verschwand der Kopf des Pflegers und gab dadurch die Sicht auf den Himmel frei, den er so lang nicht gesehen hatte. Erst jetzt atmete er durch, Tränen vernebelten die Sicht auf die Strahlen der aufgehenden Sonne.

Seine Beine zitterten, aber als er das Seil in die Hände nahm, erinnerte sich sein Körper instinktiv an die Technik, mit der er am besten nach oben klettern konnte. Neues Blut aus den Wunden an seinen Händen vermischte sich auf dem dicken Strick mit altem. Nie wieder würde er in den Schacht gebracht werden, keiner von ihnen sollte jemals wieder dort hinunter müssen. Als er die ersten Meter hinter sich gebracht hatte, hörte er die dumpfen Schreie. Er hatte Vlad mit solchem Hass belegt, dass der Pfleger nicht mehr Herr seiner Sinne war. Was dieser Zorn in Vlads Gemüt anrichtete, war ihm gleichgültig. Hauptsache der Pfleger verlor die Kontrolle, sodass die anderen Kinder ungehindert fliehen konnten. Wieder zog er sich ein Stück weiter nach oben und biss die Zähne aufeinander. Die Luft wurde besser, je näher er der Öffnung kam. Die Stimmen wurden lauter, doch da war noch ein anderes Geräusch, ein Knistern legte sich in die Atmosphäre. Und Rauch. Für einen Augenblick verharrte er und konzentrierte sich auf die Stimmen. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber in den Schreien klang etwas mit, das sich wie ein Mantel aus Grauen um ihn legte.

Er musste raus aus dem Schacht.

Immer mehr Rauch mischte sich in die Luft, während er weiterkletterte. Vlad musste Feuer gelegt haben. Als er die Bretter erreicht hatte und sich an den rutschigen Steinen hochzog, spürte er, dass er vor Anstrengung schrie, aber seine heisere Stimme hörte sich wie ein dumpfes Echo an. Er zwang seine tauben Beine dazu, sich aufzurichten und den Weg entlangzulaufen.

Dann konnte er es hinter den Bäumen erkennen.

Das Kinderheim stand lichterloh in Flammen.

Sein Herz schien für einen Moment stehen geblieben zu sein, während alle Eindrücke wirkten, als würden sie unter dem weißen Schnee verschwinden. Der Schock machte es unwirklich. Er hastete weiter und schleppte seinen tauben Körper Richtung Gebäude, doch sein Fuß knickte ab. Das Gelenk musste gebrochen sein, trotzdem schleppte er sich weiter und trat auf, als wäre sein Fuß nichts weiter als ein lebloser Fremdkörper.

Dann sah er, wie der Dachstuhl einbrach. Die Funken loderten auf und stoben in den dunklen Himmel.

Zunehmender Mond.

Es war nicht morgens, es wurde Nacht.

Er wehrte sich dagegen, den Gedanken zuzulassen, aber er drängte sich in sein Bewusstsein und überspülte seine Seele mit Kälte.

Abends schlossen sie die Türen ab.

Von dieser Nacht an schickte er seine Gabe in die Verdammnis seiner Seele und schwor, nie wieder zu zeichnen.

Er hielt sein Wort.

Vierzehn Jahre lang.

1

 

Ria nahm die flüchtigen Blicke, die ihr der Mann vom Fahrersitz aus zuwarf, aus den Augenwinkeln wahr. Aber ihr Fokus lag auf der Musik, die blechern aus dem Autoradio schallte. Solche Klänge waren neu für sie, wie ihre Reaktion darauf. Es machte keinen Sinn, sich an diesem Eindruck aufzuhalten, doch sie tat es. Dann drehte der Mann, der sich Bob nannte und sie in seinem braunen Ford Pick-up mitgenommen hatte, an dem kleinen schwarzen Knopf und schaltete das Radio ab. Sofort verdichtete sich ihre Konzentration auf ihr antrainiertes Verhalten. In einem Sekundenbruchteil hatte sie jedes Detail erfasst und ausgewertet. Bobs Finger hinterließen feuchte Stellen auf dem Plastik und den kleinen Rillen des Knopfes. Die Bewegung seines rechten Armes war träge. Ein Ring an seinem Mittelfinger erzeugte ein klackendes Geräusch, als er seine Hand wieder auf das Lenkrad legte.

„Du hast Glück.“ Die Falten um Bobs Augenlider zogen sich zusammen, bis seine Pupillen nur noch durch Schlitze sichtbar waren. Wenige der Haarsträhnen, die seinen Kopf noch bedeckten, fielen über seine glänzende, mit Furchen übersäte Stirn. Er schniefte und wischte sich den Geifer mit dem Handrücken ab, bevor er seine Hand wieder auf das Lenkrad fallen ließ. „Nachts ist es für eine Frau in der Gegend gefährlich.“

Bis nach New Hamburg war Ria mit dem Zug gefahren, dann war sie ausgestiegen und zu Fuß weitergegangen. Sie hatte kein Ziel, außerhalb des Labors war ihr keine Menschenseele bekannt. Zum ersten Mal hatte ihr der Doktor keine genauen Anweisungen gegeben. Es gab keinen Auftrag, keine Regeln. Auch das war neu.

