gabal-E-book.jpg

Einblick

»Sie können hier mit niemandem telefonieren, schicken Sie eine Mail!« – Um Unternehmen, die so mit ihren Kunden hantieren, muss man sich wohl Sorgen machen. Ich werde sie in diesem Buch die alten, analogen Unternehmen nennen. Sie sind nicht unbedingt alt an Jahren, sondern alt im Kopf, zu alt, um die Zukunft erreichen zu können. Denn etwas Großes ist im Gange. Wir leben in einer neuen, sich unaufhaltsam digitalisierenden Businesswelt. Und wir stecken mittendrin im größten Change-Prozess aller Zeiten. Die Macht ist zu den Mitarbeitern gewandert. Und die Kunden haben, von vielen nahezu unbemerkt, die Macht schon längst übernommen. Was das bedeutet? Heute entscheiden vor allem die eigenen Kunden darüber, ob neue Kunden kommen und kaufen. Und die eigenen Mitarbeiter entscheiden maßgeblich mit, wer die besten Talente gewinnt. Passende interne Rahmenbedingungen und eine auf diesen Wandel ausgerichtete Führungskultur sind unausweichlich, damit es gelingt, in volatilen Märkten auf immer neue Weise verlockend zu sein.

Doch während sich draußen unumkehrbar alles verändert, vertrödeln sich drinnen in den Unternehmen die Manager mit »gängigen« Verfahren und verbrauchten Ritualen aus dem letzten Jahrhundert: Top-down-Formationen, Silodenke, Insellösungen, Abteilungsegoismen, Hierarchiegehabe, Budgetierungsmarathons, Anweisungskultur, Kontrollitis, Kennzahlenkult. Dies wie auch ein antiquiertes Führungsverständnis und der kundenfeindliche Standardisierungswahn sind die größten Bremsklötze auf dem Weg in eine neue Business- und Arbeitswelt. Mit Werkzeugen von vorvorgestern ist die Zukunft nun mal nicht zu packen. Die Unternehmen sind in ihren eigenen Systemen gefangen. Und sie werden nicht am Markt, sondern an ihren Strukturen scheitern. Deshalb sind Innovationen zunächst drinnen, im firmeninternen Zusammenspiel, dringendst vonnöten. Vernetzung und Kollaboration heißen die zentralen Schlüssel zum Ziel. Wie dies erreicht werden kann und welche Tools dabei helfen, zeigt dieses Buch.

Unsere schöne neue Businesswelt

Die Hochzeit zwischen dem Social Web und dem mobilen Internet hat uns mit Höchstgeschwindigkeit in die Web-3.0-Welt katapultiert. Ihr vielleicht wichtigstes Plus: eine digitale Informationsschicht, die sich per Fingerwisch über unsere Offline-Landschaften legt. Hierdurch werden die Menschen mit dem kompletten Onlinewissen nahezu überall auf der Erde in Echtzeit vernetzt. Diese neue Konstellation hat das Kräfteverhältnis zwischen Anbietern und Nachfragern endgültig auf den Kopf gestellt. Denn das Internet spielt den »kleinen Leuten« zu. Es begünstigt »die vielen«. Es verachtet Zentralisierung. Und es liebt Kollaboration.

Doch in den Schaubildern der Unternehmen sieht es noch immer aus wie anno dazumal. Sie verdeutlichen – vielleicht mehr als alles andere – die wahre (fossile) Gesinnung: Der Chef thront ganz oben, darunter, in Kästchen eingesperrt, seine brave Gefolgsmannschaft. Die Mitarbeiter kommen in solchen Organigrammen nicht einmal vor. Sie werden wie Fußvolk verwaltet und in Abteilungsschubladen organisiert. Ja, und die Kommunikation zu den Kunden läuft über Kanäle. Bei Licht betrachtet sind Werbekanäle nichts als das externe Gegenstück interner Silos und veralteter Top-down-Hierarchien: unvernetzt nebeneinanderher agierend. Denn ein Kanal dient der Datenübermittlung von einem Sender zu einem Empfänger.

Demgegenüber zeigt die Welt der Kunden ein völlig anderes Bild: Sie schwirren in Outernet- und Internet-Sphären um Unternehmensgebilde herum, die wie Netzwerke agieren (sollten). Sie kaufen an Touchpoints nach Gusto mal offline, mal online. Bei der Entscheidungsfindung lassen sie sich vor allem von ihresgleichen leiten. Von ehemals unersättlichen Konsumenten wandeln sie sich zu verantwortungsvollen Weltenbürgern. Manche sind schon »Sharer« und »Maker« geworden, das heißt, sie kaufen nicht neu, sondern sie teilen sich das, was sie brauchen, mit Dritten. Oder sie produzieren es selbst. Die meist webbasierte »Share-Economy« wird das ohnehin dürftiger werdende Wachstum auf ganz neue Weise bedrohen. Und der Selbermachen-Trend, der durch die aufkommenden 3-D-Drucker begünstigt wird, wird völlig neue Geschäftsmodelle kreieren.

abb-01.jpg

Es ist also höchste Zeit für einen neuen Typus von Organisation. Ich nenne es das Touchpoint-Unternehmen.

Touchpoint-Unternehmen und Touchpoint-Manager

Niemals zuvor waren die Kunden einem Unternehmen so nahe wie heute. Spätestens jetzt muss sich jede Führungskraft in jedem Bereich neben ihrer Kernaufgabe intensiv mit den Kunden befassen. Denn über die sozialen Medien kann heute jeder Externe praktisch mit jedem Mitarbeiter direkt in Verbindung treten, ganz egal, in welcher Abteilung der sitzt, und egal auch, ob das dem Management passt oder nicht. Die Zahl der Kontaktpunkte zwischen drinnen und draußen ist explosionsartig gestiegen; sie ist jetzt schon unüberschaubar geworden. Dies ist Risiko und Chance zugleich.

Früher wurde das, was die Öffentlichkeit über ein Unternehmen erfahren sollte, über sorgsam formulierte Pressemitteilungen und gut geschulte Vorstandssprecher gesteuert. Was sich hinter den Firmenfassaden aber tatsächlich begab, gelangte nur vereinzelt nach draußen: wenn jemand in seinem persönlichen Umfeld von einem Vorfall erzählte oder wenn es über persönliche Kontakte bis zu den Medien drang. Heute sieht das völlig anders aus: Die Mitarbeiter berichten über Interna im Web. Sie sind zu Botschaftern ihrer Arbeitgeber geworden. Und die Unternehmen haben keinerlei Kontrolle darüber, was sie dem Cyberspace alles anvertrauen.

