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Walter Kaufmann
Im Fluss der Zeit

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Walter Kaufmann

Im Fluss der Zeit

Auf drei Kontinenten

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Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
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Meiner Mutter, meinem Vater
– und Rachela Schmeidler

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

1.

Zwei Jahrzehnte liegt das zurück, und doch scheint es mir wie gestern, als wir auf den Alexanderplatz zogen, mit neuen Losungen die Regierung in den Orkus schickten, einen Neubeginn forderten, eine DDR anderer Prägung, und Stefan Heym verkündete, dass endlich ein Fenster aufgestoßen sei für freies Atmen – und nicht lange später fiel die Mauer, klopften Mauerspechte bunte Brocken aus dem Beton, tanzten die Leute in den Straßen, strömten sie zu Tausenden aus dem Berliner Osten in den Westen: Kein Neuland für mich, auch für Rebekka nicht, unbekanntes Terrain aber für Deborah, und für Angela, deren Mutter, und auch für Lissy. Ich spürte Erleichterung, dass sie nun alle in die weite Welt durften, zugleich aber war mir, als hätte ich ein Stück Heimat verloren, und als ich – lange ließ das nicht auf sich warten – an einer Mauer in Lichtenberg den Galgen prangen sah, grellweiß auf roten Ziegeln, an dem die Buchstaben GYSI baumelten, wusste ich, was noch zu verlieren war. Damals fragte ich mich, ob nicht eine Rückkehr nach Australien zu erwägen wäre. Ich überdachte, warum ich in den fünfziger Jahren dieses Land verlassen hatte – hatte es dort keinen Anker gegeben, kein Zuhause, keine Frau, keinen Verlag, der meine Bücher druckte? All das hatte es gegeben … Hier in Berlin, der Stadt mit der zerbröckelnden Mauer, verschwanden binnen kurzem alle Verlagshäuser, die meine Bücher gedruckt hatten. Giganten wie Bertelsmann hatten ihnen den Garaus gemacht. Bücher der Ostverlage lagen stapelweise vor den Buchhandlungen auf dem Pflaster, landeten auf dem Müll, in Kohleschächten, auf Halden und ein Kleintransporter brachte mir etliche Kisten meiner Taschenbücher ins Haus, die die Post nicht mehr vertrieb und die so die Kioske nicht länger erreichten: Am Kai der Hoffnung, Stimmen im Sturm, und ich überdachte, was mich zu meinem Romanerstling motiviert und wann ich ihn zu schreiben begonnen hatte.

Im Jahr 1949 war das, im australischen Melbourne, als ich nach der Veröffentlichung einer Reihe von Erzählungen in der Literaturzeitschrift Meanjin in die Realist Writers’ Group aufgenommen worden war und mit Schriftstellern zusammenkam, die Rang und Namen hatten – dem seit der Kindheit gehbehinderten, und doch agilen und vor allem hochbegabten Alan Marshall, dessen Buch Ich kann über Pfützen springen damals in aller Munde war, dem noch jungen Kriegsveteranen Eric Lambert, der Romane über Dschungel- und Wüstenkriege geschrieben hatte, und Frank Hardy, uraustralisch, trinkfest und gesellig, als yarn spinner unermüdlich, dazu ein Schreibtalent, der mit seinen volksnahen Erzählungen in der Tradition Henry Lawsons stand und bald schon durch seinen streitbaren Enthüllungsroman Macht ohne Ruhm weltweiten Erfolg erzielen sollte. Und zu all dem ein Hasardeur bei Pferderennen war …

Der Name schien wie geschaffen für die schöne, braune Stute – Lady Pirouette. In der umzäunten Enklave, von wo aus die Jockeys die Pferde zum Start ritten, sah ich sie tänzeln, und ich, der ohne jeden Hang zum Glücksspiel war, spürte plötzlich die Lust, all mein Geld auf ihren Sieg zu setzen – Nummer Sieben, Lady Pirouette. Doch dann kriegte mich Frank Hardy zu fassen, mit dem ich zur Rennbahn gekommen war, er, der nun wirklich sein Leben lang ein Spieler gewesen, der Droge Rennsport süchtig verfallen, und der immer aufs Ganze ging. Er tat Lady Pirouette verächtlich ab – Sandwich Lad, ein schwarzer Hengst mit der Nummer Drei, sei der heiße Tipp für den Healesville Handicap. Seitlich von Lady Pirouette bäumte sich gerade ein Pferd unter seinem Jockey auf, ging hoch und preschte dann auf der Trainingsbahn im jähen Galopp davon. »Das ist er«, rief Hardy, und obwohl mich der Anblick des fliehenden Pferdes beeindruckte, behielt ich auch weiterhin Lady Pirouette im Sinn. Ich sah sie vor mir, leichtfüßig und flink, mit wachem Blick, wachen Reaktionen, und dass ich dann doch mein Geld auf Sandwich Lad setzte, zeigte, wie sehr ich Sklave der Vorsicht und wie wenig ich Spieler war. Doch schon als ich Jim O’Leary, dem Buchmacher, das Geld gab, ich ihn den Schein zu all den anderen in die Ledertasche werfen sah, war mir, als hätte ich Lady Pirouette verraten. Und als ich sehr bald nach dem Startschuss durch die Lautsprecher ihren Namen gellen hörte, immer wieder Lady Pirouette, fühlte ich mich bestraft. Von der Tribüne her, über die Köpfe der Menge, konnte ich weit draußen auf der Gegengeraden den Pulk der Pferde ausmachen, die Silhouetten der Jockeys auf gestreckten Pferderücken, doch nicht bis sie in die Zielgerade gebogen waren, erkannte ich, dass die braune Stute mit der Nummer Sieben das Feld führte und jetzt in rasantem Galopp dem Ziel zustrebte. Ich sah den Jockey über ihren Hals gebeugt die Peitsche brauchen, und mir war, als flöge Lady Pirouette wie auf Schwingen dahin, und während hinter dem Pulk der schwarze Hengst Meter um Meter zurückfiel und abgeschlagen auf der Strecke blieb, ging Lady Pirouette mit drei Längen Vorsprung durchs Ziel.

Frank Hardy schwieg, als wir uns nach dem Rennen zusammenfanden. Verschlossenen Gesichts klaubte er eine Zigarette aus der Hemdtasche und strich blind ein Streichholz an. Die Flamme erlosch im Wind und, die kalte Zigarette zwischen den Lippen, fluchte er leise: »Black Satan!«

»Du sagst es«, bestätigte ich ihm, »und es war mir eine Lehre.«

»So«, sagte er. »Wie teuer war denn die?«

Ich wusste, in seinen Augen war der Verlust von fünf Pfund eine Lappalie, mit Erstaunen aber stellte ich fest, dass er ihn ernst nahm.