Der braune Ford Pick-up hatte neben ihr angehalten, als die Sonne untergegangen war, dann hatte der Fahrer die Beifahrertür aufgestoßen und sie aufgefordert einzusteigen. Ria war dieser Aufforderung nur wegen der Musik gefolgt, die aus dem Auto gekommen war, doch jetzt hatte Bob das Radio ausgeschaltet.

Nach jedem Satz zog er die Nase hoch und stieß einen kehligen Laut aus. „Wir sind hier nicht in mehr in New York. Hier kommt nicht oft ein Truck vorbei.“ Sein Lachen wurde zu einem Husten, dann spuckte er den Schleim, den er hochgewürgt hatte, aus dem offenen Fenster. „Ich bin deine Rettung, Schätzchen.“

Die Kette mit dem Plastikkreuzanhänger schlug immer wieder gegen die Windschutzscheibe, weil Bob in regelmäßigen Abständen leicht auf die Bremse trat, um sich im Rückspiegel zu versichern, dass kein weiterer Verkehr auf der Straße war.

Doch außer dem Licht der Scheinwerfer seines Wagens, deren Strahlen an den Bäumen am Straßenrand vorbeihuschten, war auf der Landstraße nichts zu sehen.

Trotzdem nahm Ria etwas wahr. Als ob jemand darauf wartete, dass sie unaufmerksam wurde. Doch sie machte keine Fehler.

Sie funktionierte perfekt.

Bob fuhr nach Osten. Auf der Ladefläche saß ein Hund, die Tankanzeige zeigte, dass der Wagen noch ein Viertel betankt war. Das Kunstleder des Lenkrades war löchrig und abgegriffen, auf dem Fell, das auf ihrem Sitz lag waren Flecken. Bob war ungefähr ein Meter achtzig, er wog um die hundert Kilo. Die Kleidung war unauffällig, bis auf die Ringe an seinen Händen und die Gürtelschnalle, auf der ein großer Adler prangte. Die Uhr zeigte an, dass es halb neun war. Das alles nahm sie wahr und speicherte es ab.

 

Bob fuhr auf einen angrenzenden Parkplatz und machte den Motor aus. „Ich hab mir Mühe gegeben, freundlich zu sein.“ Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, als er seine Hände um das Lenkrad krampfte. „Jetzt wäre es an der Zeit, ein wenig freundlich zu mir zu sein.“ Er löste die rechte Hand vom Lenkrad und zog ein Klappmesser aus der linken Jackentasche seiner Weste. Bevor sich die Klinge aus dem Sperrmechanismus des Griffs gelöst hatte, schlug Ria zu.

Die ersten beiden Fingerknöchel ihrer rechten Hand trafen exakt den Nervenpunkt hinter seinem Ohr.

Die Schocklähmung befiel in einem Sekundenbruchteil Bobs ganzen Körper, aber nicht sein Bewusstsein.

Blitzschnell sprang sie auf ihren Sitz und landete in der Hocke.

Erst dann sprang die neun Zentimeter lange Klinge mit einem Klacken heraus und der Ausdruck in Bobs Augen veränderte sich.

Rias schnelle Bewegungen und ihre Zielsicherheit gaben ihr die Zeit, ihre Gegner zu beobachten. Jedes Opfer erkannte in einem bestimmten Moment, dass es keinen Ausweg mehr gab.

So auch Bob. Seine Pupillen vergrößerten sich, dann wurden seine Augen glasig. Stille, keine sichtbare Reaktion mehr.

Sie trat mit dem Fuß gegen die Hand, die den Griff des Messers immer noch umklammerte. Die Klinge durchstieß Bobs Brustbein und versank in seinem Herzen. Das Manöver verlief präzise und schnell. Es hatte sie nicht mehr Zeit gekostet, als er für einen Atemzug benötigte. Mit einem hohen, rasselnden Ton strömte die letzte Luft aus seinen Lungen. Sie öffnete die Fahrertür und trat schwungvoll mit beiden Füßen gegen ihn. Leblos kippte er zur Seite und fiel mit einem dumpfen Geräusch auf die dunklen Kieselsteine. Nachdem sie ihre Handschuhe angezogen hatte, glitt sie auf den Fahrersitz und schloss die Autotür.

Keine Spuren, weder an der Leiche noch am Fahrzeug.

Um die Pedale zu erreichen, musste sie den Sitz nach vorn schieben, doch der Mechanismus war zu fest, also klemmte sie ihren Rucksack hinter ihren Rücken und verlagerte so ihre Sitzfläche weiter vor. Sie startete den Motor und setzte den Truck holprig zurück. Um kein Aufsehen zu erregen, musste sie das Fahrzeug schnellstmöglich tauschen. In vorgeschriebener Geschwindigkeit fuhr sie die Landstraße entlang und justierte den Rückspiegel passend.

