Dorothee Sölle

Mystik und Widerstand

»Du stilles Geschrei«

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© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

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ISBN (E-Book) 978-3-451-80096-2

ISBN (Buch) 978-3-451-61276-3

Inhalt

Einleitung von Fulbert Steffensky

Vorwort: Ein Gespräch

Einführung

I Was ist Mystik?

1 Wir sind alle Mystiker

1.1 Mystik der Kindheit

1.2 Sind Mystiker ganz anders?

1.3 Die mystische Empfindlichkeit

1.4 »Ich bin, was ich tue«: C. S. Lewis

2 Ekstase

2.1 Heraustreten und Versinken

2.2 Das Getriebe und die Einheit: Martin Buber

2.3 Rabi’a und die Sufimystik

2.4 Mansur Al Halladj: agnus dei mohamedanus

2.5 Wir sind nicht zu Kleinem geschaffen

3 Definitionen – Methoden – Abgrenzungen

3.1 Von der Hermeneutik des Verdachts zu einer des Hungers

3.2 Pluralismus der Methoden und Kontextualität

3.3 Unterscheidung von wahrer und falscher Mystik

4 Eine andere Sprache finden

4.1 Die Wolke des Nichtwissens und die Wolke des Vergessens

4.2 Das »sunder warumbe«

4.3 Eine Sprache ohne Herrschaft

4.4 Die via negativa

4.5 Das Paradox

4.6 Das Schweigen

5 Die Reise

5.1 Himmelsleitern und Erdstationen

5.2 Reinigung – Erleuchtung – Einung: Die drei Wege klassischer Mystik

5.3 Spuren einer anderen Reise: Thomas Müntzer

5.4 Staunen – Loslassen – Widerstehen: Entwurf einer mystischen Reise für heute

II Orte mystischer Erfahrung

6 Natur

6.1 Orte und Ortlosigkeit

6.2 Ein Morgenlied: Harriet Beecher Stowe

6.3 Monotheismus – Pantheismus – Panentheismus

6.4 Teilen und Heilen – ein anderes Verhältnis zur Erde

7 Erotik

7.1 Die Untrennbarkeit von himmlischer und irdischer Liebe

7.2 Das Lied der Lieder

7.3 Marguerite Porète und der hinreißend Fernnahe

7.4 Die Bitterkeit der Ekstase: D. H. Lawrence und Ingeborg Bachmann

7.5 Sacred power, die Macht des Heiligen

8 Leiden

8.1 Hiob: Die teuflische und die mystische Wette

8.2 Zwischen Dolorismus und Compassio

8.3 »Auch wenn es Nacht ist«: Johannes vom Kreuz

8.4 »Besser in der Agonie als in der Narkose«: Zur Leidensmystik im 20. Jahrhundert

9 Gemeinschaft

9.1 Die verborgenen heiligen Funken: Chassidim

9.2 Gemeinschaft – der Sinai der Zukunft: Eine Auseinandersetzung mit Martin Bubers Verhältnis zur Mystik

9.3 Regellos und arm, verfolgt und frei: Die Beginen

9.4 Die Gesellschaft der Freunde und das Innere Licht

10 Freude

10.1 Das mystische Verhältnis zur Zeit: Thich Nhat Hanh

10.2 Schankwirte, Possenreißer und andere Narren: Die Aufhebung der Trennungen

10.3 Tanzen und Springen: Die Körpersprache der Freude

10.4 Zum Verhältnis von Mystik und Ästhetik

III Mystik ist Widerstand

11 Als lebten wir in einer befreiten Welt

11.1 Das Gefängnis, in dem wir eingeschlafen sind: Globalisierung plus Individualisierung

11.2 Aus dem Haus in die Hauslosigkeit

11.3 Handeln und Träumen: Martha und Maria werden

11.4 Die Früchte der Apartheid

12 Ich und Ichlosigkeit

12.1 Das Ich – der beste Wächter im Gefängnis

12.2 »Geh hin, wo du nichts bist«

12.3 Für und Wider die Askese

12.4 Tolstojs Bekehrung vom Ego zu Gott

12.5 Dag Hammarskjölds Freiwerden vom »eisigen Ring«

12.6 Erfolg und Erfolglosigkeit

13 Besitz und Besitzlosigkeit

13.1 Haben oder Sein

13.2 Nackt dem nackten Heiland folgen: Franz von Assisi

13.3 John Woolman und die Sklavenhaltergesellschaft

13.4 Freiwillige Armut: Dorothy Day

13.5 Mittelwege und verrückte Freiheiten

14 Gewalt und Gewaltlosigkeit

14.1 Die Einheit aller Lebewesen

14.2 Die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat: Henry David Thoreau

14.3 Mahatma Gandhi und die Ahimsa

14.4 »Unsere Waffe ist, keine zu haben«: Martin Luther King

14.5 Zwischen Hoffnungen und Niederlagen

15 Eine Mystik der Befreiung

15.1 Tod und Leben des Severino: João Cabral

15.2 Niederknien und den aufrechten Gang lernen: Die Theologie der Befreiung

15.3 »Wenn man mit dem Tod tanzt, muss man gut tanzen«: Pedro Casaldáliga

15.4 Dom Helder Câmara, Stimme der Stummen

15.5 Beten lernen und eine andere Mystik

Benutzte Literatur

O tiefer Schatz, wie wirst du ausgegraben?

O hoher Adel, wer kann dich erreichen?

O quellender Bronnen, wer kann dich erschöpfen?

O lichter Glanz, ausdringende Kraft,

bloße Verborgenheit, verborgene Sicherheit,

sichere Zuversicht, ein’ge Stille in allen Dingen,

mannigfaltiges Gut in einiger Stille,

du stilles Geschrei, dich kann niemand finden,

der dich nicht zu lassen weiß.

Anonymer Brief aus dem 15. Jahrhundert

In lumine tuo videbimus lumen.

In deinem Licht sehen wir das Licht.

Psalm 36,10

Für Fulbert

Genährt von deinem Zu- und Widerspruch

ist dieses Buch gewachsen,

und wäre nicht geschrieben,

ohne dass du mich erinnerst

an jedem finsteren Tag

an das Licht,

in dessen Licht wir sehen werden.

Einleitung von Fulbert Steffensky

Es fällt mir schwer, über Dorothee Sölle zu schreiben, über die Frau, mit der ich 34 Jahre verheiratet war. Ich meide Veranstaltungen, in denen ihrer gedacht wird. Ich versuche, das zentrale kirchliche Haus in Hamburg zu übersehen, das ihren Namen trägt. Ich erlebe sie in solchen Situationen als Beredete, nicht als Redende; als Symbol, nicht als ein Mensch aus Fleisch und Blut; eindeutiger gemacht, als sie je war. Sie ist ihrer Widersprüche entkleidet und verehrungswürdig geworden. Sie hat ihre Unvollkommenheit verloren und damit ihren rotzigen Charme. Ich will nicht falsch verstanden werden. Ich freue mich darüber, wenn ihre Texte in Schulbüchern, Anthologien und Kalendern erscheinen. Ich freue mich, wenn eine Straße nach ihr benannt wird. Nur ich selbst gehe nicht gern durch diese Straße, weil die Frau, die ich geliebt und mit der ich gelebt habe, mir dort als Denkmal erscheint. Dazu ist sie mir noch zu wenig tot.

