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»Der Outdoor-Autor« wurde erstmals veröffentlicht in »Über Wachen und Schlafen – systemrelevanter Humor. Das Lesedünenbuch«, Voland & Quist 2012






Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2013

© by Verlag Voland & Quist – Greinus und Wolter GbR

Korrektorat: Annegret Schenkel, Leipzig

Umschlaggestaltung: Tim Jockel, Berlin

Satz: Fred Uhde, Leipzig

ISBN 978-3-86391-060-0

www.voland-quist.de

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Inhalt

Prollog

Die schönsten Wanderwege der Wanderhure

Neustadt

Das ist doch Poesie

Platonisches Plaudern mit philosophischem Proll – Schicksal und Struktur

Blitzkrieg

Ich hasse Menschen – Kann man davon leben?

Platonisches Plaudern mit philosophischem Proll – Wir sind, was folgt

Basenfasten für Eilige

Charms-Chrams – Versuche mit Daniil

Intermedium 1

Hund

Der Lebenslauf

Ich hasse Menschen – Nur wer selbst brennt …

Text, in dem erstaunlich oft das Wort Penis vorkommt …

Günther

Platonisches Plaudern mit philosophischem Proll – Authentizität

Der Rundgang

iNachten

Torsten

Intermedium 2

Der Outdoor-Autor

Ich hasse Menschen – Ein zwei Meter großes Ausrufezeichen …

Ein kleines, wuscheliges Zentrum des Togethers

Heike Maroni

Elend

Platonisches Plaudern mit philosophischem Proll – Die Grenzen der Sprache

Ich sehe nackte Menschen!

Ich hasse Menschen – Wissen und verstehen

Vom Mann, der eines Tages den Mond verschluckte

Epilog

Glossar

»Du, Justus, ich kenn mich jetzt mit Literatur ni so aus, aber was man dir lassen muss, der neue Buchtitel ist übelst geil: Die schönsten Wanderwege der Wanderhure. Witzsch!«

»Danke. Und das aus deinem Mund.«

»War die eigentlich ooch in Dresden?«

»Wer?«

»Na die Wanderhure!«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Wo denn dann?«

»Keine Ahnung.«

»Hä, ich dachte, du bist das alles geloofen. Und hast Karten gemalt und so.«

»Ach so, nee, das Buch ist kein Reiseführer.«

»Warum heißt’n das dann so wie eener?«

»Weil’s lustig ist.«

»Kapierschni.«

»Das macht nichts. Dafür kannst du gut kloppen.«

Die schönsten Wanderwege der Wanderhure

Als Schriftsteller muss man sich aktuelle Themen suchen, sonst geht man in der Masse unter. Die Vorstellung, dass sich irgendein Mensch außer dem Autor für aus der Welt gefallene Topoi wie die Sybel-Ficker-Kontroverse oder den späten Minnesang im mittelsächsischen Raum interessiert, ist ungefähr so unrealistisch wie der Wunsch vieler Kinder nach Weltfrieden.

Die meisten von ihnen kaufen später Waffen. Oder Samsung-Tablets. Oder Produkte von Nestlé. Was im Prinzip dasselbe ist.

Vom Schreiben leben kann man aber im Grunde genommen nur, wenn man einen hochbrisanten Stoff wie den Korea-Konflikt oder die Bühnenschlüpfer von Lady Gaga mit einem Titel kombiniert, der so gut ist, dass die Leute das Buch ganz selbstverständlich in den Einkaufswagen legen. Wie Klopapier.

Der Inhalt ist vollkommen irrelevant, es muss sich nur verkaufen.

Bei der Wahl des Titels müssen mehrere Faktoren beachtet werden. Zuerst natürlich die Art des Buches.

Was heutzutage geht: Krimis, historische Krimis, Kochbücher, historische Kochbücher, Fantasy, Ratgeber, alles mit Vampiren, Frank Schätzing. Das wissen dummerweise alle anderen Autoren auch.

Wenn man auf einer Buchmesse unterwegs ist, wird einem schlagartig bewusst, wie viele Autoren es eigentlich gibt. Die dann von niemandem gelesen werden, denn das Publikum auf der Buchmesse hat nur zwei Gründe für seine Anwesenheit. Riesige Beutel mit Infomaterial von Cornelsen abzustauben oder sich als Manga-Mäuschen zu verkleiden.