Keine Auffälligkeiten, weder vor ihr noch hinter dem Wagen. Doch sie wusste nur zu gut, dass die Dinge nicht immer sichtbar waren. Nur weil man etwas nicht sah, hieß das nicht, dass es nicht da war. Jemand lauerte ihr auf. Das sagte ihr der Killerinstinkt, der, seit sie denken konnte, wie ein angeborener Trieb ihr Überleben sicherte.

 

*

 

Die Narbe, die sich senkrecht über die rechte Seite seiner Oberlippe zog, spannte, während er konzentriert durch die Linse sah. Die Dämmerung tauchte die Wasseroberfläche des kleinen Sees in ein geheimnisvolles Licht. Seichter Nebel lag über den ruhigen Wellen, so spiegelte der See das Abendrot nicht klar, sondern gab nur seinen dunklen Farbton wieder. Etwas Geheimnisvolles und Undurchschaubares lag in diesem Anblick.

Miro suchte erneut die Wasseroberfläche nach Anzeichen für einen kleinen Wirbel oder einer ausgeprägten Brechung der Wellen ab. Die Auflösung seines Fernglases war gut, seine Position auf dem Hügel perfekt zur Erfassung der Zielperson. Außerdem barg das schwache Abendlicht keine Gefahr einer Lichtreflexion in der Linse seines Fernglases. Es war fast zu einfach. Trotzdem verlor er Rias Silhouette unter Wasser immer wieder. Leise fluchend stand er im Schutz von ein paar Ahornbäumen und fragte sich, wie man bei diesen Temperaturen überhaupt auf die Idee kommen konnte, schwimmen zu gehen. Das Wasser musste arschkalt sein. Wieder glitt sein Blick zu ihrem Jeep zurück, den sie im Schutz der angrenzenden Bäume abgestellt hatte. Seit zwei Tagen beobachtete er jeden einzelnen ihrer Schritte. Sie schien in ihrem Wagen zu schlafen, wenn sie überhaupt schlief. Bislang blieb sie für sich und ging strategisch vor.

Ria hatte sich auf einem Schrottplatz ein neues Nummernschild besorgt, damit der gestohlene Jeep nicht auffiel. Er hatte die Leiche des ehemaligen Besitzers gefunden. Es sah so aus, als hätte sie den Kerl mit seinem eigenen Messer getötet. Leichen hatten keine Aura mehr, deshalb konnte er nur die Fakten deuten. Das grobe Klappmesser passte nicht zu ihr, sein Mechanismus war zu langsam für ihren Kampfstil, außerdem war es zu unhandlich für ihre Hände. Es passte aber zu dem Kerl mit der auffallenden Gürtelschnalle. Miro hatte keine Ahnung, warum der Mann verrückt genug gewesen war, sein Messer zu ziehen, aber damit war sein Tod sicher gewesen.

Ria fuhr mit dem geklauten Jeep jede Nacht die knapp neunzig Meilen zurück nach New York und parkte in der Nähe der 5th Avenue. Dort stand sie stundenlang ohne irgendeine Aktion. Der Einzige, der ihr nicht von der Seite wich, war der Hund. Ein Mischling zwischen einem Husky und irgendeiner anderen Rasse. Der Rüde wirkte von seiner Größe und der hellen Fellzeichnung eher wie ein Wolf. Er schien kein Problem damit zu haben, dass sie seinen früheren Besitzer getötet hatte.

Im Moment lag er ruhig am Ende des Stegs und wartete, bis sie aus dem Wasser kam.

Ein kleiner Strudel auf der Wasseroberfläche ließ seinen Blick zurückschnellen. Kaum erkennbar schwamm sie wie ein dunkelblauer Schatten Richtung Ufer. Unter Wasser war selbst für ihn nur ein leichter Schein ihrer Aura sichtbar. Aber Miro erinnerte sich genau an den dunkelblauen Schimmer, der sie umgab, durchzogen von feinen schwarzen Konturen. Zum ersten Mal war er Ria bei einem Rettungseinsatz begegnet. Damals hatte er mit der SGU, der Special Gifted Unit, drei der Mitglieder aus einem Hinterhalt befreit. Ria hatte gegen ihn und die Einheit gekämpft; auf der Seite des Mannes, der als Wissenschaftler und Arzt für menschenverachtende Experimente verantwortlich war, Lester Grey.

Auch sie war eine von Greys manipulierten Kreaturen. Extrem schnell, zielsicher und tödlich. Erst seit drei Wochen stand sie nicht mehr unter Greys direktem Kommando. So lang lag ihr letzter offizieller Einsatz zurück.

