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SUNDAY, March 15 at 4:41 a.m.

Tim

Blitzeinschlag in Eerie 1976

Ich bin mit diesem Post spät dran, aber dafür habe ich heute einen Knaller für euch da draußen. Diesmal kommt der Hinweis von Lee Bones, und es geht um das Jahr 1976, ein Jahr, in dem wir bislang keine geheimnisvollen Vorkommnisse in Raum 213 finden konnten. Erst 1979 ist mit dem Vorfall der fehlenden Wand der nächste Zwischenfall dokumentiert. Lee ist Gerüchten nachgegangen, die den 28. 10. 1976 betreffen. Damals schlug ein Blitz in den Hauptstromverteiler von Eerie ein, was einen Stromausfall für den Großteil des Countys zur Folge hatte. Zeitungsberichten zufolge war alles lahmgelegt und auch die Eerie High musste für zwei Tage geschlossen werden.

Jetzt frage ich euch: Wie kann es sein, dass am 29. 10. 1976, als kein einziger Haushalt von Eerie Strom hatte, in der Schule elektrisches Licht brennen konnte, und zwar in einem Raum, der laut Schulleitung nie an die Stromleitungen angeschlossen wurde?

Ja, richtig geraten. Ich spreche natürlich nicht von irgendeinem Raum, sondern von Raum 213.

Alles nur Fantasie, Einbildung, Legende, Hörensagen?

Nein! Denn mir ist es wieder gelungen, einen Beweis zu finden. Einmal mehr hat mir Mrs Grayson geholfen, die unsere beste Quelle ist, was die Jahre 1975 bis 1980 angeht. In ihrem Tagebuch ist tatsächlich der Vorfall dokumentiert, den die gesamte Mannschaft der Eerie Hornets beobachtet hat. Und auch wenn eine offizielle Berichterstattung in den damaligen Medien fehlt, beweist das umso mehr, dass die Geschehnisse um Raum 213 unter den Teppich gekehrt werden.

Leute, seht euch vor. Ihr wisst nicht, was noch geschehen kann!

3 COMMENTS:

March 15 at 5:03 a.m.

Lee

Nicht schlecht, Alter. Ich check noch einmal das Fotoalbum von Mr Thompson, der ja damals in der Footballmannschaft war und von dem der Hinweis auf das Jahr kam – vielleicht erhalten wir hier noch mehr Details.

March 15 at 2:14 p.m.

Candyandy

@ Lee: Ich hätte gern ein Date mit dir! In Raum 213! xxx!

March 15 at 11:58 p.m.

MG

Heute das erste Mal über deinen Blog gestolpert. Gute Arbeit, Mann.

March 16 at 15:20 p.m.

Cheerlady

We’re gonna fight to win this game tonight. We’re gonna stump to get over the hump. We’re gonna move to get into the grove! Go, get them, H-O-R-N-E-T-S!

March 18 at 11:55 p.m.

Anonymous

Ich habe euch schon einmal gewarnt. Lasst die Finger von Raum 213. Ihr haltet das für einen Spaß, aber es bringt nichts als Unglück. Der Raum vergisst nie etwas. Und er verzeiht nicht.

1

Eigentlich gab es hauptsächlich eine Sache, die mich von anderen Mädchen meines Alters unterschied und mich zu etwas Besonderem machte. Ich bekam jede Tür auf – nicht im Sinn von öffnen, sondern im Sinn von aufbrechen. Es war eine Fertigkeit, die ich nie mehr missen wollte, auch wenn das meiste, was man damit anfangen konnte, illegal war. Mein Dad war damals auf die Idee gekommen und er hatte auch mit mir die ersten Schlösser geknackt. Später hatte ich mir jedes Internet-Tutorial angesehen, das es zum Thema Lockpicking gab, und Tag für Tag verbissen geübt, bis ich ein Türschloss mit mittlerem Sicherheitsgrad in weniger als einer Minute aufbekommen konnte.

Deshalb war das, was jetzt vor mir lag, zwar kein Kinderspiel, aber auf jeden Fall machbar.

