Anna Lott
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Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2022
Umschlag- und Innenillustrationen: Ariane Camus
Lektorat: Wiebke Andersen-Oberschäfer
Satz und E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH
ISBN: 978-3-646-93515-8
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Geschichte 1
Wen würdest du
retten?
Maja liebt ihre kleine Schwester Marietta.
Sehr sogar. Mehr noch als ihre Lieblings-
schuhe (die mit der Glitzersohle), ihren neuen
Ranzen und ihre Kuscheltiere. Aber wenn
es um ihre Lieblingspuppe Carlotta
geht, ist für sie die Sache klar.
»Wenn wir auf dem höchsten
Hochhaus der ganzen Welt sind und
es brennt. Wen würdest du retten,
Carlotta oder mich?«, fragt Marietta.
»Carlotta natürlich!«, sagt Maja.
»Nicht mich?!« Marietta schaut sie empört an. »Aber dann
bin ich dort oben doch ganz alleine! Hast du mich denn gar nicht
lieb?«
Maja sieht, dass ihre kleine Schwester Tränen in den Augen hat.
Das ist so, als hätte irgendwer in ihr drin einen Wasserhahn auf-
gedreht. Jetzt steigt das Wasser höher und höher, bis in ihren Kopf
hinein. Gleich wird es in Sturzbächen aus ihren Augen heraus-
rinnen. Maja mag das nicht, wenn Marietta weint. Dann wird sie
oft selbst ganz traurig. Also sagt sie schnell: »Klar hab ich dich
lieb! Du kannst doch nach Hilfe rufen, da kann dich locker jemand
anderes retten. Carlotta ist stumm, sie kann nicht um Hilfe rufen,
also kann sie auch niemand hören und auch niemand retten.«
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Marietta wischt sich die Tränen aus den Augen und ist still. Sie
denkt nach. Das sieht Maja an ihren Augen, die sind nämlich ganz
dicht nebeneinander und zwischen ihnen ist eine Falte.
»Aber was wäre, wenn ich auch nicht sprechen kann. Oder im
Rollstuhl sitze so wie Luca?«, fragt sie nach einer Weile. Luca ist in
Mariettas Kindergartengruppe und ihr bester Freund.
»Mit einem Rollstuhl würdest du da oben gar nicht sein«, sagt
Maja.
»Und wenn doch? Vielleicht bin ich aus einem Flugzeug ge-
fallen und nun hänge ich dort oben fest und kann nicht laufen und
nicht rufen und blind bin auch!«
»Warum bist du blind?«, fragt Maja.
»Weil das nun mal so ist«, sagt Marietta.
»Dann würde ich natürlich dich retten. Und wenn ich schon
dabei bin, nehme ich auch gleich Carlotta mit. Einverstanden?«
Marietta nickt und grinst.
»Einverstanden«, sagt sie. Blitzschnell steckt sie sich eins von
Majas Bonbons in den Mund. Eins von den Dopsies, das sind die
roten mit Brause drin. Die, die immer so herrlich im Mund britzeln
und bratzeln. Diese verflixte kleine Schwester, denkt Maja. Muss
sie immer das letzte Wort haben? Und ihr ständig die leckersten
Bonbons klauen?
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Geschichte 2
Ein Bär im Klo
Maja hat eine ganze Menge Kuscheltiere, genau 27 sind es. Das weiß
sie so genau, weil sie sie jeden Tag zählt. Alle Kuscheltiere sitzen
nebeneinander auf dem Regal in ihrem Zimmer. Auf der einen Seite
sitzt Manumi, die Schildkröte, und auf der anderen Seite sitzt Peter,
der Esel, den hatte ihre Mama schon, als sie selbst noch ein Kind
war. Zwischen Manumi und Peter sitzen alle anderen. Das sind drei
Mäuse, ein Reh, ein Rotkehlchen und viel andere Tiere. Außerdem
ist ein Skelett mit einem dicken Bauch dabei. Marietta spielt
ständig mit ihnen, wenn sie vom Kindergarten nach Hause kommt,
während sie selbst noch in der Schule ist. Deshalb sitzt ihre Lieb-
lingspuppe Carlotta ganz oben im Regal, dort, wo Marietta nicht
rankommt. Auch nicht, wenn sie sich auf einen Stuhl stellt.
Sicher ist sicher.
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Carlotta hat schokoladenbraunes Haar, das ihr bis fast zu den
Füßen reicht, sie lächelt immer und hört immer zu. Auch fällt sie
Maja nie ins Wort und lacht über alle ihre Witze. Am meisten über
diesen: »Was ist unter der Erde und stinkt? – Eine Furzel!«
Dann lacht und lacht Carlotta und dabei kullert sie auf dem
Boden herum, hin und her, immer wieder. Und dabei verstrubbeln
ihre langen Haare so sehr, dass Maja sie anschließend lange
kämmen muss und zu Zöpfen flicht. Dann sieht sie noch schöner
aus als zuvor.
»Carlotta ist eine Heilige. Fass sie niemals an!«, sagt sie zu
Marietta, wenn die am Regal hinaufschaut.
»Was ist eine Heilige?«, fragt Marietta.
»Eine Heilige ist jemand, den nur sehr wenige Menschen an-
fassen dürfen. Wer es ohne Erlaubnis tut, verwandelt sich in eine
hässliche Kröte«, sagt Maja. Und dann fügt sie noch mit Grusel-
stimme hinzu: »Für immer!«
Natürlich ist das völliger Blödsinn. In Wahrheit sind Heilige be-
sondere Frauen oder Männer, die von gläubigen Menschen verehrt
werden, weil sie so fromm und lieb und vorbildlich waren. Aber
das weiß Marietta zum Glück nicht. Sie weiß überhaupt eine ganze
Menge nicht. Maja findet das sehr praktisch.