Er wusste nicht was es war, aber seit Miro gegen sie gekämpft hatte, war etwas in ihm in Aufruhr. Als hätte dieser eine Kontakt zu ihr ausgereicht, um etwas in ihm zu schüren. Etwas, das ihm immer wieder ihre großen, ausdrucklosen Augen in Erinnerung rief. Ihre Aura war anders, als alle die er bislang gesehen hatte. Die Strahlung waberte ungefähr zehn Zentimeter breit, bevor sie transparent nach außen verschwand. Das, was sie so außergewöhnlich machte, waren die schwarzen Wirbel, die es ihm unmöglich machten, ihre Aura zu zeichnen und auf dem Papier festzuhalten. Wie bewegliche Jahresringe veränderten sie das Blau und schufen chaotische Kreisläufe. ster und bedrohlich, wie der Himmel kurz bevor ein schweres Unwetter hereinbrach.

Genauso hatte sich ihre Nähe angefühlt. Dunkel, gefährlich, jede Reaktion unkalkulierbar schnell.

Schon früher, als er noch aktiv beim Militär gedient hatte, waren es die schweren Operationen gewesen, für die er sich freiwillig gemeldet hatte. An dieser Vorliebe für aussichtslos erscheinende Einsätze hatte sich auch, seit er bei der SGU war, nichts geändert. Doch er war weder ein Adrenalinjunkie noch ein Selbstmörder. Er war ein Einzelgänger. Da sich die Wenigsten für diese Art von Einsätzen meldeten, waren sie für ihn perfekt. In Rias Fall hatte ihn noch mehr gereizt. Sie war die perfekte Killerin, dazu hatte Grey sie gemacht. Er hatte sie kämpfen sehen, ihre körperlichen Voraussetzungen waren perfekt, mühelos konnte sie drei kampferfahrene Männer ausschalten. Aber sie ließ sich Zeit dabei und studierte ihre Opfer. Eine Art Spiel mit dem Gegner, der eigentlich schon verloren hatte. Als bräuchte sie diesen Moment, um zu begreifen, was emotional in ihrem Opfer vorging. Neugierig auf das, was sie selbst nicht kannte, weil Grey eine gewissenlose Mörderin aus ihr gemacht hatte, eine Art Psychopathin.

Aber sie war nicht so geboren worden. Keiner von Greys unfreiwilligen Probanden war das. Seitdem Miro erfahren hatte, dass auch seine Fähigkeit aus Greys Forschungsreihe resultierte und es noch mehr Probanden gab, wartete er auf den Moment, an dem es eskalierte. Seiner Meinung nach konnten Greys Opfer nicht unter normalen Menschen leben, sie stellten eine Gefahr dar. Weil die Fähigkeiten zu stark waren und nicht einmal die SGU abschätzen konnte, wie weit die Mutationen reichten. Bei Ria war die Wahrscheinlichkeit, dass sie unkontrolliert eine Katastrophe verursachen würde, seiner Meinung nach am höchsten. Er musste herausfinden, ob noch etwas Menschliches in ihr war, ob unter dem schwarzen Netz, das über ihrer Aura lag, ein Schimmer Empathie zu finden war. Und, warum seine Gabe bei ihr nicht funktionierte.

Sicher, der eine Grund war, dass es fast unmöglich war, eine Aura einzufangen, die sich permanent chaotisch veränderte. Aber da war noch mehr, schließlich konnte man niemandem eine Emotion anzeichnen, der theoretisch wusste, was das Gefühl bedeutete, aber es mit keinem zukünftigen Ereignis verknüpfen konnte. Ria kannte keine realistische Konsequenz ihres Handelns. Grey hatte ihr mit einer Gehirnwäsche die Erinnerung an die Vergangenheit genommen. So etwas wie Schuldgefühle gab es nur bei Menschen, die Angst kannten, weil sie wussten, wie sich ihre Opfer fühlen mussten.

Normale Menschen konnten Gut und Böse unterscheiden. Angst war bei ihnen ein Zustand, den sie niemanden spüren lassen wollten, weil sie wussten, wie grausam das sein konnte.

Er wusste verdammt genau, wie Angst in den Auren der Menschen aussah. Er hatte viel über Ria nachgedacht, sie manchmal sogar darum beneidet, dass sie keine Erinnerung mehr an ihr bisheriges Leben hatte, darum, dass sie keine Schuld kannte.

Der Hund gab ihm das Signal, bevor sie sich auf den Steg zog. Schwanzwedelnd trottete er auf sie zu und wartete, bis sie ihre Haare zu einem Zopf gedreht hatte, um das Wasser auszuwringen. Nur in einem schwarzen Top und schwarzer Unterwäsche, ohne den Tarnanzug wirkte ihr Körper klein und zierlich. Ihre chinesischen Wurzeln waren unverkennbar, vor allem durch die dunklen Augen und ihre langen schwarzen Haare. Glatt wie Seide lagen sie auf ihrer hellen Haut und bildeten einen starken Kontrast. Aber so schien alles an ihr – gegensätzlich.

