Rachel Joyce

Miss Bensons Reise

Roman

Roman

Aus dem Englischen von Maria Andreas

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Rachel Joyce

Rachel Joyce nimmt uns in ihren Romanen immer wieder mit auf besondere Lebensreisen. Mit ihren liebenswerten Figuren, ihrem Humor und ihrer feinfühligen Sprache bewegt sie Millionen Leserinnen und Leser. Für ihre Werke, darunter »Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry«, wurde sie vielfach ausgezeichnet. Rachel Joyce war Bühnenschauspielerin u.a. bei der Royal Shakespeare Company und ist Autorin zahlreicher Hörspiele für die BBC. Sie lebt mit ihrer Famiie auf dem Land in Gloucestershire.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Zwei Frauen, zwei Lebensträume und ein mitreißendes Abenteuer

 

London 1950: Margery Benson lebt ein einsames Leben. Als sie eines Tages in ihrem Job als Lehrerin gedemütigt wird, fasst sie einen Entschluss: Jetzt oder nie. Von ihrem Vater hat sie die Liebe zur Naturkunde und Insekten geerbt; ihr großer Traum ist es immer gewesen, einen goldenen Käfer zu finden, den sie einst zusammen in einem Buch gesehen haben. Margery kratzt ihre Ersparnisse zusammen und rüstet sich aus für ihre Expedition nach Neukaledonien. Die Suche nach einer Reisebegleitung erweist sich als schwierig, doch Margery lässt sich nicht aufhalten.

 

Der neue Roman von der Autorin des Weltbestsellers »Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry«

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien im Juli 2020 unter dem Titel »Miss Benson's Beetle« im Verlag Doubleday, London

© Rachel Joyce 2020

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2020 S.Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung und -abbildung: Cornelia Niere nach einer Idee und unter Verwendung einer Abbildung von Kimberly Glyder

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-403161-3

Ungesuchtes bleibt unentdeckt.

SOPHOKLES

 

Wenn wir zu leugnen versuchen, dass alles in stetem Wandel ist, verlieren wir unser Gefühl für die Heiligkeit des Lebens. Wir vergessen schnell, dass wir ein Teil der natürlichen Ordnung der Dinge sind.

PEMA CHÖDRÖN, WENN ALLES ZUSAMMENBRICHT. HILFESTELLUNG FÜR SCHWIERIGE ZEITEN

Der goldene Käfer von Neukaledonien, 1914

Als Margery zehn war, verliebte sie sich in einen Käfer.

Es war ein strahlender Sommertag und alle Fenster des Pfarrhauses standen offen. Margery hatte vor, ihre Holztiere über den Boden wandern zu lassen, immer in Paaren, aber das Tiereset hatte einmal ihren Brüdern gehört, und die meisten Tiere waren entweder angemalt oder angebrochen. Einige fehlten ganz. Sie überlegte, ob sie unter diesen Umständen vielleicht das dreibeinige Kamel mit dem gepunkteten Vogel zusammenspannen könnte. Da trat ihr Vater aus dem Arbeitszimmer.

»Hast du kurz Zeit, Große?«, fragte er. »Ich möchte dir was zeigen.«

Sie legte das Kamel und den Vogel weg und folgte ihm. Sie hätte auch einen Kopfstand gemacht, wenn er sie darum gebeten hätte.

Ihr Vater ging zum Schreibtisch. Er setzte sich, nickte und lächelte. Eigentlich gab es keinen rechten Grund, sie zu holen; er wollte sie einfach eine Weile um sich haben. Seit ihre vier Brüder im Krieg waren, rief er Margery oft zu sich. Oder er trödelte am Fuß der Treppe herum, als suche er etwas, ohne zu wissen, was. Seine Augen waren die gütigsten, die man sich denken kann, und seit er oben am Kopf eine kleine Glatze hatte, sah er irgendwie nackt aus.

Nach einer solchen Ankündigung holte er sonst immer etwas hervor, das er im Garten gefunden hatte. Heute schlug er stattdessen ein Buch auf, das den Titel trug: Unglaubliche Geschöpfe. Es sah imposant aus, wie die Bibel oder eine Enzyklopädie, und darüber schwebte ein Geruch nach alten Dingen. Es konnte aber auch sein, dass der Geruch von ihm ausging. Margery stand neben ihm und musste sich sehr beherrschen, um nicht zappelig zu werden.

Auf der ersten Seite war die Zeichnung eines Mannes zu sehen. Sein Gesicht und seine Arme waren normal, aber anstelle von Beinen hatte er einen grünen Nixenschwanz. Margery staunte. Das nächste Bild war genauso seltsam. Ein Eichhörnchen wie die im Garten, aber es hatte Flügel. Und so ging es weiter, Seite um Seite, ein unglaubliches Geschöpf nach dem anderen.