»Hey, beeil dich, Amber. Wenn das noch länger dauert, piss ich mir in die Hose.«

Tim, mein Buddy seit dem Kindergarten, 16 Jahre alt und ein ziemlicher Angsthase, schien mit der Gruselatmosphäre um uns herum nicht ganz klarzukommen. Kein Wunder, es war mitten in der Nacht und unsere Schule, die Eerie High, machte ihrem Namen alle Ehre. Hier draußen vor dem Haupteingang war es gespenstisch dunkel und Liams Taschenlampenlicht wirkte in der schwarzen Nacht wie ein Raumschiffscheinwerfer in der Weite des Alls. Außerdem war es für Mitte März eisig kalt.

Ich trug Handschuhe mit halben Fingern, doch ich musste trotzdem schnell arbeiten, denn bald würde ich meine Fingerkuppen nicht mehr fühlen. Einzig auf das Gefühl kam es beim Türenknacken an, das wusste ich aus Erfahrung.

»Geduld«, sagte ich. Ich nahm den nächsten Pick aus meiner kleinen Ledertasche und probierte vorsichtig, die Stifte zu bewegen. Ich schloss die Augen, versuchte, mich in das Schloss einzufühlen und zu spüren, wann ich den Pick drehen musste.

Fast im selben Moment hörte man ein sattes Klacken.

Ich musste grinsen und klatschte mit Liam ab, der hinter Tim gestanden und mir zugesehen hatte.

»Bist die Beste, Am«, sagte er und lächelte mich auf die typische Liam-Art an, die mir selbst hier draußen das Gefühl gab, das schönste und begehrenswerteste Mädchen der Stadt zu sein. Während Tim die Rolle des ewigen Angsthasen in unserem Trio übernahm, war Liam so etwas wie der heimliche Anführer, wozu seine schmale, hochgewachsene Figur mit dem fein geschnittenen Gesicht blendend passte.

Und ich? Wer ich war, wusste ich nicht. Ich war noch nie gern in eine Schublade gesteckt worden. Früher schon nicht, und nach dem, was letztes Jahr passiert war, würde ich wahrscheinlich auch nie wieder in eine passen.

»Kommt schon.« Liam hatte die Tür aufgedrückt, während Tim sich die Farbdosen schnappte. Gemeinsam huschten wir in die Eingangshalle und ich zog die Tür wieder hinter uns zu. Liams Taschenlampe glitt über den Hallenboden bis zum Hauptkorridor. Es roch merkwürdig hier drin, tagsüber fiel das gar nicht so auf, aber nachts kam es mir plötzlich ekelerregend vor. Eine Mischung aus Pubertät, Angstschweiß und Langeweile. Eau de Schule.

Leise huschten wir weiter. Der Hausmeister wohnte nicht in dem Gebäude, deswegen war die Wahrscheinlichkeit, hier drin erwischt zu werden, nicht besonders groß. Draußen vor der Tür – das war der Moment gewesen, in dem wir am meisten hatten fürchten müssen, gesehen zu werden. Aber auch drinnen galt: Es war zwei Uhr nachts und wir waren unerlaubt in die Schule eingedrungen. Also mussten wir dafür sorgen, dass wir hier möglichst unerkannt wieder rauskamen.

Das Lehrerzimmer lag im Erdgeschoss. Wir passierten das Treppenhaus und bogen in den Korridor ein, wo die Spinde standen. Das Licht von Liams Taschenlampe wanderte über den zerkratzten Fußboden und der Schulgeruch knotete mir den Magen zusammen. Aber ich spürte auch das angenehme Kribbeln des Adrenalins. Andere hätten es bescheuert gefunden, nur für einen Schulstreich einen Verweis zu riskieren, aber darum ging es mir gar nicht. Es war bizarr, dass gerade ich diesen Kick, den Kitzel der Aufregung, brauchte, wo ich doch in meinem Leben schon genug davon erlebt hatte. Aber so war es nun mal. Vielleicht, weil es mir leichterfiel, die ungewollten Bilder aus dem Kopf zu verdrängen, wenn ich in Bewegung blieb.

