Das Bildnis des Dorian Gray

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Über dieses Buch

Schon bald nach seinem Erscheinen 1890 wurde The Picture of Dorian Gray als unmoralisch, ja gar als skandalös empfunden. Sein Autor, Oscar Wilde, antwortete darauf in einem später hinzugefügten Vorwort: »So etwas wie ein moralisches oder ein unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind entweder gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles.« Was Wilde erschuf, ist eine Feier der Dekadenz und des Dandyismus, ein perfekt ausgeklügeltes Spiel der Realität und Fiktion. Seine Geschichte eines jungen Schöngeists spielt im England des späten 19. Jahrhunderts: Der wohlhabende Dorian Gray besitzt ein Porträt, das statt seiner altert, während er sich hemmungslos seinen Vergnügungen und Ausschweifungen hingeben kann. Doch um sein Geheimnis zu wahren, bedarf es Mittel, die zu einem grausamen Verbrechen führen.

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Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.

Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen ist Ziel der Kunst.

Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen in einen anderen Stil oder ein neues Material zu übertragen vermag.

Die höchste wie die niedrigste Form von Kritik ist eine Art Autobiographie.

Wer in schönen Dingen Hässliches entdeckt, ist verdorben, ohne charmant zu sein. Das ist ein Fehler.

Wer in schönen Dingen Schönes entdeckt, ist kultiviert. Für ihn besteht Hoffnung.

Auserwählt sind die, denen schöne Dinge nichts als Schönheit bedeuten.

So etwas wie ein moralisches oder ein unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind entweder gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles.

Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel sieht.

Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Romantik ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht nicht im Spiegel sieht.

Das moralische Leben des Menschen gehört zum Gegenstand des Künstlers, doch die Moralität der Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen Mediums.

Kein Künstler will etwas beweisen. Selbst Dinge, die wahr sind, können bewiesen werden.

Kein Künstler nährt moralische Sympathien. Moralische Sympathie bei einem Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils.

Kein Künstler ist jemals morbid. Der Künstler kann alles ausdrücken.

Laster und Tugend sind für den Künstler Materialien einer Kunst.

Unter dem Gesichtspunkt der Form ist die Kunst des Musikers die Urform aller Künste. Unter dem Gesichtspunkt des Gefühls ist die Schauspielkunst die Urform.

Alle Kunst ist Oberfläche und Symbol zugleich.

Wer unter die Oberfläche dringt, tut dies auf eigene Gefahr.

Wer das Symbol entschlüsselt, tut dies auf eigene Gefahr.

Den Zuschauer und nicht das Leben spiegelt die Kunst in Wirklichkeit wider.

Unterschiedliche Ansichten über ein Kunstwerk zeigen, dass das Werk neu, vielschichtig und lebendig ist.

Wenn Kritiker unterschiedlicher Meinung sind, steht der Künstler in Einklang mit sich selbst.

Wir können einem Menschen verzeihen, dass er etwas Nützliches schafft, solange er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung für die Schaffung von etwas Nutzlosem besteht darin, dass man es zutiefst bewundert.

Alle Kunst ist völlig nutzlos.

Oscar Wilde

Das Atelier war von intensivem Rosenduft erfüllt, und wenn der sanfte Sommerwind durch die Bäume des Gartens strich, strömte das schwere Aroma des Flieders oder der zartere Hauch des blühenden Rotdorns zur offenen Tür herein.

Von der Ecke des Diwans aus persischen Satteltaschen, auf dem er es sich bequem gemacht hatte und, seiner Gewohnheit frönend, unzählige Zigaretten rauchte, konnte Lord Henry Wotton gerade noch den Schimmer der honigsüßen und honigfarbenen Blüten eines Goldregens sehen, dessen zitternde Zweige kaum imstande schienen, die Last ihrer flammengleichen Schönheit zu tragen; dann und wann huschten die phantastischen Schatten vorbeifliegender Vögel über die langen Vorhänge aus Tussahseide, die vor das riesige Fenster gezogen waren, ließen dabei für einen Augenblick eine Art japanischen Effekt entstehen und erinnerten ihn an die blassen, jadegesichtigen Maler Tokios, die mit den Mitteln einer zwangsläufig bewegungslosen Kunst den Eindruck von Schnelligkeit und Bewegung zu erwecken trachten. Das träge Summen der Bienen, die sich ihren Weg durch das hohe, ungemähte Gras suchten oder mit monotoner Beharrlichkeit um die mit Blütenstaub gefüllten goldgelben Kelche des wuchernden Geißblatts kreisten, ließ die Stille noch bedrückender erscheinen. Das dumpfe Dröhnen Londons glich dem ständig mitklingenden Basston einer fernen Orgel.