»Fünf Pfund – die könnte ich jetzt brauchen«, hörte ich ihn sagen.

Er sagte es bitter, fügte nichts weiter hinzu, und dann verließen wir den Rennplatz. Nie hatte ich ihn so schweigsam erlebt, und er blieb es, bis wir uns trennten. Als ich ihn am folgenden Tag besuchen wollte, fiel mir sofort das Schild auf, das über dem Gartenzaun seines Hauses angebracht war – EMERGENCY SALE, Zwangsverkauf. Der Grundstücksmakler, der die Tür öffnete, wollte mir über Frank Hardys Verbleib keine Auskunft geben.1

… und ich traf John Morrison, der in seinen Erzählungen die Arbeitswelt überzeugend gestaltete – Landarbeiter, Gärtner, Hafenarbeiter, am nahesten aber stand mir David Martin, ein ungarischer Jude und Spanienkämpfer, Dichter des berühmten Liedes von der Jaramafront und Verfasser von Romanen, die in Indien, England und Palästina spielten – ein welterfahrener Mann. Wie die anderen meinte auch er, ich solle es noch eine Weile bei der Firma Elite Photos aushalten – schreiben, sagte er, könne man über alles, auch über meinen jetzigen Broterwerb, vorausgesetzt man könne schreiben. »Und überhaupt – als ob du sonst keinen Schatz an Erfahrungen hättest.« Er erinnerte an mein Schicksal in Nazideutschland und an das weit tragischere meiner Eltern. »Und wie deine Erzählung Die einfachen Dinge ahnen lässt, wirst du schon als Junge etwas vom Widerstand gegen Hitler mitbekommen haben. Mach einen Roman draus. Um den schreiben zu können, würde ich an deiner Stelle Gott weiß wie lang Hochzeiten ablichten …« Er nannte keine Regeln außer einer: Fleiß! Bücher zum Thema Nazideutschland lesen, in der Bibliothek Zeitungen wälzen, sich in die Zeit vertiefen, Erinnerungen skizzieren – vor allem aber eine Fabel entwickeln, die den Handlungsablauf und die Auswahl der Personen bestimmen würde. In meine Kladde zeichnete ich einen Bogen, den ich in neun Abschnitte unterteilte: 1930 bis 1939, hielt anhand eines Stadtplans örtliche Besonderheiten von Duisburg fest, den Stadtwald, die Flüsse Rhein und Ruhr, den Hafen, wirklich voran aber kam ich erst, als die Fabel stand. Eine innere Erregung stellte sich ein, ich war zum Schreiben gezwungen, arbeitete zuweilen wie im Rausch, aus dem Unterbewusstsein stiegen Bilder in mir auf, formten sich Dialoge, Begebenheiten, die nüchterne Überlegungen niemals gezeitigt hätten. Unterm bläulichen Schein der Leselampe, in der Stille des Besuchersaals der Melbourner Stadtbibliothek, schrieb ich Seite um Seite, die später mit der Maschine ins Reine zu bringen waren. Und je mehr ich über den Widerstand gegen Hitler erfuhr, je mehr wuchs meine Hochachtung für den Opfermut jener Männer und Frauen. Ich erfand eine Zelle des Widerstands – Gerhart Winkel, Hilde Lipps, Erwin Schmitz, Papa Müller, Lutz Sorgenfrey, alles Arbeiter, und versuchte sie ins Umfeld einer wohlhabenden jüdischen Familie zu bringen, meiner eigenen in Wahrheit, die im Zentrum meines Romans stand. Ich besprach mich mit David Martin, ließ ihn die Fabel bewerten, auch so manchen geschriebenen Abschnitt – und als er sich eines Tages erbot, für mich zu bürgen, sollte ich der Kommunistischen Partei Australiens beitreten wollen, erstaunte mich daran nur, wie er hatte ahnen können, dass mich meine Beschäftigung mit dem Widerstand deutscher Kommunisten dem Gedanken schon nahgebracht hatte. Noch heute sehe ich David Martin, wie er mich, das Kinn mit dem struppigen roten Bart auf die Faust gestützt, durch dicke Brillengläser musterte, leicht schielend dabei und mit einem koboldhaften, irgendwie verschmitzten Lächeln. »Wäre doch an der Zeit«, höre ich ihn sagen, und mich antworten: »Könnte sein«, und gleichzeitig beschließen: erst diesen Berg bezwingen, den Roman vollenden – alles Weitere wird sich finden … Bald jagte ich zum Verdruss meines Arbeitgebers Josef Herz nur noch an Wochenenden den Hochzeiten nach, weit weniger verdienend als zuvor, und als der Roman Voices in the Storm geschrieben und in Zusammenarbeit mit der Realist Writers’ Group in der Australasian Book Society erschienen war, kündigte ich – auf Zeit. Zuhause legte ich wortlos, doch innerlich erregt, das Buch vor Barbara auf den Tisch. Sie schlug es auf, und errötete, als sie die Widmung las. »Ich bin so glücklich für dich.« Ihre Freude brachte mich ihr auf neue Art nah. »Das werden wir feiern – hörst du«, sagte ich. »Aber ja!«, rief sie, und es entsprach ihrem Wesen, es nicht in Gesellschaft tun zu wollen. »Lass mich das machen – es wird ein Fest für uns zwei.«