Sie war vermutlich erst Mitte zwanzig, vermittelte einen beinahe unschuldigen Anschein, aber der Ausdruck ihrer Augen war kalt, gefühllos und hart. Als hätte ihr Wesen schon sehr viel erlebt und existierte nur in dieser harmlos wirkenden Hülle. Vielleicht war er auch deshalb hier, weil ihm der Ausdruck in ihren Augen seltsam bekannt vorkam.

Ohne den Hund zu beachten, trocknete sie sich flüchtig ab und zog einen Pullover über.

Miro nahm das Fernglas herunter und versuchte, ihre Aura zu zeichnen. Es war noch immer ein eigenartiges Gefühl, die Fähigkeit einzusetzen. Aber er verdrängte den Gedanken und begrub ihn unter einer eisigen Ruhe, die ihm Kontrolle verlieh. Bei dieser Zeichnung wollte er sie nicht beeinflussen, sondern nur ein Abbild ihrer Aura schaffen, um später einen Vergleich zu haben. Vielleicht fand er dadurch eine Auffälligkeit in dem Chaos, das die schwarzen Linien auf ihrer Strahlung erzeugten.

Normalerweise glitt der Stift wie von selbst über das Papier. Er musste sich nur die Emotion vorstellen, die er bei der Person oder dem Tier hervorrufen wollte, und schon führte seine Hand die Mine über den Block. In zahlreichen Schichten oder Schraffuren schuf er Bilder in Bildern. Mit Farben zu arbeiten war einfach, grau bildete schnell Angst, rot Impulse wie Wut. Er konnte die Emotion potenzieren anhand der Farbintensität oder der Menge der Farbe, die er in die Aura zeichnete.

Er fühlte sich beim Zeichnen, als stünde er an einem Abgrund. Es war ein schmaler Grat, auf dem er sich bewegte, den er niemals außer Kontrolle lassen durfte. Deshalb zeichnete er meistens nur mit einem schwarzen Stift und arbeitete nur mit Bildern, die neue Bilder schufen, aus unterschiedlichen Schraffur-Schichten zusammengesetzt. Die Eintönigkeit der Bilder half ihm, sie als das zu sehen, was sie waren. Schwarz-weiße Zeichnungen, die Gefühle erschaffen oder vernichten konnten. Gefährliche Dinge sollte man seiner Meinung nach nicht bunt ausschmücken.

Bei Ria gelangen ihm nur grobe Konturen, damit konnte er höchstens einen minimalen Eindruck hervorrufen. Niemals eine Emotion, die ihr Handeln oder ihren Gemütszustand beeinflussen konnte. Er erklärte sich dieses Phänomen damit, dass sie eine Ausstrahlung besaß, die er noch nie gesehen hatte.

Es gab unzählige Farbkombinationen bei den Menschen. Von Dunkelgrau bis zu den schillerndsten Farbnuancen. Jedes Spektrum spiegelte unterschiedliche emotionale Gemütszustände wieder. Selbst die Dichte der Strahlung sagte viel über die Stimmung aus. Wie groß der Schein war oder ob sich nur eine abgegrenzte trübe Substanz bildete. Es gab Egoisten, deren Schein sich selbst beschien, also nach innen floss. Glückliche Kinder hatten einen ausfasernden Schein, meist bunt schillernd. Aber Miro hatte keine Strahlung gesehen, die wie Rias feine sich permanent verändernde Konturen hatte. Es wirkte, als ob sich ihre Strahlung selbst scannte oder etwas unter der Oberfläche kämpfte. Wie ein Netz lag der dunkle Schleier auf ihrer Aura. Ihre Strahlung war ihm ebenso fremd, wie seine. Beim Blick auf seine Hände erkannte er nur eine sie umgebende farblos wabernde Masse, wie ein durchsichtiges Kraftfeld oder eine Lichtreflexion von flirrender Hitze. Es gab keine erkennbare Dichte, keine Grenze, keine Substanz. Keine Parameter, die etwas über seinen Gemütszustand preisgeben könnten. Er hatte keine Möglichkeit, sich selbst abzuschätzen; auch deshalb war er sehr wachsam beim Einsatz seiner Gabe.

Nach dem misslungenen Versuch konzentrierte sich Miro auf den Hund. Schon eine grobe Skizze ließ das Tier aufmerksam die Ohren anlegen.

Ria reagierte sofort auf das Verhalten des Mischlings und suchte mit ihren Blicken den Hügel ab.

Miro blieb einfach stehen und fixierte sie. Sehen konnte sie ihn auf diese Entfernung nicht, aber sie ahnte wohl, dass etwas nicht stimmte. Wie jeder Soldat wusste sie, wann die Ruhe Freund war und die Stille Feind bedeutete. Achtsamkeit war die Intuition, die das Überleben sicherte. Dieses Gefühl kannte er gut. Wenn sich drohende Gefahr ankündigte und einen unheilvollen Schauder zwischen den Schulterblättern entfachte. Er erinnerte sich verdammt genau daran. Die Szene lief wie in Zeitlupe vor seinem inneren Auge ab.