Warum aber schreibe ich die Einleitung zu diesem Buch? Einmal, weil der Verlag es gewünscht hat und ich dem Verlag viel zu dankbar bin, als dass ich diesen Wunsch abschlagen könnte. In der Hauptsache aber, weil ich nicht aufhören will, mit ihr zu reden und zu streiten. Toten gegenüber darf man nicht das letzte Wort behalten. Aber wenn ich sie nicht für tot erkläre, dann werde ich nicht aufhören, die Schönheit ihrer Sprache zu loben, sie auf ihre Widersprüche hinzuweisen, mein Unverständnis auszudrücken, mit ihr zu streiten und mich über unsere grundsätzliche Gemeinsamkeit zu freuen. Das mag etwas mystisch klingen, aber dies ist schließlich die Einleitung zu ihrem Mystikbuch. Nein, genau genommen ist es keine Einleitung in die Mystik. Es sind eher unsystematische Überlegungen anhand dieses Buches; Punkte, über die wir immer noch streiten; Punkte, über die wir schon lange einig sind.

Ich finde einen kleinen Text von Dorothee Sölle, den sie wenige Tage vor ihrem Tod geschrieben hat, eine kurze Auslegung eines Verses aus dem Psalm 33: »Unser Herz freut sich des Herren und wir trauen auf seinen heiligen Namen.« Sie schreibt dazu, schon mit müder Hand:

»Die Freude an Gott ist vielleicht das Allerwichtigste, was die Psalmen uns lehren können. Das Buch der Psalmen ist ja das Liederbuch, das Gesangbuch des Alten Bundes. In ihm stehen verzweifelte Lieder, Klagerufe, Bittgesänge, aber eben auch und vielleicht an erster Stelle die Freude an Gott, an seiner Schöpfung, an Sonne, Mond und Sternen, die auf- und untergehen, an Wäldern und Feldern, an Narzissen und Tulipan. ›Oh, wie schön ist Deine Welt, Vater, wenn sie golden strahlet, wenn Dein Glanz herniederfällt und die Luft mit Schimmer malet‹ ist ein Lied, das wir früher oft gesungen haben. Es ist eine Art von Glück, diese Freude an– oder sollte man nicht besser sagen ›in‹? – Gott.

Die Psalmen sind in einer Elendswelt entstanden, die wir uns heute kaum noch vorstellen können. Abhängigkeit vom Wetter, vom fehlenden Wasser, von Krankheiten, von Schmerzen, Ängsten, Nöten, denen die Menschen schutzlos ausgeliefert waren. Wieso spielt in dieser Welt der Ängste vor wilden Tieren und habgierigen Feinden, vor frühem Tod und sterbenden Kindern das Lob Gottes eine solche Rolle? Warum ›freut sich unser Herz‹ und woher kommt dieses merkwürdige Vertrauen, dass es auch morgen etwas zum Freuen gibt? In einer jüdischen Psalmenauslegung heißt es: Die Welt wird erst sichtbar, wo sie besungen wird. Und wir werden erst glücklich, wenn wir mitsingen.«

Diese Freude in Gott ist in dem kleinen letzten Text eher ein Jubelruf oder ein Gebet. In ihrem Mystikbuch ist sie distanzierter und reflektierter beschrieben:

»Der innerste Ort mystischer Gewissheit lässt sich mit dem alltäglichen Wort ›Freude‹ benennen, und ohne sie zu spüren, zu ahnen oder wenigstens zu vermissen, ist die Rede von der mystischen Nähe Gottes unmöglich … Die Freude, der Jubel, die Ekstase, die ohne Grund, Anlass oder Zweck die Seelen ›bewohnt‹, verändert sie in verschiedenen Dimensionen. Die Trennungen und Rollenvorschriften der Gesellschaft werden durcheinander gewirbelt, das Verhältnis zum Selbstausdruck des Körpers und zur Leiblichkeit intensiviert sich, und Freude ist die Grundlage, auf der Mystik und Ästhetik in ein Verhältnis treten; beide beziehen sich auf die Schönheit.« (S. 241)

Ich greife zunächst das Wort Schönheit auf. Ihr Durst nach Schönheit ist von ihrer frühen Jugend an ihr Durst nach Musik. In Tagebuchaufzeichnungen der Sechzehnjährigen heißt es:

»Ganz tief innen weiß ich, dass Musik und die Natur die Elemente meines Lebens sind. Musik muss man irgendwie im Blut haben und ganz fest wissen, wie unverlierbar dies für mich ist, wie sie einfach zu mir gehört. Töne, Töne, Töne … Ich kann mir nichts Schöneres denken als Musiklehrerin zu werden und jungen Menschen diese Welt zu erschließen … Ich höre die Johannespassion. Ich möchte so gerne singen, immerzu. Eigentlich können nur junge Menschen singen. Man darf nicht über den Liedern stehen. Man muss sie leben. Alle Traurigkeit und alles Jubeln muss echt sein in dem Augenblick, da mein Mund sie singt … Ich möchte Märchen schreiben und singen, nichts als singen.«

Es gibt kaum eine Seite ihrer Tagebücher, auf der nicht ein Konzertbesuch oder ein Singen mit den Freundinnen verzeichnet ist. Bis in die letzten Wochen ihres Lebens hat sie im Chor ihrer Kirchengemeinde gesungen und zuhause Klavier gespielt. Sie konnte es am Ende nicht mehr sehr gut. Aber ihre mangelnde Fähigkeit hat ihr die Lust am Spielen nicht verdorben. Sie war eben eine Dilettantin, eine große Liebhaberin. Die Freude an Musik, an Gedichten, an der Natur und an Freundschaften ist sicher nicht die Freude »in Gott«, wie sie es in ihrem letzten Text nennt. Aber es ist ein Propädeutikum jener anderen großen Freude. Sie lernte früh – wenn man so will – Grundeigenschaften der Mystik, nämlich das Staunen, das Loben und das Danken. In ihrem letzten Vortrag am Vorabend ihres Todes sprach sie über die Mystik und begann mit dem Staunen:

»Ich denke, dass jede Entdeckung der Welt uns in einen Jubel stürzt, ein radikales Staunen, das die Schleier der Trivialität zerreißt. Nichts ist selbstverständlich und am allerwenigsten die Schönheit. Es gibt keinen mystischen Weg, der zur Einigung führen kann, wenn nicht dieses Staunen da ist. Staunen heißt, wie Gott nach dem sechsten Tag die Welt wahrnehmen: ›Und siehe, es war alles sehr gut!‹ Das ist ein Anfang. Die Seele braucht das Staunen, das immer wieder erneute Freiwerden von Gewohnheiten, Sichtweisen, Überzeugungen, die sich wie Fettschichten, die unberührbar und unempfindlich machen, um uns lagern … Staunen oder Verwunderung ist eine Art, Gott zu loben – übrigens auch dann, wenn sein Name nicht genannt wird.«

In ihrem Buch »Gegenwind« (Hamburg 1995, S. 286) schreibt sie:

»Ich finde, man muss Gott loben, um das so fromm zu sagen. Ohne zu loben, atmen wir nicht wirklich. Und zu nennen, was gut ist und befreiend, ist der einzige Weg, die Erfahrung der Befreiung zu verteilen.«

