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RICHARD WIEMERS: „BROSS. Showdown im Schlippers“
1. Auflage, Mai 2014, Periplaneta Berlin, Edition Totengräber
© 2014 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
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Lektorat: Franziska Dreke
Cover: Holger Much (www.holgermuch.de)
Satz & Layout: Thomas Manegold (www.manegold.de)

print ISBN: 978-3-943876-74-1
epub ISBN: 978-3-943876-12-3


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Richard Wiemers

BROSS

Showdown im Schlippers


periplaneta

„Noch nie war ein nasser Mann so charismatisch!“

Börsenblatt des deutschen Masseurinnenverbandes

1

„Du weißt, warum du hier bist?“

Bross schwieg.

„Wohl nicht sehr gesprächig, was?“

Bross versuchte, den Knebel mit der Zunge aus seinem Mund zu drücken, um zu antworten, doch der saß fest. Er würgte.

Der Mann vor ihm machte eine erregte, konvulsivische Bewegung auf ihn zu. Von den Ohren her zog eine gefährlich grüne Farbe in seinem totenbleichen Gesicht auf und ließ es anschwellen wie einen Luftballon, der aufgeblasen wird. Er schwitzte.

„Du meinst wohl, du bist ein ganz Schlauer, was?“ Sein Gesicht hatte eine unheilvolle Nähe zu dem des Gefangenen erreicht. „Rede!“, stieß er hervor. „Oder …“

Bross schloss die Augen und spürte das Gesicht des Mannes über sich, das da aus einer schwarzen Kapuze hervorquoll. Er fühlte Schweiß in sein Gesicht tropfen. Oder war es Speichel?Als er die Augen wieder öffnete, blickte er in die grauenerregende Fratze seines Peinigers. Sie war zerfressen und wirkte, als hätten Stromschläge sie schon vor langer Zeit zerstört.

Die kalten Augen des Kapuzenmannes drohten, aus ihren Höhlen zu treten, als er plötzlich zugriff. Mit der rechten Faust holte er zum Schlag in Bross’ Gesicht aus, seine Linke krallte ihre schwarzen Klauen in den Hemdkragen des Gefangenen und wollte ihn heranziehen, doch die Fesseln hielten Bross zurück und schnitten in sein Fleisch. Er bewegte sich nicht einen Zentimeter.

„Du willst nicht? Dann – – –.“

„Lass ihn, Kapuze“, sagte eine ruhige Stimme hinter ihm. „Er kann nicht.“

Eine Hand schob ihn beiseite. Dann ergriff sie den Knebel und zog ihn heraus. Bross schluckte, schnappte, keuchte.

„Weißt du, warum du hier bist?“, fragte die ruhige Stimme hinter der Hand.

Der Knebel hatte seinen Kehlkopf im Hals versenkt. Bross versuchte, einen Laut herauszupressen.

„Weißt du es?“, echote der Kapuzenmann.

Nur mit Mühe war Bross’ Röcheln zu verstehen.

„… Was …“

Plötzlich löste sich ein Schuss.

Bross erwachte.

Kühl dachte er an die Situationen dieses Traumes, er kannte sie alle, hatte sie hundertfach durchlebt und war ihnen tausendfach entkommen, stets wissend, dass er sich auf die ganze Souveränität seiner Erfahrung und seiner Klasse als Ermittler stützen konnte. Ein Schuss, aus nächster Nähe auf ihn abgegeben, bedeutete noch gar nichts, so leicht konnte man ihn nicht aus dem Weg räumen.

Immer im Dienst, immer im Auftrag. Immer da, wo es brennt. Immer am Puls des Geschehens. Sagte das Türschild seines Büros. Man durfte die Menschen, die das Büro betraten, nicht einen Moment im Unklaren darüber lassen, mit wem sie es zu tun hatten.