Diese Ruhe, nur sein eigener Pulsschlag in den Ohren, sein Blut rauschte durch den Körper, während er sich an die graue Häuserwand in Aleppo gelehnt hatte. Hinter ihm hatten es ihm zwei seines Trupps gleichgetan. Bereits nach dem ersten feindlichen Maschinengewehrfeuer hatte er gewusst, dass sie in einem Hinterhalt gelandet waren. Der Feind hatte sie im Visier gehabt. Seine Kameraden hatten sich für einen Aufklärungsjob aufgeteilt. Die Arschlöcher hatten seelenruhig gewartet, bis sich der Trupp getrennt hatte, dann war der Angriff wie ein Höllenfeuer über sie hereingebrochen. Miro hatte gewusst, dass hinter der Hausecke ein Schütze lauerte. Er musste genau diesen Moment abpassen, diesen Augenblick der Stille, um den ersten Schuss treffsicher zu landen. Er musste seine Jungs aus dem Häuserzug herausbekommen, nur das zählte. Auf seinen Stiefeln hatte sich der feine rote Staub mit Tropfen seines Blutes gemischt. Von der Schusswunde in seiner Schulter war es in dünnen klebrigen Rinnsalen unter seinem Kampfanzug bis zu seinen Stiefeln gelaufen. Der Wind hatte gedreht, zu ihren Gunsten. Alles, was ein Geräusch machte, war eine Hilfe, da es den Feind ablenkte. Mit der MG im Anschlag war Miro in die Hocke gegangen und hatte sich über den Boden in die offene Straßenschlucht geworfen. Feuerstoßmodus drei Schuss. Er erinnerte sich an den stechenden Schmerz, der Rückstoß seiner Waffe hatte den Holm gegen sein Schulterblatt gepresst.

Die Erkenntnis der Täuschung war wie eine Viper in seinen Verstand geschlichen. Der Schütze hatte keinen sichtbaren Schein mehr um sich gehabt. Er war bereits tot. Miros Kugeln waren mit einem dumpfen Geräusch in den Körper der Leiche eingedrungen. Als hätte er auf einen Sack voll Mehl geschossen. Die Luft war ihm aus den Lungen gewichen, als er auf dem Boden aufgeschlagen war. Er hatte gewusst, dass es zu spät war. Die Warnung aus seinem Mund hatte in der Stille wie ein fehlgeleiteter Splitter gewirkt. Dann waren die Schüsse auf seine Kameraden eingeprasselt. Drei von ihnen hatte er hinter sich fallen sehen, doch die Anzahl der Schüsse war weitaus höher gewesen. Im Nachhinein hatte sich bestätigt, dass sein kompletter Trupp beseitigt worden war. Doch das Geräusch eines Scharfschützengewehrschusses klang eigen. Von diesem Moment an war ihm klar geworden, dass das Feuer nicht von syrischen Rebellen eröffnet worden war. Zwei Schüsse später wusste er, dass sie es auf ihn abgesehen hatten.

Für einen Augenblick streifte Rias Blick den seinen, und die vergangenen Bilder verblassten im Angesicht der Realität. Sie zog eine dunkle Mütze über den Kopf und stieg ins Auto. In ihrem Fall war es umgekehrt, er hatte sie im Visier. Deshalb musste er im Vorfeld so viele Informationen sammeln wie möglich. Doch bislang wusste er nur eines mit absoluter Sicherheit: Ria würde ihn, ohne zu zögern töten, wenn sie die Möglichkeit dazu bekam.

 

*

 

Hund hatte etwas gewittert. Augenscheinlich gab es kein Anzeichen dafür, dass eine Person oder eine potenzielle Gefahrenquelle hier war. Doch Ria spürte es. Jemand war in der Nähe und diese Person musste gut ausgebildet sein, wenn sie es schaffte unentdeckt zu bleiben. Die Spannung sandte dieses untrügliche Kribbeln in ihre Fingerspitzen, ihr Instinkt schlug Alarm. Bislang war immer sie diejenige gewesen, die unentdeckt in der Dunkelheit gelauert hatte. Sie zog sich im Wagen ein paar trockene Klamotten über, öffnete die Beifahrertür und wartete, bis der Hund auf den Sitz gesprungen war. Ihre Nahrungsmittel gingen zur Neige, sie hatte noch drei Flaschen Wasser, eine Packung Toast und Trockenfutter für das Tier. Sie brauchte Geld.

Zum ersten Mal in ihrem Leben musste sie sich um solche Dinge kümmern. Im Labor gab es feste Regeln und Doktor Grey gab ihr immer klare Anweisungen. Sein letzter Befehl hatte gelautet: Abbruch.