In der Mitte des Raumes stand, an einer hohen Staffelei befestigt, das lebensgroße Porträt eines jungen Mannes von außergewöhnlicher Schönheit, und davor saß, in geringer Entfernung, der Künstler selbst, Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren seinerzeit so großes Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt und Anlass zu so vielen seltsamen Vermutungen gegeben hatte.

»Es ist deine beste Arbeit, Basil, das Beste, was du je gemalt hast«, sagte Lord Henry in schleppendem Tonfall. »Du musst sie nächstes Jahr unbedingt an die Grosvenor-Galerie schicken. Die Akademie ist zu groß und zu vulgär. Jedes Mal, wenn ich hinging, waren entweder so viele Menschen dort, dass es mir unmöglich war, die Bilder zu sehen, was grässlich war, oder so viele Bilder, dass ich die Menschen nicht sehen konnte, und das war noch schlimmer. Die Grosvenor ist wirklich der einzige Ort, der in Frage kommt.«

»Ich glaube nicht, dass ich es überhaupt irgendwohin schicken werde«, antwortete er. Dabei warf er den Kopf auf jene komische Art zurück, die schon seine Freunde in Oxford zum Lachen gebracht hatte. »Nein, ich werde es nirgendwo hinschicken.«

Lord Henry zog die Augenbrauen hoch und sah ihn durch die dünnen blauen Rauchwölkchen hindurch erstaunt an, die in bizarr geformten Kringeln von seiner starken, opiumhaltigen Zigarette aufstiegen. »Es nirgendwo hinschicken? Aber warum denn nicht, mein Lieber? Hast du dafür irgendeinen Grund? Was für sonderbare Käuze ihr Maler doch seid! Ihr tut alles nur Erdenkliche, um berühmt zu werden. Und sobald ihr euch einen Namen gemacht habt, scheint ihr ihn wieder loswerden zu wollen. Das ist dumm von euch, denn es gibt nur eines auf der Welt, das schlimmer ist, als in aller Munde zu sein, und das ist, nicht in aller Munde zu sein. Ein Porträt wie dieses stellte dich weit über alle jungen Männer in England und machte die alten eifersüchtig, sofern alte Männer überhaupt noch irgendeines Gefühls fähig sind.«

Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte.

»Ich wusste ja, du würdest lachen; aber es ist dennoch wahr.«

»Zu viel von dir selbst hineingelegt! Auf mein Wort, Basil, ich wusste gar nicht, dass du so eitel bist; ich vermag beim besten Willen keinerlei Ähnlichkeit zwischen dir mit deinem mürrischen, markanten Gesicht und deinem kohlschwarzen Haar und diesem Adonis zu entdecken, der aussieht, als sei er aus Elfenbein und Rosenblättern geschaffen. Er, mein lieber Basil, ist ein Narziss, und du – nun ja, natürlich wirkst du intellektuell und all das. Aber Schönheit, wahre Schönheit, endet dort, wo ein intellektueller Gesichtsausdruck beginnt. Der Intellekt an sich ist eine Form der Übersteigerung und zerstört die Ebenmäßigkeit jedes Gesichts. In dem Augenblick, da man sich hinsetzt, um zu denken, wird man ganz Nase oder Stirn oder sonst etwas Scheußliches. Sieh dir die erfolgreichen Männer in irgendeinem der akademischen Berufe an. Wie unglaublich hässlich sind sie doch allesamt! Ausgenommen natürlich die Männer der Kirche. Aber die denken ja auch nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig noch genau dasselbe, was man ihm als Achtzehnjährigem eingetrichtert hat, und die natürliche Folge davon ist, dass er immer ganz entzückend aussieht. Dein geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen du mir noch nicht verraten hast, dessen Bildnis mich aber wirklich fasziniert, denkt nie. Dessen bin ich mir ganz sicher. Er ist ein gedankenloses, schönes Geschöpf, das im Winter, wenn wir keine Blumen zum Ansehen haben, wie auch im Sommer, wenn wir etwas brauchen, um unseren Geist ein wenig abzukühlen, stets um uns sein sollte. Gib dich keiner Selbsttäuschung hin, Basil: Du bist nicht im Geringsten wie er.«