Der Mann für die skrupellosen Fälle. Die gnadenlosen. Die aussichtslosen. Klärt jeden Mord an jedem Ort. Stand so im Adressverzeichnis der Kripo, Rubrik Detektive, Unterrubrik Erfolgstypen, Kapitel Spitzenkräfte, Unterkapitel Genies, Absatz Nicht überschätzbar. Und sein Eintrag war der einzige in dieser Kategorie. Den hatte er seinerzeit selbst vorgenommen, als er sich im Büro des Dezernats 12 unbemerkt in das Verwaltungsprogramm eingehackt hatte und es ihm nach acht Sekunden gelang, die Adressenliste aufzuspüren. Die Unterrubriken hatte er auch selbst angelegt. Weil es sonst keiner machte, musste er sich halt darum kümmern. Er ermittelte selbst dort weiter, wo Bundeskriminalamt, Scotland Yard und der CIA längst kapituliert hatten. Gerade dort. Bis ans bittere Ende. Bitter für die Täter.

Die kleinen Fische, die waren nichts für ihn; man hatte vor Jahren versucht, ihn für Routinearbeiten zu gewinnen, als eine Zeitlang die ganz großen Sachen ausblieben. Doch er lehnte ab, wenn das Dezernat anrief, um ihn mit Kinderkram zu beauftragen. Bombenanschlag von Rechtsradikalen am Anhalter Bahnhof in Berlin? Pillepalle. Krieg der Könige im Hamburger Kiez-Milieu? Etwas für Anfänger. Todesfälle beim Spiel Rostock gegen St. Pauli? Eine Beleidigung. Sollte sich doch Moped-Krause, der Hilfssheriff des Kaffs, darum kümmern. Der war ja eh überall.

Was ihn interessierte und herausforderte, waren die wirklich dicken Dinger, the big challenges, die ganz Großen des Geschäfts. Und er war es, der sie alle zur Strecke gebracht hatte, die seinen Weg gekreuzt und geglaubt hatten, sie könnten ihn an der Nase herumführen. Alle: Dreifinger-Joe, Curry-Dieter, Rio-Sally-Willy. Er kannte ihre Tricks, ihre Gewohnheiten und vor allem ihre Schwachpunkte. Manchmal waren es Frauen, manchmal auch Hunde, und manchmal nur ein einfacher Peter-Hille-Vierzeiler:

Wie deine grüngoldenen Augen funkeln,

Wald, du mosiger Träumer!

Wie deine Gedanken dunkeln,

Einsiedel, schwer von Leben,

Saftseufzender Tagesversäumer!

Okay, das war jetzt ein Fünfzeiler. Aber egal: Der, strategisch günstig platziert, genügte, um sie so emotional zu machen, dass sie ihn darum anflehten, ihnen die Handschellen anzulegen. Porno-Manfred, Klobürsten-Konrad, Krätzen-Luigi. Serienkiller, Psychopathen, schwere Zechpreller. Die verschworene Dorfgemeinschaft, die den alten Bauern Hindahl schützte, nachdem der seine Söhne mit der Mistgabel aufgespießt hatte.

Die Krankenhausmafia, die Patienten für illegale Organtransplantationen hatte verschwinden und im nahen Fluss wieder auftauchen lassen, mit drei Kugeln im Kopf und einem Loch im Bauch, wo vorher die Leber gesessen hatte. Sie alle dachten, sie wären ihm gewachsen.

Dachten sie.

Das war ihr Fehler.

Das Telefon klingelte. Bross hatte sich noch mal hingelegt und keine Lust aufzustehen. Außerdem musste er seinen Nacken entspannen. Fünfmal klingelte es, dann sprang der AB an.

Hier spricht der automatische Anrufbeantworter von Kommissar Bross. Immer im Dienst, immer im Auftrag. Sie haben diesen verdammten Anschluss gewählt, weil Sie ein verdammt schwieriges Anliegen haben, welches Sie verdammt noch mal nicht ohne mich lösen können. Damit eins von vornherein klar ist: Hier stelle ich die Fragen. Und ich habe genau zwei: Wer sind Sie, und was wollen Sie?“

Piepton, ein Moment Stille, dann ein Knacken. Aufgelegt. Aus Respekt. Warum sonst. Es sollte ja auch nicht jeder bei ihm durchkommen. Der durchdringenden Kälte des AB-Textes standhalten und ihr Anliegen auf Band sprechen, das konnten nur die Ernsthaftesten, und das auch nur mit zitternder Stimme. Dieser Anrufer war ganz sicher keiner von ihnen gewesen, und er würde alles Mögliche tun, nur eines ganz sicher nicht: sich noch einmal melden.