»Schau dir das mal an«, sagte ihr Vater immer wieder. »Du meine Güte! Schau dir diesen Burschen an, Margery!«

»Gibt es die in echt?«

»Könnte sein.«

»Sind die in einem Zoo?«

»Nein, mein Schatz. Vielleicht leben diese Geschöpfe irgendwo, aber sie sind noch nicht gefunden worden. Es gibt Menschen, die an ihre Existenz glauben, aber keines dieser Geschöpfe wurde bisher gefangen, also ist ihre Existenz nicht bewiesen.«

Margery hatte keine Ahnung, wovon er redete. Bis zu diesem Moment hatte sie angenommen, dass alles auf der

Ihr Vater zeigte ihr den Yeti aus dem Himalaya, das Ungeheuer von Loch Ness, das patagonische Riesenfaultier. Da gab es den irischen Elch mit einem Geweih groß wie Flügel. Den südafrikanischen Quagga, der vorn ein Zebra war, aber hinten gingen ihm die Streifen aus, und er wurde zum Pferd. Den Riesenalk, den löwenschwänzigen Affen, den Queensland-Tiger. So viele unglaubliche Geschöpfe überall auf der Welt, die noch keiner gefunden hatte.

»Glaubst du denn, dass es die in echt gibt?«, fragte Margery.

Ihr Vater nickte. »Inzwischen finde ich den Gedanken, wie viel wir nicht wissen, ganz tröstlich«, sagte er. »Wir wissen ja fast alles nicht.« Nachdem er diese etwas verquere Weisheit von sich gegeben hatte, blätterte er weiter um. »Ah!«

Er deutete auf einen Punkt. Einen Käfer.

Na, das war ja gar nichts. So klein und gewöhnlich. Margery begriff nicht, was der in einem Buch voller Unglaublicher Geschöpfe zu suchen hatte, egal, ob gefunden oder nicht gefunden. Auf so was trat sie drauf, ohne es zu merken.

Ihr Vater erklärte, der Kopf eines Käfers heiße Kopf, der Mittelteil Thorax und die untere Hälfte Abdomen. Käfer hätten zwei Paar Flügel – ob sie das schon gewusst habe? Ein zartes Flügelpaar sorge dafür, dass Käfer tatsächlich fliegen können, ein zweites, hartes Paar Deckflügel schütze das erste. Es gebe mehr Arten von Käfern auf Gottes

»Der sieht aber ziemlich schlicht aus«, bemerkte Margery. Sie hatte mitbekommen, dass ihre Tanten sie, Margery, als »schlicht« bezeichnet hatten. Im Gegensatz zu ihren Brüdern, die »prachtvoll waren wie Rappen«.

»Ach was. Schau doch mal genauer!«

Er blätterte zur nächsten Seite um, und da gab es Margery einen Ruck.

Da war er wieder, der Käfer, aber diesmal etwa zwanzigfach vergrößert. Und sie hatte sich geirrt. Sie hatte sich so sehr geirrt, dass sie nun ihren Augen kaum traute. In Groß war dieses schlichte kleine Wesen alles andere als schlicht. Der Körper, ein perfektes Oval, war überall aus Gold, ein einziges helles Leuchten. Goldener Kopf, goldener Thorax, goldenes Abdomen. Sogar die winzigen Beinchen waren golden, als hätte die Natur ein Schmuckstück genommen und es zu einem Insekt umgeformt. Der Käfer war viel prächtiger als ein Mann mit Nixenschwanz.

»Der Goldene Käfer von Neukaledonien«, sagte ihr Vater. »Stell dir vor, wie es wäre, ihn zu finden und nach Hause zu bringen.«

Bevor sie weitere Fragen stellen konnte, klingelte die Türglocke, und ihr Vater erhob sich vorsichtig. Er schloss die Tür behutsam hinter sich, als wäre sie ein empfindendes Wesen, und ließ Margery mit dem Käfer allein. Sie streckte den Finger aus und tippte auf ihn.

»Alle?«, hörte sie ihn in der Diele sagen. »Wie? Alle?«

Bis jetzt hatte Margery die Liebe ihres Vaters zu Insekten nicht geteilt. Er war oft mit dem Fangnetz im Garten, aber solche Dinge unternahm er nur mit ihren Brüdern.