»Vorsicht!«, zischte Tim und blieb stocksteif vor mir stehen. Fast rannte ich in ihn hinein, doch ich konnte im letzten Moment noch abbremsen.

»Was ist denn?«, flüsterte Liam ungeduldig von vorn.

»Da war was. Ein Geräusch!«

Wir hielten den Atem an. Es herrschte eine Stille, wie sie nur mitten in der Nacht herrschen kann, noch dazu in einem riesigen menschenleeren Gebäude.

»Unsinn!«, zischte Liam und zog eine Grimasse. »Hier drinnen ist keiner. Außer natürlich das Raum-213-Monster. Das lauert schon, um dich zu holen.«

»Genau«, kicherte ich aufgekratzt.

Um Raum 213 rankten sich in unserer Schule krasse Legenden, es hieß, dass das Zimmer das Böse anzieht und es dort spukt und so weiter. Selbst Lehrer und sogar die Schulleitung sollten angeblich daran glauben, jedenfalls wurde der Raum nicht für den Unterricht genutzt und war immer verschlossen.

Liam und ich lachten darüber, aber Tim war von allem, was Raum 213 betraf, geradezu besessen. Er versuchte ständig, uns davon zu überzeugen, dass mit dem Zimmer etwas nicht stimmte. Er führte sogar einen Blog, der detailliert aufzählte, was angeblich in dem Klassenzimmer schon alles passiert war, und die Liste war gar nicht mal kurz.

Tatsächlich war letztes Jahr ein Mädchen in dem Zimmer gestorben, als Schüler der Abschlussklasse dort trotz Verbots eine Party gefeiert hatten. Ich weiß noch, welche Hölle am nächsten Tag an der Eerie High losgebrochen war. Aber was sonst noch auf Tims Seite stand, war teilweise zu abgedreht und verrückt. Fringe war harmlos dagegen. Und jedes Mal fragte ich mich, wie ein ernsthafter Typ wie Tim auf so etwas reinfallen konnte. Das war ähnlich wie mit den Verschwörungstheorien um 9/11 oder Area 51. Wenn man sich die Fakten zurechtrückte, wie man es gerade brauchte, klang alles glaubwürdig. Meiner Meinung nach war Tim zu schlau, um tatsächlich an den Unsinn zu glauben.

Jetzt stand er noch immer mit schief gelegtem Kopf neben mir und lauschte. »Ich habe sicher etwas gehört«, wiederholte er, doch Liam und ich schüttelten nur den Kopf. Ich nahm Tim an der Hand und zog ihn mit mir.

»Beeilung, Jungs«, sagte ich und meinte es auch. Wir sollten uns nicht länger als nötig hier aufhalten und vor uns lag viel Arbeit. Wir wollten mit unseren Spraydosen das Lehrerzimmer, na ja, sagen wir mal, verschönern.

Nebeneinander bogen wir in den Gang ein, der vom Hauptkorridor hinüber zum Lehrerzimmer führte. Für Schüler war der Zutritt dort verboten. Es gab ein Sekretariat und ein Lehrersprechzimmer, aber das Lehrerzimmer war gleichzeitig der Pausenraum der Lehrer und damit für uns tabu. Wobei ich mich immer fragte, wovon die denn wohl Pause machen mussten.

Liams Chucks verursachten ein quietschendes Geräusch auf dem Linoleum und Tim atmete ein bisschen zu laut. Aber es war immer noch so still in dem Gebäude, dass mir jetzt doch eine Gänsehaut über den Rücken lief. Als ob wir völlig allein auf der Welt wären. Ich tastete in meiner Tasche nach meinen Picks und dem Spanner. Das Lehrerzimmer würde mich nur ein paar Sekunden kosten, das Schloss würde ein Klacks im Vergleich zu dem der Eingangstür sein. Viel Zeit hatten wir allerdings auch nicht, wenn wir unser Gemälde heute Nacht noch fertigstellen wollten.