Wer führt, behandle seine Leute also besser gut und halte ethische Werte ein, denn im Internet kommt es irgendwann raus. Vorbildliches wird dort vergnüglich gefeiert und Gutes kräftig gelobt, Übles hingegen herbe bestraft. Wer lügt und betrügt, wer seine Leute wie ein Berserker behandelt oder sich eigennützig Vorteile verschafft, wird geteert und gefedert und dann an den Onlinepranger gestellt. Das lesen dann nicht nur alle Kollegen, nein, die gesamte Öffentlichkeit liest das auch. Schon längst wird das zweifelhafte Innenleben eines Anbieters durch kollektive Nichtkäufe bestraft. Und die besten Bewerber kehren reputationsschwachen Firmen den Rücken, noch ehe es zu einer ersten Annäherung kommt. Denn bevor man hört, was ein Unternehmen selbst über sich sagt, lauscht man denen, die aus erster Hand berichten.

In dieser neuen Realität werden Kunden kaum mehr den vorgezeichneten Kanälen altehrwürdiger Ablauforganisationen folgen. Sie lassen sich auch nicht mehr an Service, Sales und Marketing wegdelegieren – und schon gar nicht von provisionssüchtigen Verkäufern zum LEO, einem leicht erlegbaren Opfer, machen. Vielmehr steuern sie die direkten und indirekten Touchpoints spannender Anbieter selbstbestimmt an. Deshalb folgen Touchpoint-Unternehmen dem Outside-in-bottom-up-Weg, das heißt, sie bewegen sich vom Kunden her nach drinnen und dann vom Mitarbeiter her in Richtung Führungsebene. Denn nur so herum kann der Erfolg künftig gelingen. Dabei wird es im Unternehmensorchester schon bald auch ein neues Berufsbild geben: den Touchpoint-Manager. Er steht wie ein Advokat für die Kundeninteressen ein und setzt sie kraftvoll durch. Und er weiß: Wer lange Strecken laufen will, braucht geduldiges Geld.

abb-02.jpg

Was ist eigentlich ein Touchpoint?

Ein Touchpoint wird im Deutschen gern als Kontaktpunkt bezeichnet. Doch dies ist ein unterkühlter und versachlichter Begriff. Das Wort »Berührungspunkt« drückt sehr viel besser aus, wie Beziehungen in Social-Media-Zeiten nun zu gestalten sind. Wer nämlich Menschen erreichen will, der muss sie »berühren« – und Emotionalität zum Schwingen bringen. Wenn dann noch ein Hauch von Magie und eine Brise »Sternenstaub« hinzugefügt werden, dann weckt dies ein heftiges Habenwollen.

Nicht was in ambitionierten Businessplänen und aufwendigen Handbüchern geschrieben steht, sondern was der Kunde in den »Momenten der Wahrheit« (Jan Carlzon) an den einzelnen Touchpoints tatsächlich erlebt, entscheidet über hopp oder top. Diese so virtuos zu bespielen, dass Transaktionen für kaufwillige Kunden immer wieder begehrenswert sind und ein engagiertes Weiterempfehlen bewirken, das ist die neue große Herausforderung. Und sie geht jeden im Unternehmen an, egal, ob er direkt an der Kundenfront tätig ist oder etwa in der Buchhaltung, in der Produktion oder im Lager wirkt.

All dies verlangt ein kundennahes Management und auch einen neuen Führungsstil: die kundenorientierte Mitarbeiterführung. Basis dafür ist das Meistern der internen Touchpoints, also der Interaktionspunkte zwischen den Mitarbeitenden, den Führungskräften und der Organisation. Kollaborative Prozesse, bei denen man die »Ideenfunken« aller Mitarbeitenden einfängt und die »Weisheit der Vielen« nutzt, werden dabei, wie wir gleich sehen, aus gutem Grund zu bevorzugen sein.

Touchpoints zwischen Bewerber und Arbeitgeber

Der demografische Wandel, der Kampf um die Besten und der Glashauseffekt, den das Social Web mit sich bringt, halten ganz neue Anforderungen parat: Personaler müssen das Verkaufen lernen. Dabei sind die Ressourcen, die bereits jetzt für das effiziente Suchen, Finden und Gewinnen passender Talente in den Markt geworfen werden, ganz enorm.

Doch nicht die Firmenwebsite und deren Karriereteil, sondern das Eingabefeld der Suchmaschinen ist zunehmend der Startpunkt für eine potenzielle Mitarbeiterbeziehung – und oftmals gleichzeitig das Ende. Dabei spielen die indirekten Touchpoints wie zum Beispiel Meinungsportale, User-Foren, Blogbeiträge, Presseartikel, Mundpropaganda und Weiterempfehlungen eine zunehmend wichtige Rolle. Diese werden auch als »Earned Touchpoints« bezeichnet, denn man kann sie sich nicht wie eine Stellenanzeige kaufen, man muss sie sich stattdessen verdienen.

abb-03.jpg

So werden von veränderungswilligen Bewerbern immer öfter zuerst die O-Töne der Mitarbeiter im Web angesteuert. Google nennt sie die »Zero Moments of Truth« (ZMOT).1 Dies sind die Momente der Wahrheit vor dem ersten direkten Kontakt, die schonungslos sichtbar machen, was die Versprechen eines Unternehmens tatsächlich taugen. Insofern werden Firmen schon bald allein deshalb zumachen müssen, weil es keine qualifizierten Mitarbeiter mehr gibt, die für sie arbeiten wollen.

Anstatt also weiter in teuer bezahlte Recruiting-Tools zu investieren, sollten Organisationen viel mehr dafür tun, dass es drinnen bei ihnen stimmt. Denn jenseits schöner Sonntagsreden über Leitbilder, Werte und Corporate Social Responsibility (CSR) liegt dort eine Menge im Argen. Selbst den wortgewaltigsten Beteuerungen aus der eitlen Managementwelt glaubt heute kaum jemand mehr. Die Unternehmenskommunikation hat sich in einen gigantischen Vertrauensverlust hineinmanövriert. Zu oft sind wir belogen und betrogen worden. Hier Beispiele zu listen, erübrigt sich. Jeder kennt eine Vielzahl von Fällen.

Wie Arbeitgeber zu einer »Lovemark« werden

Die Einzigen, die in einer vernetzten Gesellschaft glaubwürdig für Vertrauen sorgen und sogar Vertrauensverluste wiedergutmachen können, sind die, die wissen, wie es hinter den Firmentoren tatsächlich läuft: die Kunden und die Mitarbeiter. Sie wollen, dass all diese Menschen draußen als Fürsprecher für Ihr Unternehmen fungieren? Dann sorgen Sie für ein positives Beziehungskonto! Und sorgen Sie insbesondere auch dafür, dass die Leute tollen Gesprächsstoff haben, den sie gerne mit ihren Netzwerken teilen.

»Sei wirklich gut, und bring die Leute dazu, dies vehement weiterzutragen.« So lautet das neue Businessmantra. Und »wirklich gut« bedeutet hier zweierlei: einmal exzellent und einmal nicht böse. Das Internet ist wie eine gigantische öffentliche Podiumsdiskussion. Die »Leichen« vermodern heute nicht mehr im Keller, man findet sie in den Weiten des Webs. Daher muss neben dem Zahlenwerk auch die moralische Bilanz stimmen. Denn Unternehmen haben nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Funktion, die von der Öffentlichkeit immer vehementer eingefordert wird. Der Wettbewerb der Zukunft wird auf dem Marktplatz der Unternehmenskulturen geführt.

