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Wissenschaftliche E-Book-Reihe, Band 11

Originalausgabe

Herausgeber:

Vertrieb: www.jugendkulturen.de

Lektorat: Gabriele Vogel

Die Wissenschaftliche Reihe im Archiv der Jugendkulturen

In der Wissenschaftlichen Reihe publiziert das Archiv der Jugendkulturen seit 2007 zudem qualitativ herausragende wissenschaftliche Arbeiten zu jugendkulturellen Zusammenhängen. Die Arbeiten werden von fachkundigen GutachterInnen gelesen und vor der Veröffentlichung professionell lektoriert. Da pro Jahr von 20 - 25 eingereichten Arbeiten nur zwei veröffentlicht werden, kann bereits die Aufnahme in den Verlagskatalog als Auszeichnung verstanden werden. Doch für die AutorInnen lohnt sich die Veröffentlichung auch materiell. Die Archiv der Jugendkulturen Verlag KG verlangt von ihren AutorInnen keinerlei Kostenbeteiligungen! Im Gegenteil: AutorInnen, deren Arbeiten wir in unserer Wissenschaftlichen Reihe veröffentlichen, erhalten bereits für die Erstauflage ein Garantiehonorar von 2.000 Euro!

Seit 2011 wird diese Reihe durch eine elektronische Schwester ergänzt. Denn immer wieder mussten wir hervorragende Manuskripte ablehnen, da ein kleiner Verlag wie der unsrige sich nicht mehr als zwei wissenschaftliche Titel mit den gesetzten Qualitätsstandards (großformatige Hardcover, alle Bände sind reichlich illustriert, oft in Farbe) und dem bewusst sehr niedrig angesetzten Ladenpreis (um möglichst viele Menschen zu erreichen) leisten kann. Die E-Book-Reihe soll dieses Manko nun ausgleichen. Was für die Printreihe gilt, gilt auch für unsere E-Books: Sie werden ebenfalls unter der Fülle eingereichter Arbeiten sorgfältig ausgewählt und lektoriert, die AutorInnen erhalten ein kleines Garantiehonorar und werden am Umsatz beteiligt.

Das Archiv der Jugendkulturen e.V.

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Weitere Infos unter www.jugendkulturen.de

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Diplomarbeit

Untersuchungen zum Sprachgebrauch
im Dancehall auf
Martinique, Guadeloupe und im frankokreolophonen
Sprachraum

02.06.2009

Erstgutachter: Prof. Dr. Guido Mensching
Zweitgutachter: Prof. Dr. Peter Stein
Inhaltliche Betreuung: Prof. Dr. Peter Stein

Sabine Kirchleitner

Diplom-Studiengang Frankreichstudien

sabine.kirchleitner@googlemail.com

Fachbereich Philosophie und

 

Geisteswissenschaften

 