Ihre Fähigkeit zu staunen, ihre Lust an der Schönheit der Musik, der Natur und Literatur verdankt sie auch ihrer bildungsbürgerlichen Herkunft. Als sie mir einmal die Stellen über die Musik aus ihrem Tagebuch vorlas, habe ich geantwortet: »Während du die Passionen hörtest und Klavier spieltest, musste ich Ziegen hüten und Kartoffeln hacken.« Caroline Sölle, Ärztin aus Bolivien und Dorothees Tochter, schrieb: »Die Armen werden selig gesprochen, weil sie so bitter unselig sind. Armut macht unglaublich hässlich, äußerlich und innerlich. Wenn ich meine Sprechstunde halte, bin ich immer wieder erstaunt über die Hässlichkeit der Armut. Die Armen sehen den Müll nicht, in dem sie leben, sie sehen darin nur, ob man da noch etwas finden könnte zum Essen oder zum Wiederverkaufen. Sie sehen die Schönheit der Natur nicht, sondern denken beim Sonnenuntergang nur daran, ob sie genug Decken zum Zudecken in der Nacht haben. Sie lieben einander herzlich wenig, der Enkel schlägt die Großmutter, die ihm nicht genug Geld für Drogen gibt, nachdem der Vater sich zu Tode gesoffen hat und die Mutter die Familie verließ. Die Frau, die ihre sechs Kinder und ihren rheumatisch verkrüppelten Mann als Wäscherin durchbringt, die zu acht in einem winzigen Zimmerchen hausen, aus dem die Vermieterin sie wieder hinauswirft, diese Frau hat kein Lächeln übrig.« Die Schönheit der Welt wahrnehmen zu können oder sie zu übersehen, ist nicht unabhängig vom ökonomischen Schicksal der Menschen. Dorothee ist trotz des Krieges in einer behüteten Welt aufgewachsen. Sie hatte die Möglichkeit zu lesen, zu wandern und Musik zu hören. Sie hatte Zeit für die Schönheit und Zeit, sich selber wahrzunehmen. Sie lebte nicht wie die meisten Menschen in einer Welt ständiger Nötigungen; in einer Welt der Armut, in der Menschen keine Zeit für zwecklose Schönheiten haben; in einer Welt »sunder warumbe«, das Wort von Meister Eckhart, das sie oft zitierte. Die Fähigkeit zu loben und zu danken hängt auch davon ab, ob einem die Welt, in der man lebt, etwas zu loben und zu danken gibt. Die Fähigkeit zu glauben setzt voraus, dass das Leben sich als glaubwürdig erweist. In einem Gedicht aus Cuba heißen zwei Zeilen: »Gestillt werden kann der Hunger nach Brot, grenzenlos ist der Hunger nach Schönheit.« Leider kann die Armut auch den Hunger nach Schönheit aus den Herzen der Menschen reißen.

Ich interessiere mich in dieser Einleitung vor allem für das, was man bei Dorothee Sölle nicht vermutet und was mir selbst vielleicht wenig geläufig ist. Dazu gehört, wie sie es oft geradezu naiv nennt, die Freude an Gott und die Liebe zu Gott. Von dieser Gottesliebe wird in der Theologie wenig gesprochen, viel bei Dorothee Sölle und bei Karl Rahner. Im vorliegenden Buch zitiert sie Rahner:

»Haben wir schon einmal versucht, Gott zu lieben, dort, wo keine Welle einer gefühlvollen Begeisterung einen mehr trägt, wo man sich und seinen Lebensdrang nicht mehr mit Gott verwechseln kann, dort, wo man meint zu sterben an solcher Liebe, wo sie erscheint wie der Tod und die absolute Verneinung, dort, wo man scheinbar ins Leere und gänzlich Unerhörte zu rufen scheint?« (S. 191)

Dorothee Sölle liebte das Johannesevangelium (diese Liebe teile ich nur begrenzt) und besonders jenen Vers 11 aus dem 15. Kapitel: »Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde.« Was ist diese vollkommene Freude, von der die Autoren des Alten und Neuen Testaments sprechen und die die Mystiker kennen? »Mein Leib und meine Seele freuen sich in Gott«, singt der Psalmist (84, 3). »Die Freude am Herrn ist eure Stärke«, heißt es bei Nehemia (8, 10). Als Frucht des Geistes beschreibt Paulus im Galaterbrief diese Freude. Meister Eckhart spricht davon, dass Gott selber »erfreuet, ja durchfreuet« werde, »denn da bleibt nichts in seinem Grunde, das nicht durchkützelt wird von Freude«. Es ist offensichtlich nicht die Freude an diesem und jenem; an Erfolgen oder an Gewinn. Es ist nicht die Freude an, sondern die Freude in, eben »in Gott«, wie der Psalmist sagt. Diese Freude wird weder gestört noch gefördert durch die Ereignisse des Lebens. In einem der liebsten Lieder von Dorothee Sölle heißt es: »In dir ist Freude in allem Leide, o du süßer Jesus Christ.« Das Leid verringert diese Freude nicht, das äußere Glück erhöht sie nicht.

Kann man sich so in Gott verlieren, dass die Freude vollkommen ist und nicht beeinträchtigt wird durch den normalen Gang des Lebens? Soll man das überhaupt? Werden damit nicht das Leid und das weltliche Glück unwichtig? Was sagt der Gedanke von der vollkommenen Freude der Frau, die gerade ihr einziges Kind begraben musste? Wenn mit diesem Gedanken das Leiden entwichtigt wird, landet man im Zynismus. Dorothee würde sagen: »Das Kirchenlied behauptet nicht, dass Leiden nichts mehr bedeutet. Es heißt: In dir ist Freude in allem Leide.« Ich – sozusagen als Sancho Panza in dieser Frage – muss es ja nicht verstehen, aber ich kann mich schon sehnen nach einer Geborgenheit in Gott, nach einer Ungestörtheit der Seele, die »in allem Leide« nicht aus der Freude in Gott fällt. Ich weiß nicht, ob ich sie je erlebt habe, ich glaube es nicht. Aber ich kann schon einen Reichtum ahnen, der noch nicht meiner ist. Man kann dieses Erbe der Tradition schon schätzen, auch wenn man selbst nicht genau weiß, wie man damit umgehen soll. Ich verstehe wenig von dieser Freude. Wage ich deswegen, diesen Gedanken abzulehnen? Nein, denn es gibt mehr, als mein karges Herz versteht.