Liam schien den gleichen Gedanken zu haben, denn er beschleunigte seinen Schritt. Ich sah den Kegel der Taschenlampe über den Korridor gleiten, an dessen Ende sich das Lehrerzimmer befand, und dann war ich es plötzlich, die erstarrte. Der Schreck zuckte durch meinen Körper, hinter mir holte Tim keuchend Luft.

Im Schein der Taschenlampe sahen wir es ganz deutlich. Wir brauchten das Schloss gar nicht zu knacken. Es war brutal aufgebrochen worden und die Tür zum Lehrerzimmer stand sperrangelweit offen.

21. März 1991

»Nein, nein, nein, nicht den pinkfarbenen Lippenstift. Das ruiniert das ganze Outfit.«

Nicole machte einen Kussmund und musterte ihre grellrosa geschminkten Lippen. Ja, Lindy hatte recht. Sie beugte sich über ihren Kosmetikkoffer und kramte nach dem Chanel-Lippenstift. Der goldene Schimmer des Lippenstifts passte perfekt zu den goldumfassten Knöpfen ihres Kleides, das auf dem Bett bereitlag.

Ein Abend in Venedig war das Motto des diesjährigen Charityballs, den die Eerie High im März zugunsten einer Kinderklinik in Providence veranstaltete, und Nicole spürte, wie ihr das Herz vor lauter Aufregung in der Brust hämmerte.

»Ich wünschte, meine Mum wäre auch so großzügig«, sagte ihre beste Freundin Lindy sehnsüchtig und streichelte den Samtstoff mit den goldenen Applikationen.

»Aber du siehst doch toll aus«, sagte Nicole. Und das stimmte. Lindy trug ein schlichtes weißes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte und ihr fantastisch stand, weil sie so groß und schlank war. Sie hatte es mit einer Federboa aufgepeppt, aber der eigentliche Hingucker war ihre venezianische Maske – eine prächtige Porzellanmaske, die sie in einem Antiquitätengeschäft in Providence aufgetrieben hatte und die man mit einem Band um den Kopf trug. Sie bedeckte das gesamte Gesicht. Wenn Lindy sie aufsetzte, sah sie fremd und trotzdem auf faszinierende Art wunderschön aus.

»Soll ich dir die Haare flechten und hochstecken?«

Nicole nickte. Lindy war eine Zauberin, was Frisuren anging, und auch wenn Stephen offene Haare lieber mochte, war ihr heute nach Rebellion.

Sie setzte sich vor ihren Hollywood-Schminkspiegel mit den bunten Glühbirnen, den sie sich letztes Weihnachten gewünscht hatte. »Was zieht Dylan denn eigentlich an?«

Lindy zuckte mit den Schultern, griff nach der Haarbürste und begann, mit langen, geraden Strichen Nicoles Haare zu bürsten. »Er hat gesagt, ich soll mich überraschen lassen«, erwiderte sie und hielt verträumt inne. »Ach, Nicki, ich kann es immer noch nicht fassen, dass er mich gefragt hat.«

Nicole suchte im Spiegel den Blick ihrer Freundin. »Na, ich finde, es wurde langsam Zeit. So, wie er dich die letzten Wochen angesehen hat …«

»Meinst du wirklich?«

Nicole lächelte. »Süße! Ja, doch. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«

Lindy seufzte und teilte Nicoles dichtes Haar in Strähnen auf. »Ich hoffe nur, dass er heute Abend …«

Den Rest des Satzes ließ sie in der Luft hängen, aber Nicole wusste auch so, was sie meinte. Sie wünschte sich genauso sehr, dass das mit Lindy und Dylan etwas Festes werden würde. Sie selbst war mit ihrem Freund Stephen nun schon fast ein Jahr zusammen, für Highschool-Verhältnisse eine Ewigkeit. Es wäre schön, wenn sie beide sich zusammen mit Lindy und Dylan zu Doppeldates verabreden könnten. Im Moment war es immer etwas mühsam, Lindy und Stephen zusammenzubringen, die beiden mochten sich nicht sonderlich, und Stephen schaffte es sogar, auf ihre beste Freundin eifersüchtig zu sein. Vielleicht würde das besser werden, wenn Lindy erst einen festen Freund hatte.