Ein Beweis dafür, dass kaum einer den ganzen Kram lesen kann, der heutzutage geschrieben wird, war die Autogrammstunde einer Fantasy-Autorin, an deren Namen und Buch ich mich nicht mehr erinnern kann. Sagen wir, sie hieß Anne Zimmermann und das Buch Die Drachenorks vom Azal-Zûm. Kein Mensch kam zu ihrer Autogrammstunde. Außer mir. Und das obwohl sie als Prinzessin Mononoke verkleidet war und dabei nur entfernt an Vin Diesel erinnerte.

Statistiken zufolge, die ich hier nicht richtig wiedergeben kann, weil mich das nicht interessiert, soll der Umsatz des deutschen Buchmarktes 2012 zu drei Vierteln von der Sadomaso-Klamotte Shades of Grey bestritten worden sein. Insofern wäre das natürlich das perfekte Trittbrett, nur gibt es eben nicht so viele Farben.

Das neueste Buch von Peter Handke wiederum, immerhin einer der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller der letzten 40 Jahre, beheimatet in der Titanic der Großverlage, also Suhrkamp, soll sich laut unabhängigen Medienberichten in den ersten zwei Wochen exakt viermal verkauft haben. Und wie war der Titel? … Sehnse?

Dann doch lieber Krimis oder Ratgeber. Oder Ratgeber-Krimis. Mit nordisch klingenden Namen.

Kommissar Hagelund betrat das Gebäude allein und ohne Taschenlampe. Auch seine Pistole hatte er im Auto vergessen. Seit seiner Arthroskopie im vergangenen Herbst zog er das linke Bein etwas nach. Als er einen der beiden Täter sah, war es zu spät. Er konnte ihn weder einholen noch erschießen.

Merke: Taschenlampe, Dienstwaffe und eine funktionierende Anatomie sind unbedingte Vorraussetzung für die erfolgreiche Verbrecherjagd.

Oder Krimi-Ratgeber: Krimis für Dummies.

Oder Dummie-Ratgeber: Dummies für Dummies.

Ratgeber sind prinzipiell eine gute Sache. Wenn sie sich kombinieren lassen mit aktuellen Hypes oder Themen, umso besser.

Hilfe, ich bin noch kein Vampir!

Atombunker im Praxistest

Wie bio ist mein Baby?

Abnehmen durch sterben

Oder Bildbände über Popmusik und Dadaismus:

Papa-papa-razzi: Als Dada plötzlich Gaga war.

Wichtig ist nur: Irgendwas im Titel müssen die Leute kennen. Dann verkauft es sich.

Historische Fischgerichte mit Frank Schätzing – Mega-Bestseller.

Wenn ich ein Kochbuch schreiben würde, dann hieße es:

Das riecht aber komisch – 50 Gerichte mit Spargel.

Neben dem Wunsch der Menschen nach Rat, den sie nicht in der Kirche finden, sondern eher bei Richard David Precht, ist auch der Wunsch nach politischer oder historischer Erkenntnis in Bezug auf aktuelle Themen sehr wichtig. Sobald ein neuer Diktator erscheint oder ein alter abtritt, sobald eine Partei oder ein Standpunkt lange genug existieren, werden dazu Bücher geschrieben.

Kim Jong-un – Mein Papa hat gesagt, ich darf nicht mit fremden Männern reden

Angela Merkel – Eine belanglose Kindheit

Nicht unter jedem Schleier steckt eine Braut – Die lauernde Gefahr des Terrorismus

In der Belletristik gibt es wieder andere Regeln. Wichtig ist, dass man als Autor beachtet, welche Zusatzartikel sich rund um’s eigene Werk noch schaffen lassen. Anhand von Shades of Grey lässt sich das sehr gut zeigen. Überall auf der Welt gibt es mittlerweile Läden für Frauenbedarf, sprich: Öle, Seifen, Crémes, Literatur, aber auch Dinge für untenrum. Was würde da besser passen, als solche Geschäfte mit Shades of Grey-Produkten auszustatten? Hier einige Beispiele, gesehen in Wien im Laden »Liebenswert – Erotikfachgeschäft für Frauen und alle, die Frauen lieben«:

Shades of Grey – Seidenmalfarben (50er-Set, plus graues Seidentuch)

Shades of Grey – Aktfotografien, schwarz-weiß, 50 Abbildungen

… und natürlich eine Auswahl an Dildi und Vibratae in diversen Grauschattierungen.

Das ist aggressives Marketing, das auch noch kreativ ist. Amerika halt. Beziehungsweise Österreich.