Sie sei nicht mehr von Nutzen. Kurz zuvor war das Labor des Doktors von Feinden zerstört worden, und sie hatte den Gegner nicht aufgehalten. Ein unentschuldbarer Fehler, so hatte er es genannt. Ria hatte die Botschaft abgespeichert und war gegangen. Seit Wochen bemühte sie sich, hier in der Außenwelt Regeln für sich aufzustellen. Feste Essenszeiten, Rationen und tägliches Training waren Punkte, die leichter umsetzbar waren, als zu entscheiden, was sie beispielsweise zu sich nehmen sollte. Oder wie sie an Geld kam. Am Anfang war sie ziellos durch die Straßen gelaufen, alle Sinneseindrücke waren auf sie eingeprasselt. Der Lärm der Autos, die vielen Menschen, die Gerüche. Sie hatte versucht ein Schema zu finden, eine Ordnung, die ihr eine Richtung aufzeigen würde. Aber alles schien wirr. Bei einem Einsatz hatte sie ein System, nach dem sie vorging. Sie speicherte relevante Details ab und nutzte diese Informationen, um die Aufgabe nach Doktor Greys Anweisungen auszuführen. Doch das hier war keine Operation und der Doktor war nicht hier. Das Einzige, was sie bei sich hatte, war der schwarze Rucksack aus dem letzten Einsatz. Er beinhaltete einen Führerschein, ausgestellt auf einen falschen Namen, die Karte war scharfkantig, zwanzig Dollar und einen Wassersack; Waffen, auf den letzten Einsatz abgestimmt ein perfekt in ihrer Hand liegendes Messer, ein paar Wurfsterne und zwei Mikrokanülen, gefüllt mit einem starken Narkotikum; dazu die sechzehn Akten, die sie aus dem Unterschlupf des Feindes mitgenommen hatte.

Der Doktor hatte nicht mehr nach den Dokumenten gefragt, obwohl er deren Wert vor dem Einsatz betont hatte. Jetzt lagen die braunen Akten mit den sechzehn Nummern auf dem Rücksitz des Jeeps.

Es waren Protokolle unterschiedlicher Kämpfer, einigen von ihnen war sie während des letzten Einsatzes begegnet. Doktor Grey hatte die Einheit SGU genannt und sie vor den Agenten gewarnt. Mittlerweile hatte sie die Akten durchgesehen und herausgefunden, dass die Agenten begabt waren. Welche Fähigkeiten das genau waren wurde nicht beschrieben. Die Berichte waren in medizinischer Fachsprache verfasst und codiert, das meiste verstand sie nicht. Sie vermutete, dass der Doktor die Akten geführt hatte. Grey hatte sehr lange an den Probanden gearbeitet, in den Ordnern waren schon Aufzeichnungen über die Eltern der einzelnen Kämpfer aufgeführt. An einen Agenten der SGU konnte sie sich genau erinnern, weil sie wegen ihm einen Kampf unterbrochen hatte.

Sie rief sich seine Akte ins Gedächtnis. Ungefähr eins neunzig, breite Schultern, seine Statur, ließ auf eine Nahkampfausbildung schließen – dieser Fakt hatte sich in der Akte bestätigt – dunkelblond, kantiges Gesicht, Bart, von der Sonne gezeichnete Haut. Doch der Grund, weshalb sie in diesem Kampf zum ersten Mal gezögert hatte, war sein durchdringender Blick gewesen. Seine blauen Augen hatten sie zögern lassen. Auf der Akte dieses Agenten prangte die Eins.

Der Name des Mannes war Miro Dariusz. In den Aufzeichnungen wurde seine Fähigkeit mit dem Wort Aurenzeichner beschrieben. Welche Leistungen er damit erbringen konnte, oder inwiefern diese Gabe zu ihrem Versagen beigetragen hatte, war aus der Akte nicht ersichtlich. In seinen Aufzeichnungen gab es keine Informationen über seine Kindheit, lediglich geboren in Russland. Was genau nach dem Tod seiner leiblichen Eltern geschehen war, war nicht dokumentiert. Mit sechzehn kam er auf eine Militärschule in die USA, später war er unter anderem im Kriegseinsatz in Syrien als Marine gewesen. Er praktizierte Krav Maga und war kampferfahren; ein Soldat für etliche riskante Operationen. Nach seinem letzten offiziellen Regierungseinsatz war er für über ein Jahr auf einer arktischen Insel verschwunden.

Marinetrupps absolvierten ein hartes Training, die Kameradschaft stand an erster Stelle. Ihr ehemaliger Ausbilder hatte ihr davon erzählt, er war ebenfalls ein Marine gewesen. Doktor Grey hatte Landon Rupert dazu angeheuert, sie im Nahkampf auszubilden und zu trainieren. Er hatte ihr bei jedem Training die Richtlinien der Marines gepredigt. Semper fidelis immer treu. Er hatte von Ehre und Freundschaft gesprochen, von dem Gehorsam, den sie vor allem ihm gegenüber zu haben hatte. Einmal hatte er ihr, während er die Hymne zitierte, die Schulter ausgekugelt und ihren Arm zweifach gebrochen. Der Doktor war wegen der langen Schonzeit des Bruchs wütend geworden.