Die Australasian Book Society hatte die Unterstützung der Gewerkschaften – und so kam es, dass ich zunächst in Melbourne, später in Sydney und in Brisbane auf Lunch Time Meetings in Fabriken, im Hafen und auf Schiffen für den Roman und die Society warb. Ich kam der Arbeitswelt näher denn je in meinem Leben und ich begriff, es waren Linke, oft Kommunisten, die diese Treffen vorbereiteten, mich einführten, zu Diskussionen aufriefen, den Vorträgen den Rahmen gaben. Ich war ihnen verbunden und tat mein Bestes – trug Abschnitte aus dem Roman vor, die hier den größten Sinn machten: über den Widerstand gegen Hitler von Eisenbahnern, Bauarbeitern, Fabrikarbeitern, Schauerleuten im Duisburger Hafen, von Rhein- und Ruhrschiffern, und Schilderungen, wie eine kommunistische Zelle unter tödlicher Gefahr Widerstand leistete. War meine Zeit begrenzt, sprach ich frei und mich erstaunte, was sich alles in wenigen Minuten sagen und bewirken ließ. Die Arbeiter kauften den Roman vom Fleck weg und schrieben sich zahlreich in den Buchklub ein. Es waren aufregende Wochen und ich fragte mich, was mich noch bei Elite Photos hielt. Die Entscheidung fiel nach einer Lesung vor Seeleuten und Schauerleuten auf dem Frachter Dubbo. Auch dieses Meeting hatte kurz zu sein – eine Viertelstunde und nicht länger, und wieder sprach ich frei, blieb aufs Wesentliche konzentriert und machte wohl genügend Eindruck, dass Ted Bull, der Obmann der Hafenarbeiter, ein hochgewachsener Mann mit störrischem braunem Haar, eine geschlagene Stunde mit mir redete. Er wollte wissen, wie ich geldlich klarkam, setzte voraus, dass ich vom Erlös meiner Bücher kaum leben konnte, und schlug vor, mich an den Melbourne Harbour Trust zu vermitteln. »Decksmann auf einem Schleppkahn – leichte Arbeit, viel Zeit zum Nachdenken. Und gutes Geld. Über die Partei kriegen wir das hin.« Er stutzte, als ich ihm sagte, ich sei nicht in der Partei. »Bei dem Roman – mit all dem Widerstand deutscher Kommunisten.« Er wiegte den Kopf, ging dann aber seiner Wege. »Überlege dir das mit dem Harbour Trust«, sagte er noch, »und lass von dir hören.«

Das tat ich sehr bald und gelangte so an Bill Bird, den Gewerkschaftsführer der Seeleute, einen markanten, gut aussehenden Mann mit kurz gestutztem grauen Haar und stahlblauen Augen, die prüfend blickten. »Den Wechsel vom Schreibtisch zum Hafen – trauen Sie sich den zu?« »Was läge an?«, fragte ich, und er zählte es auf. »Beim Bagger festmachen, ablegen, weit draußen im Meer den Schlamm ablassen – per Schwungrad. Was Kraft kostet.« Dann sagte er: »Ein Genosse mehr beim Harbour Trust – wäre gut.« »Bin ich nicht«, erklärte ich ihm, »hat Ihnen Ted Bull das nicht gesagt?« Bill Bird lachte. »Muss ja nicht so bleiben – nach dem, was ich von Ihnen weiß.« Er reichte mir die Hand. »Wenn Sie wollen, mach ich’s klar da unten im Hafen in Williamstown – ab Montag könnte es losgehen. Und nach ein paar Monaten dann – die große Fahrt, rund um Australien, Japan, New Zealand. Wohin auch immer!«

Nach meiner Melbourne-Harbour-Trust-Zeit heuerte ich auf Schiffen mit Namen Dubbo, Aeon, Iron Monarch, River Fitzroy und Fiona an, fünf Frachter an der Zahl in knapp zwei Jahren, in denen wir die Häfen Yokohama, Wollongong, Newcastle, Brisbane, Rockhampton, Launceston und Suva auf Fidschi anliefen. Mal fuhr ich als Decksmann, mal als Kohlentrimmer, und auf der River Fitzroy als Mannschaftssteward, ein Posten, den ich schon in Brisbane abschüttelte, indem ich mich krank meldete. Auf der schrottreifen Aeon und der alten Fiona karrte ich für die Heizer Kohle aus den Bunkern, Knochenarbeit, die nur den einen Vorteil hatte, dass für die Männer aus dem Kesselraum im Hafen weit mehr Freizeit blieb als für die restliche Crew – was wiederum gut für mein Schreiben war. Meine Erzählung Midnight Sailing – es ging um Auseinandersetzungen zwischen Mannschaft und Schiffsleitung – löste heftige Debatten an Australiens Küsten aus, und Call of the Islands hatte nicht nur in Australien Widerhall, sondern unter dem Titel Ruf der Inseln auch in Deutschland und anderen Ländern … Von meinen Schiffsgefährten kommen mir als erste Mick Moran und Bill Hansen in den Sinn. Dem jungen Iren verdankte ich Rückhalt in so mancher Hafenkneipe und der Hüne aus Schweden nahm mich im Kesselraum unter seine Fittiche, bis ich mich eingearbeitet hatte. Und dass ich in Brisbane meinen Posten als Mannschaftssteward schmiss, hatte nicht nur damit zu tun, dass mir die Arbeit zuwider war, mir war auch der hinterhältige zweite Stewart Sam Silvers widerwärtig. Curly Connors und Jim Bates dagegen mochte ich von Anbeginn, ein denkbar ungleiches Paar, der eine wild, der andere sanft – beide waren tüchtige Heizer, die mit einem Minimum an Kohle die Kessel unter Druck halten konnten – was ich zu schätzen wusste, nicht zuletzt auch, weil ich dadurch weniger Asche abzufüllen und an Deck zu hieven hatte: »Good on you, Curly and Jim!«, rufe ich ihnen noch heute im Geiste zu, und sehe sie die Daumen hochstrecken und grinsen …

Absence makes the heart grow fonder – ein zweifelhafter Spruch. Für mich machte er Sinn. Von meiner Frau Barbara getrennt, hatte ich oft Sehnsucht nach ihr, schrieb an Bord lange Briefe und erwartete in den Häfen Post von ihr. Mich beruhigte die Gewissheit, dass es mir an einem Zuhause nie fehlen würde – klaglos war sie mir in Melbourne von Parkville nach Albert Park in ein kleines Apartment gegenüber den St. Vincent Gardens gefolgt, und schweren Herzens, doch ebenso klaglos, nach Sydney, wo sie für uns zwei Zimmer mit Aussicht auf die Hafenbrücke eingerichtet und sich später auf die Suche nach einer neuen Stelle gemacht hatte, die sie schließlich in der Redaktion der Tribune fand. Kurzum, das Wissen um eine Zuflucht machte mir die Plackerei auf den Schiffen erträglich, ließ mich die jeweils sechs Monate durchhalten, zu denen ich mich beim Anheuern verpflichten musste – Zeitspannen, die nur ein Unfall oder eine Krankheit verkürzen konnten. Sechs mal vier Wochen: das waren lange Abwesenheiten, und wer glaubt, ein Seemann habe in jedem Hafen eine Braut, irrt gewaltig. Er hat Kneipen in jedem Hafen, und verdammt großes Glück, wenn ihm in einer davon eine Barfrau zugetan ist – wie es bei Slim Munro der Fall war, der bei jedem Landgang in Wollongong seiner Jean eine rote Rose auf den Tresen legte. Uns anderen erwarteten nur die käuflichen Frauen … So war das an Australiens Küsten. Fast alle Seeleute, die ich kannte, zählten die Tage und Wochen, bis ihr Schiff wieder im Heimathafen einlief. Und weder in Yokohama noch Wollongong, Newcastle, Brisbane oder Rockhampton hießen mich Frauen willkommen, die ihre Liebe verschenkten …