Nicole betrachtete sich im Spiegel und versuchte, sich mit Stephens Augen zu sehen. Herzförmiger Mund, runde volle Lippen, etwas zu große Augen. Und dann dieser Makel, den sie nie loswerden würde – die verschiedenfarbigen Augen. Eins leuchtend blau, das andere tiefbraun. Irgendeine Art von Genmutation, ihre Grandma Tilda hatte das auch gehabt. Früher hatten sie die Jungs in der Klasse immer damit aufgezogen, doch inzwischen sorgte Stephen dafür, dass keiner mehr ein Wort darüber verlor.

Sie seufzte. »Ich wäre auch mit Jeans zum Ball gegangen, wenn meine Mum mir diese Kontaktlinsen gekauft hätte, von denen ich neulich gelesen habe«, sagte sie sehnsüchtig. »In der Seventeen stand, dass Julia Roberts in Pretty Woman farbige Kontaktlinsen getragen hat.«

»Unsinn.« Lindy als glühende Julia-Roberts-Verehrerin war ehrlich entrüstet. »Julia Roberts’ Augen sind auch ohne Kontaktlinsen toll, wie übrigens deine auch. Jedes Mädchen in der Schule beneidet dich darum, weil sie dein Gesicht so besonders machen.«

»Wer’s glaubt«, sagte Nicole und seufzte wieder.

»Fertig!« Lindy steckte die letzte Haarklammer fest und wirbelte zum Bett herum. »Los, jetzt noch das Kleid. In fünf Minuten werden wir abgeholt.«

Nicole drehte sich zu ihr um, streifte die Hose und das Shirt ab, das sie bisher getragen hatte, und ließ sich von ihrer Freundin in das Ballkleid helfen. Es fühlte sich kalt und schwer auf ihrer bloßen Haut an. Sie glitt in die Ärmel, und Lindy breitete den Rock um sie herum aus, bevor sie die kleinen Knöpfe schloss, die das Kleid im Rücken schlossen.

»Perfekt.« Lindy nahm sie an der Hand und zog sie hinüber zum Spiegel. »Na, was sagst du?«

Nicole sog die Luft ein. Eine Fremde starrte sie aus dem Spiegel an. Das enge Mieder aus Samt mit den goldenen Applikationen betonte ihr Dekolleté, während der blaue Rock sich weit um sie herum bauschte. Ihre Haare waren locker zurückgenommen und in dicken Schnecken auf dem Hinterkopf zusammengesteckt. Einige blonde Strähnen umrahmten ihr Gesicht und ihr Hals wirkte lang und grazil.

Lindy fasste ihre Freundin von hinten an den Schultern. Ihre Blicke begegneten sich und sie mussten beide lächeln. Sie hätten nicht unterschiedlicher sein können, Lindy mit ihren kurzen roten Haaren und dem schmalen Kleid – Nicole mit der ausladenden Ballrobe und der klassischen Frisur. Aber sie wussten es beide.

»Wahnsinn«, flüsterten sie wie aus einem Mund. »Wir sehen toll aus.« Und Nicole fügte hinzu: »Das wird unser Abend, Lindy. Das verspreche ich dir.«

Ihre beste Freundin sah sie neugierig an. »Wird es dann vielleicht auch der Abend?«

Nicole runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«

Lindy blickte sich um und griff nach ihrer Abendtasche, die sie auf dem Schminktisch abgelegt hatte. »Na, du weißt schon. An dem ihr es endlich … na ja, tut.«

Nicole schüttelte den Kopf und ersparte sich eine Antwort. Wie oft sollte sie Lindy noch sagen, dass sie sich nicht so weit fühlte? Es war schlimm genug, immer wieder Stephen erklären zu müssen, dass sie mit dem ersten Mal noch warten wollte. Nicht bis zur Ehe, ganz so konservativ war sie nicht, aber trotzdem – bestimmt nicht in der nächsten Zeit und schon gar nicht heute Abend. Abgesehen davon wusste sie auch nicht, ob Stephen wirklich der Richtige war. Er war süß und fürsorglich und las ihr jeden Wunsch von den Lippen ab. Doch in letzter Zeit vermisste Nicole das Herzklopfen vom Anfang ihrer Beziehung. Oder, nein, das Herzklopfen war schon noch da. Aber es galt nicht mehr Stephen, wenn sie ehrlich war.