Fakt ist: Jenseits aller Sozialromantik braucht es Renditen, um am Leben zu bleiben. Doch das ist nur das Pflichtprogramm. Entscheidend ist die Kür. Um schließlich zu den großen Gewinnern zu zählen, gibt es nur einen einzigen Weg: eine Lovemark (Kevin Roberts) zu werden. Eine Lovemark ist eine (Arbeitgeber-)Marke, in die sich die Kunden und die Mitarbeitenden verlieben können. Eine Lovemark ist Kult. Die braucht sich nicht mithilfe teurer Werbung selbst zu erklären. Weil ihre Fans das für sie tun. Die greift man auch nicht an. Weil eine Phalanx von Fürsprechern sie vor allem Ungemach schützt. Und das Ergebnis? Loyalität jenseits der Vernunft. Sobald das geschieht, wird die Konkurrenz bedeutungslos.

Touchpoints zwischen Mitarbeiter und Führungskraft

Die Arbeitsbeziehungen haben sich in den letzten Jahren grundlegend gewandelt. Sie sind globaler, digitaler und auch weiblicher geworden – und all das auf hohem Niveau. Sie sind von einer neuen Buntheit gekennzeichnet, kleinteiliger und vielschichtiger geworden und auch stärker nach außen vernetzt. Immer mehr Menschen werden neben einer Festanstellung schon bald einen (Mini-)Zweitjob haben, in dem sie erwerbstätig sind. Oder sie werden zeitweilig selbstständig sein. Die lebenslange Anstellung existiert nur noch in den Geschichtsbüchern der Arbeitswissenschaft. Die Beschäftigten werden aus dem befriedeten Gelände der Firmengebäude in die freie Wildbahn entlassen.

Neben einer Kernbelegschaft in herkömmlichen Arbeitsverhältnissen gibt es zunehmend eine Zusammenarbeit ohne klassischen Arbeitsvertrag: in Projekten, mit Freelancern, mit Zeitarbeitsfirmen, mit Interimsmanagern. Es gibt mehr befristete Arbeitsverträge, höhere Teilzeitquoten, mehr outgesourcte Bereiche wie auch eine größere Zahl an mitarbeitenden Spezialisten, Zulieferern und Businesspartnern. Der stationäre Arbeitsplatz und das eigene Büro werden im Zuge dessen zurückgedrängt. Fernanwesenheit, eine mobile Arbeitskultur, flexible Arbeitszeitmodelle, virtuelle Teams und das Homeoffice haben Hochkonjunktur.

In Zukunft wird vornehmlich für Denkleistung bezahlt. Gutes Wissen, das noch fehlt und kurzfristig verfügbar sein muss, wird über Externe zugekauft. Man umgibt sich mit den jeweils besten Leuten für einen bestimmten Job. So werden Unternehmen zu Drehkreuzen, zu Oasen für digitale Nomaden und von »Kollaborateur-Satelliten« umkreist. Letzteres ist auch der Grund, weshalb ich mich bei der Namensgebung für das Instrument, das Kern dieses Buches ist, für den Begriff »Collaborator« entschieden habe. Kollaboration steht, unabhängig von der Form des Arbeitsvertrags, für ein effizientes Miteinanderarbeiten. Der Kollaborateur im heutigen Sinne ist also ein auf konstruktive Weise Mitarbeitender.

Bei all dem werden Führungskräfte in Zukunft vor ganz neue Herausforderungen gestellt: Die Oberen müssen lernen, auch die neuen Arbeitsmodelle zu meistern, also nicht anwesende und nicht angestellte Mitarbeitende zu führen und so schnell wie möglich produktiv zu machen. Ganz neue Touchpoints werden dabei entstehen. Alles wird zunehmend modular organisiert. Anfallende Arbeitsaufträge werden mehr und mehr über Projekte gesteuert. Hierzu werden vor allem Netzwerk-Organisatoren und projektleitende Moderatoren benötigt. Macht- und Kontrollverlust ist eine unausbleibliche Folge. Ganz andere Führungsstile rücken nach vorn: Möglichmacher, Katalysatoren und kundenfokussierte Leader werden von nun an gebraucht. Und für Führungskarrieren kommen ausschließlich Menschenspezialisten infrage. Manche machen das auch schon ganz ausgezeichnet. Den anderen ist die Führungslizenz zu entziehen.

Digital Natives: die »neuen« Mitarbeitenden

Digital Natives? Das sind die im Internet-Zeitalter aufgewachsenen und durch digitale Medien sozialisierten nach 1980 Geborenen, oft auch Millennials, Generation Y, Gen Y oder Ypsiloner genannt. Sie prägen eine humanisierte Führungskultur und bringen die Menschlichkeit in die Unternehmen zurück. Und sie schaffen die Rahmenbedingungen für einen kollaborativen Managementstil. Der Chef als Ansager und Aufpasser? Für sie ein Auslaufmodell. Sie stehen für Autonomie und Gestaltungsraum, für Gleichrangigkeit und Selbstorganisation – und für das Teilen. Der Aufbau von Herrschaftswissen ist ihnen fremd. Machtgelüste haben sie kaum. Die klassischen Statussymbole reizen sie wenig. Bevormundungsmodelle sind gar nicht ihr Ding.

Diese Gen Y folgt – welch interessanter Zusammenhang – der Theorie Y von Douglas McGregor, seinerzeit Managementprofessor am MIT.2 Das Y steht für die Hypothese vom grundsätzlich engagierten Mitarbeitenden, der durch befruchtendes, einfühlsames Führen noch engagierter wird. »Schmusekurs« wird dieser Weg von den harten Brocken genannt. Und die, die ihm folgen, werden als Betabuben, Warmduscher und Beckenrandschwimmer verlacht. Denn da, wo mit der Brechstange gearbeitet wird, wo es keine Kennzahlen für Achtsamkeit und Wertschätzung gibt, wo nur Maximalergebnisse zählen und Exceltabellen das Sagen haben, ist für »weiche Faktoren« kein Platz. Vielerorts wird immer noch derjenige (heimlich) bewundert, der bereit ist, Unternehmenswerte zu zerstören und Mitarbeiter zu opfern, um kurzfristige Gewinnziele erreichen zu können. »Wer das nicht verträgt, der kann sich ja von unserem tollen betrieblichen Gesundheitswesen wieder aufpäppeln lassen«, hat mir kürzlich so einer gesagt. Doch die Zeiten, in denen Mitarbeiter nichts als Spielfiguren des Managements waren, sind endgültig vorbei. Der Mitarbeiter 3.0 verlangt ein ganz neues Führungsverständnis.