Darling Walter, schreibt Barbara per Adr. MS Dubbo in Newcastle, bald wirst Du wieder bei mir sein. Ich vermisse Dich sehr, lasse mir aber die Zeit nicht lang werden. Denk bloß, seit voriger Woche helfe ich abends im New Theater bei Waiting for Lefty aus – diesem guten Stück von Clifford Odets über Arbeiter im Streik. Von der Tribune-Redaktion gehe ich gar nicht erst in unsere ach so leere Wohnung, sondern gleich hinter die Bühne zur Garderobe – und siehe da, Deine Barbara ist so flink mit der Nadel, dass alle Aufregung sich augenblicklich legt, wenn mal ein Kostüm nicht passt, eine Hose zu lang ist, eine Jacke zu weit. Auch ansonsten gehe ich zur Hand – bis der Vorhang hochgeht, wird überall nach mir gerufen. Gebraucht zu werden tut gut – und dass Du mich brauchst, das hoffe ich, denn ich liebe Dich … always, Your Babsy

Wir hatten befürchtet, es nicht zu schaffen. Die Winde aber waren mit uns und die Dubbo machte schon gegen acht Uhr morgens im Hafen von Sydney fest. Eine Stunde später gingen wir geschlossen von Bord, vierzehn Mann, geschniegelt und gebügelt, und folgten unserem Bootsmann Lou Armstrong – der hatte dem Ersten kurz Bescheid gegeben, dass ein Matrose als Wachmann zur Verfügung stand, sich aber auf keine Diskussion eingelassen, und weg waren wir. Die Offiziere, auch Kapitän Wells, sahen uns mit steinernen Minen nach, rührten sich aber nicht. Es war ein kühler sonniger Morgen im Herbst des Jahres 1954, das weiß ich noch, nicht aber wie der Weg vom Hafen zum Gerichtsgebäude verlief – auf den hatte ich nicht zu achten, den kannte Armstrong, und ich fühlte mich gut unter den Männern, zu denen ich gehörte, seit ich nicht mehr beim Harbour Trust war. Welch ein Unterschied – Decksmann auf einem namenlosen Schleppkahn oder Decksmann auf einem schmucken Fünfhunderttonner. Der Crew auf der Dubbo war ich seit dem Lunch Time Meeting an Bord kein Fremder gewesen, sie hatten meinen Roman Voices in the Storm in der Schiffsbibliothek und mich schon nach kurzer Zeit angenommen – einer, der schreibt, sich aber nicht zu schade ist, das Deck zu schrubben, Rost zu klopfen, Aufbauten zu streichen, und am Ruder auf der Brücke den Kurs zu halten. Beim Harbour Trust hatte ich nichts dergleichen zu tun gehabt, und die vermeintliche Knochenarbeit mit dem Schwungrad war zu schaffen gewesen – bloß, recht eigentlich unter Seeleuten war ich auf dem Schleppkahn nie, im Grunde waren es einsame Monate, denn der zweite Decksmann mit Namen Pit, den alle Pity riefen, war ein spindeldürres Kerlchen von fünfzig, maulfaul und mürrisch. Zeit zum Nachdenken übers Schreiben hatte ich eine Menge, denn die Fahrten vom Bagger ins offene Meer waren lang. Es war ein Dasein an frischer Luft, doch alles andere als gesellig – zugehörig fühlte ich mich erst, seit ich auf der Dubbo fuhr. Und heute, im frischen Herbstwind auf dem Weg zum Gericht, gab es mir Auftrieb, als Mann unter Männern zu sein – gewienertes Schuhwerk, gebügelte Hose, frisches weißes Hemd, und im Revers der Jacke das kleine golden wheel der australischen Seeleutegewerkschaft. Wir waren früh vor Ort und unter den ersten, die ins Gerichtsgebäude gelangten. Nicht viel später war der Zuschauerraum bis auf den letzten Platz belegt, drängten sich an die fünfzig Seeleute auf den Bänken und reckten die Hälse. Um zehn Uhr genau betraten die Richter der Royal Commission den Saal und die Anhörung Bill Birds, den ein abtrünniger Diplomat der sowjetischen Botschaft namens Petrow bei den australischen Behörden der Spionage für Moskau bezichtigt hatte, begann. Er wurde in den Zeugenstand gerufen, wir sahen ihn vor den Schranken stehen, hörten ihn den Richtern seinen Namen sagen und bestätigen, er leite die Seeleutegewerkschaft von Victoria. Von den Fragen, die folgten, beantwortete er aber nur eine: »Waren Sie und sind Sie noch Mitglied der Kommunistischen Partei Australiens?« Er dehnte die Schultern, dass sein Anzug sich straffte, und sagte: »Yes.« Was dem Vorsitzenden nicht passte, der wollte mit »Your Honour« angesprochen werden. Bill Bird setzte neu an. »Yes, Your Honour – and proud of it!« hörten wir ihn sagen und dann verstummte er. Wann und wo er dem Zeugen Petrow begegnet, wann und wie oft er in der Sowjetunion gewesen, wie und mit wem er dorthin gereist sei, welche Auskünfte er in Moskau erteilt und was für Unterlagen er dort überreicht hätte – Bill Bird verweigerte die Aussage. Bis es dem Vorsitzenden reichte und er anordnete, ihn festzunehmen. Die Reaktion im Zuschauerraum war hart und plötzlich. Die Seeleute sprangen auf, durchbrachen die Schranken, hoben Bill Bird aus dem Zeugenstand und trugen ihn auf den Schultern aus dem Gebäude. Weder Gerichtsdiener noch Wachmänner wagten einzugreifen, sie wagten sich auch nicht auf die Straße, wo laut durch ein Sprachrohr zu hören war, dass auch nicht ein Schiff den Hafen von Sydney verlassen würde, sollte Bill Bird verhaftet werden. »Hands off Bill Bird!« Ich sah ihn zwischen den Männern stehen, sah ihn die Hände zu einem Trichter formen, doch was er rief, ging unter im Stimmengewirr – es erklärte sich, als es durch das Sprachrohr schallte: »All hands to the Domain«, und sich alle in Bewegung setzten, um Bill Bird wie ein Mann in die Innenstadt zu folgen, wo auf dem Gelände im Park ein Stop-Work-Meeting angesetzt war – mein erstes, aber nicht das letzte, das ich als australischer Seemann erlebte.