Sie unterdrückte ein Seufzen.

Lindy, die bisher nichts von Nicoles geheimsten Wünschen ahnte, interpretierte den Gesichtsausdruck ihrer Freundin falsch. »Tut mir leid, das wollte ich nicht«, sagte sie rasch und legte den Arm um sie. »Keine Sorge, von mir aus kannst du Jungfrau bleiben, bis du alt und vertrocknet bist. Hauptsache, du bist glücklich, Süße.«

Es klingelte unten an der Haustür. Schnell lief Lindy zum Fenster und schaute hinaus.

»Das ist Dylans Wagen«, sagte sie aufgeregt. »Oh, Nicole, meinst du wirklich, ich sehe gut aus?«

»Ja«, erwiderte Nicole. »Du siehst einfach fantastisch aus.« Sie bot Lindy ihren Arm. »Bereit?«

Ihre Freundin nahm ihre Maske vom Bett und schob sie sich über ihr Gesicht. Wieder staunte Nicole, wie anders ihre Freundin damit aussah. Viel erwachsener. Und irgendwie hatte die Maske auch etwas … Unheimliches.

»Eerie High, wir kommen!«

Gemeinsam schritten sie langsam die Treppe hinunter.

»Oh, Nicole, wie wunderschön!« Ihre Mutter wartete am Fuß der Treppe, während ihr Vater gerade aus dem Wohnzimmer kam, die Kamera in der Hand. »Und du genauso, Lindy.«

Dylan wartete schon in der Haustür. Er trug einen roten Dufflecoat über seinem Anzug. Nicole dachte noch, dass der Mantel irgendwie unpassend wirkte, als Lindy ihn schon anlachte und sagte: »Das ist der Mantel des Zwergs aus Wenn die Gondeln Trauer tragen, oder?«

Nicole schaute ihre Freundin verständnislos an, da klärte Dylan sie auf. »Das ist ein berühmter Film, der in Venedig spielt.«

»Berühmt und vermutlich uralt«, seufzte Nicole. Oje! Lindy und Dylan waren wirklich wie füreinander geschaffen. Und sie schienen das auch zu wissen, so verliebt sahen sie sich an.

»Wo bleibt denn Stephen?«, erkundigte sich Nicoles Mutter, da hörten sie schon ein Hupen und im nächsten Moment sprang Stephen über das Gartentor, eine Rose in der rechten Hand. Er sah fantastisch aus, blond und groß, mit schmalen Hüften. Nicole wusste, dass die meisten Mädchen sie um ihn beneideten. Klug war er obendrein. Warum war sie dann in letzter Zeit so unzufrieden? Sie verstand es selbst nicht.

Gleich darauf stand er auch schon vor ihr. Für einen Augenblick musterte er sie stumm von oben bis unten.

»Was sagst du?«, fragte sie ein wenig ungeduldig, aber als sie seine Antwort hörte, stieg ihr vor Freude die Röte ins Gesicht.

»Du bist so schön, Nicole«, sagte er, und seine Stimme klang rau. »Ich kann nicht glauben, dass all diese Schönheit mir gehört. Mir allein.«

2

»Was ist denn hier passiert?« Liam pfiff leise durch die Zähne.

Ich drängte mich an ihm vorbei. Im Lehrerzimmer sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.