Denn die Social-Media-affine Smartphone-Elite hat längst begonnen, eine ethischere Tätigkeitskultur zu entwickeln: werteorientiert, selbstbewusst, verspielt, autonom. Der versierte Umgang mit Onlinemedien ist ihr wichtigstes Kapital. Das Meistern von Bits und Bytes nennt sie Arbyte (Peter Glaser). Die Aussicht, bei einem Arbeitgeber wieder in die analoge Steinzeit zurückzufallen, ist entsetzlich für sie. Wer kein passendes Arbeitsumfeld bieten kann, kommt für sie nicht in Betracht. Millennials erwarten lebenswerte Büros und ein lockeres Miteinander, so wie sie es aus ihrer vernetzten, digital transformierten Freizeit kennen.

Und wenn sie mehrere Jobangebote haben, entscheiden sie sich für das mit dem Sinn-Plus. Diese Grundeinstellung befruchtet inzwischen den kompletten Arbeitsmarkt. Die Menschen wollen nicht einfach nur noch mehr Geld verdienen. Sie wollen bei ihrer Arbeit glücklich sein. Ein Dasein, bei dem Leben und Arbeit, wenn überhaupt, so einigermaßen in Balance ist, reicht ihnen nicht. Sie wollen, dass alles Berufliche zu einem befruchtenden und in hohem Maße befriedigenden Teil ihres Lebens wird. Das wird das »New Normal« sein. Ich nenne es Work-Life-Integrität. Denn Arbeitszeit ist Lebenszeit.

Das interne Touchpoint-Management: ein Navigationssystem für den Unternehmenserfolg

Das interne Touchpoint-Management betrachtet die »Reise« eines Mitarbeitenden durch das Unternehmen und geht von dessen Standpunkt aus. Es berücksichtigt die Anforderungen an unsere neue Arbeitswelt. Und es ordnet deren zunehmende Komplexität in ein Gesamtsystem.

Ziel des insgesamt vierstufigen Prozesses ist die Koordination aller Berührungspunkte zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden, um die Interaktionsqualität zu verbessern, inspirierende Arbeitsplatzbedingungen zu gestalten und – im Rahmen eines wertschätzenden Klimas – ansprechende Leistungsmöglichkeiten zu schaffen. Hierbei kann jede Interaktion als Chance genutzt werden, die Exzellenz der Mitarbeitenden zu erhöhen, ihre emotionale Verbundenheit zum Unternehmen zu stärken und positive Mundpropaganda nach innen und außen auszulösen.

Dazu arbeitet die Führungsmannschaft abteilungsübergreifend vernetzt und mit Blick auf den kontinuierlichen Wandel. Alle Mitarbeitenden werden auf das Wohlergehen der Kunden ausgerichtet. So erhöht die intensive Auseinandersetzung mit jedem einzelnen internen Touchpoint nicht nur die Mitarbeiterperformance, sie führt auch zu einer Ressourcenoptimierung, zu Zeit- und Kosteneinsparungen, zu einer Stärkung der Arbeitgebermarke, zu einer höheren Kundenloyalität, zur Neukundengewinnung durch Weiterempfehlungen und damit zu gesunden Erträgen. Am Ende des Weges steht eine Organisation, die hocheffizient ist – und zutiefst human.

Um alle skizzierten Themen nun zu vertiefen, habe ich das Buch in drei Teile gegliedert:

Teil 1 zeigt mit Blick auf unsere sich zunehmend digitalisierende Businesswelt, an welchen sieben internen Rahmenbedingungen vordringlich zu arbeiten ist, um wettbewerbsfähig die Zukunft erreichen zu können.

Teil 2 befasst sich mit der neuen Arbeitswelt und den »neuen« Mitarbeitenden, mit einer digitalitätsbasierten Mitarbeitertypologie, mit der »neuen« Führungskraft und passenden Führungsstilen für heute und morgen.

Teil 3 veranschaulicht den CTMP® Collaborator Touchpoint Management Prozess. Detailliert wird gezeigt, wie im Rahmen dieses neuen Managementmodells die Interaktionspunkte zwischen Mitarbeitenden, Führungsverantwortlichen und Arbeitgeber zu strukturieren und zu gestalten sind. Und: Der interne Touchpoint-Manager wird postuliert.

Dabei will dieses Buch mehr als nur zeigen, wohin die Reise geht. Schlaue Bücher über die Zukunft gibt es genug. Doch in diesen Umbruchzeiten wollen vorausschauende Unternehmer vor allem eins: so viel Konkretes wie möglich, also Beispiele, Anregungen, Hinweise und Tipps auf ihre brennende Frage »Und wie mach ich das nun?«. Denn bekanntlich sollten Worten ja auch Taten folgen. So schlägt dieses Buch die Brücke von der Metaebene der Strategie zur tagtäglichen operativen Praxis. Was auch immer Sie davon auf Ihre geschäftliche, berufliche und persönliche Reise mitnehmen wollen: Zunächst wünsche ich Ihnen viel Freude beim Lesen. Und dann den denkbar größten Erfolg bei der Umsetzung. Schreiben Sie mir doch bei Gelegenheit, wie es Ihnen damit ergangen ist. Ich bin gespannt.

Ihre
Anne M. Schüller
Im goldenen Oktober 2013

abb-04.jpg

Drei Dinge, die ich noch sagen wollte:

  1. Wenn ich hier über Führungskräfte, Mitarbeitende und Kunden schreibe, sind natürlich immer Männer und Frauen gemeint. Nur, wenn es den Unternehmen gelingt, das Beste ihrer männlichen Mitarbeitenden und das Beste ihrer weiblichen Mitarbeitenden optimal zusammenzuführen, ist wahre Exzellenz und damit die Zukunft zu schaffen.
  2. Durch die zunehmende Globalisierung sind Anglizismen verstärkt in die Wirtschaftswelt vorgedrungen – ob man das will oder nicht. Dort wo ich weniger gebräuchliche englische Worte benutze, habe ich sie ins Deutsche übertragen. Falls mir das einmal nicht gelungen sein sollte, schreiben Sie mir.
  3. Den CTMP® Collaborator Touchpoint Management Prozess, dessen Erfinderin ich bin, habe ich im letzten Teil meines Bestsellers Touchpoints bereits ansatzweise vorgestellt. In diesem Buch habe ich dieses Konzept auf vielfachen Wunsch hin vertieft und maßgeblich erweitert. Unverzichtbare Aussagen habe ich hier noch einmal zitiert. Mehr zum Thema Kunde und alles zum Kundenkontaktpunkt-Management wartet in Touchpoints auf Sie.

Teil 1
Unternehmerische Rahmenbedingungen für unsere neue Businesswelt

titelei.jpg

Die sieben Schlüsselaufgaben für morgen

Etwas Großes ist im Gange. Es wird ein neues Spiel gespielt. Und Chancen werden neu verteilt. Wir stecken mittendrin im größten Change-Prozess aller Zeiten. Doch wir bemerken es kaum, weil wir so sehr mit dem Augenblick beschäftigt sind. Dabei ist ein paradigmatischer Wandel der Lebens-, Kauf- und Arbeitsstile längst unübersehbar. Mutige neue Anbieter mit ihren frischen, frechen Ideen treiben den Markt mit atemberaubender Geschwindigkeit voran. Alles wird immer schneller alt. Jeden Tag wird die Welt ein wenig digitaler. Und komplexer. Und auch sozialer.