2

„Verdammt“, raunzte Bross, als er am Vormittag seines freien Freitags das Mietshaus erreichte, in dem er wohnte. Er war unterwegs gewesen, in Angelegenheiten. Sein wasserabweisender, beige-grauer Trenchcoat war völlig vom Regen durchweicht und tropfte. Wasser rann aus der Krempe seines Hutes und lief vor ihm auf den Boden. Den Hausschlüssel aus dem nassen Mantel zu kramen, war eine Zumutung. Bross fror.

Als er den alten, weiß lackierten Türflügel hinter sich ins Schloss zog, roch es vertraut nach Kohl, wie immer, wenn er den Hausflur betrat. In den wohl hundert Jahren, in denen dieses Gebäude existierte, hatten sich die Gerüche der unzähligen Menschen und Ereignisse zu einer Melange zusammengefügt, deren Schnittmenge abgestandener, kalter Kohl war. Ein Blick in den Briefkasten. Nichts. Doch das war kein Grund zur Beunruhigung. Wer etwas von ihm wollte, rief ihn an. Er schob den klatschnassen Rand seines Mantelärmels ein kurzes Stück nach oben und schaute auf die Uhr: Er war spät dran, weil er den Bus verpasst hatte. Seitdem hatte es geregnet. Seine Leinenhose war völlig durchnässt und klebte unangenehm an den Beinen, als er die alte, dunkle Holztreppe zu seiner Wohnung in den ersten Stock hinaufstieg. Die Stufen knarzten und knackten bei jedem Schritt. Hier wusste jeder, wer wann kam und ging, und nicht selten öffnete sich verstohlen eine Tür, wenn jemand die Treppe benutzte. Es konnte ja ein Unbefugter sein, oder eine Mieterin brachte ihren Liebhaber mit. Darüber musste man Bescheid wissen. Wer weiß, wozu das gut sein konnte.

Vor seiner Wohnungstür angekommen, ergriff Bross die durchnässte Zigarette, die noch in seinem Mundwinkel hing, schnipste sie hinter sich ins Treppenhaus und trat ein.

Wie immer, wenn er aus dem Regen nach Hause kam, führte ihn sein erster Gang ins Bad. Er musste behutsam gehen, um das Wasser, das in seiner Hutkrempe verblieben war, nicht noch in seiner Wohnung zu verschütten. Mittlerweile hatte er schon Übung darin, den Hut vorsichtig mit beiden Händen vom Kopf zu nehmen. Sicherheitshalber tat er das vor dem Spiegel, damit er seine Bewegungen kontrollieren und die Wassermenge langsam in das Waschbecken abkippen konnte. Der Rest war, wie auch schon das Abnehmen des Hutes, Routine: das Herausschälen aus dem tropfnassen Mantel, den er dann über der Badewanne aufhängte, dann die Schuhe aus, in denen Pfützen standen, die bei jedem Schritt ein saugend-matschendes Geräusch produzierten, die Socken, deren – – –.

Es klopfte. „Herr Bross?“

Eine Frauenstimme von nebelkrähenhaftem Timbre durchdrang die schwere Wohnungstür.

„Herr Bross?“

Bross hüpfte auf einem noch bestrumpften Bein zurück in den Flur. Draußen stand die Concierge. Er hatte es befürchtet.

„Hören Sie, Herr Bross?“, keifte sie.

„Ja, Frau Schlichting. Ich wische die Treppe gleich auf. Fünf Minuten.“

„Aber den Flur auch, hören Sie? Wäre ja nicht das erste Mal.“ Das hohe steinerne Treppenhaus mit den Nachhallwerten einer Kirche schien das Krähengeräusch zu potenzieren. Worte waren kaum noch zu verstehen; sie wurden vom Echo und dessen Echo schichtweise überlagert. Aber Bross wusste auch so, was die Concierge sagen würde. „Ich komme in einer halben Stunde zurück. Dann ist das alles trocken, haben Sie verstanden? Und die Kippe, die ist dann auch weg.“

„Ja, Frau Schlichting. Ich weiß.“

„Eine halbe Stunde, hören Sie? Und ich habe meine Wohnungstür auf, damit ich auch sehe, was Sie tun und ob Sie das gescheit machen.“

„Ja. Wie immer. Vielen Dank. Ich bin gleich da. Auf Wiedersehen.“

Die Schritte der Concierge knarrten und polterten die Treppe hinab, begleitet von weiteren Krächzlauten, die sich allmählich entfernten wie ein abziehender Krähenschwarm über einem herbstlichen Kartoffelfeld, über das sich der Nebel der frühen Dämmerung senkt. Ihm war immer noch kalt.