2.

Erst in den frühesten Morgenstunden dieser feuchtkalten Dezembernacht des Jahres 2008 gelangte ich in meine Stadtwohnung am Märkischen Ufer zurück. Das war nach einem Konzert im Kesselhaus der Berliner Kulturbrauerei. Standing room only, und keiner der jungen Leute trat den Heimweg an, ehe das letzte von Hans-Eckardt Wenzels aufwiegelnden Liedern aus Zorn und Liebe verklungen war. Es war gut, dabei gewesen zu sein, und ich schlief fest in der Nacht bis in den Morgen – da aber überfiel mich ein Albtraum: Ich starrte dem Strudel der Schraube hinterm Heck des australischen Frachters Aeon nach, sah, wie sich das Schiff weiter und weiter entfernte. Panik überkam mich, ich schrie und meine Schreie verhallten überm Wasser, und dann sackte ich auf dem Kai zusammen und verstummte – wo war ich, in welchem Hafen? Im Albtraum hatte mir Alan Oliver, der baumlange Bootsmann, von achtern her eine Leine zuwerfen wollen, der Wurf verfehlte mich um viele Meter, war eher Hohn als Hilfe. In Australien war Alan Oliver nie einer meiner Schiffsgefährten gewesen, erst Jahre später, in Rostock, heuerten wir auf dem gleichen Schiff an … Ich zwang mich aufzuwachen, riss mich aus dem Schlaf, jetzt mit allen Sinnen wach, musste ich an jene Willensübertragung denken, die mir den Posten auf der Fiona eingebracht hatte – bei der Musterung hatte ich den Schiffsoffizier so intensiv ins Visier genommen, dass er stutzte, vor mir anhielt und keinen der anderen zwölf Bewerber in Betracht zog. Und tatsächlich, die Reise auf der Fiona zu den Fidschiinseln war für mich die Erfüllung eines Traums. Gauguin, Jack London – und was ich damals an Bord in die schwarze Kladde schrieb, die mein Talisman war, hat bis heute Bedeutung für mich:

Der Mond schwamm hinter Wolken, unendlich fern glitzerten Sterne, im Mangohain aber war es dunkel, der feuchte Boden dämpfte meine Schritte, Frösche quakten, mal schrie schrill ein Vogel, und als ich das Rauschen des Meeres nicht mehr hörte, kehrte ich um und – fand den Weg nicht wieder. Ich hielt inne, wagte weder die eine noch die andere Richtung einzuschlagen, Panik kam in mir auf und die legte sich erst, als ich eine Gestalt wahrnahm, die sich mir näherte. »Talo«, rief ich, »talo, talo.« Es war ein junger Fidschi, der nach meiner Hand griff. Er lachte. Weiß im dunklen Gesicht zeigten sich die Zähne. Willig ließ ich mich führen. Als wir aus dem Mangohain traten, glitt zwischen den Wolken der Mond hervor und warf Licht auf den noch fernen Strand, wo sich die Palmen im Wind wiegten. Laut rauschte die Brandung und bald gelangten wir zu dem Feuer, das ich verlassen hatte. Der junge Fidschi verschwand in der Nacht. Vom Feuer her winkten mir die Männer zu, der Schein des Feuers lag auf ihren Gesichtern. Ich setzte mich wieder zu ihnen, lauschte den Klängen einer Gitarre, die einer anschlug, hörte die Männer und die Frauen singen. Wolken verdeckten wieder den Mond, Schatten fielen, fernab am sichelförmigen Strand leuchteten Feuerzungen auf. Es war angenehm, wo ich saß, die Meereswinde lau. Sie ließen mich teilhaben an ihrem Mahl – geröstete Bananen, frischen Fisch, das Quellwasser, das sie mir reichten, war wie Wein. Dann trank ich von ihrem Kawa, das Getränk berauschte und schärfte zugleich meine Sinne. Es fiel mir jetzt leicht, ihre Gesten, ihr Mienenspiel, ihre Blicke zu deuten, das Lächeln des Mädchens, das Bambusröhrchen mit Garnelen und aus Blättern geformte Kügelchen füllte, die Röhrchen auf die Glut legte und mit einem Stöckchen hin und her bewegte. Sie richtete die Garnelen und Blätter auf einer Holzplatte aus und bot mir davon an. Der alte Mann, der gerade Kawa durch Farnblätter in eine Schale filterte, hielt mir die Schale hin. Und wieder trank ich davon, spürte meine Arme und Beine erschlaffen, ermüdete aber auch jetzt nicht. Überdeutlich sah ich alles um mich her, die Frauen und Männer beim Tanz, auch den jungen Fidschi, der mich aus dem Mangohain gerettet hatte. Er kam auf mich zu, berührte meine Schulter und gab mir einen Walzahn. Den ließ ich in meine Tasche gleiten. Er lachte. »Talo, talo – du mein Freund!« Im Mondlicht sah ich die Fußspuren der Tänzer in der Brandung zerfließen. Neue Spuren formten sich und vergingen. Die Fidschi tanzten bis in die Dämmerung … wer war sie, wie hieß sie, die mir mit hellem Lachen Worte zurief, die ich nicht verstand und doch verstanden habe? Das Mädchen wies auf eine Grashütte, wo wir uns auf einem Lager von Farnen betteten. Sie schlief noch, als ich sie verließ. Das Dorf schlief noch. Ich ging über den Strand zum Meer und schwamm durch die heranrollenden Wellen der Sonne entgegen. Die Brandung trug mich zurück ans Ufer. Weit hinter dem Mangohain hob sich grün die Kette der Hügel gegen den klaren Morgenhimmel ab. Vögel kreisten über dem Hain und der Wind trug mir den Ruf des Hirtenstars zu … 2