Doch als Reverend Tobias Benson zurückkehrte, schien er sich nicht mehr an den Käfer zu erinnern und schon gar nicht an Margery. Langsam ging er zum Schreibtisch und wühlte Papiere durch, hob sie auf und legte sie wieder hin, als wäre nicht das Richtige dabei. Er nahm einen Briefbeschwerer in die Hand, dann einen Füller. Er stellte den Briefbeschwerer dort ab, wo der Füller gelegen hatte, und schien keine Ahnung zu haben, wohin nun mit dem Füller. Gut möglich auch, dass er völlig vergessen hatte, was ein Füller war. Er starrte nur vor sich hin, Tränen rannen ihm über das Gesicht.

»Alle?«, sagte er. »Wie? Alle vier?«

Er nahm etwas aus der Schublade und ging durch die Terrassentür hinaus, und bevor Margery begriff, was passiert war, hatte er sich erschossen.

Abenteuer!

Was haben Sie mit meinen neuen Lacrosse-Stiefeln vor?

Miss Benson hatte bemerkt, dass in ihrer Klasse ein lustiger Zettel kursierte. Er kam von hinten und wanderte zur Mitte vor.

Die Mädchen hatten erst lautlos gelacht, aber weil sie ihr Lachen unterdrückten, fiel es bald umso mehr auf: Eine bekam Schluckauf, eine andere wurde praktisch blau im Gesicht. Aber Miss Benson unterbrach ihren Unterricht nicht. Sie ging mit dem Zettel um, wie sie immer mit solchen Zetteln umging, das heißt, sie tat, als gäbe es ihn nicht, und sprach höchstens etwas lauter. Die Mädchen gaben den Zettel weiter, während sie ihnen erzählte, wie man in Kriegszeiten einen Kuchen backt.

Der Zweite Weltkrieg war zwar vorbei, seit über fünf Jahren schon, aber die Rationierung nicht. Fleisch war rationiert, Butter war rationiert, ebenso Speck und Margarine. Zucker war rationiert. Tee war rationiert. Käse, Kohle, Seife, Süßigkeiten. Alles war immer noch rationiert. Die Jacke, die Miss Benson trug, war an den Manschettenkanten durchgewetzt, ihr einziges Paar Schuhe war so alt, dass es bei Regen zu schmatzen anfing. Aber wenn sie die Schuhe neu besohlen ließe, müsste sie solange in Strümpfen beim Schuster warten, deshalb trug sie sie einfach weiter und sah ihnen beim Auseinanderfallen zu. Die Häuser

Inzwischen hatte der Zettel die zweite Reihe erreicht. Prusten. Kichern. Etliche Schultern zuckten. Als Miss Benson gerade erklärte, wie man eine Kuchenform mit Backpapier auskleidet, wurde Wendy Thompson, ein Mädchen in der ersten Reihe, von hinten angestupst und bekam den Zettel in die Hand gedrückt. Wendy war kränklich blass und machte immer ein Gesicht, als rechnete sie mit dem Schlimmsten – selbst wenn man nett zu ihr war, sah sie zu Tode erschrocken aus –, und so kam ihre Reaktion, als sie den Zettel auffaltete, völlig unerwartet: Sie stieß einen schrillen Ton aus. Tatsächlich klang sie wie eine Hupe. Das war’s dann. Die ganze Klasse war außer Rand und Band, niemand riss sich mehr zusammen. Wenn die Mädchen so weiterlachten, würde es die ganze Schule hören.

Margery stieg von ihrem Holzpodest herunter und streckte die Hand aus. »Wendy, gib mir bitte den Zettel.«

Wendy saß mit eingezogenem Kopf da wie ein verängstigtes Kaninchen. Die Mädchen in der letzten Reihe tauschten Blicke aus. Niemand rührte sich.

»Ich möchte nur wissen, was hier so lustig ist, Wendy. Vielleicht können wir ja alle gemeinsam darüber lachen.«

Margery hatte nicht die Absicht, den Zettel zu lesen. Und schon gar nicht hatte sie vor, gemeinsam mit den Schülerinnen zu lachen. Sie würde ihn nur auffalten und in den Abfalleimer werfen. Danach würde sie wieder auf das Podest steigen und die Lektion zu Ende führen. Gleich wäre Pause. Im Lehrerzimmer würden Tee und Kekse bereitstehen.

»Den Zettel«, forderte sie Wendy ein zweites Mal auf.

Wendy rückte ihn so zögerlich heraus, dass sogar der Postweg schneller gewesen wäre. »Nicht anschauen, Miss«, sagte sie leise.

Margery nahm den Zettel und faltete ihn auseinander. Die Stille wurde immer länger, wie ein Band, das von seiner Spule abrollt.