Da klingelte das Telefon. Einem plötzlichen Impuls folgend hob er ab. „Hier spricht der automatische Anrufbeantworter von Kommissar Bross. Immer im Dienst, immer im Auftrag. Sie haben diesen verdammten – – –“

„Lass den Quatsch“, unterbrach ihn die Stimme des Anrufers. „Ich weiß, dass du dran bist. Dezernat 12. Wir brauchen dich.“

„Was ist passiert?“, fragte Bross.

„Hast du Zeit?“

„Immer im Dienst, immer im Auftrag.“

„Was heißt das?“

„Ich komme.“

Eine halbe Stunde später stand er, nun trocken und umgekleidet, noch immer im Bad. Durch das halb geöffnete Fenster schien die Sonne herein. Er drückte auf den Play-Knopf seines CD-Spielers. Cindy & Bert. Immer wieder sonntags. Dann schaute er in den Spiegel.

„Hm.“

Langsam näherte er sich seinem Ebenbild. Ein griechisch-römisches Profil, strahlende Augen, sonnengebräunter Teint – dies waren Eigenschaften, die man an ihm vergeblich suchte. Er war kein Mann, der aus der Nähe sehr gewann. Die Gesichtshaut war übersät mit kleinen Blatternnarben. Seine Stirn erschien etwas zu hoch, die Brauen zu weit vorragend, die Augen zu tief in den Höhlen und etwas zu eng zusammenstehend. Unter seinen hohen, an Basil Rathbone erinnernden Wangenknochen fielen seine Wangen stark ein, vor allem, wenn er beim Denken sein Wangenfleisch einsaugte. Die Nase in der Mitte seines kantigen, glatten Gesichts war lang, spitz und dreieckig und irgendwie falsch proportioniert. Sein kurzgeschnittenes, eigentlich braunes Haar war grau meliert – vielleicht das einzige Attribut von Attraktivität, das man seinem Äußeren zusprechen mochte. Doch sein ledernes Charisma, anziehend und abstoßend zugleich, seine suggestive Aura, seine mystische Faszination, deren alles verschlingender Sogwirkung sich kein Verbrecher entziehen konnte – sie waren die Faktoren, die ihm seine unvergleichliche und gefürchtete astralische Unerbittlichkeit verliehen.

Und er wusste es.

Rrrrrinngg. Der Klingelton war natürlich der eines Telefons aus Hollywoodfilmen der 50er Jahre. Philipp Marlowe. Bei Anruf Mord. Bross hob ab.

Hier spricht der automatische – – –“

„Bross! Bitte!“

„Wer spricht?“

„Dezernat 12. Das weißt du doch. Wir –“

„Das kann jeder behaupten. Weisen Sie sich aus.“

„Bross, jetzt lass doch – – – sag mal, wo bleibst du denn?“

„Hier stelle ich die Fragen. Was ist eigentlich los?“

„Hakennase.“

Drückende Stille.

„Hakennase?“

Noch drückendere Stille.

„Hakennase.“

Unerträglicher Druck der Stille, in der das Fallen einer Nadel einem Peitschenknall gleichgekommen wäre.

„Er ist weit weg“, sagte Bross, das Tempo des Gesprächs wieder aufnehmend.

„Von wegen. Er ist wieder da.“

„Wo?“

„Hier. In Deutschland.“

Bross zog den Kragen seines Mantels hoch. Immer wieder sonntags kommt die Erinnerung, dibidibi dib dib – dib, hörte er aus dem Bad, in Küchenmädchenterzen.