Die Menschen rücken näher zusammen, die Solidarität wächst. Der Ton wird informeller, die Kommunikation direkter. Statt »Haben« spielt »Sein« eine größere Rolle. Eine Entwicklung vom Ich zum Wir zeichnet sich ab; statt Abgrenzung rückt Teilhabe nach vorn. Ein riesiger Demokratisierungsprozess ist die Folge. Wissen schlägt Macht. Nicht der Shareholder-Value, sondern die Kundenwünsche steuern heute die Unternehmen. Und eine neue Form von Verbundenheit, die fünfte Loyalität nenne ich sie (und erkläre das später), ist im Kommen. Virtuelle Netzwerke sind die Auffangbecken für erodierende klassische Sozialstrukturen – und Geburtshelfer für eine neue Kultur des physischen Miteinanders. Die Digital Natives sind ihre Protagonisten.

Diese Zeitenwende betrifft nicht nur den Einzelnen als Mitglied einer Gemeinschaft sowie die Gesellschaft als Ganzes. Sie betrifft die Wirtschaft gleichermaßen und – spiegelbildlich betrachtet – auch das Innenleben einer Organisation. Die wichtigsten Schlagworte heißen: öffnen, verflachen, verbreitern. Dabei werden »weiche Faktoren«, die sich in der Reputation eines Unternehmens manifestieren, fortan von ausschlaggebender Bedeutung sein. Und die Reputation selbst wird zu einem wesentlichen Bestandteil des Unternehmenswerts.

Doch Reputation kann – im Gegensatz zum Image – nicht einseitig von den Anbietern gesteuert werden. Denn Reputation entsteht nicht durch das, was man selbst über sich sagt, sondern durch das, was Dritte denken und sagen. Kontrolle findet nunmehr öffentlich statt. Wo ein Empörungswille ist, schlägt dieser schnell Wellen. Unternehmenslügen werden ruckzuck in Shitstorms verwandelt. So sorgt die Weisheit der Vielen dafür, dass sich die Spreu vom Weizen trennt. Und das Böse wird zunehmend aussortiert: Im Web läuft das größte Empfehlungsprogramm aller Zeiten.

Ein solches Szenario kann nicht länger mit verkalkten Konzepten aus prädigitalen Wirtschaftszeiten gemeistert werden. Was die Unternehmen am meisten lähmt, sind zu viel Management – und zu wenig Mitarbeiterfokus, zu viel Hierarchie – und zu wenig Kollaboration, zu viel Regelkorsett – und zu wenig Möglichkeitsraum, zu viel Zahlenwerk – und zu wenig Emotionalität, zu viel Selbstgefälligkeit – und viel zu wenig Kundenliebe.

Um für die neue Businesswelt fit zu sein, muss es genau umgekehrt laufen:

tab_01.jpg

Ein zaghaftes Auffrischen von Bestehendem reicht dabei nicht aus. Eine Neuausrichtung ist vielmehr gefragt. Vieles muss einer schöpferischen Unruhe und manches einer schöpferischen Zerstörung (Joseph Schumpeter) preisgegeben werden, um Raum für Neues, Passenderes zu schaffen und sich für den Wettbewerb der Zukunft zu rüsten. Weitermachen wie bisher ist keine Option. Ein Neustart ist angesagt. Noch vor den technologischen und produktbasierten Innovationen sind zuallererst Managementinnovationen dringend vonnöten. Nur zu. Die Spielregeln werden nie mehr die alten sein.

Sieben Schlüsselaufgaben sind dabei in Angriff zu nehmen:

Mit diesen Aufgaben wollen wir uns nun detaillierter befassen. Sie sind das Fundament, auf das die Mitarbeiterführung in neuen Businesszeiten baut.

Regelwerke dezimieren

Eines ist sicher: Auf der Reise in die Zukunft braucht man leichtes Gepäck, weil die Märkte, wie die Hasen, immer neue Haken schlagen. Für Planzahlspiele, Budgetierungsexzesse und Excelsheet-Orgien bleibt keine Zeit. »Planung kann nie schneller sein als die nächste Veränderung« heißt es im Turboland China. Deshalb muss zunächst der bleischwere Ballast aus alten Businesstagen über Bord: Traditionen, die nie hinterfragt worden sind, heilige Kühe, die keiner schlachten wollte, Managementmoden, die schon eine rostige Patina tragen. Interne Sperren müssen gelockert, Bremsklötze weggeräumt und anweisungsorientierte Kontrollsysteme schnell entsorgt werden. Denn daran kann ja wohl kein Zweifel sein: Mit den Waffen von gestern sind die Gefechte von morgen nicht zu gewinnen.

Viel Zeit bleibt auch nicht. Und die Liste veralteter Methoden und Prozesse ist lang. Doch festgezurrte Systeme neigen per se zur Kontinuität anstatt zum forschen Handeln. Und Kontrolle ist ein zurückblickendes Instrument, das nur Fehlentwicklungen zeigen kann, die bereits stattgefunden haben. Durch Bürokratie und Administration werden Entscheidungen verzögert, verhindert oder in die falsche Richtung gelenkt. Und Standards bewirken eben nur Standardleistungen – und damit langweiliges Mittelmaß. Sie geben Planungssicherheit? Ein Widerspruch in sich! Was den Unternehmen heute im Markt begegnet, ist permanente Vorläufigkeit. Die einzige Gewissheit ist die, dass Plan und Wirklichkeit bereits am zweiten Tag des neuen Geschäftsjahrs auseinanderdriften. Und was macht ein braver Manager dann? Er folgt nicht der Wirklichkeit, sondern dem Plan. Das ist absurd!

Klar: Regelwerke und Funktionsroutinen sichern ein Leistungsniveau, sie tragen zur Arbeitsentlastung bei, und sie helfen, böse Fehler zu vermeiden. Doch sie sorgen auch für einen schleichenden Verkrustungsprozess. Die Frage »Wie mache ich das jetzt am besten?« wird irgendwann nicht mehr gestellt. Wenn ein Handbuch zum Gesetzbuch wird, sind die Mitarbeiter vor allem damit beschäftigt, den vorbestimmten Abläufen akribisch zu folgen, ganz egal, ob sie sinnvoll oder sinnlos sind. Und die ihnen Vorgesetzten begreifen sich als Hüter der Vorschriftensammlung. Deren Einhaltung wird streng überwacht. Abweichungen werden mit aller Härte bestraft. Und jeder Verbesserungsvorschlag wird zum versuchten Normverstoß. Ein evolutionärer Stillstand ist damit vorprogrammiert. Initiativlosigkeit und Konformität stellen sich ein. Aus Meinungsvielfalt wird Einfalt, die, von der Realität abgekoppelt, am Ende auch für einfältige Entscheidungen sorgt.