»Du verstehst mich nicht, Harry«, entgegnete der Künstler. »Natürlich bin ich nicht wie er. Das weiß ich sehr wohl. Ja, ich möchte gar nicht so aussehen wie er. Du zuckst mit den

»Dorian Gray? Ist das sein Name?«, fragte Lord Henry, während er durch das Atelier auf Basil Hallward zuging.

»Ja, das ist sein Name. Ich hatte ihn dir eigentlich nicht sagen wollen.«

»Aber weshalb denn nicht?«

»Ach, das kann ich nicht erklären. Wenn ich jemanden wirklich gernhabe, verrate ich seinen Namen nie. Es ist, als gäbe ich damit einen Teil von ihm preis. Ich habe Heimlichkeiten schätzen gelernt. Sie scheinen das Einzige zu sein, was dem Leben heutzutage noch etwas Geheimnisvolles oder Wunderbares zu verleihen vermag. Das Alltäglichste wird reizvoll, wenn man es nur vor den anderen geheim hält. Wenn ich heute die Stadt verlasse, sage ich meinen Leuten nie, wohin ich gehe. Täte ich es, wäre mir jegliches Vergnügen genommen. Ich gebe zu, es ist eine törichte Angewohnheit, doch irgendwie scheint sie eine ganze Menge Romantik ins Leben zu bringen. Du findest mein Verhalten wohl schrecklich albern?«

»Es gefällt mir nicht, wie du über dein Eheleben sprichst, Harry«, sagte Basil Hallward. Er schlenderte langsam zur Tür, die in den Garten hinausführte. »Ich bin überzeugt, du bist in Wirklichkeit ein sehr guter Ehemann, schämst dich aber deiner Tugenden zutiefst. Du bist ein sonderbarer Mensch. Du sagst nie etwas Moralisches und tust nie etwas Unrechtes. Dein Zynismus ist einfach Pose.«

»Natürlich zu sein, ist einfach Pose, und zwar die aufreizendste, die ich kenne«, rief Lord Henry lachend. Damit gingen die beiden jungen Männer zusammen in den Garten hinaus und setzten sich auf eine Bambusbank im Schatten eines hohen Lorbeerstrauchs. Das Sonnenlicht glitt über die glänzenden Blätter. Auf dem Rasen zitterten weiße Gänseblümchen.

Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr hervor. »Ich fürchte, ich muss gehen, Basil«, sagte er leise, »und bevor ich gehe, bestehe ich darauf, dass du die Frage beantwortest, die ich dir vorhin gestellt habe.«

»Was für eine Frage?«, sagte der Maler, den Blick fest auf den Boden geheftet.

»Ich weiß es nicht, Harry.«

»Nun, dann will ich es dir sagen. Ich möchte, dass du mir erklärst, warum du Dorian Grays Bildnis nicht ausstellen willst. Ich möchte den wahren Grund hören.«

»Ich habe dir den wahren Grund genannt.«

»Nein, das hast du nicht. Du hast es damit begründet, dass du zu viel von dir selbst in das Bild hineingelegt hättest. Das ist doch kindisch.«

»Harry«, sagte Basil Hallward und sah ihm offen ins Gesicht, »jedes Porträt, das mit Gefühl gemalt wird, ist ein Porträt des Künstlers und nicht des Modells. Derjenige, der Modell sitzt, ist lediglich der zufällige Anlass, die Gelegenheit. Nicht ihn offenbart der Maler; der Maler offenbart vielmehr sich selbst auf der farbigen Leinwand. Der Grund, weshalb ich dieses Bild nicht ausstellen werde, ist, dass ich fürchte, darin das Geheimnis meiner eigenen Seele preisgegeben zu haben.«

Lord Henry lachte. »Und was ist das?«, fragte er.

»Ich will es dir verraten«, begann Hallward, doch dann nahm sein Gesicht einen Ausdruck der Bestürzung an.

»Ich warte, Basil«, erinnerte sein Gefährte ihn und blickte ihn unverwandt an.