„Das ist unmöglich. Ich hatte ihn gestellt. Und eingebuchtet.“

„Doch, das ist möglich. Nachdem er hier aus dem Knast ausgebrochen war, hatte er einen transmongolischen Rikscha-Service, und danach hat er sich an einem Gleisbauunternehmen in Kamtschatka verspekuliert. Sein letztes Projekt, von dem wir gehört haben, war eine Nilpferd-Farm im Okawango-Becken. Überall, wo sie ihn geschnappt haben, gelang es ihm nach kurzer Zeit zu fliehen. Für den ist kein Gefängnis dicht und keine Mauer hoch genug. Der letzte konkrete Hinweis auf ihn kam aus Marrakesch. Danach verlor sich seine Spur. Aber die Jungs vom BKA haben ihn seit kurzem wieder auf dem Schirm. Nun haben wir einen verdeckten Ermittler auf ihn angesetzt, und der hat uns die Information geliefert.“

Wortlos klickte Bross den Anruf weg und atmete aus. Er hatte genug gehört. Es war keine Zeit mehr für eine sinnlose Abrundung des Gesprächs, irgendwelchen schwachsinnigen Small Talk oder gar dafür, zu warten, bis der am anderen Ende Luft geholt hatte. Jetzt zählte jede Sekunde. Er hackte eine Nummer in die Tastatur.

„Keule?“, fragte Bross, nicht abwartend, dass sein Gesprächspartner sich mit dem Namen meldete. Er sprach das Wort so kurz wie möglich aus, um Zeit zu sparen.

„Ja, Chef?“

„Wir haben einen Fall. Schätze, das wird mein härtester.“

„Um Gottes willen! Doch nicht etwa – – –?“

„Ja. Ich hole dich ab.“

Bross sah aus dem Fenster und rieb sich den Nacken. Wenn er seine ewigen Verspannungen nur lösen könnte! Draußen hatte die Sonne die Straße inzwischen vollends abgetrocknet. Er nahm seinen zweiten, noch trockenen Trenchcoat vom Haken, setzte einen anderen Hut auf, steckte sich eine Zigarette in den Mund, ging zur Wohnungstür und griff nach der Klinke.

Kaum hatte er die Tür geöffnet, schrak er zurück. Draußen stand eine Nebelkrähe in einer schmuddeligen Kittelschürze von undefinierbarem Material; Muster und Farbe erinnerten an aufdringliche, depressiv wirkende Schlafzimmertapeten des 19. Jahrhunderts. Auf dem Kopf trug sie ein vorn gebundenes, pinkfarbenes Kopftuch, zu dessen Seiten wirres, unterirdisch schlecht gefärbtes, rotes Haar herausdrängte, das einen schreienden Kontrast zu der Erscheinung unterhalb des Kopfes bot.

Er schrak zurück.

Die Concierge. Sie musste direkt vor der Tür gestanden haben.

„Herr Bross, so geht das wirklich nicht“, krächzte sie.

Das war’s dann mit der Ruhe der abendlichen Dämmerung.

„Ich habe genau aufgepasst. Sie haben noch keinen Finger gerührt. Gucken sich“ – gelegentlich ließ sie die Anrede aus, wenn sie überflüssig erschien, und das war sie, wenn Frau Schlichting sich erregte – „gucken sich doch mal diese Sauerei an.“

„Frau Schlichting …“

Irgendwie hing er direkt vor ihrem Gesicht fest. Sie war eine wahrlich massige Person, herrisch, größer als er, mit einer groben Physiognomie.

‚Schweinebacken’, dachte Bross. ‚Sie hat Schweinebacken. Hängende Schweinebacken.’ Alles im Gesicht war irgendwie zu groß geraten, vor allem die Poren des zellulitischen Bindegewebes, das einmal ihre Haut gewesen sein mochte. Geradezu erstaunlich war der Faltenwurf ihres Dreifachkinns.

‚Schweres Kinn und schwere Kindheit’, sinnierte Bross. Unwillkürlich sah er einen dieser erbarmungswürdigen, überzüchteten Hunde vor sich, die ihre Nackenfalten von hinten nach vorn stülpen können. ‚Wenn so ein armes Viech aus vollem Lauf bremst’, dachte Bross, ‚schieben sich die Falten von selbst zusammen und begraben Gesicht und Hund in sich. Und ist der Hund einmal unartig, schiebt Herrchen, und dann ist Ruhe.’