In Deutschland fehlt mir das.

Bei der Wanderhure beispielsweise. Das lief sogar bei Sat.1 als Film. Schon mal von einem Ratgeber diesbezüglich gehört?

Wie werde ich eine gute Wanderhure?

Die 50 weitgereistesten Wanderhuren

Wie bio ist meine Wanderhure?

Oder eben mein Liebling:

Die schönsten Wanderwege der Wanderhure

Warum gibt es das nicht?

Da muss man dem Verlag doch mal mit einer Shades of Grey-Peitsche auf die Finger klopfen.

Da muss was passieren.

Da muss man Prostituierte als Plakatflächen mieten können oder einen Vibrator entwickeln, der im Idealfall auch noch zum Laufen verwendet werden kann: Der Wanderhure Wanderstock.

Da muss man viel breiter aufgestellt sein, Jack Wolfskin mit einbinden, eine Travel Bitch Outdoor Collection entwerfen, dann gleich noch eine Spiegel-TV-Reportage hinterherschieben: Der Lude der Wanderhure. Man sähe die ganze Zeit goldbekettete Schnauzbartträger verschwitzt an einer Straßenecke stehen oder durch idyllische Landschaften japsen, dabei verzweifelt rufend: »Hey, warte, ich will meinen Anteil.«

Das wäre witzig, das hätte Charme. So kann man Interesse wecken, eben neue Wege gehen. Ach, wenn man mich nur öfter fragen würde.

Wenn ich ein Buch wie diese Leute schreiben würde, wo es nicht darum ginge, was drin steht, dann würde ich es vielleicht Die 40 Wanderhuren des Frank Schätzing nennen.

Obwohl konsequenter wäre: Die 40 Wanderorks der Prinzessin Mononoke – histo-erotischer Fantasy-Ratgeber mit großem Glossar und vielen farbigen Abbildungen.

Würde bestimmt ein Hit werden. Ich seh schon den Kinofilm vor mir. Mit Vin Diesel. Als Prinzessin.

Neustadt

Ein Proll kotzt gegen eine Fensterscheibe.

Wie Enrico damals, denke ich, nur draußen. Ich bin hier aufgewachsen, zu Hause ist woanders.

So geht es mir immer, wenn ich nach Dresden zurückkomme. Das mache ich ziemlich oft, deswegen ist der Schock nicht so groß. Ich kenne viele andere, die nur um die Weihnachtszeit oder zu Klassentreffen in die Heimat fahren. Ich hingegen bin jeden Monat mindestens einmal da. Ich lese irgendwo vor, schlafe irgendwo, meistens in der Scheune, dann bin ich wieder weg.

Als ich noch klein war, klein und dumm, dumm genug, um zu glauben, die 19-jährige lesbische Freundin der Schwester eines guten Freundes würde sich in mich verlieben, überhaupt, jedes Mädchen würde sich in mich verlieben, weil ich viel zu bieten hatte, zum Beispiel Jugend, ging ich sehr häufig in die Neustadt. Für Kinder wie mich, die in stadtkernfernen Ortsteilen ohne Kabelfernsehen oder Szenekneipen, noch nicht einmal Szene-Bowlingcentern, aufwuchsen, erschien dieser ferne Flecken Erde, wo die Punker noch auf dem Boden lagen und die Nazis sich nicht hintrauten, wie das Gelobte Land.

Wir gingen sehr oft ins Flower Power, einen üblen Laden im 70er-Jahre-Stil, der eigentlich dazu da war, dass sich dort ab drei Uhr die Menschen trafen, die noch jemanden suchten, der ihnen ein Gute-Nacht-Lied sang. Das bekamen wir allerdings nie mit, denn wir waren erst 14. Das bedeutete, dass wir bereits um 20 Uhr, wenn das »FloPo« (wir waren Kinder!) aufmachte, an der Tür kratzten. Die Türsteher, die unsere nicht vorhandenen Ausweise hätten prüfen können, waren zu diesem Zeitpunkt noch auf der Landstraße zwischen dem Erzgebirge und Dresden.

Wir saßen dann in einer Ecke, drei Jungs, hin und wieder kam noch eine Schwester dazu oder eine Freundin der Schwester oder Freunde von Freunden, allerdings blieben wir immer unter uns. Das wäre was gewesen: Jemanden kennenzulernen.