»Ach, eigentlich gibt es da nur sehr wenig zu sagen, Harry«, antwortete der Maler, »und ich fürchte, du wirst es wohl kaum verstehen. Wahrscheinlich wirst du es gar nicht glauben.«

Lord Henry lächelte, beugte sich vor, pflückte ein Gänseblümchen mit rosafarbenen Blütenblättern und betrachtete es prüfend. »Ich bin ganz sicher, dass ich es verstehen werde«, erwiderte er, den Blick aufmerksam auf die kleine, von weißen Federn umrahmte goldene Scheibe gerichtet. »Und was das Glauben von irgendwelchen Dingen angeht, so vermag ich alles zu glauben, vorausgesetzt, es ist ganz und gar unglaublich.«

Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen, und die schweren Fliederrispen mit ihren unzähligen,

»Die Geschichte ist ganz einfach die«, sagte der Maler nach einer Weile. »Vor zwei Monaten ging ich auf einen der großen Empfänge bei Lady Brandon. Du weißt, wir armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der feinen Gesellschaft sehen lassen, um die Leute daran zu erinnern, dass wir keine Wilden sind. Im Abendanzug und mit einer weißen Krawatte kann, wie du mir einmal sagtest, jeder, selbst ein Börsenmakler, in den Ruf gelangen, ein kultivierter Mensch zu sein. Nun, als ich mich etwa zehn Minuten in dem Raum aufgehalten und mit üppigen, übertrieben herausgeputzten Witwen und langweiligen Akademiemitgliedern gesprochen hatte, wurde mir auf einmal bewusst, dass jemand mich ansah. Ich drehte mich halb um und sah Dorian Gray zum ersten Mal. Als sich unsere Blicke trafen, spürte ich, dass ich blass wurde. Ein seltsames Gefühl der Beklemmung überkam mich. Ich wusste, ich stand jemandem von Angesicht zu Angesicht gegenüber, dessen bloße Persönlichkeit so faszinierend war, dass sie, wenn ich es zuließe, mein ganzes Wesen, meine ganze Seele, ja selbst meine Kunst vollkommen in ihren Bann ziehen würde. Ich wünschte keinerlei äußeren Einfluss auf mein Leben. Du weißt selbst, Harry, wie unabhängig ich von Natur aus bin. Ich bin immer mein eigener Herr gewesen; war es zumindest immer gewesen, bis ich Dorian Gray begegnete. Dann – aber ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Etwas schien mir zu sagen, dass ich am Rande einer schrecklichen Lebenskrise stand. Ich hatte das eigenartige Gefühl, das Schicksal halte unvergleichliche Freuden und unvergleichlichen Kummer für mich bereit. Ich bekam Angst, drehte mich um und wollte den Raum verlassen. Es war nicht das Gewissen, das mich

»Gewissen und Feigheit sind in Wirklichkeit ein und dasselbe, Basil. Gewissen ist lediglich der Name der Firma. Das ist alles.«

»Das glaube ich nicht, Harry, und du glaubst es vermutlich ebenso wenig. Was immer indes mein Beweggrund war – und es kann auch Stolz gewesen sein, denn ich pflegte sehr stolz zu sein –, jedenfalls kämpfte ich mich zur Tür durch. Dort lief ich natürlich Lady Brandon in die Arme. ›Sie werden doch nicht schon so früh davonlaufen, Mr. Hallward?‹ kreischte sie. Du kennst doch ihre eigenartig schrille Stimme?«

»Ja, Schönheit ausgenommen, ist sie in jeder Hinsicht ein Pfau«, sagte Lord Henry, der mit seinen langen, nervösen Fingern das Gänseblümchen zerpflückte.