Institut für Romanische Philologie

INHALT

1 EINLEITUNG

2 BEGRIFFSKLÄRUNG

2.1 DANCEHALL ALS MUSIKALISCHES GENRE

2.2 KREOLSPRACHEN

3 MUSIKALISCHE ANALYSE

3.1 ENTSTEHUNG: URSPRÜNGE IN DER KARIBIK

3.1.1 Afrikanische Wurzeln und Kolonialherrschaft

3.1.2 Musikalische Entwicklung nach Abschaffung der Sklaverei

3.2 VERBREITUNG UND ENTWICKLUNG DES DANCEHALL

3.2.1 Vorstufe: Reggae auf Guadeloupe und Martinique

3.2.2 Entwicklung und Etablierung des Dancehall

3.3 VERGLEICH DER AKTUELLEN REPRÄSENTATION: JAMAIKA – GUADELOUPE UND MARTINIQUE

3.3.1 Stilistischer Vergleich

3.3.2 Thematischer und inhaltlicher Vergleich

3.3.2.1 Dancehall-interne Charakteristika

3.3.2.2 Soziale Themen

3.3.2.3 Rude Bwoys und Gun Talk

3.3.2.4 Slackness

4 SPRACHLICHE ANALYSE

4.1 DANCEHALL ALS GATTUNG DER ORALLITERATUR

4.1.1 Formula

4.1.2 Stilmittel

4.1.3 Selbstinszenierung

4.2 SPRACHLICHE INNOVATIONEN UND VERÄNDERUNGEN

4.2.1 Probleme der schriftlichen Fixierung

4.2.2 Phonologie

4.2.3 Lexik

4.2.4 Semantik

4.2.5 Morphosyntax

4.3 MEHRSPRACHIGER TEXTCHARAKTER

4.3.1 Annäherung Französisch und Kreol

4.3.2 Trilinguale Ebene: Code-Switching und Code-Mixing

5 SCHLUSSBEMERKUNG

QUELLENVERZEICHNIS

BIBLIOGRAPHIE

ELEKTRONISCHE QUELLEN

VIDEOGRAPHIE

INTERVIEWVERZEICHNIS

DISKOGRAPHIE

ANHANG

GLOSSAR

SONGTEXTE

1 Einleitung

Dancehall ist als in Jamaika entstandenes Musikgenre heute international bekannt und zeigt deutliche Präsenz in den Medien nahezu aller Kontinente, einerseits durch die jamaikanischen InterpretInnen, andererseits durch mittlerweile zahlreiche ImitatorInnen des Musikstils in verschiedenen Ländern. Dancehall bildete sich als Ausdrucksform der urbanen jamaikanischen Kultur, es handelt sich hierbei um ein komplex aufgebautes Genre, das sich vieler verschiedener, nur ihm eigener Verhaltensmuster und sprachlicher Eigenheiten bedient. Das hat, aufgrund mangelnder Kenntnis der Entstehungshintergründe, oftmals eine starke Divergenz zwischen der Aufnahme der Werte und Themen des Dancehall im Ausland und der eigentlich intendierten Aussage zur Folge. Die DancehallinterpretInnen erregen oft Aufsehen aufgrund ihrer Texte, die allein auf gewaltverherrlichende, sexistische oder in anderer Weise diskriminierende Aussagen reduziert wurden. Ohne diese durchaus auch existierende Dimension der Songs bestreiten zu wollen, kann dennoch behauptet werden, dass ein tieferer Einblick in die Hintergründe dieser thematischen Aufarbeitung der Lebenserfahrung der GhettobewohnerInnen mit einigen dieser Vorurteile aufräumen kann.

Die häufig als „Poor People’s Music“ charakterisierte Musik bedient sich zu ihrer Entstehungszeit der damals noch verpönten Sprache der schwarzen Unterschicht der jamaikanischen Ghettos: des Kreolischen. Noch heute wird der Großteil der jamaikanischen Dancehalltexte in dieser Sprache vorgetragen, englische Dancehallsongs sind weiterhin eine Seltenheit. Das Verwenden des Kreolischen spielt eine zentrale Rolle für die Bewahrung des kulturellen Erbes der ehemaligen SklavInnen, unter anderem, da in ihm Elemente der afrikanischen Sprachen fortbestehen können. Das Kreolische im Dancehall wird als „Zentrum linguistischer Kreativität“1 beschrieben, zahlreiche Neukreationen und sprachliche Innovationen werden in Chester Francis-Jacksons Official Dancehall Dictionary des Jahres 1995 analysiert. Der Dancehall ist ein Genre, das sich ihm eigener, spezieller sprachlicher Mechanismen und Modifikationen bedient; hierbei handelt es sich um eine große Anzahl eigener Wortkreationen sowie phonologischer und semantischer Veränderungen des ursprünglichen kreolischen Vokabulars. Werke wie dieses Wörterbuch spielen eine erhebliche Rolle für weiterführende Forschung, da sie diese Besonderheiten betonen und außerdem illustrieren, wie deutlich sich diese Modifikationen von der sprachlichen Entwicklung anderer kreolischer Texte abgrenzen.