Das Lob und die Freude an Gott sind ein Grundton ihrer Theologie und ihrer Bestimmung der Mystik. Die folgenden zornigen Zeilen eines Gedichts widersprechen dieser Behauptung:

Warum ich gott so selten lobe

fragen die freunde mich immer wieder

verdammt bin ichs denn

war der bund nicht zweiseitig

dass er etwas lobenswertes tut oder vorbeischickt

und ich etwas zum loben entdecke

Ich sehe ihre Widersprüche: Gott loben und ihn anklagen; ihm danken und ihn auffordern, endlich Gott zu sein; ihn preisen und blasphemisch sagen (wie sie es in einer Gedichtzeile tut): »Außerdem hätte ich nichts gegen gott / wenn er sich an seine versprechen hielte.« Widersprüche! Es sind die Widersprüche, die wir in den Psalmen finden: Gott loben und fragen: Wo bist du, Gott? Warum schweigst du? Wie lange soll das Unrecht triumphieren? Dorothee Sölle hatte Angst vor einer systematischglatten Theologie, aus der alle Ungereimtheiten entfernt sind. Sie wollte die Widersprüche retten. Es gibt eine verwohnte religiöse Sprache, eine theologische Gedankenlosigkeit, die den Zweifel nicht kennt und nicht ehrt. Es gibt eine religiöse Redewelt, in der die Worte ihre Gültigkeit haben, weil sie dauernd gesprochen werden, weniger darin, dass sie geglaubt werden. Dort besteht die Gefahr, dass man eher an die Worte glaubt als an Gott. Auch das ist ja eine Form des Unglaubens. Die Wirklichkeit hat es gelegentlich schwer, erkennbar zu werden unter dem Horizont der immer schon beredeten Welt und der »verbrauchten Geheimnisse« (J. B. Metz). Vielleicht sollte man erst predigen, wenn man sich seines Unglaubens so sicher ist wie seines Glaubens. In einem reinen innertheologischen Lispeln kann man die hehren, stimmigen theologischen Sätze umstandslos aneinanderfügen, aber eine reine und lösungsversessene Theologie ist nichts anderes als »verweigerte Weltwahrnehmung« (J. B. Metz). Verbrauchte Geheimnisse! Schwer wird die Sprache, wenn wir angesichts der Tsunamis und der Weltuntergänge, die Menschen erleben, die Verheißungen nach der Sintflut lesen: »Ich richte meinen Bund mit euch auf, dass hinfort nicht mehr alles Fleisch verderben soll durch die Wasser der Sintflut« (1. Mose 9,11). Eine gute theologische Sprache ist eine schwere Sprache, die uns nicht leicht von den Lippen geht. Ihr ist es nicht möglich, die Widersprüche zu tilgen. Dorothee Sölle wollte Gott »loben ohne lügen« – so lautet der Titel eines ihrer Gedichtbände. So sagt sie es in einem Gedicht mit dem gleichen Titel:

Und gib mir einen neuen geist

dass ich dich loben kann

ohne zu lügen

mit tränen in den augen

wenns denn sein muss

aber ohne zu lügen

An ihren Widersprüchen lag es auch, dass sie so widersprüchlich wahrgenommen wurde. Die einen sagen, sie habe das Glaubensbekenntnis zertrümmert und Menschen in ihrem Glauben irritiert. Die anderen sagen, ohne sie wären sie nicht in der Kirche geblieben und hätten ihre Kinder nicht taufen lassen. Die einen sagen, sie hätte die Kirche verachtet und die Trauerfeier für sie hätte nicht in einer Hamburger Hauptkirche stattfinden dürfen. Die anderen sagen, sie habe ihnen geholfen, im Pfarrberuf zu bleiben. Die einen sagen, sie hätte das Evangelium instrumentalisiert zu politischen Zwecken. Die anderen haben ihrer Mystik und ihrer Frömmigkeit misstraut und sie für zu unpolitisch gehalten. Dorothee Sölle konnte weder von den Frommen noch von den Politischen, weder von den Konservativen noch von den Aufklärern ganz eingefangen werden. Sie erlaubte sich, die jeweils andere zu sein – den Frommen die Politische, den Politischen die Fromme, den Bischöfen die Kirchenstörerin und den Entkirchlichten die Kirchenliebende. Das hat viele irritiert. Peter Bichsel hat einmal geschrieben:

»Der Satz, der mich in meinem Leben am tiefsten betroffen gemacht hat, ist der Satz von Dorothee Sölle: ›Christ sein bedeutet das Recht, ein anderer zu werden.‹ Sie hat sich das Recht herausgenommen, eine andere zu sein als die Vermutete. Ich habe oft zu ihr gesagt: ›Das Schönste an dir ist deine Widersprüchlichkeit.‹«

Widersprüchliche Menschen sind durstige Menschen. Es genügt ihnen nicht, der eine Benennbare und in seinen Grenzen Erkennbare zu sein. Es dürstet sie nach mehr, sie sind sich selber nicht genug in der einen Figur, sie beanspruchen das Recht, ein anderer zu sein und zu werden. Und so sind sie in sich selber nie ganz zuhause. Sie sind schlechte Gesellen in den Vaterländern, in denen sie jeweils wohnen, vaterlandslose Gesellen auch in sich selber.

Noch einmal zurück zur Gottesliebe! Dorothee Sölle hält 2001 im Universitätsgottesdienst in Hamburg eine Predigt über Hiob. Sie kritisiert die Freunde Hiobs, die Leiden nur als gerechte Strafe verstehen wollen. Sie spricht über die merkantilistische Vorstellung Satans, der einen zweckfreien Glauben und eine interessensfreie Religion nicht denken kann. Darum seine Annahme: Hiob fürchtet Gott nicht umsonst. Gott hat ja das Werk seiner Hände mit Reichtum und Wohlstand gesegnet. »Aber strecke deine Hand aus und taste alles an, was er hat: Was gilt’s, er wird dir ins Angesicht absagen« (Hiob 1,11). Dann Dorothee Sölles Erklärung einer mystischen Liebe zu Gott, die keine Zwecke kennt und sich darum auch im Leiden durchhält:

»Ich glaube, dass man Religion nur versteht, wenn man die Liebe zu Gott ohne Warum, ohne Zwecke, ohne Bezahlung denken kann. Wenn die Liebe zu Gott, also das wichtigste Gebot, nichts ist als ein Deal, ein Handel, dann zerschellt sie an der bitteren Ungerechtigkeit des menschlichen Leidens … Die mystische Liebe zu Gott ist anders, sie ist »un amour fou«, eine verrückte Liebe, ohne Berechnung; eine Liebe, die sich nach der Meinung des Teufels nicht auszahlt … Gott zu lieben heißt, sich Gott geben, ohne Versicherung, ohne Rückzahlung … Mystik ist kein Deal, und gerade daran hat Hiob Anteil. Vielleicht könnte er mitsingen bei einem Lied, das ich liebe: In deine Lieb versenken / will ich mich ganz hinab. / Mein Herz will ich dir schenken / und alles was ich hab.«

Dorothee Sölle sagt diese Sätze nicht in einer distanzierten Abhandlung über die Mystiker. Sie sagt es in einer Predigt; in einer Sprache also, in der sie sich selbst meint und sich selbst einschließt. Sie spricht so nicht erst gegen Ende ihres Lebens, als hätte sie da erst die Mystik entdeckt. Sie sagt es schon in ihrem frühen Buch »Leiden« (Stuttgart 1973):

»Sie (die Liebe zu Gott) kann nicht von der Erfüllung bestimmter Bedingungen abhängig gemacht werden. Das ›do-ut-des‹-Prinzip (›ich gebe, damit du gibst‹) hat hier nichts zu suchen, der ›Geist der Kaufmannschaft‹, wie Meister Eckart es nennt, ist hier ausgeschlossen; für die Liebe zu Gott – und nichts anderes ist die totale Bejahung der Wirklichkeit – gilt vielleicht eher der Satz des leichten Mädchens Philine aus Goethes Wilhelm Meister: ›Dass ich dich liebe, was geht’s dich an!‹«

Noch heute packt mich der Zorn, wenn ich daran denke, dass dieser Frau von vielen Kirchenvertretern die theologische Kompetenz und Tiefe abgesprochen wurde, wenn sie sagten, sie löse die Theologie in reinen Moralismus auf. Auf der sechsten Vollversammlung des Weltkirchenrates in Vancouver 1983 war Dorothee Sölle zu einer großen Rede eingeladen. Schon im Vorfeld dieser Versammlung empfand die EKD diese Einladung als Affront. Nach ihrer Rede haben Kirchenvertreter erklärt, sie vertrete nicht die deutsche Theologie. In kirchlichen Kreisen wurde beraten, wie man ihre Auftritte in Gemeinden verhindern könne. Bei Berichten über sie in den Medien kamen am häufigsten die Adjektive »umstritten« und »streitbar« vor. Zu ihrer Ehre gesagt: Sie war beides. Theologen, bei denen es keinen Anlass zum Streit gibt, haben wir in der Kirche ja genug.