Margerys Atmung schaltete in den Rückwärtsgang. Zorn und Kränkung blähten sich in ihr auf, bis sie schier platzte. Sie hätte den Mädchen gern entgegengeschleudert: »Was fällt euch ein? Das bin ich nicht. So bin ich nicht.« Aber sie brachte keinen Ton hervor. Stattdessen stand sie da wie ein Stock und hatte kurz die irrationale Hoffnung, das Ganze würde sich für immer in Luft auflösen, wenn sie einfach stehen blieb und sich totstellte. Dann kicherte jemand. Ein anderes Mädchen hustete.

»Wer war das?«, stieß Margery hervor. In ihrer Not kam ihre Stimme merkwürdig dünn heraus. Es fiel ihr schwer, ihre Atemluft zu genau diesen Lauten zu formen.

Keine Antwort.

Margery hatte sich mit ihrer Frage in Zugzwang gebracht. Sie drohte der Klasse mit Strafarbeit, mit dem Entzug der Nachmittagspause. Sie drohte sogar damit, die Konrektorin zu holen, vor der alle Angst hatten und die man so gut wie nie lachen sah. Gelacht hatte sie allerdings bei dem denkwürdigen Moment, als Margery ihren Rock in

»Der Unterricht ist beendet«, sagte Margery in einem, wie sie hoffte, würdevollen Ton. Dann nahm sie ihre Handtasche und ging.

Kaum fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, als das Gelächter aufbrandete. »Wendy, du Gans!«, brüllten die Mädchen. Margery hastete am Physiklabor und an der Geschichtsabteilung vorbei, ohne zu wissen, wohin sie lief. Sie brauchte frische Luft. Mädchen, kreischend wie Möwen, verbarrikadierten den Korridor. Margery hatte nur noch Gelächter im Ohr. Sie versuchte es mit dem Ausgang zum Sportplatz, aber die Tür war abgeschlossen. Den Haupteingang durfte sie nicht benutzen, der war ausschließlich Besuchern vorbehalten und für Lehrer streng verboten. Die Aula? Nein. Da übten zig Mädchen in Leibchen und Pluderhosen eine Art Schwebetanz, bei dem auch Fahnen geschwenkt wurden. In Margery kroch die Angst hoch, sie bliebe vielleicht für immer hier gefangen. Sie lief an einem

Margery war eine Frau wie ein Schrank. Das wusste sie selbst. Und sie hatte sich mit den Jahren gehen lassen. Auch das wusste sie. Als Kind war sie groß und dünn gewesen wie ihre Brüder und hatte auch die gleichen strahlend blauen Augen. Sie trug sogar die Sachen auf, die ihren Brüdern zu klein geworden waren. Ihre Größe hatte ihr schon immer zugesetzt, mehr als die abgelegte Kleidung, und sie hatte sich früh eine krumme Haltung angewöhnt. Aber übergewichtig und richtig dick war sie erst geworden, als ihre Regel ausblieb. Genau wie ihre Mutter hatte sie in dieser Zeit enorm zugenommen. Das Gewicht belastete ihre Hüfte, in die ab und zu ein unerwarteter Schmerz schoss, der sie zum Hinken zwang. Aber dass sie zur Witzfigur der Schule geworden war, das hatte Margery nicht gewusst.

Im Lehrerzimmer war es heiß, es roch nach Bratensauce und alten Strickjacken. Niemand grüßte oder lächelte; die meisten dösten vor sich hin. Die Konrektorin, eine scharfzüngige, rührige Frau im Faltenrock, stand mit einer Schachtel Reißzwecken in der Ecke und kontrollierte die Lehrerpinnwand auf Aushänge hin, die ihr missfielen. Margery konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass alle von der Zeichnung wussten und ebenfalls lachten, sogar im Schlaf. Sie goss sich eine Tasse lauwarmen Tee aus dem Spender ein, raffte alles an sich, was an Keksen noch übrig war, und steuerte auf einen Stuhl zu. Darauf lag ein neues Paar Lacrosse-Stiefel. Sie stellte sie auf den Boden und ließ sich auf den Sitz plumpsen.

Draußen verwischte der Nebel die Bäume zu Schmierflecken und saugte sie ins Nichts hinein; das Gras war mehr braun als grün. Zwanzig Jahre hatte Margery mit diesem Job vertan, dabei kochte sie nicht einmal gern. Die Stelle war, als sie sich darum bewarb, ihr letzter Strohhalm gewesen. »Nur für alleinstehende Frauen«, hatte es in der Anzeige geheißen. Margery dachte wieder an die Karikatur. Mit welchem Scharfblick sich die Mädchen über ihre wirren Haare, ihre kaputten Schuhe und das fadenscheinige Kostüm lustig gemacht hatten! Das tat weh. Und es tat deshalb so weh, weil die Mädchen recht hatten. Völlig recht hatten sie. Aber das Schlimmste war, dass Margery sich sogar selbst als Witzfigur empfand.