ISO-Rausch erzeugt Isomorphie

Ein junger Mann, der bei der Bahn als Schlafwagen-Steward gearbeitet hatte, erzählte mir dies: »Manchmal kam es vor, dass bei uns aufgrund einer technischen Störung die Toiletten ausfielen. Folgendes stand dazu im Service-Handbuch: In dem Fall, dass es zu Störungen im Betriebsablauf der Bordtoiletten kommt, ist den Fahrgästen ein kostenloses Getränk anzubieten.« Hier zeigt sich wie so oft, dass nicht die Kundenerwartungen der Maßstab für die Serviceleistungen eines Unternehmens sind, sondern das Funktionieren nach ISO. Dabei ist, wie es scheint, manchem Manager der gesunde Menschenverstand abhandengekommen. Und schlimmer noch: ISO erzeugt Isomorphie. Das heißt: Alles gleicht sich immer mehr an. Doch nur das Besondere, Faszinierende, Bemerkenswerte hat eine Zukunft.

»Sie können sich den größten Schwachsinn einfallen lassen«, schreibt Serviceexperte Vinzenz Baldus entrüstet, »zum Beispiel Schwimmwesten aus Beton. In diesem Fall kommt es nur darauf an, dass Sie, wie bei allen sinnigen Produkten und Prozessen auch, Ihre Leitlinien und die Umsetzungsschritte genau dokumentieren, die Schritte, wie Sie diese spezielle Dienstleistung herstellen, vermarkten und über einen speziellen Kundendienst warten lassen wollen. Und dann werden Beauftragte des TÜV oder des DEKRA zu Ihnen kommen, vier Wochen den Betrieb lahmlegen – und wenn die angegebene Betondichte überprüfbar stimmt, dann erhalten Sie Ihr Zertifikat. … Sie können sich wirklich den größten Schwachsinn einfallen lassen – Hauptsache, Sie machen ihn regelmäßig und überprüfbar – dann erhalten Sie auch regelmäßig Ihre Nachzertifizierung.«8

Natürlich ist das Sichern einer Basisqualität richtig und in manchen Fällen sogar lebensnotwendig. Wer aber bei jedem Auftauchen eines Problemchens eine weitere Regel erschafft und für jeden Vorgang ein Formular erfindet, ist prozessbesessen und züchtet geistige Krüppel. Er macht seine Organisation langsam und dumm. Und wenn mit dem Festmachen einer neuen Regel nicht gleichzeitig eine Regel an anderer Stelle gestrichen wird, dann wird die Arbeitslast mit jedem Mal mehr. Am Ende verwandelt die Zwangsjacke starrer Normen die Mitarbeiter in Marionetten, die sich selbst den blödesten Anweisungen willenlos beugen und den Kunden ihre industrialisierten Serviceprozesse aufzwingen (»Das ist bei uns Vorschrift!«). Wie Aufziehpuppen reden sie mit einem am Telefon oder an der Theke im Schnellrestaurant.

Kill a stupid rule!

»Ändern Sie Strukturen und nicht Menschen. Intelligente Menschen haben in dummen Organisationen keine Chance«, sagt der Führungsexperte Reinhard K. Sprenger.9 Genau so ist es! Die Verantwortung zum Kunden-glücklich-Machen darf nicht länger auf dicke Wälzer abgewälzt werden. Sie muss direkt bei den kundennahen Mitarbeitern sein. Der erste Schritt? »Entregeln« Sie! Packen Sie dazu folgenden Tagesordnungspunkt fest in Ihre Meeting-Agenda: Kill a stupid rule! Oder auf Deutsch: Von welchen dummen Regeln und von welchem administrativen Schwachsinn können wir uns diese Woche trennen? Zwei Schlüsselfragen sind dabei zu stellen:

Was sich oberhalb der Nulllinie alles machen lässt? Fragen Sie die Kunden! Fragen Sie vor allem aber die kundennahen Mitarbeiter! Die sind am nächsten dran und haben die genialsten Ideen, wenn man sie nur öfter mal machen ließe. »Die da oben« entscheiden nämlich vielfach über Dinge, von denen sie weit weniger verstehen als »die da unten«. Und genau deshalb braucht es ein Klima, das Schwarmintelligenz möglich macht. Leider glauben viele Manager ja immer noch, an den Rändern ihrer Organisation gäbe es kein intelligentes Leben. Doch das Gegenteil ist der Fall. Das wertvollste Wissen für ein Unternehmen befindet sich genau dort.

Allerdings geben Mitarbeiter ihre Gedanken nur dann preis, wenn sie glauben, dass diese auch Wertschätzung erfahren. Und wenn sie wissen, dass Fehler kein Beinbruch sind. Denn Fehler sind der Preis für Evolution und Innovation. Wer Neues ausprobiert, der muss auch scheitern dürfen. Fehler machen heißt: üben, um siegen zu lernen. Eine proaktive, achtsame Fehler-Lern-Kultur ist also unumgänglich. Deshalb sollte zumindest ein Standard im Unternehmen bleiben. Und dieser heißt: »Widersprechen Sie Ihrem Chef!« Schon allein hierdurch lassen sich viele kleine Innovationen erzielen, die das tagtägliche Arbeitsleben aller erleichtern und – wer weiß – den Kunden richtig viel Freude machen.

Gefühlte Hierarchien reduzieren

Treffen sich zwei Menschen, dann werden sie – und das passiert völlig unbewusst – zunächst ihren Status sondieren: Ist der andere mächtiger, attraktiver, einflussreicher, intelligenter und wohlhabender oder dümmer und ärmer als ich? Ist er in der Lage, mir die Frau/ den Mann wegzunehmen? Wie hoch ist sein gesellschaftliches Ansehen? Bedroht er mein Territorium oder meinen Arbeitsplatz? Woran erkenne ich, ob er über oder unter mir steht? Meist verläuft ein solcher Statusabgleich auf subtile Weise und ist kaum wahrnehmbar: durch die Form des Begrüßungsrituals, die Intensität des Blickkontakts, das Ausladende in der Gestik, den Anteil an Redezeit. Hohe Stimmlagen bezeugen Ergebenheit, der »Brustton der Überzeugung« beansprucht Respekt. Bässe verdienen im Job übrigens durchschnittlich mehr als Tenöre. Piepsige Stimmen, sagt sich unser Gehirn, wollen nur spielen, strenge Gesichter und sonore Stimmen meinen es ernst.