»Es gelang mir nicht, sie loszuwerden. Sie stellte mich königlichen Hoheiten und Leuten mit Ordenssternen und Hosenbandorden vor und ältlichen Damen mit riesigen Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich ihren teuersten Freund. Ich war ihr bis dahin erst ein einziges Mal begegnet, aber sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, mich zum Helden des Abends zu machen. Ich glaube, eines meiner Bilder war damals gerade ein großer Erfolg, zumindest wurde in der Boulevardpresse darüber geschrieben, was ja im neunzehnten Jahrhundert das maßgebliche Kriterium für Unsterblichkeit ist. Plötzlich sah ich mich dem jungen Mann gegenüber, dessen Erscheinung mich so sonderbar aufgewühlt hatte. Wir waren uns ganz nah, berührten uns fast. Wieder trafen sich unsere Blicke. Es war unbesonnen von mir, doch ich bat Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. Aber vielleicht war es gar nicht so unbesonnen. Es war einfach unumgänglich. Wir hätten auch ohne förmliche Vorstellung miteinander gesprochen, dessen bin ich mir sicher. Dorian sagte das später ebenfalls. Auch er hatte gespürt, dass es unsere Bestimmung war, einander kennenzulernen.«

»Arme Lady Brandon! Du gehst hart mit ihr ins Gericht, Harry«, bemerkte Hallward teilnahmslos.

»Mein lieber Freund, sie wollte einen Salon gründen und schaffte es nur, ein Restaurant zu eröffnen. Wie könnte ich sie bewundern? Aber erzähl doch: Was hat sie über Mr. Dorian Gray gesagt?«

»Ach, so etwas wie: ›Reizender Junge – arme, liebe Mutter und ich völlig unzertrennlich. Habe ganz vergessen, was er tut – fürchte, er – tut gar nichts – o doch, spielt Klavier – oder ist es Geige, lieber Mr. Gray?‹ Wir mussten beide lachen und wurden sofort Freunde.«

»Lachen ist durchaus kein schlechter Anfang und bei weitem das beste Ende für eine Freundschaft«, erklärte der junge Lord, während er noch ein Gänseblümchen pflückte.

Hallward schüttelte den Kopf. »Du weißt nicht, was Freundschaft ist, Harry«, murmelte er – »und ebenso wenig weißt du, was Feindschaft ist. Du magst alle, oder besser: Dir sind alle gleichgültig.«

»Wie schrecklich ungerecht von dir!«, rief Lord Henry, schob seinen Hut in den Nacken und blickte zu den Wölkchen hinauf,

»Der Meinung bin ich allerdings auch, Harry. Aber nach deiner Einteilung kann ich lediglich ein Bekannter sein.«

»Mein lieber alter Basil, du bist viel mehr als ein Bekannter.«

»Und viel weniger als ein Freund. Vermutlich eine Art Bruder?«

»Ach, Brüder! Ich mache mir nichts aus Brüdern. Mein älterer Bruder will einfach nicht sterben, und meine jüngeren Brüder scheinen nichts anderes zu tun.«

»Harry!«, rief Hallward missbilligend.

»Mein Lieber, ich meine es nicht ganz ernst. Aber ich kann nicht umhin, meine Verwandten zu verabscheuen. Wahrscheinlich liegt dies daran, dass keiner von uns es mag, wenn andere dieselben Fehler haben wie wir selbst. Ich habe durchaus Verständnis für den Zorn der englischen Demokratie auf das, was die Leute die Laster der Oberschicht nennen. Die Massen sind der Ansicht, Trunksucht, Dummheit und Unmoral sollten ihre alleinige Domäne sein, und wenn sich unsereins zum Narren mache, wildere er in ihrem Revier. Als der arme Southwark vor dem Scheidungsrichter stand, war ihre Empörung wirklich beeindruckend. Und doch führen vermutlich noch nicht einmal zehn Prozent des Proletariats ein anständiges Leben.«

»Ich stimme nicht mit einem einzigen Wort überein, das du eben gesagt hast, und, was noch wichtiger ist, Harry, ich bin überzeugt, du tust es ebenso wenig.«

»Jeden Tag. Ich könnte nicht glücklich sein, sähe ich ihn nicht täglich. Er ist mir einfach unentbehrlich.«

»Wie sonderbar! Ich dachte immer, außer deiner Kunst könnte dich nie etwas wirklich interessieren.«

»Er ist jetzt für mich meine ganze Kunst«, erklärte der Maler ernst. »Zuweilen denke ich, Harry, es gibt in der Weltgeschichte nur zwei epochemachende Ereignisse. Das erste ist das Auftreten eines neuen künstlerischen Ausdrucksmittels, und das zweite ist das Auftreten einer neuen Persönlichkeit, ebenfalls in der Kunst. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer war, das war das Antlitz des Antinoos für die spätgriechische Bildhauerei und wird das Gesicht Dorian Grays eines Tages für mich sein. Ich male, zeichne, skizziere ihn nicht nur. Natürlich habe ich all das getan. Aber er ist für mich viel mehr als jemand, der mir nur Modell sitzt. Ich will dir nicht erzählen, ich sei unzufrieden mit dem, wie ich ihn gezeichnet oder gemalt habe,