Nach der Schule würde sie nach Hause in ihre Wohnung gehen, die trotz des wuchtigen Mobiliars ihrer Tanten leer und kalt war. Sie würde auf den Fahrkorb des Aufzugs warten, der nie kam, weil die Leute immer vergaßen, die Tür richtig zu schließen, und nach einiger Zeit würde sie sich die Treppe in den vierten Stock hochschleppen. Sie würde sich aus dem, was sie vorfand, etwas zu essen machen, sie würde abspülen und aufräumen, später ein Aspirin nehmen und sich in den Schlaf lesen, und niemand würde mitbekommen, was sie tat. Das war die bittere Wahrheit. Sie konnte ein paar Kapitel überspringen oder alles Essbare, das es in der Wohnung gab, auf einmal in sich hineinstopfen, niemand würde es bemerken, und selbst wenn, wäre es für den Lauf der Welt vollkommen egal. An den Wochenenden oder in den Schulferien war es noch schlimmer. Ganze Tage konnten vergehen, an denen

Margery ließ die Hand zu Boden sinken und stellte die Teetasse ab. Ihre Hand schloss sich um die Lacrosse-Stiefel der Konrektorin, bevor ihr Kopf es bemerkte. Die Schuhe waren groß und schwarz. Stabil. Mit dicken Rillen in der Sohle für erhöhte Griffigkeit. Margery stand auf.

»Miss Benson«, rief die Konrektorin. »Entschuldigen Sie, was haben Sie mit meinen neuen Lacrosse-Stiefeln vor?«

Gute Frage. Margery hatte keinen blassen Schimmer, was sie damit vorhatte. Ihr Körper schien sich verselbständigt zu haben. Sie ging an der Konrektorin, dem Teespender und den anderen Mitgliedern des Lehrerkollegiums vorbei – auch ohne sich umzudrehen wusste sie, dass alle aus dem Schlaf hochgefahren waren und sie verwirrt und mit offenem Mund anstarrten. Mit den Stiefeln unter dem einen Arm und ihrer Handtasche unter dem anderen verließ sie das Lehrerzimmer. Sie schubste sich durch eine Horde Mädchen und merkte zu ihrer eigenen Überraschung, dass sie auf die Eingangshalle zueilte.

»Miss Benson?«, hörte sie. »Miss Benson?«

Welcher Teufel ritt sie bloß? Schlimm genug, dass sie fremde Schuhe an sich zu nahm und damit verschwand, aber ihre Hände hatten beschlossen, es noch toller zu treiben. Wie um die tödliche Ödnis zu kompensieren, die Margery in sich spürte, packten sie wahllos weitere

Die Konrektorin war ihr auf den Fersen und kam von Sekunde zu Sekunde näher. »Miss Benson! Miss Benson!«

Margery brauchte drei Anläufe, um die Tür des Haupteingangs aufzustemmen; sie konnte ihre Beute kaum in den Armen halten. Der Feuerlöscher zum Beispiel war viel schwerer als erwartet. Es war, als transportiere sie ein Kleinkind ab.

»Miss Benson! Wie können Sie es wagen?«

Sie gab dem Türflügel einen Stoß und stolperte hinaus. Als sie sich umdrehte, blickte sie in das Gesicht der Konrektorin, weiß und starr und so nahe, dass sie Margery an den Haaren hätte packen können. Margery knallte die Tür zu. Die Konrektorin schrie auf. Margery hatte das schreckliche Gefühl, dass sie ihr die Hand eingeklemmt hatte. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass es gut wäre, ein bisschen schneller zu laufen, aber ihr Körper hatte sich genug verausgabt und hätte sich gern hingelegt. Doch es kam noch schlimmer. Weitere Leute setzten ihr nach, einige Lehrer, auch eine Schar aufgeregter Mädchen. Margery hatte keine andere Wahl, als weiterzurennen. Ihre Lunge brannte, ihre Beine zitterten, in ihrer Hüfte pulsierte ein stechender

»Bilden Sie sich nicht ein, dass Sie ungestraft davonkommen!«, hörte sie die Konrektorin schreien. Der Bus hielt vor Margery. Die Freiheit war zum Greifen nah.