Heute ist Dancehall nicht nur in Jamaika ein fest etablierter Musikstil, er konnte sich in den unterschiedlichsten Regionen der Welt ausbreiten, vor allem die Einflussnahme auf die Musikszene anderer Inseln der Karibik ist sehr groß. Im Umfang dieser Arbeit soll eines dieser Nachbargebiete, das einige deutliche Parallelen in der historischen und kulturellen Entwicklung aufweist, im Sinne der Etablierung und sprachlichen Verfestigung dieses Musikstils untersucht werden: Es handelt sich um die beiden französischen Antillen-Inseln Guadeloupe und Martinique. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird von der Entwicklung der französischen Antillen die Rede sein; hierbei ist zu beachten, dass diese Formulierung rein auf Guadeloupe und Martinique bezogen ist, die Inseln Saint-Barthélemy und Saint-Martin, die auch zu den französischen Antillen zählen, werden außer Acht gelassen.

Im Vorfeld sind einige inhaltliche Aspekte der Themenwahl relevant. Der gewählte Titel der Arbeit Untersuchungen zum Sprachgebrauch im Dancehall auf Martinique, Guadeloupe und im frankokreolophonen Sprachraum muss im Folgenden eine geringe Abänderung erfahren. Im Zuge der Textrecherche stellte sich die Befürchtung, es gäbe bei der Beschränkung auf zwei kreolsprachige Inseln nicht genügend Textmaterial zur Analyse, das heißt im Internet niedergeschriebene Songtexte der DancehallinterpretInnen, als grundlos heraus. Es erfolgt somit im Umfang dieser Arbeit keine Analyse des Dancehall in anderen frankokreolophonen Gebieten, da sich eine Beschränkung auf die französischen Antillen aufgrund der auffindbaren Sekundärliteratur und der geographischen Nähe zu Jamaika am sinnvollsten erwies. Die im Titel programmatisch festgeschriebene linguistische Untersuchung zum Sprachgebrauch des Kreolischen im Dancehall kommt des Weiteren nicht ohne eine vorhergehende Analyse und Darstellung der musikgeschichtlichen Entstehung des Genres aus. Diese Arbeit kann darum keine rein linguistische Analyse sein, da der historische und inhaltliche Hintergrund für das Verständnis der Texte von zentraler Bedeutung ist.

Im Umfang dieser Arbeit soll das Genre Dancehall mit seiner sprachlichen Verfestigung in Guadeloupe und Martinique im Zentrum der Analyse stehen, der dortige Musikstil bedient sich sprachlich des französisch-basierten Kreol. Die Entstehung und Entwicklung des jamaikanischen Dancehall sowie seine sprachlichen Besonderheiten dienen dem Vergleich. Die Situation der französischen Antillen und die Jamaikas zeigt, was die soziale, musikalische und sprachliche Dimension betrifft, deutliche Parallelen. Dies wird in der gemeinsamen geschichtlichen Vergangenheit der Kolonialherrschaft und der daraus resultierenden sozialen und sprachlichen Hierarchie deutlich, die lange Zeit eine gesellschaftliche Zweiteilung zwischen französischsprachigen ehemaligen KolonialherrInnen und kreolischsprachigen ehemaligen SklavInnen hervorruft. Außerdem ist die musikgeschichtliche Situation der Dichotomie zwischen europäischen und afrikanischen Musikstilen, die sich mit der Zeit immer mehr vereinen, von Relevanz. Darüber hinaus kann durch die geographische Nähe von einer deutlich größeren Beeinflussung innerhalb des musikalischen Genres ausgegangen werden als beispielsweise bei einem Vergleich des Dancehall in Jamaika und in Europa.