Der Unterschied zu Frau Schlichtings Falten bestand lediglich in der Bewegungsrichtung: Die der Hunde verschoben sich horizontal, ihre vertikal, vor allem, wenn sie sich setzte. Oder laut sprach. Auch hinterließen sie am Ende der eigentlichen Bewegung eine Art sichtbares Echo, ein Nachbeben, das noch eine Zeitlang anhielt, bevor es allmählich abebbte.

„Herrrr Bross! Was gucken Sie denn so? Woll’n sich jetzt gefälligst – – –!“

Weiter kam sie nicht. Für derlei Kinkerlitzchen war keine Zeit. Er hatte Großes zu erledigen, auch um den Preis des Kollateralschadens einer zum Schweigen gebrachten, beleidigten Hauswirtin. Etwas, das im nationalen Interesse stand. Er hatte einen Auftrag. Er war Kommissar Bross. Da konnte er sich nicht um Schmuddelwasser im Treppenhaus oder um Kippen auf dem Boden kümmern. Und so flossen all seine Routine, all seine Erfahrung aus ungezählten Fällen, all die Schärfe seiner Entscheidungskraft in die aristokratische Lässigkeit seiner Atmung und der folgenden Handbewegung ein, mit der er die Concierge zur Seite schob. Völlig außerstande, ihm auch nur das Geringste entgegenzusetzen, blieb sie wie schockgefrostet stehen, während er ihr mit zwei Fingern an seinen Hut fassend einen kurzen Abschiedsgruß zukommen ließ und die Treppe heruntereilend verschwand. Rechts und links im Treppenhaus öffneten sich Türen, und Nasen ragten heraus, die aber nur noch den Luftzug seiner zielgeführten Bewegung spürten.

Auf der Straße hörte er noch eine Zeitlang ein unartikuliertes Krächzen hinter sich, dann verlor sich das Geräusch in dem des einsetzenden Regens.

3

Der Fußweg zu Keules Wohnung betrug wenig mehr als eine halbe Stunde. Bross hatte sich auch geistig erfolgreich von der Concierge abgesetzt und strebte zügigen Schrittes auf sein Ziel zu. Streng nach seinem Credo „Immer im Dienst, immer im Auftrag“ nahm er den kürzesten Weg: an der langen wilhelminischen Häuserzeile seiner Straße entlang, dann über die schattige Kastanienallee, vorbei am alten Kino, in dem sich heute Kiefs Kneipe befand, rechts in die Eichendorffstraße und dann am Ende quer durch den Park und über die Holzbrücke des Ententeichs.

Keule lebte in einer kleinen Einliegerwohnung in einem größeren Einfamilienhaus, Parterre, Seiteneingang. Ursprünglich waren die Räumlichkeiten als Büro für den Dachdeckerbetrieb des Besitzers angelegt worden und daher für Wohnzwecke nicht sonderlich günstig geschnitten. Nach der Frühverrentung des Dachdeckers – er hatte auf dem Firstbalken stehend die Motorsäge angeworfen, war ins Straucheln geraten und hatte dabei nicht nur den Balken, sondern auch sein rechtes Bein angesägt – musste irgendwie Geld her, und da die Räume nun nicht mehr gebraucht wurden, baute man sie im Schnellverfahren zu einer Wohnung um.

Vor Keule hatte ein Musiker in der Wohnung gelebt. Dieser sonderliche Vogel hatte auf seinem Briefkopf als Dr. Schmoll firmiert, wobei sich später erwies, dass Dr. für Dirigent und mitnichten für Doktor stand. Mehrere Provinz-Blasorchester waren dieser Täuschung aufgesessen und hatten seine Dienste als Kapellmeister in Anspruch genommen, übrigens immer zur vollen Zufriedenheit der Musiker. Von den Proben und gelegentlichen Auftritten konnte Schmoll aber kaum leben. Außerdem störten ihn die grotesken Uniformen in Gestalt von Husarentrachten des 19. kombiniert mit Perücken des 18. Jahrhunderts, die er bei den Volksfestauftritten zu tragen gezwungen war. Sein ständiger Widerwille erweckte schließlich seine kriminelle Energie: Schmoll verscherbelte erst die Leihinstrumente, die für die Jugendarbeit bestimmt waren. Und weil der Schwund niemandem auffiel, machte er letztendlich alles zu Geld, was er in den Musikvereinen, für die er arbeitete, finden konnte.