Aber in dem Augenblick, als sie sich mit einem Schritt hätte in Sicherheit bringen können, setzte der Schock ein. Ihr Körper erstarrte. Nichts ging mehr. Der Fahrer zog an der Glocke, fuhr an und hätte sie stehen lassen, hätten nicht zwei Fahrgäste sie geistesgegenwärtig am Revers gepackt und die Stufe hochgezerrt. Margery klammerte sich an eine Haltestange; sie konnte nicht sprechen und kaum noch etwas sehen, während der Bus sie davontrug. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie etwas Unrechtes getan. Sie hatte nie etwas gestohlen – abgesehen von dem einen Mal, als sie das Taschentuch eines Mannes behalten hatte. Ihr schwirrte der Kopf, ihr Herz machte Bocksprünge, und ihre Nackenhaare sträubten sich. Das Einzige, woran sie denken konnte, war ein Ort namens Neukaledonien.

Am nächsten Morgen gab sie in der Times eine Anzeige auf: »Gesucht: Französisch sprechende Begleitung für eine Expedition ans andere Ende der Welt. Alle Kosten werden übernommen

Eine wirklich dumme Person

An dem Tag, als ihr Vater ihr das Buch mit den unglaublichen Geschöpfen gezeigt hatte, hatte Margerys Leben eine Wende genommen. Sie konnte es kaum erklären. Es war, als hätte sie etwas zu tragen bekommen, das sie nie mehr ablegen könnte. Eines Tages, hatte sie sich fest versprochen, werde ich den Goldenen Käfer von Neukaledonien finden und nach Hause bringen. Und aus diesem Versprechen hatte sie ein zweites, wesentlich komplexeres Versprechen abgeleitet: Ihr Vater wäre dann so erfreut und glücklich, dass auch er wieder zurückkommen würde. Wenn nicht körperlich, dann wenigstens im übertragenen Sinn.

Aber Neukaledonien war ein französisches Archipel im Südpazifik. Über zehntausend Meilen trennten England von Neukaledonien, die meisten davon in Form von Meer. Das bedeutete fünf Wochen mit dem Schiff bis nach Australien, dann weitere sechs Stunden mit einem Flugboot. Und das war erst die Anreise. Die Hauptinsel war lang und schmal, mit einer Länge von ungefähr 250 Meilen und einer Breite von nur 25 Meilen. Sie hatte die Form eines Nudelholzes und war der Länge nach von einer Bergkette durchzogen. Margery müsste bis in den äußersten Norden vordringen und einen Bungalow als Basislager mieten. Dann stünde ihr wochenlanges Klettern bevor. Sie müsste sich

Vor Jahren hatte Margery Dinge gesammelt, die sie immer daran erinnern sollten, was sie liebte, damit sie sich treu blieb. Eine Käferhalskette, eine Karte von Neukaledonien, einen illustrierten Taschenreiseführer für die Inseln, verfasst von Reverend Horace Blake. Sie hatte Wichtiges über den Käfer herausgefunden, seine mögliche Größe und Form, sein Habitat. Sie hatte Pläne geschmiedet. Doch irgendwann hatte sie damit aufgehört. Oder besser gesagt, das Leben hatte aufgehört. Zwar blieb ihr Blick immer noch ab und zu an blinkenden kleinen Dingen hängen, die von weitem wie Goldklümpchen aussahen und sich dann als Müll herausstellten, doch sie hatte alle Hoffnung aufgegeben, jemals nach Neukaledonien zu gelangen. Aber dieses Mal würde sie es tun. Sie würde sich auf die Suche nach diesem Käfer machen, der noch nicht gefunden war, bevor ihn ein anderer vor ihr finden würde oder sie zu alt für eine solche Schiffsreise wäre. Nächstes Jahr würde sie siebenundvierzig. Damit war sie zwar noch nicht alt, aber doch eher alt als jung. Jedenfalls zu alt, um noch ein Kind zu bekommen. Ihre Mutter war mit sechsundvierzig gestorben, ihre Brüder hatten es nicht einmal bis Mitte zwanzig geschafft. Sie spürte, wie ihr die Zeit davonlief.

Natürlich würde niemand ihren Plan gutheißen. Margery war schon einmal keine echte Sammlerin. Sie wusste, wie man einen Käfer tötete und aufsteckte, aber sie hatte nie in einem Museum gearbeitet. Sie besaß keinen Pass. Sie

»Danke«, sagte Margery. Das war womöglich seit Jahren das Netteste, was jemand zu ihr gesagt hatte.