Als Maja heute nach der Schule nach Hause kommt, ist Mama ge-
rade nicht da. In der Wohnung ist es seltsam still.
»Mama?« Nichts.
»Mari?« Wieder nichts.
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Da entdeckt sie plötzlich einen großen Zettel vor sich auf dem
Boden im Flur. Ich bin kurz bei Herrn Johannson unten und gleich
wieder da. Kuss, Mama, steht in großen Buchstaben
darauf. Außerdem ein Herz und ein
Smiley.
Vielleicht ist Marietta
auch bei Herrn Johannson.
»Mari?«, ruft Maja vor-
sichtshalber noch einmal.
Doch aus Mariettas
Zimmer ist kein Mucks zu
hören.
Maja ist enttäuscht.
Sie wollte den
beiden so gerne
von der Schule er-
zählen! Dass sie dort
heute ein Drachenpony
aus Ton geknetet hat. Und
dass dieses Drachenpony bald
beim Schulfest ausgestellt wird! Dann erzählt sie es eben Carlotta!
Aber erschrickt sie fast zu Tode. Auf dem obersten Regalbrett
sitzt zwar Carlotta, doch ihre Haare sind so verfilzt und zerzaust,
dass ihr Gesicht kaum zu sehen ist. Majas Herz beginnt zu
klopfen.
Bumm, bumm, bumm, macht es.
Jemand hat Carlotta vom Regal genommen und zerzaust und
zerrupft. Und dieser Jemand war eindeutig –
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»MARIIIIIIIIIIIIII!!!!!!!!«
Maja springt vom Stuhl und rennt zu Mariettas Zimmer. Sie
will die Tür aufreißen, doch diese ist verschlossen. Ein eindeutiges
Zeichen, dass Marietta doch da ist. Sie hat sich eingeschlossen!
»Mach sofort auf!«, schreit Maja.
»Niemals!«, hört sie Marietta von innen rufen.
»Das sag ich alles Mama!«, ruft Maja.
»Dann sag ich Mama, dass du gelogen hast! Carlotta ist gar
keine Heilige! Ich habe mich nämlich gar nicht in eine Kröte ver-
wandelt!«, kreischt Marietta.
»Du hast Carlotta kaputt gemacht!«
»Hab ich nicht! Ich hab sie bloß frisiert!«
»Hast du wohl!«
»Hab ich nicht!«
So geht es eine Weile hin und her.
Maja fühlt sich, als müsse sie jeden Augenblick platzen vor
lauter Wut. Ihr Kopf, ihr Bauch – alles fühlt
sich rot und prall an, feurig und rasend.
»Das gibt Rache!«, brüllt sie, genauso laut
und schrill wie die böse Fee in ihrem Hörspiel.
Maja kommt es so vor, als hätte sie sich
plötzlich in diese böse Fee verwandelt.
Sie schaut sich im Flur um.
Da fällt ihr Blick auf Mariettas
Kindergartentasche, aus der ihr Kuschelbär
Bäri herausschaut.
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»Na warte!«, denkt sie. »Na warte!«
Maja schnappt sich Bäri. Am liebsten würde sie ihm ebenfalls
das Fell zerzotteln, aber das ist bereits verzottelt! Ich könnte ihm
das Fell abschneiden!, denkt sie. Aber wenn sie es sich richtig
überlegt, würde sie es niemals übers Herz bringen, Mariettas
Lieblingsteddy kaputt zu machen. Aber mit irgendetwas will sie
Marietta wehtun. So, wie sie ihr wehgetan hat. Jetzt. Sofort!
Bei Frau Müller ein Stockwerk höher ist das Rauschen einer
Toilettenspülung zu hören. Da hat Maja mit einem Mal eine Idee.
Sie steigt mit Bäri auf einen Stuhl und versteckt ihn zwischen
Mamas Handschuhen in einem der Garderobenfächer.
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»Öhhhhh!«, macht Bäri.
»Psssst!«
Maja läuft ins Badezimmer, klappt den Toilettendeckel hoch
und brüllt: »Ich werfe jetzt Bäri ins Klo und spüle ihn weg und er
kommt nie, nie wieder zu dir zurück!«
»Neiiiiiiiiiiiiiiiin!«
Ruckzuck dreht sich der Schlüssel im Schloss und Marietta
stürmt aus ihrem Zimmer. Genau in dem Moment, als sie im Bade-
zimmer erscheint, drückt Maja die Klospülung.
»NIIIICHT!!!«, kreischt Marietta.
Dann ist sie still. Mucksmäuschenstill. Entsetzt starrt sie in das
wirbelnde und sprudelnde Wasser im Klo.
Marietta ist so still, dass es Maja unheimlich ist. Sie ist fast
ein bisschen erschrocken über sich selbst. Hat sie ihrer kleinen
Schwester gerade wirklich gesagt, dass sie ihr Lieblingskuscheltier
ins Klo gespült hat? War das sie selbst? Oder war das vielleicht die
böse Fee?
Mit einem Mal muss Maja kichern, obwohl das alles gar nicht
lustig ist. Aber in ihr pocht und kitzelt es wie verrückt.
»Mari, ich …«, kichert sie verlegen.
Doch Marietta starrt weiterhin in die Kloschüssel.
»Mari, das ist Qatsch, ich habe Bäri gar nicht …«
Doch Marietta hört ihr gar nicht zu. Maja sieht, dass sie nach-
denkt, mit engen Augen und der Nachdenk-Falte dazwischen.
Diesmal denkt sie sehr, sehr scharf nach, die Falte sieht aus wie
eine Knackwurst.
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