Der Traum ist nicht verblasst – aber auch die Erinnerung an ein Hindumädchen nicht, zwölf Jahre jung, das sich in einer Hafenkneipe an einen feisten Schiffskoch verkaufte. Unvergessen auch, dass ein Fidschi über die Reling eines Frachters ins Meer sprang, um sein Dorf zu erreichen, das er aus der Ferne sah, und wie er dann von einem Hai in die Tiefe gerissen wurde … und dass die Inder auf Fidschi für wenig Geld hart schuften mussten und die Polizei mit Wasserwerfern und Gummiknüppeln anrückte, als sie in den Fabriken und auf den Zuckerrohrplantagen zu streiken wagten …

Doch all dem zum Trotz, die Tage und Nächte in den Dörfern der Fidschis, jene kurze Spanne Zeit, die ich zur Crew der Fiona gehörte, wird mir für immer als eine gute Zeit in Erinnerung bleiben. Und weil sie Vertrauen in Mick Moran, ihren Obmann hatten, Vertrauen auch in Männer wie Bill Bird, wuchs auch ihr Vertrauen in mich, den Bücherschreiber, der an Bord aufgetaucht war und dort seine Arbeit wie jeder andere tat und bei Lagebesprechungen Sinnvolles beizutragen wusste – was schließlich bewirkte, dass sie mich gegen Ende der Fidschi-Reise nach Warschau zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten delegierten, wo ich sie vertreten und Berichte für ihre Zeitung Seamen’s Union Journal schreiben sollte. Und das wiederum war mir schon deswegen recht, weil ich nie hatte verwinden können, bei Kriegsende den Dolmetscherposten in einer australischen Armeeeinheit ausgeschlagen zu haben, die auf dem Weg nach Europa gewesen war. Europe, here I come at last

3.

Am Morgen dieses Sonntags im November 2008 hatte ich zum siebzigsten Jahrestag der Nazi-Pogrome auf einer Straßenkundgebung in Moabit einer großen Schar von Zuhörern die Zerstörung meines Duisburger Elternhauses und die Verhaftung meines Vaters geschildert, und wie mich noch kurz vor Kriegsende die Nachricht erreichte, dass beide Eltern nach Theresienstadt verschleppt worden waren – in die Vorhölle von Auschwitz, wo sie ermordet wurden. Am Abend dieses Tages hatte ich mich im stillgelegten Flughafengebäude von Tempelhof eingefunden, wo bei einer Benefizveranstaltung der – wie die öffentliche Erklärung lautete – Reichskristallnacht gedacht werden sollte. Die Veranstaltung stand unter dem Motto Tu was! und man hatte Hélène Grimaud, Menahem Pressler, Thomas Quasthoff und weitere namhafte Künstler dafür gewinnen können. Mir war ein Ehrenplatz zugedacht worden und gleich anfangs bewegte mich das von Hélène Grimaud gestaltete Bach’sche Chaconne – es hätte mir als abendfüllend ausgereicht – natürlich blieb ich, und so erlebte ich neben vielem, wie der greise israelische Pianist Menachem Pressler im Anschluss an seine Beethoven-Interpretationen die deutsche Sprache und die deutschen Tonschöpfer zu loben begann, was ihm, zumal ihm kein Wort der Anklage über die Lippen kam, viel guten Willen einbrachte. Als nach nahezu zwei Stunden die Feierlichkeit zu Ende ging, drängte sich aus den vorderen Reihen die geladene Prominenz die Treppe hoch zu einem kulinarischen Gelage, das geradezu geschaffen war, den Anlass des Abends vergessen zu lassen …

Nachdenklich verließ ich spätnachts das Flughafengebäude und erlebte in der U-Bahn, dass sich aus einer Schar von Glatzköpfigen einer löste, der sich laut über die Zeitung mokierte, die ich unterm Arm trug – die Jüdische Zeitung, auf deren Seite 18 ein Beitrag über mich und meine Bücher zu lesen stand. Ehe ich in Stadtmitte die U-Bahn wechselte, schob ich die Zeitung in meine Manteltasche … wobei mir urplötzlich die Erinnerung kam, dass ich als Zwölfjähriger so vorsichtig nicht gewesen war, als ich zwei SS-Offizieren als Erstes kundgetan hatte, dass ich jüdisch sei – ich war von der zum Halt ausrollenden Straßenbahn gestürzt und hatte mir das Knie verletzt und sie hatten ihren Mercedes angehalten, um mich zu verarzten und sich davon nicht abbringen lassen. »Pflicht ist Pflicht!«, hatten sie mir erklärt und nach geleisteter Hilfe darauf bestanden, mich nach Hause zu fahren. Den entsetzten Ausdruck meiner Mutter sollte ich mein Lebtag nicht vergessen – ihr Sohn in einem schwarzen Mercedes mit SS-Standarte … »Heil Hitler – hier haben Sie Ihren Bengel wieder!« Unter Tränen hatte sie gefragt, was ich denn angestellt hätte, worauf sie ihr geantwortet hatten: »Merken Sie sich eins – Deutsche können zwar hart sein, aber immer gerecht.« Dann waren sie weggefahren, und Mutter und ich hatten uns in den Armen gelegen – so wie ein Jahr später, als ich längst den harten Wind der Zeit zu spüren bekommen hatte. Schilder mit Juden unerwünscht! prangten da schon überall in der Stadt – vor Kaufhäusern, vor den Kinos, am Stadttheater, vor den Eingängen zum Fußballstadion und zur Rennbahn in Raffelberg. Selbst Parkbänke waren uns verboten. Zwar war ich auch weiterhin Sonntag morgens zu Naturfilmen im Mercator Palast gegangen, hatte es sogar gewagt, Karten für die Wagner-Opern Lohengrin und Meistersinger zu kaufen, die ich dann weit oben im vierten Rang erlebte, und ich war auch nach Köln zum Zirkus Sarasani gereist, um dort die Wassernixen im Riesenaquarium zu bewundern. Und doch, wirkungslos waren die Verbotsschilder nicht geblieben, und schon gar nicht die Zeitungskästen des Stürmer mit all den Fratzen und der in jeder Ausgabe wiederholten Behauptung Die Juden sind unser Unglück. All das hatte mich zunehmend aufsässiger gemacht, sogar gegen die eigene Mutter. Und als ich dann bei meiner Bar-Mizwa in der Synagoge aufgerufen wurde, einen Abschnitt aus der Thora vorzutragen, den ich mir mühsam Wort für Wort auf Hebräisch hatte einprägen müssen, ich anschließend in der feierlichen Stille zur Kanzel hochstieg, um den Segen zu empfangen und den Rabbiner raunen hörte: »Sei lieb zu deiner Mutter, mein Sohn«, beschämte mich das derart, dass ich mich abrupt abwandte und quer durch die Synagoge zur Treppe lief, die nach oben zu den Frauen führte. Die Orgel hatte zu spielen begonnen, doch das hörte ich nur noch wie von weiter Ferne, während ich der Mutter wieder und wieder versicherte, dass ich nie, nie … den Rest meiner Worte erstickte sie in der Umarmung.