Hochstatus weist an, ohne zu fragen. Niederstatus hört zu, ohne etwas zu sagen. Und wenn »Niedere« reden, sind deren Hinweise irrelevant. Obere benötigen Zeichen der Macht und gleichfalls Zeichen der Ergebenheit, um sich ihrer Statushoheit jederzeit sicher zu sein. Zur Unterwerfung gehören eine leise Stimme, ein ausweichender Blick, ein seitlich geneigter Kopf, das Sich-klein-Machen, ein unterwürfiges Lächeln, eine zaghafte Entschuldigung. Solche Gesten erzeugen Beißhemmung. Untersuchungen haben gezeigt, dass beim Sieger eines Kampfes dessen Testosteronspiegel weiter steigt, während er beim Unterlegenen sofort in den Keller geht. Damit Gruppen handlungsfähig bleiben, gibt es diesen Unterwürfigkeitsautomatismus – auch heute noch. Erst wenn die Statusfrage geklärt ist, kehrt Ruhe ein. Und erst dann kann man sich um Sachthemen kümmern.

Natürlich brauchen Gemeinschaften gemäßigte Ordnungssysteme und unvermeidliche Hierarchien. Aber sie brauchen keinen Wasserkopf. Hierarchieausdünnung als buchhalterischer Trick, um Kosten zu sparen und den Druck zu erhöhen, ist auch nicht mein Ding. Mir geht es hier vor allem um die gefühlte Hierarchie, die Hierarchie im Kopf und ihre gefährlichen Folgen. Entscheidende Fragen sind die: Wie wird Hierarchie bei Ihnen gelebt? Oben Klasse, unten Masse? Wie viele rein formelle Statussymbole, die sogenannten Krücken der Macht, gibt es noch? Welche verbalen und nichtverbalen Überlegenheitszeichen werden wie zelebriert? Und von wem? Werden Unterwürfigkeitssignale rechtzeitig erkannt? Und wie wird damit umgegangen? Wer spielt immer noch Herr und Knecht? Mit welchen Folgen? Und Achtung dabei: Diejenigen, die das tun, tun es geschickt, und sie wählen ihre Worte trefflich, denn sie sind ja seminarerfahren. Doch ihre Einstellung, die spürt man auch zwischen den Zeilen. Am Ende läuft das alles auf eine Frage hinaus: Wie wird bei Ihnen mit Macht umgegangen?

Wer Machtansprüche rein durch Hierarchie sichern will, riskiert (heimlichen) Widerspruch. Gerade von den Digital Natives wird Autorität erst dann anerkannt, wenn sie durch Taten gerechtfertigt ist. Institutionalisierte Autorität »von Amts wegen« wird sofort hinterfragt. Und die klassischen Statussymbole haben viel von ihrer Strahlkraft verloren. Eine junge Freundin von mir, der Rangmerkmale nicht so wichtig waren, hatte sich entschlossen, nach ihrer Beförderung in eine leitende Position weiter ihr schickes Cabrio statt eines fetten Dienstwagens zu fahren. Schon bald wurde sie von ihren Mitarbeitern gebeten, sie möge sich doch bitte das ihr zustehende Fahrzeug zulegen, weil die ganze Abteilung in den Augen der anderen schon als minderwertig galt. In dieser Firma wurde Hierarchie noch immer über Quadratmeter Bürofläche, Länge der Fensterfront, Anzahl der Blumentöpfe und über den fahrbaren Untersatz definiert. Doch solches Machtgeplänkel ist gefährlich. Es kostet Zeit und belastet das Klima.

Macht an sich ist ja weder gut noch böse. Es kommt vielmehr darauf an, wie man sie nutzt. Es gibt nämlich eine helle und eine dunkle Seite der Macht. Sie macht die Guten besser und die Schlechten schlechter. Der Grat ist schmal und die Verlockungen sind riesig. »Dem ist sein neuer Job zu Kopf gestiegen«, sagt der Volksmund dazu. Wie recht der hat! Hirnforscher berichten von einem sich verändernden Hormongemenge, vor allem der Testosteronspiegel steigt. Man wird zu einer High-T-Person, vielleicht sogar zu einer aus der »dunklen Triade« von Psychopathen, Narzissten und Machiavellisten. Die möglichen Folgen: Skrupellosigkeit, übersteigertes Geltungsbedürfnis, Positionengeschacher und Selbstbedienungsmentalität. Die Company wird umgebaut, um den Investoren zu imponieren, der Wirtschaftspresse zu gefallen und Boni einzuheimsen, ganz unabhängig davon, ob dies unternehmerisch sinnvoll ist und dem Wohl aller dient.

Die Machtdroge Testosteron dämpft auch Empathie, was früher im Einzelfall sinnvoll war, denn im Kampf musste man notfalls töten können. Ganz klar kann Testosteron auch ein wunderbarer Antreiber sein, es sorgt für Wachstum und Fortschritt und bringt uns mächtig voran. Doch in den falschen Hirnen ist es ein Teufelszeug. Es befeuert Eskalation, lässt über zulässige Grenzen springen und fabriziert den gefürchteten Tunnelblick. Höllisch aufpassen muss also jeder, der Macht erlangt, denn Macht verändert die Persönlichkeit. Der zunehmend sorglose Umgang mit Machtbefugnissen führt zur blinden Selbstüberschätzung, zu Gewissenlosigkeit, zu pathologischem Größenwahn und womöglich in die Kriminalität. Soziale Kompetenzen verkümmern. Gefühlskälte setzt ein. Und die selbstkritische Einsicht versiegt. Oft ist niemand mehr da, der nach Einhalt ruft. Denn Autoritätshörigkeit verbietet Widerworte. Übrigens besteht eine enge Beziehung zwischen einem beruflichen Aufstieg und dem Verschweigen von Fehlern und Schwierigkeiten gegenüber dem Chef.

Macht und Angst sind ein Paar

Wo Macht ist, ist immer auch Angst. Die Angst derer, die nach oben drängen, ist es, den Anschluss zu verpassen. Und die Angst derer, die schon oben angekommen sind, ist es, die mit Macht einhergehenden Privilegien wieder zu verlieren. So kommt es, dass Machtbesessene ihren Zuständigkeitsbereich hermetisch abriegeln, im Silodenken verharren und ihr Wissen wie einen Schatz hüten, anstatt es zu teilen. Verstehen sich Führungselite und Belegschaft als »wir da oben« gegen »die da unten«, dann ist der Bruch vorprogrammiert. Zwischenmenschliche Kälte ist in einem solchen Kontext noch das kleinere Übel. Vor allem werden in großem Stil menschliche Ressourcen verschwendet, denn es baut sich ein Szenario aus Drohungen, Intrigen, Missgunst und Kontrollwahn auf. Der Fokus ist nach innen gerichtet. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Für Kunden bleibt da wenig Zeit. Das Ärgste: Wo Angst regiert, hat Kreativität keine Chance.

Kreativität ist die Schlüsselressource der Zukunft. Das Denken gegen die Regel gehört zu den maßgeblichsten Erfolgsfaktoren, um sich von Durchschnitt und Mittelmaß abzuheben. Denn Mittelmaß will niemand mehr kaufen. Aber wie bitte soll Außergewöhnliches, ja geradezu Einzigartiges entstehen, wenn stromlinienförmige Mitarbeiter und eine maultote Meute von Mitläufern ein Unternehmen bevölkern? Und alle immer nur abwartend nach oben schauen, anstatt nach draußen zum Kunden? Das Machtwort des Chefs lässt wertvolle Initiativen einfach versanden. Die guten Mitarbeiter mit hohem Potenzial lernen auf diese Weise, dass ihre Meinung nicht zählt. Und sie wandern in Scharen ab.