Wir tranken jeder immer zwei Schwarzbier, Eibauer oder Schwarzer Steiger. Wir verließen immer gegen zehn den Laden, den Türstehern durch ihre breiten Beine schlüpfend, der letzte Bus wartete schließlich nicht. Das Krasseste, was je passiert ist, lässt sich am ehesten als jugendlicher Leichtsinn verbrämen, der seinen Ausgangspunkt in einer Wette hatte: Enrico kotzte, nachdem er ein Bier auf ex getrunken hatte.

»Das schaff ich off jeden«, hatte er großspurig gesagt.

Das brachte ihm den Spitznamen »Off jeden« ein. Noch heute erinnert ein ausgebleichter Fleck vor den Toiletten daran, dass es eine Zeit gab, in der er nicht nur große Töne spuckte.

Später am Abend saß er bei mir im Dorf auf dem Balkon und rieb sich seinen Penis. Wir anderen waren überrascht und aßen schweigend die Knoblauchbrote, die wir uns gebacken hatten. Der Nachthimmel bot uns viel Interessantes an diesem Abend und so mancher suchte danach sein Glück in der Astronomie.

Wir waren keine Dorfkinder, wir lebten nur außerhalb. Das war ein großer Unterschied.

Bibliotheken waren uns genauso zugänglich wie das Stadion, unsere Schule war zwar schlecht, aber an das örtliche Straßenbahnnetz angebunden, und unsere Eltern hatten weder das Interesse einander kennenzulernen noch erfüllten sie Gemeindeaufgaben.

Es gab auch keine Jugendlichen, die an der Bushaltestelle zusammen abhingen, außer jene, die zur Schule mussten. Nur ein Optimist würde die Wartenden der Linie 94 in einer Milieustudie zusammenfassen.

Es gab selbstverständlich milieubildende Maßnahmen, aber die spielten sich unbewusst und im Geheimen ab.

Ich stieg an der Endhaltestelle ein, zwei Stopps später gesellte sich mein bester Freund hinzu. Wir grenzten uns von den anderen Schülern dadurch ab, dass wir nicht mit ihnen sprachen, ihnen stattdessen Namen gaben, die wir ihren Gesprächen entnahmen. So wurde aus Annett Müller eines Tages, nachdem sie ihre Freundinnen mit einem besonders hässlich intonierten »Moin« begrüßte, schlichtweg »de Moin«.

Das sind so die Sachen, die man denkt, denke ich. Ich sitze mit einer Gruppe von Freunden von früher in einer Kneipe. Glücklicherweise geht es sehr ums Jetzt. Plötzlich sagt Mimi: »Orr, komm, rülps doch noch ma wie damals offm Schulhof, weeßte noch?«

Das ist schlimm. Ich kann das auch gar nicht mehr. Jetzt zu versuchen, wie früher zu rülpsen, wäre in etwa so, wie die Völkerschlacht anhand eines historischen Romans nachzuspielen.

Ich bin frustriert und betrunken. Das ist tatsächlich wie früher, das geht immer.

Wir wuchsen also am Stadtrand auf, unurban, aber in der Nähe. Enrico wiederum lebte im Neubaugebiet Gorbitz, ein Umstand, der vielleicht auch den Drang nach Freiheit erklärt, der ihn immer überkam, wenn er auf meinem Balkon saß. Diesen vorwiegend mit dem Schütteln seines Glieds auszudrücken, schieben wir gnädigerweise auf die schwierige und aufrüttelnde Zeit der Pubertät. Er wurde schließlich auch Ultra von Dynamo Dresden.

Bei meinem besten Freund und mir äußerte sich das anders. Wir betranken uns an der Elbe Strom und pinkelten danach in einen Fahrkartenautomaten.

Was sollten wir auch sonst tun? Keine Gangs, keine Frauen.

Musik kannten wir kaum, die Neunziger waren auch diesbezüglich die innovationsloseste Zeit, die es gab, und im Flower Power spielte der DJ neben der Musik, die man dem Namen nach dort vermutet, nur die »Ärzte« und die »Hosen« im Wechsel, wenn er einen guten Tag hatte, auch noch Hit the Road Jack. Ach, wie die kleinen Mädels quietschten!