Aber noch einmal zur Gottesliebe! Ich lese in ihrem Mystikbuch:

»Die Geschichte der Mystik ist eine Geschichte der Gottesliebe. Sie kann ich nicht konzipieren ohne politische, weltbezogene, praxisorientierte Realisierung.« (S. 33)

Mystik heißt für sie die Aufhebung aller Trennungen; der Trennung zwischen Gott und seiner Welt, der Trennung zwischen Ethik und Religion, von Gotteserfahrung und der Erfahrung des Elends der Welt. Eine »reine« Mystik gibt es nicht für sie, wie es auch keine reine Frömmigkeit gibt, die absieht vom Schicksal der Welt.

»Es gibt eine ästhetisierende Sehnsucht nach ›Religion pur‹, die mystische Elemente aufnimmt und sie individuell aneignet. Das Innere Licht macht dabei nicht die Realität durchlässiger, sondern nur das sich in ihm genießende Ich. Kierkegaard hat dieses Verharren im ›ästhetischen Stadium‹ hinreichend als Flucht, als Eskapismus kritisiert. Der wirkliche Hunger ist anders. Nicht ein spielerisches Interesse daran, diese oder jene religiöse Tradition zu beschnuppern, treibt die Suche nach essbarem mystischem Brot voran. Sie wächst vielmehr mit jeder neuen Niederlage Gottes, jeder weiteren Zerstörung der Erde und ihrer Bewohner.« (S. 89)

Es geht also bei der Mystik nicht um die Suche nach besonderen religiösen Ausnahmeerfahrungen. Diese Erfahrungssucht nennt Johannes vom Kreuz, einer der Mystiker, die Dorothee Sölle besonders beachtet, »geistliche Habgier«. Gott und seine Welt sind nicht mehr getrennt. Er ist »alles in allem«. Die Gottesliebe lässt nichts unvereinigt. Gott wird in den Menschen geliebt oder nirgends. Er zeigt seine Wunden im Hunger der Armen und in den Fesseln der Geknechteten. Diese werden nicht »um Gottes willen« geliebt und geachtet. Diese Haltung ginge immer noch davon aus, dass die große Vereinigung noch nicht vollzogen wäre; dass Gott und die Bettlerin, dass Gott und die verlassenen Kinder noch nicht zusammengekommen wären. Mystik ist praktischer Pantheismus, sie sieht Gott in allem. Die Bewegung der Liebe ist eine geworden: Wenn sie zu Gott will, muss sie zu allen. Wenn sie auf alle zielt, findet sie Gott. Wir sind als Kirche dem Geheimnis Gottes nahe, wo wir uns dem Geheimnis der Armen nähern. Oscar Romero, einer der Grundzeugen und Märtyrer unserer Zeit, hat es so gesagt: »Wie du dich den Armen näherst, mit Liebe oder mit Geringschätzung, so näherst du dich Gott.«

Dorothee Sölle ist eine politische Frau, und darum denkt sie die Liebe strukturell; sie denkt sie als Gerechtigkeit. Liebe ist nicht nur die personale Zuneigung des einen zum anderen. Die Liebe denkt nicht nur interpersonal, sondern sie lebt in der strukturellen Beachtung von Wirklichkeit. Sie ist untrennbar verbunden mit Gerechtigkeit, ihrem politischen Namen. Wenn diese Liebe langfristig ist und ihre politische Naivität abgeschüttelt hat, dann weiß sie, was der Markt und die Ökonomie den Menschen antun können. Diese öffentlich gewordene und an Öffentlichkeit interessierte Liebe nennt Dorothee Sölle Solidarität. Solidarität also ist die Haltung, die die Bedingungen und die Strukturen des menschlichen Lebens bedenkt. Sie meint nicht nur einen einzelnen Menschen, sie denkt menschheitlich. Die Nächstenliebe meint eher den Hungernden, die geschändete Frau, das verlassene Kind, die in mein Blickfeld gekommen sind und die mich adoptiert haben, indem ich sie angesehen habe. Zwischen Nächstenliebe und Solidarität besteht ein Unterschied in der Pointierung, nicht aber im Wesen. Solidarität ohne Liebe in reiner moralisch-politischer Mechanik wird leer. Liebe ohne Intelligenz, Liebe ohne den Blick für die Strukturen des Rechts und des Unrechts wird blind und hilflos.

Die Arbeit an der Gerechtigkeit denkt Dorothee Sölle vor allem als Widerstand und als Verweigerung. Dafür ist der Titel ihres Buches symptomatisch: Mystik und Widerstand. Ihre Grundannahme: Wir, vor allem in der westlichen Welt, leben in wohleingerichteten Gefängnissen, die uns selbst die Seele und der restlichen Welt die Zukunft rauben.

»Wir sind Feinde der Erde, Feinde von mehr als zwei Dritteln aller Menschen, Feind dem Himmel über uns und Feindin auch uns selber. Hildegard von Bingen spricht über den ›Gestank‹ des Todes, der über unserer Erde liege. Wer sich ihm subjektiv entziehen zu können glaubt, hat sich schon mit der Großmaschine arrangiert. Er oder sie benutzt sie bewusstlos, profitiert von ihren ›guten Seiten‹ und erfährt dabei den gestreckten Tod, den die Maschine für die Seele eingeplant hat.« (S. 258 f)

Wer wollte ihr widersprechen? Und doch war ihre Weltwahrnehmung ein Punkt des ständigen Streites zwischen uns, wunderbarer Streite übrigens. Ich fand bei ihr nicht selten einen gefährlich-imponierenden prophetischen Pessimismus, der mehr lähmt als zum Handeln verlockt. Sie liebte apokalyptische Großgemälde des Verfalls und der Aussichtslosigkeit. In den Welten, die sie gelegentlich beschrieb, kann man nur schwer atmen, schwer hoffen und arbeiten. Ich kritisierte in unseren Streiten nicht, was sie beschrieb, sondern wie sie es beschrieb; eben als Zustände der widerspruchsfreien Verfallenheit und der risslosen Aussichtslosigkeit. Aber arbeiten kann man nur dort, wo man den Zwiespalt der politischen Lage erkennen und benennen kann. Nur an Zwiespalten kann man arbeiten. Apokalypsen kann man nur erleiden. Sie hatte wenig Gefühl für Tragik und die tragische Verworrenheit von Situationen, und so neigte sie oft zu einer moralisierenden Betrachtung der Welt.