»Basil, das ist außergewöhnlich! Ich muss Dorian Gray unbedingt kennenlernen.«

Hallward erhob sich von der Bank und ging im Garten auf

»Warum willst du dann sein Bild nicht ausstellen?«, fragte Lord Henry.

»Weil ich darin, ohne es zu wollen, etwas von dieser ganzen sonderbaren künstlerischen Vergötterung zum Ausdruck gebracht habe, die ich ihm gegenüber natürlich mit keinem Wort erwähnte. Er hat nicht die geringste Ahnung davon, und er soll auch nie etwas davon erfahren. Die Welt könnte es indes erraten; und ich will mein Innerstes nicht vor ihren oberflächlichen, neugierigen Blicken entblößen. Nie soll mein Herz unter ihr Mikroskop kommen. Es ist einfach zu viel von mir selbst in diesem Ding, Harry – zu viel von mir selbst!«

»Dichter sind da weniger zimperlich als du. Sie wissen, wie dienlich Leidenschaft einer Veröffentlichung ist. Ein gebrochenes Herz sichert heutzutage zahlreiche Auflagen.«

»Dafür verabscheue ich sie ja auch«, rief Hallward. »Ein Künstler sollte schöne Dinge schaffen, aber nichts von seinem eigenen Leben in sie hineinlegen. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen die Kunst behandeln, als sei sie dazu ausersehen, eine Art Autobiographie zu sein. Wir haben den Sinn für abstrakte Schönheit verloren. Eines Tages werde ich der Welt zeigen, was das ist; und deshalb soll sie auch mein Porträt von Dorian Gray niemals zu Gesicht bekommen.«

»Meiner Meinung nach hast du unrecht, Basil, aber ich will mich nicht mit dir streiten. Nur die intellektuell Unterlegenen streiten. Sag mir, mag Dorian Gray dich sehr?«

Der Maler überlegte einige Augenblicke. »Er hat mich gern«, antwortete er nach einer Weile. »Ich weiß, dass er mich gernhat.

»Im Sommer neigen die Tage dazu, recht lang zu sein, Basil«, bemerkte Lord Henry leise. »Vielleicht wirst du seiner schneller überdrüssig als er deiner. Es ist zwar ein betrüblicher Gedanke, doch besteht kein Zweifel daran, dass Genie länger währt als Schönheit. Das erklärt auch, warum wir alle derartige Anstrengungen unternehmen, uns übermäßig zu bilden. Im stürmischen Kampf ums Dasein verlangt es uns nach etwas Dauerhaftem, und deshalb stopfen wir unsere Hirne mit Unsinn und Fakten voll, in der törichten Hoffnung, unseren Platz behaupten zu können. Der durch und durch wohlinformierte Mensch – das ist das Ideal unserer modernen Zeit. Das Hirn dieses durch und durch wohlinformierten Menschen ist etwas Grauenvolles. Es gleicht einem Trödelladen voller Ungeheuerlichkeiten und Staub, in dem alles über seinem eigentlichen Wert ausgezeichnet ist. Trotzdem glaube ich, dass du seiner zuerst überdrüssig werden wirst. Eines Tages wirst du deinen Freund ansehen, und er wird dir ein wenig verzeichnet vorkommen, oder dir missfällt sein Farbton oder sonst etwas. Du wirst ihm im Innersten deines Herzens bittere Vorwürfe machen und ernsthaft überzeugt sein, er habe sich dir gegenüber äußerst schlecht benommen. Bei seinem nächsten Besuch wirst du ihm vollkommen kühl und gleichgültig begegnen. Das wird jammerschade sein, denn es wird dich verändern. Was du mir erzählt hast, ist eine richtige

»Harry, sprich nicht so. Solange ich lebe, wird Dorian Grays Persönlichkeit mich beherrschen. Du bist nicht imstande zu fühlen, was ich fühle. Du bist zu unbeständig.«