 

Auf die Anzeige kamen vier Zuschriften: von einer Witwe, einer pensionierten Lehrerin, einem Ex-Soldaten und einer Frau namens Enid Pretty. Enid Pretty hatte den ganzen Brief mit Tee bekleckert – eigentlich war es kein Brief, sondern eher eine Einkaufsliste –, und ihre Rechtschreibung grenzte ans Peinliche. Enid schrieb, sie wolle »das Leeben leeben und die Weld seen«. Darunter hatte sie »Karoten« und noch ein paar andere Dinge notiert, die sie benötigte, einschließlich »Eibulver« und »Schnuur«. Margery antwortete allen außer Enid Pretty, erklärte kurz, dass sie nach einem Käfer suchen wolle, und lud die Bewerber zum Tee ins Lyons Corner House ein, wo sie Margery an ihrer braunen Kleidung und an dem Taschenreiseführer für Neukaledonien in der Hand erkennen würden. Sie schlug ein Nachmittagstreffen vor in der Hoffnung, dass sie dann keine volle Mahlzeit bezahlen müsste, und Mittwoch, weil es dann Rabatt gab. Ihr Budget war knapp.

Sie bekam auch einen Brief von der Schule. Die

Der wilde Taumel, der Margery an jenem Nachmittag gepackt hatte, war verflogen; sie fühlte sich nur noch zittrig und panisch. Sie hatte nicht nur ihren Job hingeschmissen, sondern sich auch alle Wege verbaut, ihn wieder aufzunehmen. Als sie an dem Tag nach Hause gekommen war, hatte sie die Stiefel sofort unter die Matratze gestopft, wo sie sie nicht sehen konnte, aber es ist nicht leicht, Dinge vor sich selbst zu verstecken – im Idealfall sollte man dabei nicht mit im Zimmer sein –, und sie konnte die Stiefel genauso wenig vergessen wie ihre eigenen Füße. Mehrere Tage lang hatte sie kaum gewagt, sich aus dem Haus zu rühren. Dann fiel ihr die Lösung ein: Weg damit! Ich werde sie zurückschicken, wenn ich auf dem Weg zu Lyons bin. Aber die Postbeamtin bestand darauf zu erfahren, was genau in dem Paket sei, und da verlor Margery die Nerven. Als sie das Postamt verließ, ging ein Wolkenbruch nieder, und von einem ihrer alten braunen Schuhe löste sich die Sohle. Der Schuh klappte bei jedem Schritt auf. Ach, was soll’s, dachte sie.

Und sie zog die Stiefel an.

 

Nächstes Problem: Das Lyons Corner House war zwar mittwochs besonders beliebt, dennoch hatte Margery nicht erwartet, dass am Nachmittag so viel los wäre. Sämtliche alleinstehenden Frauen aus ganz London waren zum

»Miss Benson?«

Sie fuhr hoch. Ihr erster Bewerber stand bereits vor ihr. Sie hatte ihn gar nicht kommen sehen. Er war groß wie sie, hatte aber kein Gramm Fleisch auf den Knochen und so kurz rasierte Haare, dass die weiße Schädelhaut durchschimmerte. Sein Anzug, den er bei der Entlassung aus der Armee bekommen haben musste, schlotterte um ihn herum.

»Mr. Mundic«, stellte er sich vor.

Margery hatte noch nie besonders gut mit Männern gekonnt (mit Frauen allerdings auch nicht). Sie streckte die Hand aus, allerdings erst nach einigem Zögern, als Mundic bereits Anstalten machte, sich zu setzen – ein Tanz, der von vornherein auf dem falschen Fuß begann. Und so begrüßte ihn Margery nicht mit dem üblichen Händedruck, sondern stieß ihm heftig die Finger ins Ohr.

»Reisen Sie gern, Mr. Mundic?« Margery zog gleich bei ihrer ersten Frage ihr Notizbuch zu Rate.

Er bejahte. Ja, er sei in Burma stationiert gewesen. Kriegsgefangenenlager. Er zog seinen Pass hervor.

Margery war schockiert. Das Foto zeigte einen großen, kräftigen Mann Ende zwanzig mit Bart und lockigem Haar, doch wer ihr da gegenübersaß, sah eher aus wie ein wandelnder Leichnam. Die Augen waren zu groß für sein Gesicht, die Knochen schienen sich jeden Moment durch die Haut bohren zu wollen. Auch war er nervös, konnte ihrem Blick nicht begegnen, seine Hände zitterten. Die

Margery lenkte das Gespräch höflich auf den Käfer. Sie holte ihre Karte von Neukaledonien hervor, die so alt war, dass man durch die Knickfalten durchsehen konnte. Sie deutete auf die größte der Inseln, die lang und schmal war, von der Form eines Nudelholzes. »Grande Terre«, sagte sie mit einer sehr deutlichen Aussprache, denn irgendwie wirkte Mr. Mundic, als hätte er Verständnisschwierigkeiten. Sie zeichnete ein Kreuz auf die Nordspitze der Insel. »Ich glaube, der Käfer ist dort.«

Sie wünschte, er würde ein wenig Begeisterung zeigen. Schon ein Lächeln wäre nett gewesen. Stattdessen rieb er sich die Hände. »Dort wird es Schlangen geben«, sagte er.