In ihrer Lust am Entweder-Oder hatte sie wenig Verständnis für Schwanken, Bedenken, Zögern, Einwände gegen sich selbst; für die Fähigkeit, Kompromisse zu denken und einzugehen. So war sie kritisch bis feindselig jeder Liberalität gegenüber. Dass ihr jeder faule und entscheidungsunfähige Liberalismus fremd war, versteht sich von selbst und ist eine ihrer Stärken. Aber in diesen Topf warf sie gelegentlich jede lebensrettende und humane Liberalität, und damit konnte sie scharf und ungerecht sein. Ihr Freund Peter Cornehl hat ihre Liberalismusfeindschaft in einer Rede zu ihrem 60. Geburtstag kritisiert:

»Neben vielem, was euch (Dorothee Sölle und Marie Luise Kaschnitz) verbindet … gibt es bei der Marie Luise etwas, was ich der Dorothee wünsche und Dir … verabreichen wollte: einen kleinen Vitaminstoß Ambivalenzen! Anders gesagt: Es war die Frage, wo das denn bei Dir bleibt, was mich an den Texten der Kaschnitz so berührt: das Festhalten an Uneindeutigkeiten, das Stehen zu einer gewissen skeptischen Gebrochenheit, das Einlassen des Zweifels in den Glauben.«

Nach einer dieser Auseinandersetzungen habe ich ihr »Warnungen an eine Prophetin« geschrieben:

»Prophetin, sei genau in der Beschreibung des Unglücks! Ergötze dich nicht am Panorama des Untergangs, wie es manchmal deine Art ist!

Prophetin, sei kein Streithansel und glaube nicht, dass du jederzeit im Recht bist, nur weil du die richtige Sache vertrittst!

Prophetin, halte dich selber für irrtumsfähig und deine Geschwister für wahrheitsfähig!

Prophetin, sage deine Wahrheit so, dass sie Kritik und Trost in einem ist!

Prophetin, sage deine Wahrheit so, dass sie eine Verlockung zur Lebensschönheit ist. In deinem prophetischen Nein muss das Ja Gottes auftauchen. Halte dich an den Satz von Helder Câmara: ›Herr, lehre mich ein Nein sagen, das nach Ja schmeckt!‹

Prophetin, denke daran, dass deine Wahrheit nicht zu deinem eigenen Schmuck gedacht ist! Es ist die Wahrheit für die Kirche.«

Sie hat mit einem Zettel geantwortet:

»Es kann sein, dass es unerlaubte Streite gibt. Aber mehr Angst habe ich vor unerlaubten Versöhnungen.«

Dorothee Sölle hat nicht nur geredet, gepredigt und geschrieben. Sie war eine große Ein- und Aufmischerin. Sie war eine Zeugin ihrer Wahrheit. Sie wurde 1985 verurteilt wegen Nötigung im Zuge des Protests gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen, ebenso 1988 wegen des Protests gegen US-Giftgasdepots in Deutschland. Sie war in Vietnam zur Zeit der amerikanischen Bombardements, sie besuchte Argentinien während der Diktatur. Sie bekam Preise, wurde mit Ehrenbürgerschaften bedacht, sie wurde Ehrenprofessorin der Universität Hamburg. Ihre Bücher wurden gelesen. Aber eine normale Professur hat sie in Deutschland nicht bekommen. Ihr Zeugnis hatte einen Preis. Sie hat gehandelt, weil sie gedacht hat. Sie hat so denken können, weil sie gehandelt hat.

»Man kann nämlich nicht denken, was man nicht tut. Die Gottesliebe kann man nicht an andern wahrnehmen oder beobachten. ›Der Beobachter sieht nichts‹ (Johannes Bobrowski). Ich kann die Liebe Gottes nur sehen, wenn ich ein Teil von ihr werde.« (S. 37)

Dorothee Sölle ist am 27. April 2003 während einer Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll gestorben. Das Thema ihres letzten Vortrags hieß: »Gott und das Glück«. Sie hat im Lauf ihres Lebens gekämpft, gearbeitet, diskutiert, demonstriert, sich eingemischt, den Mund nicht gehalten. Und doch hat sie nicht gelebt, um zu kämpfen und zu arbeiten. Sie war zuhause im Spiel, in dem also, was sich nicht durch seine Zwecke rechtfertigt. Ihre Enkelkinder erinnert sie in einem Brief an die zwecklosen Schönheiten:

»Das Schöne zieht uns zu Gott, bringt uns in einen Zustand, der mit Kaufen und Verkaufen nichts zu tun hat, aber mit Staunen und Stillwerden, mit Sich-Wundern und vielleicht Summen, mit Sich-Vergessen und mit Glück. Siehe da! Toll! Halleluja! Ich bin ein Teil des großen, wunderbaren Ganzen, das wir ›Schöpfung‹ nennen. Vergesst das nicht, es kann sich an ganz gewöhnlichen Dingen entzünden, an einer Pfütze am Straßenrand oder an einem Kieselstein, der rötlich glänzt.

Ich wünsche euch jedenfalls viele Kieselsteine, immer wieder. Das Leben ist schön und es schadet euch gar nichts, ein paar olle Kirchenlieder zu lernen, die aus nichts anderem bestehen als aus diesem Singen und Loben, ohne Zweck und bloß so: ›Du meine Seele singe, wohlauf und singe schön.‹ Da fordert eine Seele die andere, die etwas traurig oder tranig herumhockt, auf, doch mitzusingen, mit dem sprudelnden Wasser und dem Flieder, der gerade anfängt zu blühen.«

Sie hat mit ihren Enkeln gespielt. Sie hat Gedichte gelesen und geschrieben. Sie hat gebetet und die Gottesdienste besucht. Zuhause war sie in jenen nutzlosen Köstlichkeiten. Ihre Gelassenheit in allem Zorn hatte einen Grund, den sie in ihrem letzten Vortrag so formulierte: »Wir beginnen den Weg zum Glück nicht als Suchende, sondern als schon Gefundene.« Das ist die köstliche Formulierung dessen, was wir Gnade nennen.

Vorwort: Ein Gespräch

»Was ist herrlicher als Gold?« fragte der König.

»Das Licht«, antwortete die Schlange.

»Was ist erquicklicher als Licht?« fragte jener.

»Das Gespräch«, antwortete diese.

Goethe, Das Märchen

Als ich dieses Buch zu schreiben begann, las Fulbert Steffensky die ersten Manuskriptseiten und fügte spontan einige kritische Bemerkungen hinzu. Ich antwortete ihm, und daraus ergab sich das folgende eheliche Gespräch.

Fulbert: Mich stört an der Mystik, dass sie eigentlich nichts für einfache Leute ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Mutter oder mein Vater etwas von dem haben könnte, was du da versuchst.

Dorothee: Vielleicht kannte deine Mutter das Lied aus dem Gesangbuch (summt):

In seine Lieb versenken

will ich mich ganz hinab,

mein Herz will ich ihm schenken

und alles, was ich hab.

F.: Frömmigkeit ja, aber Mystik?