Das Forschungsziel dieser Arbeit ist es, die Frage zu beantworten, ob die linguistische Kreativität, die in einigen Wörterbüchern und sprachwissenschaftlichen Textanalysen ihren Ausdruck fand, und die enorme Beeinflussung, die die Musik auf die Sprache des jamaikanischen Dancehall hat, gleichermaßen oder in vergleichbarer Weise im Dancehall der französischen Antillen auffindbar ist. Gibt es dort ähnliche linguistische Veränderungen, die Abweichungen von den sprachlichen Strukturen der französischen Kreolsprachen darstellen und die nur den kreolischen Dancehalltexten eigen sind? Falls dies der Fall ist, sind diese Phänomene inspiriert von den jamaikanischen Modifikationen oder handelt es sich um unabhängige Prozesse? Wie lassen sie sich begründen?

Um eine Antwort auf diese Fragen geben zu können, ist zunächst eine umfassende Erläuterung der Hintergründe des Genres Dancehall nötig. Es handelt sich hierbei um einen Musikstil, der geprägt ist von einer spezifischen Symbolik, was die Sprache, die verkörperten Werte und die Art der Performance betrifft. Das erschwert Außenstehenden den Zugang zu den Songtexten und führt häufig zu Fehlinterpretationen. Die spezifischen Charakteristika können nur durch einen tiefen Einblick in die Geschichte des Dancehall deutlich werden, der nach einer kurzen Einführung in die Begriffe des Genres allgemein und der Kreolsprachen erfolgen soll. Da im Umfeld der Untersuchung nur einzelne Textauszüge zitiert werden können, sind der Vollständigkeit halber im Anhang alle behandelten Songtexte in gesamter Länge vorhanden, viele von ihnen, soweit im Internet vorhanden, auch mit einer französischen Übersetzung. Für eine Einheitlichkeit in der Orthographie der Musiktexte oder die Korrektheit der Übersetzungen kann hier nicht garantiert werden.

Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile. Der erste Hauptteil dieser Analyse befasst sich mit der musikgeschichtlichen Entwicklung. Zunächst sollen die für den Dancehall nötigen Vorbedingungen dargestellt werden. Hierbei liegt der Fokus auf den afrikanischen Wurzeln sowie der Bedeutung der Kolonialgeschichte Jamaikas und der französischen Antillen für die Entwicklung der Musik. Darauf aufbauend erfolgt eine Darstellung der Entwicklung verschiedener Musikstile in chronologischer Abfolge und ihrer Rolle für die Entstehung des Dancehall, wobei unter anderem Musikstile wie der Mento, der Ska und afrikanische Trommelmusiken wie der Burru eine zentrale Rolle spielen. Hierbei sind die sozialen Hintergründe von Relevanz, da es sich beim Dancehall um ein Musikgenre der Unterschicht handelt, das es erst in einem langen Prozess zu annähernder gesellschaftlicher Akzeptanz brachte. Des Weiteren geht mit der geschichtlichen Entwicklung eine fortschreitende Illustrierung der Eigenschaften des Dancehall einher, welche mit einer Beschreibung der aktuellen Verfestigung des Musikstils in Jamaika abgeschlossen wird. Für die Analyse dieser Position steht ein umfangreicher Korpus wissenschaftlicher Arbeiten zur Verfügung, die sich mit den lokalen Musiktraditionen und der geschichtlichen Entwicklung der Karibik befassen.