Apropos Benn, über Literatur sprachen wir eigentlich nie, was uns verband, war ein gemeinsamer Sinn für Humor. Der gipfelte an guten Tagen in Begebenheiten wie dieser: Schauplatz war wieder der Bus, Protagonistin eine alte Frau, die immer ein Dorf eher ausstieg als wir. Sie schielte und tat darüber hinaus das, was alle alten Leute tun, sie stand schon eine Haltestelle vor ihrer eigenen auf, stellte sich ganz nah an die Doppelflügel-Niederflur-Gelenkbustür, um direkt, man möchte meinen, bereits während des Aufklappens der Türen, hinauszuschnellen wie ein Brustschwimmer beim Beckenstart. Und dann rannte sie. Sie war bereits um die nächste Ecke, als der Bus wieder losfuhr. Das brachte ihr den Namen »Renner« bei uns ein.

Nun kreierten der Freund und ich an jenem Tag folgendes Husarenstück: Wir standen direkt nach Renner auf, stellten uns hinter sie, schnipsten mit ihr zusammen aus dem Bus und überholten sie.

Ihr Blick, voller Wut und Verzweiflung, nachdem wir an ihr vorbeigesaust waren, ließ uns sogar vergessen, dass wir nun eine Stunde auf den nächsten Bus würden warten müssen.

Aber nicht nur auf der Seele dieser Frau trampelten wir herum. Wir zerstörten viel in diesen Tagen, den Atari vom Freund, einen Ziegenkopf an einer Toreinfahrt, Laternen … das nennt man wohl Perspektivlosigkeit.

Als wir unsere Perspektiven dann fanden, auf ganz unterschiedliche Weise, zogen wir aus unserem Vorort weg. Das war nicht schlimm, weder uns noch dem Vorort fehlte irgendetwas. Wir treffen uns auch nicht einmal im Jahr am Fahrkartenautomaten, um unsere Anwesenheit in Form von Pissspurrillen zu dokumentieren.

Selbstverständlich gibt es Dinge, die schmerzen. Das Flower Power bekam irgendwann einen neuen Eingang, an dem bereits ab 20 Uhr Türsteher warteten.

Als sich 2002, kurz vor meinem Wegzug, das Elbehochwasser durch Dresden fräste, war ich das letzte Mal dort. Ich traf ein Mädchen, in das ich verliebt gewesen war, lange Zeit vorher. An diesem Abend sagte ich ihr das, das änderte aber nichts. Ich verliebte mich nicht wieder.

Stattdessen schlug ich einem Türsteher auf die Nase und wurde dafür verprügelt. Ich konnte die feiernden Menschen nicht verstehen, draußen das Wasser, drinnen das Bier.

Ich rannte schnell weg, mit sehr viel Blut auf dem weißen DDR-Sport-T-Shirt, von dem ich damals dachte, es sei Mode. Einen Studenten, der mir entgegenkam, packte ich am Arm und rief: »Geh da nicht hin, die sind des Teufels.«

Ich setzte mich vor die Scheune und versuchte, ein paar Punks den Song Wonderwall auf der Gitarre beizubringen.

Als es hell wurde, ging ich, verschmutzt wie ich war, zum Postplatz, der damals noch nicht aussah wie ein Weltraumbahnhof, und nahm den ersten Bus ins Dorf.

Der soeben bei mir eintretende Effekt ist der am wenigsten erwünschte, aber der übliche. Doch die Nostalgie. Fuck it.

Vielleicht sollte ich in dieser Nacht versuchen, im Flower Power eine Gute-Nacht-Lied-Sängerin zu finden. Ich wanke zu dem Schuppen, der mittlerweile Rosis Amüsierlokal heißt. Alles ist ein bisschen anders. Und Enricos Fleck ist auch nicht mehr da.

Immerhin, die wenigen Frauen, die ich treffe, tanzen nach wie vor zu Hit the Road Jack. Sie sehen alle sehr, sehr gut aus, andererseits fühle ich mich gerade auch sehr, sehr attraktiv.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass ich wenige Zeit später unbesungen meinen Heimweg Richtung Scheune antrete. Da hat sich im Vergleich zu früher auch nicht so viel verändert.

Ein Mann hält mich an der Straßenecke Alaun-/Luisenstraße auf und bittet mich um eine Zigarette. Er trägt eine Lederjacke und macht einen etwas verasselten Eindruck. Nachdem er sich die Zigarette angesteckt hat, fragt er mich, woher ich komme.

Ich antworte wahrheitsgemäß, Dresden, jetzt Leipzig; er lässt mich kaum ausreden.

»Ich bin Ur-Neustädter!«, sagt er mit melancholischer Aggressivität.