D.: Ich vermute, dass Mystik, sogar wenn sie ganz abartige Formen wie Satansmessen sucht, immer Frömmigkeit ist. Wenn ich den Sinn dieses Weihnachtsliedes von Friedrich von Spee (1591–1635) verstehe, dann kann ich auch von der syntheresis voluntatis … reden. Damit hätte deine Mutter nichts anzufangen gewusst, aber vielleicht nützt es ihren klugen Enkeln, die ohne Weihnachtslieder leben, nicht aber ohne Philosophie.

F.: Ich komme noch einmal auf meine Mutter zurück. Ich glaube, dass sie sich jeden Satz der neutestamentlichen Tradition als Brot aneignen kann, von dem man in einem normalen und geplagten Leben existieren kann. Was aber soll sie mit den religiösen Sonderkünsten eines Jacob Böhme oder eines Johannes vom Kreuz anfangen?! Das Evangelium selber hat es doch eher mit einfachen und einsichtigen Wünschen der Menschen zu tun: dass eine gesund ist und nicht am Leben verzweifeln muss; dass einer sehen und hören kann; dass er einmal ohne Tränen leben kann und dass sie einen Namen hat. Es geht doch nicht um spirituelle Artistik, sondern um die einfache Möglichkeit des Lebens.

D.: Geht es nicht den Mystikern genau um dieses Brot des Lebens? Die Schwierigkeit scheint mir die zu sein, dass die Menschen, auch deine Mutter, ganz sicher aber ihre Kinder und Enkel, eben nicht einfach dem Evangelium gegenüberstehen. Es ist doch entstellt, korrumpiert, zerstört, längst zu Stein geworden.
Die Mystik hat den Menschen, die von ihr ergriffen waren, gegen mächtige, erstarrte, gesellschaftskonforme Institutionen geholfen, und sie tut es – zugegeben, auf oft sehr verquere Weise – auch heute. Spirituelle Artistik, wie du es nennst, mag hereinspielen, aber das Essentielle ist etwas ganz anderes. Ich bin an einem Abend zu deiner Mutter ins Zimmer getreten, ohne anzuklopfen. Da saß die alte Frau mit gefalteten Händen, ohne Handarbeit!, auf ihrem Stuhl. Ich weiß nicht, ob man das, was sie tat, »beten« oder »nachsinnen« nennen soll. Aber es war ein großer Friede bei ihr.
Den möchte ich verteilen gehen.

F.: Vielleicht meint meine Zurückhaltung den Mystikern gegenüber eigentlich nicht sie selber, sondern eine gewisse Mystikgier der gegenwärtigen religiösen Lage. Es wächst die Hochschätzung von religiösen Erlebniskategorien. Das religiöse Subjekt will sich in der Gestaltung seiner Frömmigkeit unmittelbar, sofort, ganz und authentisch erfahren. Die Erfahrung rechtfertigt die Sache und wird zum eigentlichen Inhalt von Religiosität. Unmittelbare Erfahrung steht dann gegen Institution; gegen die Langsamkeit eines Weges, gegen das Schwarzbrot des geduldigen Umgangs mit sich selbst. In dieser Erfahrungssucht wird alles interessant, was plötzlich kommt, unmittelbar und nicht über Institutionen vermittelt ist, was erlebnisorientiert ist und religiöse Sensation bedeutet. Ich weiß, echte Mystik ist alles andere als dies. Aber so wird es empfunden.

D.: Ich habe auch meine Bedenken, wenn Unmittelbarkeit zur Hauptkategorie gemacht wird. Ich glaube, die großen Mystikerinnen der Tradition haben einiges von deinem Schwarzbrot verzehrt. Es gibt keinen »instant Zen-buddhism«, wie Huxley einmal gesagt hat. Das mystische »Nun« ist zwar eine andere Erfahrung der Zeit als die gewöhnliche, aber sie hat mit dem Lebensgefühl des Teens, der »jetzt, sofort« eine bestimmte Sorte von Turnschuhen oder Eis haben will, nichts zu tun.
Nicht übereinstimmen kann ich mit deinem heimlichen Plädoyer für die Institution: als ob sie essbares Brot backte! Ich meine, es muss neben modischer »religiöser Sensation« und den für solche Dinge zuständigen hausbackenen Institutionen noch etwas Drittes geben. Das suchst du doch auch. Nur heißt es bei dir Spiritualität.

F.: Bei Spiritualität lehne ich immer den Gedanken der Besonderheit und der außerordentlichen Erfahrung ab. An Spiritualität ist vor allem der Name fein. Die Sache selber hat viel zu tun mit Methode, mit Regelmäßigkeit, mit Wiederholung. Es ist eine Selbstkonstitution im Banalen und Alltäglichen. Und damit kann jeder arbeiten, der vom Leben nicht zu sehr erdrückt ist. Spiritualität ist keine via regia, sondern eine via laborosa der Bestimmung des eigenen Gesichts und der Lebensoptionen. Ich beharre also stupide auf dem Gedanken, dass eine Sache nur wichtig ist, wenn sie für alle wichtig ist.
Es könnte aber ja sein, dass sich in der Mystik in dramatischer Verdichtung, sozusagen in künstlerischer Expressivität, das darstellt, was das Wesen von Frömmigkeit und Glaube ist. Das hieße dann, dass vielleicht tatsächlich Mystik nicht der Weg von allen oder vielen ist; dass sich aber in ihr in poetischer Dichte zeigt, was das Wesen eines Glaubens ist, der für alle gedacht ist.

D.: Mit mein wichtigstes Interesse ist gerade, die Mystik zu demokratisieren. Damit meine ich, die mystische Empfindlichkeit, die in uns allen steckt, wieder zuzulassen, sie auszugraben aus dem Schutt der Trivialität. Aus der Selbsttrivialisierung, wenn du so willst. Eine ältere Frau in New York hat mir von einer Begegnung mit einem Guru erzählt. Als sie ihrem schwarzen Pfarrer darüber berichtete, stellte der nur eine Frage – und die möchte ich auch stellen: »Hat er euch denn nicht gesagt, dass wir alle Mystiker sind?«

F.: »… dass wir alle Mystiker sind.« Dieser Satz ist ja nicht eine Feststellung, sondern eine Forderung ans Leben! Es soll kein Mensch nur sein Leben fristen, es soll kein Mensch sich erschöpfen im reinen Überleben. Jeder soll der Wahrheit nahekommen dürfen. Für jeden Menschen soll es Orte der Absichtslosigkeit geben; die Schau; die Wahrnehmung der Lebensschönheit; die fruitio (der Genuss Gottes).
»Wir sind alle Mystiker!« Der Satz enthält das Menschenrecht auf Schönheit und Schau. Gibt es so etwas wie das Menschenrecht auf die Schau Gottes?
Auf einem Umweg sind wir da bei deinem zweiten Begriff: Widerstand. Mystik ist die Erfahrung der Einheit und der Ganzheit des Lebens. Mystische Lebenswahrnehmung, mystische Schau ist dann auch die unerbittliche Wahrnehmung der Zersplitterung des Lebens. Leiden an der Zersplitterung und sie unerträglich finden, das gehört zur Mystik. Gott zersplittert zu finden in arm und reich, in oben und unten, in krank und gesund, in schwach und mächtig, das ist das Leiden der Mystiker. Der Widerstand von Franziskus oder Elisabeth von Thüringen oder von Martin Luther King wächst aus der Wahrnehmung der Schönheit. Und das ist der langfristigste und der gefährlichste Widerstand, der aus der Schönheit geboren ist.