Im nächsten Abschnitt der musikgeschichtlichen Analyse stehen die Verbreitung des Dancehall und seine Festsetzung auf den französischen Antillen im Mittelpunkt. Welche Faktoren spielen für die Übernahme und dortige Entwicklung des Musikstils eine Rolle? Hierbei sind die gesellschaftlichen Strukturen von elementarer Bedeutung. Warum kann sich die Jugend und vor allem die schwarze Bevölkerung der Unterschichten der französischen Antillen mit dem jamaikanischen Dancehall, der über die Vorstufe des Reggae diese Inseln erreicht, identifizieren? Welche Vorbedingungen sind hierfür nötig? In diesem Kontext ist nun zu untersuchen, wie der Prozess der Etablierung des Musikstils in Guadeloupe und Martinique vonstattengeht. Ein Aspekt, der diese Analyse wesentlich erschwert, ist der erhebliche Mangel an Forschungsmaterial. Während es eine Fülle linguistischer, sozialer und geschichtlicher Analysen zum Dancehall in Jamaika gibt, existieren zu dessen Verbreitung auf den französischen Antillen kaum Dokumente. Im Wesentlichen stütze ich mich daher auf die gesellschaftliche Dancehallanalyse Jamaikas und Martiniques von Mylenn Zobda-Zebina und eine 2008 in Guadeloupe produzierte Dokumentation der Geschichte des Dancehall der französischen Antillen.2 Eine Differenzierung zwischen den Bewegungen in Guadeloupe und in Martinique kann folglich nicht vollzogen werden, im Umfang dieser Arbeit muss hier eine einheitliche Bewegung angenommen werden. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass sich innerhalb der Entwicklungen aufgrund der geographischen Nähe und der sehr ähnlichen politischen und gesellschaftlichen Situation Guadeloupes und Martiniques nur geringfügige Abweichungen ergeben haben.

Nach der Veranschaulichung der Entwicklung und Etablierung des Genres gehe ich im Folgenden zum Vergleich Jamaikas mit den französischen Antillen über. An dieser Stelle ist sowohl eine musikalisch-ästhetische als auch eine inhaltliche Dimension relevant. Zunächst soll die Frage geklärt werden, ob sich der Dancehall Guadeloupes und Martiniques stilistisch von seinem Vorbild entfernt hat oder ob von einem einheitlichen Genre gesprochen werden kann, sowie anschließend, ob sich die behandelten Themen entsprechen. Trotz der ähnlichen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen gibt es hier dennoch zentrale Unterschiede, die dazu führen könnten, dass die AntillianerInnen andere Inhalte in ihren Songs behandeln. So könnte beispielsweise die Tatsache, dass Jamaika die Unabhängigkeit von England erlangte und Guadeloupe und Martinique durch ihren Status als französische Départements noch eng an Frankreich gebunden sind, Auswirkungen auf die Themenwahl und -gestaltung haben.

Im Anschluss an die Klärung der Hintergründe, Vorbedingungen und Charakteristika des Dancehall ist die sprachliche Analyse Gegenstand des zweiten Hauptteils der Arbeit. Diese stützt sich auf eine Auswahl im Internet abrufbarer Lieder. Der Korpus beschränkt sich auf die Songtexte acht verschiedener Künstler: Admiral T, Krys und Tiwony aus Guadeloupe und Yaniss Odua, MC Janik, First’ T, Supa High und XMan aus Martinique. Von diesen Interpreten werden Songtexte sowie Interviews aus einem Zeitraum von 1994 bis 2006 analysiert, wobei Erstere sich im Wesentlichen auf diejenigen beschränken, zu denen eine französische Übersetzung auffindbar ist, um Fehler bei der sprachlichen Analyse so weit wie möglich vermeiden zu können.

Bevor die strukturellen Merkmale und Besonderheiten herausgearbeitet werden, soll eine allgemeine Einordnung des Dancehall als poetische Gattung in die Tradition der Oralliteratur erfolgen. An dieser Stelle stehen zentrale Eigenschaften dieser Literatur und ihrer Repräsentation im Dancehall im Zentrum, was zum Verständnis der speziellen Sprache und Ausdrucksform der Texte beiträgt.

Bei der anschließenden Untersuchung der Strukturmerkmale steht die Hervorhebung der besonderen sprachlichen Merkmale der antillianischen Dancehalltexte im Vordergrund. Die Beeinflussung durch die Sprache des jamaikanischen Dancehall soll vor allem unter Einbindung von Le Pages Act-of-Identitiy-Modell3 erfolgen, der sprachliche Veränderungen und Übernahmen aus soziolinguistischer Perspektive im Hinblick auf die angestrebte kulturelle Zugehörigkeit analysiert. Neben der Untersuchung anhand dieses Modells sollen auch noch weitere strukturelle Besonderheiten aufgeführt werden, die von den traditionellen Regeln der französischen Kreolsprachen abweichen.