Die Karten für das Tempelhofer Benefizkonzert waren teuer gewesen – bis zu 140 Euro hatten die vorderen Plätze gekostet. Der Erlös sollte der Freya von Moltke-Stiftung für die gegenseitige Verständigung junger Menschen zugesprochen werden. Beim Anblick der Zuhörer, alles wohlsituierte Leute mittleren Alters, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, unter all den Gästen einer der wenigen zu sein, der persönliche Erfahrungen mit den Nazis hatte – das Grauen, das mich beim Anblick der brennenden Synagoge packte, das Entsetzen, als die Flammen auf das Nebengebäude übergriffen, auf meine Schule, und die Erkenntnis, dass die Feuerwehr nur die anliegenden Gebäude vor den Flammen zu bewahren suchte. Vor der Synagoge in der Düsseldorfer Kasernenstraße hatte sich eine stumm gaffende Menschenmenge versammelt, bald aber war schadenfrohes Gejohle laut geworden – endlich büßten die Juden für den Mord in Paris. Ich wusste, was damit gemeint war – wer wusste in jenen Tagen nicht, dass in Paris ein deutscher Botschaftsmitarbeiter von einem jungen polnischen Juden erschossen worden war. Nur weg von hier, dachte ich, nur weg! Ich sah die Kuppel der Synagoge in die Flammen stürzen, die Flammen aus den zerborstenen Fenstern lodern, sah die Schule lichterloh brennen, ehe ich zur Straßenbahnhaltestelle rannte, von wo aus mich die Linie D von Düsseldorf nach Duisburg bringen würde. Mein Elternhaus erreichte ich in dem Augenblick, als zwei Männer in Regenmänteln und mit breitkrempigen Hüten den Vater die Steintreppe hinunter zur Straße führten. Vaters Blick war nach innen gerichtet – er schien mich nicht wahrzunehmen. Ich wollte etwas sagen, doch als sie ihn in den Mercedes stießen, brachte ich kein Wort hervor. Die Männer zwängten sich neben ihn, einer auf jeder Seite, die Türen wurden zugeschlagen – und dann war Vater fort. Ich lief ins Haus und suchte die Mutter. Nicht lange später hörten wir das Stampfen von Stiefeln auf der Steintreppe, krachend wurde die Haustür aufgebrochen, wir flohen in den Keller, hörten das Poltern über uns, hörten wie in den Zimmern unserer Wohnung die Möbel zertrümmert wurden, laute Stimmen drangen zu uns in den Keller, wieder stampften Stiefel über die Steintreppe, die SS-Männer schienen abzuziehen, ohne nach uns zu suchen – da beruhigte ich mich und ich schwor mir, dass ich eines Tages, eines Tages …

Ich dachte weiter an den Vater, immerzu dachte ich an ihn – wohin hatten sie ihn gebracht, was würde mit ihm geschehen? Es half wenig, dass ich versuchte, mich und die Mutter damit zu beruhigen, er sei doch ein bekannter Rechtsanwalt und früher Offizier im Krieg gewesen, mit Eisernem Kreuz, und Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde … das würde ihn sicher schützen. Sie schwieg dazu, und wohl da schon hatte sie den Entschluss gefasst, am folgenden Morgen im Polizeipräsidium nachzufragen, wo er zu finden sei. Nie vergesse ich, wie wir beide durch die langen Gänge irrten, wo unsere Schritte von den Wänden widerhallten, wir von Tür zu Tür liefen und die Mutter an mehrere anklopfte, ohne auch nur einen Hinweis über Vaters Verbleib zu bekommen, bis endlich ein Beamter in einem der Zimmer den Ort Dachau nannte, was die Mutter erbleichen ließ, und dann standen wir wieder vor dem roten Backsteingebäude und warteten auf die Straßenbahn, die uns zur Mühlheimerstraße bringen würde, von wo es nur ein paar Schritte zu unserem Haus waren … was es mit dem Ort Dachau auf sich hatte, begann ich erst zu ahnen, als nach drei Wochen mein Vater in das verwüstete Haus zurückkam, abgemagert und mit geschorenem Kopf. Er erklärte nichts, sagte nichts, und es brauchte auch keine Worte …