Einführung

Warum, wenn Gottes Welt doch so groß ist, bist du ausgerechnet

in einem Gefängnis eingeschlafen?

Rumi

Die mystische Erfahrung und das mystische Bewusstsein haben mich seit vielen Jahren angezogen und getragen. Sie erschienen mir als das Zentrale innerhalb der komplexen Erscheinung »Religion«. Alle lebendige Religion stellt eine Einheit von drei Elementen dar, die wir mit dem großen katholischen Laientheologen Friedrich von Hügel (1852–1925) als das institutionelle, das intellektuelle und das mystische Element bezeichnen können. (Vgl. I 3.2) Das historisch-institutionelle Element spricht Sinn und Gedächtnis an und ist im Christentum die »petrinische« Dimension; das analytisch-spekulative Element wird der Vernunft und dem Apostel Paulus zugeordnet; und das dritte, das intuitiv-emotionale Element wendet sich an den Willen und das Handeln der Liebe und stellt die »johanneische« Dimension dar. Die Vertreter aller drei Elemente haben die Tendenz, sich selbst absolut und die anderen als Nebensache herabzusetzen, aber lebendig bleibt Religion nur in einem Wechselspiel, das sich polarisierend, aber auch dialektisch vollziehen kann.

Mich persönlich hat weder die Kirche, die ich eher als Stiefmutter erlebte, noch das geistige Abenteuer einer nachaufklärerischen Theologie zu dem lebenslangen Versuch, Gott zu denken, verlockt. In keiner der beiden religiösen Institutionen Kirche und wissenschaftliche Theologie bin ich beruflich verankert oder gar beheimatet. Es ist das mystische Element, das mich nicht loslässt. Es ist, um es vorläufig und einfach zu sagen, die Gottesliebe, die ich leben, verstehen und verbreiten will. Sie scheint mir in den beiden genannten Institutionen wenig gefragt; was innerhalb der evangelischen Theologie und Predigt abgekürzt »Evangelium« genannt wird, artikuliert bestenfalls, dass Gott uns liebt, beschützt, neu macht, errettet. Dass dieser Vorgang nur dann real erfahrbar ist, wenn diese Liebe, wie jede wirkliche Liebe, gegenseitig ist, ist selten zu hören. Dass Menschen Gott lieben, beschützen, neu machen und erretten, klingt den meisten größenwahnsinnig oder gar verrückt. Es ist aber gerade diese Verrücktheit der Liebe, von der die Mystiker leben.

Hingezogen zur Mystik hat mich der Traum, hier eine andere Gestalt von Spiritualität zu finden, die ich innerhalb des deutschen Protestantismus vermisste. Weniger dogmatisch, weniger verkopft und in historische Worthülsen verpackt, weniger männerzentriert sollte das sein, was ich suchte. Es sollte auf Erfahrung bezogen sein im doppelten Sinne des Wortes, das sowohl die Entstehung wie die Lebenskonsequenzen dieser Gottesliebe meint. So suchte ich statt des »ertichteten Glaubens«, von dem Thomas Müntzer spricht, der für den Kopf und für das Weiterfunktionieren der Institution reichen mag, die mystischen Elemente des Glaubens in der Bibel und anderen Heiligen Schriften, in der Kirchengeschichte, aber auch in der Alltagserfahrung gelebter Verbundenheit mit Gott oder der Gottheit. Die Unterscheidung zwischen dem personal gedachten und dem transpersonal gedachten Grund alles Seienden braucht hier nicht berücksichtigt zu werden. Ist nicht die »Achtsamkeit« oder die »bare Aufmerksamkeit« der buddhistischen Tradition ein anderes Wort für das, was in den abrahamitischen Traditionen »Liebe zu Gott« heißt?

Ein Ausdruck wie »Sehnsucht nach Gott«, was eine andere Übersetzung für Mystik wäre, ruft oft Peinlichkeit hervor; unsere größte Vollkommenheit, wie die Tradition sich ausdrückt, ist es, Gottes zu bedürfen. Aber gerade das wird angesehen als eine Art fehlgeleiteter Schwärmerei, als ein Gefühlsüberschwang. In den letzten Jahren sind zwei Freundinnen von mir zum Katholizismus übergetreten. Ich konnte das nicht billigen: einmal, weil die konfessionellen Einteilungen des 16. Jahrhunderts mir schon lange nicht mehr essentiell sind, und zum andern, weil ich die Kälte, vor der beide flohen, in der römischen Institution – mit ihrem ungebrochenen Njet zu Frauen, zu einer humanen Sexualität und zu geistiger Freiheit –, nur verdoppelt finde. Aber was meine Freundinnen suchten und vor allem in der Liturgie der katholischen Kirche fanden, war mystische Beheimatung. Sie suche ich auch – davon handelt dieses Buch.

Die Geschichte der Mystik ist eine Geschichte der Gottesliebe. Sie kann ich nicht konzipieren ohne politische, weltbezogene, praxisorientierte Realisierung. Als ich Anfang der siebziger Jahre das autobiographisch gefärbte Buch »Die Hinreise« schrieb, waren viele meiner Freunde aus der politischen und christlichen Linken besorgt. »Dorothee reist fort«, hörte ich aus Holland. »Wird sie je wiederkommen?« Aber das war nicht meine Sorge; ich versuchte ja gerade, »lutte et contemplation«, wie Roger Schütz, der Gründer des evangelischen Klosters in Taizé, es nannte, zusammenzuhalten und nicht zwei verschiedene Reiserouten zu benutzen! Was wir damals, zur Zeit des Kölner Politischen Nachtgebets Ende der sechziger Jahre, »Politisierung des Gewissens« nannten, hat indessen eine breite Verallgemeinerung gefunden; immer mehr Christen und Nachchristen verstehen den Zusammenhang von Hin- und Rückreise. Sie brauchen beide.

Die Beziehung von mystischer Erfahrung auf soziales und politisches Verhalten hin ist wenig untersucht worden. Die sozialgeschichtliche Fragestellung trat immer wieder – und im heutigen Mystikboom erst recht – zurück zugunsten einer »perennial philosophy«, wie eine berühmte mystische Anthologie von Aldous Huxley heißt, einer zeitüberhobenen, Gott und die Seele allein, ohne Gesellschaftsanalyse betrachtenden Denkart. Dieser Ansatz scheint mir eine Verkürzung, um das mindeste zu sagen. Mich interessiert, wie sich Mystiker verschiedener Zeiten zu und in ihrer Gesellschaft verhalten haben. Waren Weltflucht, Abgeschiedenheit, Einsamkeit wirklich das mystikadäquate Verhalten? Hat es nicht auch andere Ausdrucksformen des mystischen Bewusstseins gegeben, im Leben von Gemeinschaften und auch im Leben von Einzelnen? Haben nicht Mystiker, kommunal und individual, ein anderes Verhältnis zur »Welt«, zur Gesamtgesellschaft gehabt, und zwar in Praxis und Theorie? Können wir denn ausgerechnet das Gefängnis, in dem wir eingeschlafen sind, als ewige Gegebenheit der Welt ohne reale historische Bestimmung ansehen?

InnenAußen