Nicht nur der sprachliche Einfluss von außerhalb, sondern auch der von innerhalb ist in der Analyse relevant. Im letzten Abschnitt liegt der Fokus auf der Sprachsituation der französischen Antillen. Die gesellschaftliche Verteilung des Französischen und des Kreolischen zeichnet sich durch eine soziale Hierarchie aus, jede Sprache ist bestimmten Domänen zugeordnet. Da eine stetig wachsende gegenseitige Beeinflussung der beiden Sprachen feststellbar ist, soll diese in den Texten des Dancehall untersucht werden. Die linguistische Analyse im Umfeld dieser Arbeit kann sich nicht auf vergleichbare Arbeiten berufen, da es noch keine sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zum frankokreolophonen Dancehall gibt. Bisherige Untersuchungen dieser Art beschäftigen sich ausschließlich mit dem jamaikanischen Dancehall.

1 Stolzoff (2000): S. 3.

2 Kramé/Burn (2008): Dancehall Story. DVD.

3 Vgl. Kapitel 4.2.2 und 4.2.3.

2 Begriffsklärung

Im Vorfeld der Analyse ist, wie bereits angekündigt, die Einführung einiger Begriffe nötig, die im Laufe der Arbeit noch im Detail herausgearbeitet werden.

2.1 Dancehall als musikalisches Genre

Der Begriff „Dancehall“ wird im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich verwendet. Bis in die 1990er Jahre handelt es sich dabei nicht um die Bezeichnung eines musikalischen Genres, sondern um einen Überbegriff für die in Jamaika stattfindenden Tanzpartys und ihre jeweilige Musik. Auf den Tanzveranstaltungen erklingt jedoch nicht immer der gleiche Musikstil; es handelt sich um eine lange Entwicklung, begleitet von verschiedenen Musikgenres wie unter anderem Mento, Jazz, Rhythm’n’Blues4 oder Reggae, wie später in der Musikgeschichte Jamaikas noch deutlich werden wird.

Erst Ende des 20. Jahrhunderts beginnt sich ein bestimmter Musikstil auf diesen Veranstaltungen zu etablieren, der den Namen „Dancehall-Style“ oder kurz „Dancehall“ erhält. Diese Musik entsteht unter dem Einfluss einer Vielzahl verschiedener Musikstile als Genre der Unterschicht, was sich auch durch die in den Songs behandelte Thematik widerspiegelt. Dancehall zeichnet sich durch eine spezielle, meistens sehr schnelle Art des Singens aus, die sich verschiedener stilistischer Muster bedient. Da es sich hierbei um ein noch relativ junges Genre handelt, sind auch die LiebhaberInnen dieser Musik eher in den jüngeren Generationen zu finden. Die Ursprünge des Dancehall liegen in Jamaika, heute hat dieser Musikstil jedoch internationale Bedeutung erlangt, die jamaikanischen KünstlerInnen touren in der ganzen Welt. Außerdem gibt es mittlerweile eine große Anzahl an DancehallinterpretInnen aus den unterschiedlichsten Regionen, eine Vielzahl davon aus Europa, Asien oder verschiedenen karibischen Inseln. Die spezifischen Eigenschaften dieses Musikstils sowie die Hintergründe seiner Entwicklung und die Frage, wie der Wechsel von der Bezeichnung der Tanzveranstaltung zu der eines Musikgenres vonstatten ging, wird im Detail in der musikgeschichtlichen Analyse dargestellt werden. Die Anthropologin Zobda-Zebina gibt in ihrer Definition des Genres Dancehall einen Ausblick auf die erwähnte Vielfältigkeit: „Le dancehall désigne tant une musique qu’un ensemble de pratiques sociales d’idées, de mouvement réligieux et culturel, de partiques langagières.“5

2.2 Kreolsprachen

Der Fokus dieser Analyse soll auf der Sprache der Texte des Dancehall liegen. Eine Besonderheit dieses Musikstils ist, dass ein Großteil der Songs in Kreolsprachen gesungen wird. Das hat spezifische Hintergründe, die im musikgeschichtlichen Teil noch genauer beleuchtet werden. Die meisten der jamaikanischen Dancehalltexte werden in dem vor Ort gesprochenen englisch-basierten Kreol6 wiedergegeben, wohingegen die Texte auf den französischen Antillen französisch-basiertes Kreol verwenden.