»Mein Vater war arbeitslos, meine Mutter Bildhauerin. Du kannst dir ni vorstellen, wie das hier früher war nach der Wende. Alles kaputt.«

»Klar kann ich mir das vorstellen, ich bin Dresdner, ich habe ne Zeit lang gedacht, die Neustadt sei ein Zauberreich, voller Kneipen und Punks. Und niemand würde da wohnen.«

»Natürlich haben wir hier gewohnt, meine Eltern, meine Schwestern und ich. Wenn du da vorne hingehst, zu dem Spätshop auf die Luisen/Ecke Görlitzer, und nach Ringo fragst, wird den jeder kennen.«

»Wer ist Ringo?«, will ich wissen.

»Na, ich«, sagt Ringo. Was für ein bescheuerter Name für einen Sachsen. Aber so sind se.

Er packt mich am Arm.

»Passe off, früher, da gab’s hier richtig Banden und so. Ich war hier vorne aufm Gymmi und immer nach der Schule, wenn wir uns noch nen Döner koofen wollten, haben die von der Mittelschule off uns gewartet, um uns schön zu verkloppen. Ich hatte immer Schiss, kannst du dir das vorstellen?«

»Ja!«, schreie ich, wofür ich aber in erster Linie seine Eisenklaue verantwortlich mache, die meinen Arm immer noch umklammert. Das Ganze klingt mir doch zu sehr nach dem fliegenden Klassenzimmer.

»Ich wollte denen ooch off die Fresse geben, aber wir waren zu wenige. Also habe ich dem Freund von meiner Schwester Bescheid gesagt, Dieter, der war een paar Jahre älter. Wenn du da in dem Späti nach Dieter fragst, kennt den jeder, ich schwör’s.«

»Und was ist dann passiert?«

»Am nächsten Tag wie immer … aus der Schule raus … war da keener da, seitdem war ich der König der Luisenstraße.«

»Grob zusammengefasst!«, lache ich gezwungen und deute subtil auf meinen Arm, der langsam abstirbt.

»Pass off, ich bin keen brutaler Mensch, aber wenn ich könnte, würde ich diese ganzen Studentenwichser und Yuppies, die jetzt hier wohnen, so richtig schön ficken. Einfach allen off die Fresse. Aber ich werd ja ooch alt, bin 26, drei Jahre in der Ausbildung in Bayern gewesen, jetzt kennt mich hier keener mehr.«

Scheiße, ist der jung, viel zu jung für solche Gedanken, denke ich, während er mich ins Hebedas zerrt.

»Und hier, genau dasselbe, das war früher ne normale Kneipe, jetzt nur noch Fotzen und Studenten!«, sagt er und nickt der Barfrau zu. Immerhin scheint sie ihn zu kennen. »Na ja, ich hau ma ab, danke für die Kippe!«

Endlich, endlich lässt er meinen Arm los.

Ich bestelle mir ein Bier und setze mich in den Raucherraum zu den anderen Studenten.

Ich mag sie genauso wenig wie er, nur aus anderen Gründen.

Es gibt verschiedene Arten, sich zu erinnern. Man kann darunter leiden, dass es nicht mehr sein wird, wie es einmal war, kann versuchen, so viel wie möglich zu konservieren – und im ständigen Wiederholen versinken wie in Treibsand.

Oder man sagt, da bin ich gewesen und es war gut, aber jetzt bin ich hier und morgen werde ich woanders sein. Das Zuhause muss man eben mit sich herumtragen.

Ist zwar vielleicht ein bisschen schwerer, aber dafür immer griffbereit. So wie eine Decke, die man ausbreiten kann.

Vielleicht hat es mir auch geholfen, in so einem undefinierten Raum groß geworden zu sein, nicht ganz drinnen, nicht ganz draußen.

Einige meiner Freunde sind in die Neustadt gezogen, suchen auf den Straßen noch nach ihrer Jugend und können sie einfach nicht finden.

Enrico hat das auch gemacht, aber anders.

Er blieb Dynamo-Fan und zog in die Neustadt, allerdings wieder in einen Neubaublock, genauso wie in Gorbitz.

Das ist gut, da kennt man wenigstens den Weg vom Schlafzimmer ins Bad, zur Küche und in den Keller.

Das ist ganz im Sinne von Erich Kästner: Nur wer in die Neustadt zieht und Gorbitz im Herzen trägt, ist ein Mensch.

Oder so.

Das ist doch Poesie