Führungskräfte täten also gut daran, ihr Hierarchiegehabe auf ein Minimum zu reduzieren und den gefühlten sozialen Abstand zwischen sich und ihren Leuten zu mäßigen. Da kann es schon helfen, die Mitarbeiter regelmäßig besuchen zu gehen, statt sie im eigenen Büro antanzen zu lassen. Dies ist ein Baustein von vielen, um das Ungleichgewicht so klein wie möglich zu halten. Das schaffen allerdings nur gefestigte Individuen mit natürlicher Autorität und funkelndem Charisma: mitarbeiternahe, souveräne, integre Führungspersönlichkeiten. Sie werden von ihren Leuten verehrt, selbst wenn sie kleine Schwächen haben. Für sie geht man bis ans Ende der Welt.

Wie sich Hierarchie zurückbauen lässt

Hierarchie manifestiert sich zum Beispiel über die Kleiderordnung. So sieht eine Krawatte bei genauer Betrachtung aus wie ein Schwert. Unser Unterbewusstsein liest solche Symbole wie Signale aus. Interessanterweise wird, sobald es ernst und geschäftlich wird, eine Krawatte angelegt. Ist das Klären der Vertragsbestandteile vorbei und der Sieg eingefahren, macht man sich sogleich wieder locker, der Griff geht zum Krawattenknoten. Und dort, wo um große Beute gerungen wird, in den Zentren der Macht, da tragen die Herren auch Westen, wie einen Panzer, quasi als zusätzlichen Schutz. Frauen tragen beides übrigens nicht. Zumindest für unseren zerebralen Autopiloten – und jeder weiß, wie stark der ist – heißt das wohl übersetzt: Wer kein Schild und kein Schwert hat, spielt bei Businessspielen nicht mit.

Mal ganz unabhängig von dieser Thematik: Wer auf Augenhöhe mit seinen Leuten agieren und alles Verbissene herausnehmen will, dem sei geraten, die Management-Verkleidung auch mal abzulegen und sich ein wenig locker zu machen, damit die Leute ihre Scheu verlieren. Sodann befreie man seine Organisation vom Schlipszwang und lasse Farbe in die Büros, damit sich das uniformierende Einheitsgrau der Anzugträger endlich verflüchtigt. Von Soldaten, die in Reih und Glied marschieren, bekommt man nichts, was aus der Reihe tanzt. Nur das Besondere, das Bemerkenswerte im wahrsten Sinne des Wortes, wird am Markt mit stetem Habenwollen belohnt. Wie erfolgreich ein niedrighierarchisches System funktioniert und welche Vorteile die Abkehr von der Silodenke bringt, darüber hat Detlef Lohmann, Geschäftsführer des (Automobil-)Zulieferers Allsafe Jungfalk, übrigens ein großartiges Buch geschrieben. Der Titel: … und mittags geh ich heim.

Noch ein paar Worte zur Ausdrucksweise des Führungskreises: Ist dessen Kommunikation empfängerorientiert und zielgruppengerecht? Oder ist sie vage, umständlich, nichtssagend, akademisch, floskelhaft und fremdwortgespickt? Genau damit öffnet sich eine vergiftende Kluft zwischen oben und unten – und dies verhindert Erfolg. Ist die Sprache hingegen klar und deutlich, konkret und verbindlich, anschaulich und motivierend, bildhaft und für jeden verständlich, dann sorgt dies für Nähe und Leistungswillen. Vernebeltes Geschwafel und Managerslang trennen aber nicht nur, sondern beinhalten auch Risiken: allgemeine Verwirrung, Fehlinterpretationen und Missverständnisse, die zu falschen Schlüssen und Fehlentscheidungen führen. All das kann sehr, sehr teuer werden.

In einer Kolumne für das Handelsblatt hat Stefan Kolle, Mitinhaber einer Hamburger Werbeagentur, festgestellt, dass »die Kommunikation nach außen ständig perfektioniert wird«, während sie nach innen oft völlig lieblos sei.7 Eins zu eins werden die für Werbung, Medienvertreter und Fachjournalisten hochgeschraubten Texte auch intern verwendet. Man macht sich nicht einmal die Mühe, die Sprache einer Pressemeldung in Mitarbeitersprache zu übertragen. Umgekehrt würde man das niemals so machen. Nun ja, ein solches Verhalten zeigt klar, wie »viel« Wertschätzung man gegenüber »Untergebenen« hat. Wie ein Geheimcode grenzt Fachjargon aus und degradiert andere zu Laien. Das darf ja wohl nicht das Ziel einer Führungskraft sein! Eine mitarbeiternahe Kommunikation kann Gräben schließen und verbindende Brücken bauen. Davon mehr in Teil 3.

Schwarmintelligenz integrieren

Die Digital Natives und die Start-up-Gründer unter ihnen sind in einer digital vernetzten Lebenswelt groß geworden. Sie bewegen sich ständig in Schwärmen, die in den Weiten des Webs ihre Heimat haben. Damit sind sie etablierten Unternehmen um Meilen voraus. Wollen Letztere nicht den Anschluss verlieren, müssen sie baldigst verstehen lernen, wie soziale Netzwerke effektiv funktionieren und wie sich Schwarmintelligenz erfolgswirksam nutzen lässt. Unter Schwarmintelligenz versteht man die Weisheit der Vielen, eine sich mehr oder weniger selbst organisierende kollektive Intelligenz, die jenseits von Administration und Bürokratie eine Vielfalt von innovativen Ideen hervorbringen kann.

Natürlich ist, um Innovationen im Sinne echter Durchbrüche zu erzielen, zudem die Expertise von Spezialisten vonnöten. Und bisweilen braucht es die strategische Hand eines energischen Chefs. Doch einsame Entscheidungen können auch leicht in den Abgrund führen. Tödlich für die Innovationskraft einer Organisation ist es indes, wenn alles wie erstarrt auf das Brüllen des Silberrückens harrt. Klar, auch in Netzwerken gibt es Autoritäten, denen man folgt. Doch den blinden Gehorsam, der in geschlossenen Organisationen immer noch ausgeprägt ist, den gibt es hier nicht. Leadership-Kunst wird zukünftig heißen, positive Leittiereffekte und Mitarbeiter-Schwarmintelligenz zielführend zu kombinieren – und ein Miteinander zu finden, das auch die Kunden in alle Stufen der Wertschöpfungskette aktiv integriert.

Bereits vor Jahren hat der Soziologe James Surowiecki in seinem Weltbestseller The Wisdom of the Crowds anhand vieler Beispiele gezeigt, dass eine Gruppe in aller Regel »klüger ist als ihr gescheitestes Mitglied«. Allerdings nur dann, wenn ihre Zusammensetzung inhomogenund