In der Linguistik hat sich ein Fachbereich etabliert, der sich gesondert mit den Kreolsprachen beschäftigt: die Kreolistik. Die Entstehungsgeschichte der betreffenden Sprachen – die relevant für die Verwendung des Kreolischen im Dancehall ist – ist eines der umstrittensten Forschungsbereiche der jungen Disziplin. Annegret Bollée vereint in ihrer soziolinguistischen Definition der Kreolsprachen mehrere Faktoren, weshalb ihre Begriffserklärung hier zur Veranschaulichung der Entstehung der Kreolsprachen herangezogen werden soll:

Als Kreolisch bezeichnet man eine Sprache, die in einem geographisch und/oder kulturell isolierten Gebiet, in einer multilingualen Gesellschaft mit sozialem Gefälle – wie der Plantagengesellschaft in den Kolonien – durch unvollkommenes Erlernen, Fehlinterpretation und Vereinfachung der Sprache der sozial höheren Schicht durch die sozial niedrigere Schicht entstanden ist.7

Diese Erklärung für die Umstände der Entstehung erscheint am anschaulichsten, da sie eine Vielzahl relevanter Faktoren berücksichtigt, darunter einerseits die sozialen Aspekte wie die gesellschaftliche Hierarchie, andererseits aber auch die sprachlichen Aspekte wie das unvollständige Erlernen der Fremdsprache oder mögliche Fehlinterpretationen.8

Welche speziellen Eigenschaften die Kreolsprachen ausmachen, wird im Umfeld der einzelnen Kapitel erläutert, in denen konkret diese Sprachstrukturen untersucht werden.

4 Im Folgenden abgekürzt als R’n’B.

5 Zobda-Zebina (2008): S. 48.

6 Für das jamaikanische Kreol hat sich im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff „Patois“/„Patwa“ eingebürgert. Da dies aus linguistischer Perspektive jedoch die Konnotation eines unzureichenden Kommunikationsmittels mit niedrigem Status trägt, wird im Umfang dieser Arbeit der Begriff „Kreol“ verwendet.

7 Bollée (1977): S. 15.

8 Andere zentrale Entstehungstheorien im Bereich der Kreolistik stammen unter anderem von Chaudenson, Bickerton, Muysken, Hall, Hymes, Stein.

3 Musikalische Analyse

Als Einstieg ins Thema soll im Folgenden die musikgeschichtliche Entwicklung und Entstehung des Musikgenres Dancehall nachgezeichnet werden, welche von zentraler Bedeutung für das spätere Verständnis der sprachlichen Besonderheiten ist.