Als der Schwindel aufflog, war Dr. Schmoll verschwunden. Gerade noch rechtzeitig, denn einige der kantigsten und entschlussfreudigsten Gesellen der Umgebung tauchten kurz darauf mit unheilvollem Gerät im Gepäck vor seiner Wohnung auf: einem Kübel geschmolzenen Teers und einigen Säcken Bettfedern, gefolgt von einer beeindruckenden, unflätige Parolen skandierenden Menschenmenge mit Fackeln und Trillerpfeifen. Wie sich erst später herausstellte, besaß der Flüchtige offenbar keine Identität. Bei der Einwohnermeldebehörde war er gar nicht erfasst, und die ehrbaren Vermieter hatten es damals in ihrer Ehrfurcht vor dem Briefkopf versäumt, sich eine Legitimation vorlegen zu lassen.

Als die Wohnung dann plötzlich frei wurde, war Keule zur Stelle und griff zu. Er stellte an seine Bleibe keine besonderen Anforderungen. Ein Zimmer mit Kochgelegenheit, warmes Wasser, das reichte ihm, und der Umstand, dass niemand anders dort einziehen wollte, weil durch die Machenschaften Schmolls gewissermaßen ein Fluch auf der Adresse lag, war ihm ganz recht. Er machte sich nichts aus Klatsch und Tratsch in der Stadt.

Keule war Bross’ Faktotum, sein Gehilfe, eine Art Sancho Pansa mit unbedingter Loyalität zu seinem Chef. Beim Dezernat 12, der Abteilung für die ganz harten Aufgaben, war er als freier Mitarbeiter geführt, mit fester Teamzuordnung zu Bross. Wenn man einen Mann fürs Grobe brauchte, einen, der unter der Grasnarbe entlangkroch, der sich durch den Schlamm wühlte und Dreck fraß, dann es Keule, den man hinzuzog. Eigene Entscheidungen mochte man ihm aus gutem Grunde nicht zutrauen; als Assistent von Bross jedoch machte er einen guten Job.

Mittlerweile stand Bross vor Keules Tür und klingelte. Auf dem Weg hatte er ein paarmal vergeblich versucht, sich eine Zigarette anzuzünden, aber nasse Zigaretten lassen sich nun mal nicht anzünden. „Scheiße“, brummelte Bross. Keule öffnete.

„Ah, Chef, da sind Sie ja. Kommen Sie rein. Sie sind ja ganz nass. Komisch. Hier schien bis gerade eben die Sonne. Aber den Mantel müssen Sie nebenan in die Dusche hängen. Den Hut auch. Ist Ihnen kalt?“

„Grrmpf“, machte Bross. Keule verstand. Im Laufe der vielen Jahre ihrer Zusammenarbeit hatte er gelernt zu schweigen, wenn es angebracht war. Und es war verdammt noch mal angebracht, wenn der Chef aus dem Regen kam und eine Scheißlaune hatte, weil er keine hatte rauchen können und ihm das Wasser in den Nacken gelaufen war.

„Was werden wir tun, Chef?“ Keule kam direkt zur Sache, als sie an seinem Wohnschlafzimmertisch saßen. Der Tisch Resopal, die Stühle Rattan, die Schrankwand Gelsenkirchener Barock. Baumarktware, vor allem durch den Lack zusammengehalten. Als Mann fürs Grobe gab es nicht viel zu verdienen.

„Wie nehmen deinen Wagen, Keule. Dann brauchen wir Informationen. Dezernat 12 erwartet uns.“

„Wir sollten hinfahren.“

„Richtig.“

„Und keine weitere Zeit verlieren.“

„Exakt.“

„Der Mann ist extrem gefährlich.“

„Du sagst es. Also, hol’ schon mal den Wagen, Harry.“

„Keule.“

„Ich weiß.“

„Uhrenvergleich.“

„Rolex.“

„Tchibo.“

„Gut. Wir legen los.“

Sie setzten sich ins Auto.

Keule fuhr kurz und heftig an und bremste. Das Dezernat lag direkt um die Ecke, nur ein paar Häuser weiter. Sie waren da.