Schreib das auf, schreib es! Aber nicht nur über Vaters Heimkehr und den Tag seiner Festnahme, sondern auch von der guten Zeit würde ich schreiben, die mit meinem Wechsel zur jüdischen Schule in Düsseldorf begann, dem Neuanfang, der lange Straßenbahnfahrten und einen beträchtlichen Fußweg nötig machte – was ich gern auf mich nahm. Denn die neue Schule gab mir Einblicke in jüdisches Leben, jüdische Geschichte und – erstaunlich! – auch in deutsches Kulturgut, von dem ich im Realgymnasium wenig erfahren hatte. Herr Rothstein, mein neuer Deutschlehrer, regte zum Lesen von Dramen an, die ich auf der Bühne nur bei Umgehung von Verboten hätte erleben können – Goethe, Schiller, Kleist, Lessing. Er war mehr als nur ein Kenner, schätzte die deutsche Dramatik sehr, und auch Chaim Stern tat das, mit dem ich die Schulbank teilte. Stets hatte er ein zerfleddertes Reclam-Heft von Goethes Faust bei sich, aus dem er vorlas. Sie beide, Herr Rothstein und Chaim, regten mich zum Nachdenken über den tieferen Sinn jener Dramen an. Wegen seiner Besonnenheit und seines Wissens wirkte Chaim beträchtlich älter als ich, hatte mir aber nur wenige Wochen voraus. Er kam in Bundschuhen daher, kurzen Lederhosen – zünftig, wie ich fand – und in allem wollte ich es ihm nachtun. Und nur weil er aus Deutschland zu fliehen plante, über die Grenze nach Holland, und dann weiter bis nach Palästina, blieb ich zurückhaltend. Denn, früher oder später, würde ich ihn verlieren! Nächstes Jahr in Jerusalem, hatte er mir versichert. Mochte er dabei auch die Achseln gezuckt und beschwichtigend gelächelt haben, mir war klar, er meinte es ernst. Und als er dann eines Tages fehlte, mir ungeheuer fehlte, quälte mich die Befürchtung, seine Flucht könnte misslingen – und ich atmete erst auf, als mich endlich eine Bildpostkarte aus Eindhoven erreichte: Chasak, Schalom, Dein Chaim. Hatte er es bis nach Holland geschafft, würde er es auch bis Jerusalem schaffen – Chaim war auf dem Weg, seinem Weg, und das erleichterte mich sehr, besonders als mir nur wenige Wochen später klar wurde, dass er durch die Flucht seiner Verschleppung entgangen war. Denn wo waren sie plötzlich alle: Heinz Bialik, Itzig Perlson, Manne Spaski, Channele Bernstein und die anderen? Es fehlten an jenem Oktobermorgen sieben Schüler meiner Klasse, und alle waren sie polnischer Herkunft. Und so sehr bangte ich um Miriam Bronski und ihre Eltern, dass ich mich sofort vom Unterricht befreien ließ und nach Duisburg zurückfuhr. Die Tür zur Wohnung der Bronskis hing in den Angeln, kein Glöckchen läutete, als ich eintrat, und in der Schusterwerkstatt beim Fenster stand leer der Schemel. Das Werkzeug lag aufgereiht, und abholbereit auf den Regalen das geflickte Schuhwerk. In der Wohnung war der Tisch geräumt, der Boden gefegt, der siebenarmige Leuchter auf dem Schrank abgestellt … da war ich mir auch über das Schicksal der Bronskis klar. In Miriams Schlafstube fand ich eines ihrer Kleider ausgebreitet überm Bett, doch nirgends eine Nachricht für mich. Mir war, als hätte es uns zwei nie gegeben, nie unsere Ausflüge an die Ufer des Rheins, wo wir den Schleppern nachgeblickt hatten, die auf dem Weg nach Holland waren … Und als ich die Wohnung verließ und die Haustür wieder in die Angeln zu heben versuchte, schlug leise wie zum Abschied das Glöckchen an.

Es war drei Uhr morgens, als Dr. Ruben das Haus verließ. Die Prinz-Albrecht-Straße war still und dunkel, Regen fiel, und der Wind pfiff durch die herbstkahlen Bäume. Ecke Kaiser-Wilhelm-Straße sah er ein parkendes Taxi, und er lief schneller, um es zu erreichen. Der Taxifahrer nickte müde, nachdem er das Ziel vernommen hatte. Der Mann fror, war übernächtigt und warf Dr. Ruben kaum einen Blick zu. Als sie am Hauptbahnhof ankamen, versperrten ihnen Polizisten den Weg. Der Fahrer schraubte das Fenster herunter und fragte: »Was ist denn hier los?«

»Geht Sie nichts an. Bis sechs bleibt die Auffahrt gesperrt!«

Dr. Ruben zahlte und stieg aus. Das Taxi wendete sofort und fuhr rasch weg. Der junge Polizist konnte mit Dr. Rubens Papieren nichts anfangen und gab sie an einen Vorgesetzten weiter. Der prüfte den Inhalt und ließ ihn passieren, dann wandte er sich um und sagte achselzuckend: »Weit kommt der nicht damit, das wird er schon merken!«

Vor der Bahnhofshalle parkten Wagen der SS und mehrere Militärfahrzeuge und eine Reihe Einsatzwagen der Polizei, von deren Dächern Scheinwerfer eine dichte Menge sich drängender Männer, Frauen und Kinder aus dem Dunkel rissen. Reisende, die verstohlen durch die rechte Glastür ein und aus gingen, wagten es kaum, den Kopf zu wenden und sahen zu, dass sie eilig verschwanden.

Zur Befriedigung Oberinspektor Runstedts schien die tags zuvor durch Himmler angeordnete Festnahme aller in Duisburg erreichbaren polnischen Juden reibungslos verlaufen zu sein. Er hatte Wehklagen und Gezeter erwartet, keineswegs diese meist stille Resignation der aus allen Ecken der Stadt auf Lastwagen und Bussen hergeschafften Menschen. Unnötig, dass die SS so herumschrie. Das konnte den Ablauf nur stören. Die Juden wehrten sich ja nicht, waren lediglich bemüht, sich mit ihren Bündeln, Koffern und Schachteln nicht gegenseitig zu behindern, und schienen sich mit ihrem Schicksal abzufinden.

Bald war die Bahnhofshalle vollgepfercht, der Zustrom brach ab. Die linken Eingänge wurden geschlossen, und die SS-Posten zogen Seile, um die Juden von den Schranken und Schalterfenstern zu trennen. Die Befehle verstummten. Dafür begannen Gestapobeamte sich mit Polizeioffizieren zu streiten, die ihrerseits den Bahnhofsvorsteher und andere Bahnangestellte zur Rede stellten. Allgemeine Verwirrung machte sich breit. Offensichtlich stand der Sonderzug nach Polen noch nicht auf dem vorgesehenen Gleis. Ein SS-Führer fauchte etwas von Schlamperei, ja sogar Sabotage.

Inzwischen war es vier Uhr geworden. Die Menschen hinter den Trennungsseilen froren, einige hatten sich Decken um die Schultern gelegt, Koffer waren an die Wand gestellt worden, damit die Alten sich setzen konnten. Man hatte auch versucht, den Kindern notdürftige Schlafstellen zu bereiten. Aus hellwachen, angstvollen Augen blickten sie um sich, nur wenige von ihnen, übermüdet und beruhigt durch den Zuspruch ihrer Eltern, schliefen ein.

Eine kleine Gruppe hatte sich zur Morgenandacht zusammengefunden. Ihr leiser Gesang drang hin zu ihren Bewachern. Die SS-Posten lachten, als sie sahen, dass die Männer die Arme entblößt und Gebetriemen angelegt hatten. Doch die Juden hatten die Gesichter gegen Osten gewandt und blieben im Gebet versunken.

Bei den Glastüren waren viele der jüngeren Juden um einen hochgewachsenen dunkelhaarigen Mann geschart. Mit beherrschter Stimme gab er Rat: »Zusammenhalten, helfen, wo Hilfe nötig ist. Schlome, du wirst Frau Seligs Koffer tragen, Miriam, du kümmerst dich um die kleine Ruth, sie schafft es nicht, ihr Brüderchen allein zu versorgen. Und du, Naomi …«