3.1 Entstehung: Ursprünge in der Karibik

3.1.1 Afrikanische Wurzeln und Kolonialherrschaft

Um die Bedeutung des Dancehall heute zu verstehen, gilt es, zunächst dessen Ursprünge zu betrachten: Seinen Anfang nimmt die Geschichte des Musikstils im 16. Jahrhundert in Afrika. Ab diesem Zeitpunkt werden Tausende AfrikanerInnen in die Karibik deportiert, um auf den Zuckerrohrfeldern zu arbeiten oder nach Amerika weiterverkauft zu werden. Während Jamaika zunächst unter spanischer und danach britischer Kolonialherrschaft steht, herrschen die Franzosen auf den französischen Antillen. Herausgerissen aus ihrem heimatlichen Umfeld und gezwungen, sich einer vollkommen fremden Kultur anzupassen, dienen vor allem die Musik und die damit verbundenen Tänze der Bewahrung einer eigenen kulturellen Identität: „In ihr lebte die Erinnerung an Afrika weiter.“9 Tanz und Musik sind schon in der Sklavenzeit sehr eng verbunden und haben eine befreiende Funktion, sie erlauben den SklavInnen ihre Emotionen auszudrücken, was für sie in sprachlicher Form oftmals nicht mehr möglich ist.10 Aus Angst vor Aufständen werden SklavInnen einer Sprachgemeinschaft in den Lagern oft auf verschiedene Plantagen verteilt.11 Da sie aufgrund der unterschiedlichen Sprachen nur wenig miteinander kommunizieren können, wird die Musik ihr wichtigstes Ausdrucks- und Kommunikationsmittel. Die Verarbeitung des afrikanischen musikalischen Erbes spielt eine zentrale Rolle für die spätere Herausbildung der kulturellen Identität innerhalb des Genres Dancehall. Assmann beschreibt diesen Prozess unter dem Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“. Dieses beinhaltet die kollektive Erinnerung einer Gruppe an Fixpunkte in der Vergangenheit; hierbei wird nicht mehr zwischen Mythos und „wahrer“ Geschichte unterschieden. Im Falle der SklavInnen fungiert die Musik folglich als kultureller Speicher, in ihr werden die afrikanischen Werte und Traditionen weitergegeben und konserviert.12

Die afrikanische Trommelmusik war schon in der Heimat in das tägliche Leben als Ausdrucksform sozialer und religiöser Funktionen integriert gewesen, in den SklavInnenlagern erfahren sie eine neue Funktion als Kommunikationsmittel. Die neue Art der Verständigung ermöglicht den SklavInnen die Organisation von Aufständen durch das Mittel der Musik.13 Gelingt ihnen der Weg in die Freiheit, so fliehen sie in die Berge um dort eigene, autonome Gesellschaften aufzubauen. Diese entflohenen SklavInnen werden auf den französischen Antillen „Nègres Marrons“ genannt, in Jamaika „Marrons“.14

Eine der afrikanischen Trommelformen aus der Sklavenzeit in Jamaika, die auch später noch große Bedeutung haben wird, ist das der Ashanti-Tradition15 entstammende Burru-Trommeln16. Diese Art des Trommelns wird sogar teilweise von PlantagenbesitzerInnen als Taktgeber für die Feldarbeit eingesetzt, was erklärt, warum das Burru-Trommeln die Kolonialherrschaft am längsten überdauert. In den meisten Fällen werden musikalische Zusammenkünfte aber aus Angst verboten, die Versammlungen könnten der Organisation von Aufständen dienen, was durch das sogenannte drum-law17 zum Ausdruck gebracht wird.18

Eine vergleichbare Entwicklung findet auch auf den französischen Antillen statt: Während die Gesänge meist toleriert oder sogar gefördert werden, da sie zu schnellerer Arbeit anregen, verbieten die KolonialherrInnen die Trommelmusik. In der Folge ersetzen die SklavInnen die Trommeln durch Büchsen oder Kalebassen19 und versuchen somit die Verbote zu umgehen. Die rhythmische Unterstützung der Tänze wird aber auch durch Klatschen mit Händen und Füßen und andere Körperbewegungen übernommen, was ihnen hilft, ihre musikalische Ausdrucksform zu bewahren.20 Eine der Trommeltraditionen der französischen Antillen, vor allem Guadeloupes, die später für die Entwicklung des Dancehall noch von Bedeutung sein wird, ist der Gwo ka.21

Für die weiße und farbige Bevölkerung werden im Laufe der Zeit vor allem europäische und kreolisierte Musikstile interpretiert, während die schwarzen SklavInnen die traditionell afrikanische Musik bevorzugen. Es entsteht sozusagen ein musikalisches europäisch-afrikanisches Kontinuum. Die neu entstandenen Musikstile begleiten ab diesem Zeitpunkt die Tanzbälle, wie zum Beispiel der Mento,23 Dieser Prozess der Kreolisierung beginnt in der Karibik ab dem 16. Jahrhundert.25