Die Fächer, in denen normalerweise die Post der Lehrer lagerte, waren allesamt heruntergerissen worden, die Papiere lagen in einem großen unordentlichen Haufen auf dem Fußboden. Ein niedriger Schrank mit Unterrichtsmaterial war aufgebrochen worden, auch hier hatte sich niemand Mühe mit dem Schloss gegeben, sondern es mit brutaler Gewalt zerstört. Einzelne Unterlagen waren einfach herausgerissen worden, um sie dann achtlos auf den Fußboden fallen zu lassen. Vor den Einzelplätzen mit den Laptopanschlüssen waren die Stühle umgeworfen und zwei Papierkörbe umgestoßen worden. Nur die Sitzgruppe in der Ecke mit den beiden Sofas und den Sesseln schien unberührt.

»Sieht so aus, als ob uns jemand mit dem Streich zuvorgekommen ist.«

»Quatsch.« Tim schüttelte entschieden den Kopf und hockte sich auf den Boden. »Das ist kein Streich. Das ist ein echter Einbruch. Mit Vandalismus. Hier hat einer richtiggehend gewütet.«

Bei mir im Kopf schrillten alle Alarmglocken. Gewalttätiger Einbruch, das war für mich nicht irgendein Wort aus einem Hollywoodfilm. Und Vandalismus bedeutete etwas ganz anderes für mich.

Liam hatte die Ruhe weg. »Tim! Was gibt es denn bitte schön in einem Lehrerzimmer zu klauen? Vielleicht diamantenbesetzte Füllfederhalter?« Er ging langsam durch den Raum.

Tim antwortete nicht. Er hockte noch immer am Boden und seine Augen waren geweitet. Jetzt schüttelte er den Kopf, nahm ein Papier in die Hand und vertiefte sich in den Inhalt.

Das gab es doch nicht. Der Kerl las, als würde es nichts Wichtigeres im Leben geben! Kapierte er denn nicht, was hier los war? Wenn wir erwischt wurden, dann sah die Sache verdammt schlecht für uns aus.

Ich rannte zurück zur Tür und spähte in den Korridor. Nichts zu sehen, nur Dunkelheit. Schwarz, schwarz, schwarz. Und kein Geräusch war zu hören, bis auf ein ganz schwaches hohes Pfeifen, das vielleicht von der Heizung kam oder so. Vielleicht existierte es aber auch nur in meinem Kopf. So oder so ging es mir auf die Nerven, die sowieso bis zum Zerreißen gespannt waren. Wer war in das Lehrerzimmer eingebrochen? Und wo war er jetzt?

»Liam, Tim, bitte!«

Die beiden sahen hoch, und etwas in meiner Stimme hatte ihnen wohl klargemacht, in welchem Gemütszustand ich mich befand.

»Okay, wir brechen ab«, flüsterte Liam. Er hatte gerade den zerstörten Schrank inspiziert und richtete sich wieder auf. »Das ist zwar scheiße, aber besser, wir hauen rechtzeitig ab, als wegen etwas von der Schule zu fliegen, das wir nicht getan haben.«

Oh Mann, komplizierter konnte er es wohl nicht ausdrücken. »Kommt schon! Nichts wie raus hier.«

Aber ausgerechnet Tim war es, der den Kopf schüttelte. »Seht euch das an«, sagte er. Er hatte ein paar Papiere in der Hand. »Was hat das hier zu suchen? Das sind Ausdrucke von meinem Blog. Schaut mal, der Lageplan von Raum 213, Zeitungsberichte über Geschehnisse dort, das Statement der Schulleitung von 2008, der Plan der fehlerhaften Anschlüsse der Strom- und Wasserversorgung. Und das hier, das ist …«

Strom und Wasser waren mir gerade so was von egal. Alles in mir schrie danach, hier rauszukommen.

»Tim, glaubst du wirklich, das ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um sich über Raum 213 zu unterhalten?«

»Komm schon«, drängte auch Liam.

»Ihr versteht nicht …« Tim schüttelte wieder den Kopf, aber dann rappelte er sich widerwillig auf, bückte sich doch noch mal, wählte ein Papier aus und stopfte es in seine Hosentasche.

Ich hatte nicht den Nerv, mich darüber weiter aufzuregen, ich wollte nur nicht erwischt werden. Ungeduldig drehte ich mich um, da hörte ich es.

Ein Klirren.