Dass sich Nummer eins nach seiner militärischen Laufbahn für die Einsamkeit entschieden hatte, musste einen Grund gehabt haben.

Laut Eintrag in der Akte war er einmal bei Doktor Grey im Labor gewesen. Sie hatte ihn dort nicht gesehen, hatte gelernt, sich grundsätzlich von den Angelegenheiten des Doktors fernzuhalten. Sie erfüllte Anweisungen, wenn sie nicht funktionierte, folgte Bestrafung; ein einfaches System, das sie verstand. Die Gewissheit, dass Miro Dariusz einmal im Labor gewesen war, löste etwas in ihr aus. Sie konnte den Eindruck nicht zuordnen. Vielleicht weil Miro gesehen hatte, wo sie gelebt hatte. Irgendwas musste damals mit ihm geschehen sein, das ihn in die Isolation getrieben hatte.

Warum die SGU den Aurenzeichner zurückgeholt hatte, war ihr ein Rätsel. Doch jetzt kämpfte er offensichtlich an deren Seite gegen Doktor Grey und somit gegen sie. Ihr Beschatter musste ein Agent der SGU sein. Sie fragte sich, warum er noch nicht zugegriffen hatte, schließlich hatte sie ihm genügend Gelegenheiten geboten. Dabei hatte sie erneut einen verlassenen Ort gewählt, um den Angreifer aus der Reserve zu locken.

Dieser See lag abseits und sie war mit Hund allein. Der Mischling war nützlich, weil sie durch ihn eine Art Indikator hatte. Immer wenn sie allein auf einer belebten Straße unterwegs war, irritierten sie die vielen Menschen. Sie hatte gelernt, potenzielle Gegner als Subjekte einzuordnen. Ziele, die sie ausschalten oder beseitigen musste. Klare Befehle, denen eine saubere Ausführung folgte. Doch hier gab es keine Anordnungen, keine klaren Richtlinie, wie sie sich in der Öffentlichkeit verhalten sollte. Deshalb versuchte sie, nicht aufzufallen und sich irgendwie anzupassen. Es barg eine Gefahrenquelle, die Menschen nicht einordnen zu können. Aber Hunds Reaktionen waren eindeutig, sicherlich nicht immer korrekt, aber zumindest eine Hilfe. Und gerade hatte auch er reagiert, seine Ohren gespitzt und den Kopf gehoben, aber er hatte nicht gebellt. Er konnte das Ziel oder den Grund seiner intuitiven Unruhe wie sie nicht konkret ausmachen. Dieses Verhalten bestätigte ihre Annahme, dass sie beschattet wurden. Sie schnappte ein Stück Toast, gab Hund eine Handvoll Futter und startete den Wagen. Sie bog auf den Schotterweg ab, der sie auf den Highway Richtung New York führte. Sie würde abwarten, irgendwann musste sich der Beobachter aus der Deckung bewegen.

 

*

 

Der Peilsender, den Grey jedem seiner manipulierten Agenten eingesetzt hatte, erwies sich als äußerst nützlich. Der leuchtende Punkt auf dem Display zeigte Miro Rias genauen Aufenthaltsort. Er konnte ihren Wagen verfolgen, ohne permanent Sichtkontakt zu halten. Da sich der Punkt länger nicht bewegt hatte, ging er davon aus, dass sie an ihrem Ziel angekommen war. Er parkte seinen Wagen in der Lexington Avenue Ecke 69th. Laut des Senders musste sie vor dem Gebäude gegenüber, einem großen Backsteinbau mit einem Juwelier im Erdgeschoss, sein. Er suchte die Fassade des Gebäudes ab und erkannte den leichten blauen Schimmer, der sich über die Steine nach oben bewegte.

Ein Polizeiwagen fuhr Streife. Das Licht der Scheinwerfer streifte Miro, doch die Polizisten fuhren weiter, ohne einen Blick auf die Fassade des gegenüberliegenden Hauses zu werfen.

Rias Schatten huschte rasend schnell an den Steinwänden entlang, als ob die physikalischen Gesetze auf den Kopf gestellt worden waren. Dann hebelte sie ein kleines Fenster in einem der oberen Stockwerke auf, schlüpfte durch einen schmalen Spalt und verschwand. Vermutlich war ihr Ziel der Juwelierladen im Erdgeschoss. Dass eine Killerin wie sie Einbrüche und Diebstähle beging, war außergewöhnlich. Doch inwieweit ihr freier Wille Anteil an dieser Entscheidung gehabt hatte, war schwer zu sagen. Wie viel wog Freiheit, wenn man kein Gewissen hatte? Er wusste nicht, ob Ria klar war, wie übel Grey ihr wirklich mitgespielt hatte. Bis vor Kurzem hatte sie sicherlich keine Entscheidung von Grey infrage gestellt, sonst wäre sie nicht so lang bei ihm geblieben.