»Ah, mein lieber Basil, gerade darum kann ich es nachempfinden. Treue Menschen lernen nur die triviale Seite der Liebe kennen: allein die Treulosen wissen auch um die Tragödien der Liebe.« Und Lord Henry entflammte ein elegantes silbernes Feuerzeug und begann mit selbstbewusster, zufriedener Miene eine Zigarette zu rauchen, als hätte er die Welt in einem einzigen Satz zusammengefasst. In den glänzendgrünen Efeublättern raschelten aufgeregt zwitschernde Spatzen, und die blauen Wolkenschatten jagten einander wie Schwalben über den Rasen. Wie angenehm war es doch im Garten! Und wie ergötzlich waren die Gefühlsregungen anderer Leute! Viel ergötzlicher als ihre Ansichten, so schien es ihm. Die eigene Seele und die Leidenschaften der Freunde – das waren die faszinierenden Dinge im Leben. Mit heimlichem Vergnügen malte er sich in Gedanken das langweilige Gabelfrühstück aus, das er versäumt hatte, weil er so lange bei Basil Hallward geblieben war. Wäre er zu seiner Tante gegangen, hätte er dort mit Sicherheit Lord Goodbody getroffen, und die ganze Unterhaltung hätte sich um die Armenspeisung und die Notwendigkeit von vorbildlichen Mietshäusern gedreht. Alle hätten die Bedeutung jener Tugenden gepriesen, für deren Ausübung sie im eigenen Leben keine Veranlassung sahen. Die Reichen hätten sich über den Wert der Sparsamkeit geäußert, und die Müßiggänger sich beredt über die Würde der Arbeit ausgelassen. Es war erfreulich, all dem entgangen zu sein! Bei dem Gedanken an seine Tante schien ihm etwas in den Sinn zu kommen. Er wandte sich Hallward zu und sagte: »Mein Lieber, eben fiel es mir wieder ein.«

»Was fiel dir ein, Harry?«

»Und wo war das?«, fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln.

»Mach nicht so ein grimmiges Gesicht, Basil. Es war bei meiner Tante, Lady Agatha. Sie erzählte mir, sie habe einen wundervollen jungen Mann entdeckt, der ihr im East End helfen wolle, und sein Name sei Dorian Gray. Allerdings erwähnte sie mit keinem Wort, dass er gut aussieht. Frauen vermögen gutes Aussehen nicht zu würdigen, zumindest anständige Frauen nicht. Sie sagte, er sei sehr ernst und habe ein einnehmendes Wesen. Ich sah sofort ein Geschöpf mit Brille, glattem Haar und schrecklich vielen Sommersprossen vor mir, das auf riesigen Füßen einhertrampelt. Ich wünschte, ich hätte gewusst, dass es sich um deinen Freund handelt.«

»Ich bin froh, dass du es nicht wusstest, Harry.«

»Warum?«

»Ich möchte nicht, dass du ihn kennenlernst.«

»Du möchtest nicht, dass ich ihn kennenlerne?«

»Nein.«

In diesem Augenblick kam der Butler in den Garten und meldete: »Mr. Dorian Gray ist im Atelier, Sir.«

»Jetzt musst du mich vorstellen«, rief Lord Henry lachend.

Der Maler wandte sich an seinen Diener, der blinzelnd im Sonnenlicht stand. »Bitten Sie Mr. Gray zu warten, Parker; ich werde gleich hineinkommen.« Der Mann verbeugte sich und ging den Weg hinauf.

Dann sah Basil Hallward Lord Henry an. »Dorian Gray ist mir der teuerste Freund«, sagte er. »Er hat ein unkompliziertes, einnehmendes Wesen. Deine Tante hatte völlig recht mit dem, was sie über ihn sagte. Verdirb ihn nicht. Versuche nicht, ihn zu beeinflussen. Dein Einfluss wäre schädlich. Die Welt ist groß, und es gibt viele wundervolle Menschen in ihr. Nimm mir nicht den einen, der meiner Kunst allen Zauber verleiht, den sie besitzt; mein Leben als Künstler hängt von ihm ab. Vergiss nicht, Harry,

»Was für einen Unsinn du daherredest!«, erklärte Lord Henry lächelnd, nahm Hallward beim Arm und führte ihn beinahe ins Haus.