Lachte Margery etwa? Das war keine Absicht, das Lachen rutschte ihr nur heraus, weil sie genauso nervös war wie er. Mr. Mundic lachte nicht, sondern sah sie empört an, als hätte sie ihn beleidigt. Dann senkte er den Blick wieder zum Tisch, zu seinen Fingern, an denen er drehte und zerrte, als wolle er sie abschrauben.

Margery erklärte, dass es auf Neukaledonien keine Schlangen gebe. Und wenn sie schon beim Thema seien, welche Tiere es dort nicht gab: Es gab auch keine Krokodile, Giftspinnen oder Geier. Es gab einige recht große Echsen und Schaben und eine nicht sehr angenehme Meeresschlange, aber das war ungefähr alles.

Niemand, fuhr sie fort, habe je einen Goldenen Käfer von Neukaledonien gefangen, der zur Familie der weichflügeligen Rosenkäfer gehören musste. Die meisten Leute glaubten, dass er gar nicht existiere. Es gab goldene Skarabäen und goldene Laufkäfer, aber keine Sammlung enthielt

Nun breitete Margery ihre Indizien aus. Erstens, einen Brief Darwins an seinen Freund Alfred Russel Wallace, in dem er (Darwin!) das Gerücht von der Existenz eines Käfers erwähnte, der aussah wie ein vergoldeter Regentropfen. Zweitens gab es einen Missionar, der in seinem Tagebuch einen Berg von der Form eines stumpfen Weisheitszahns beschrieb, wo er auf einen kleinen goldenen Käfer gestoßen war, so schön, dass er auf die Knie fiel, um zu beten. Drittens hatte ein Orchideensammler beinahe einen Treffer gelandet, als er in großer Höhe unterwegs war: Er hatte ein goldenes Aufblitzen gesehen, kam aber nicht rechtzeitig an sein Fangnetz heran. Alle drei Zeugnisse verwiesen auf die Insel Grande Terre in Neukaledonien, und wenn der Missionar und der Orchideensammler recht hatten, musste sich der Käfer im Norden dieser Insel befinden. Andere Sammler hatten sich bei ihren Exkursionen immer auf den Süden oder auf die Küste beschränkt, wo das Terrain weniger gefährlich war und sie sich sicherer fühlten.

Wissenschaftlich gesehen existierte der Käfer noch gar nicht, weil nichts existierte, bevor es nicht dem Natural

Aber Mr. Mundic schien sich nicht für die Namensgebung zu interessieren. Er schien sich überhaupt nicht für den Käfer zu interessieren. Er sprang von der Stellenbeschreibung direkt zur Vertragsannahme und ließ den entscheidenden Mittelteil aus, in dem Margery ihm ein Angebot gemacht hätte. Ja, er werde Margerys Expedition leiten. Er werde ein Gewehr mitnehmen, mit dem er sie gegen die Wilden verteidigen und Wildschweine erlegen werde, die er am Lagerfeuer braten werde. Er fragte nach dem Abreisedatum.

Margery schluckte. Bei Mr. Mundic war eindeutig eine Schraube locker. Sie erinnerte ihn daran, dass sie nach einem Käfer suchte, und zwar im Jahr 1950: Da brauchte man keine Gewehre, und Neukaledonien war keine Insel voller Wilder. Im Krieg waren 50000 Amerikaner dort gefahrlos stationiert gewesen. Es gab französische Cafés und Läden, Fast-Food-Restaurants und Milkshake-Bars. Reverend Horace Blake zufolge – sie hob den Reiseführer in die Höhe, als wäre er eine Bibel – benötigte Margery lediglich Geschenke wie Süßigkeiten und Reißverschlüsse, und was das Essen anging, würde sie ihren eigenen britischen Proviant in Form von Päckchen und Dosen mitnehmen.

»Wollen Sie damit sagen, ich bin nicht Manns genug, um

Plötzlich sprang er auf. Es war, als hätte jemand einen Schalter in ihm umgelegt. Margery hatte keine Ahnung, was sie verbrochen hatte. Er fing an zu schreien, Speicheltröpfchen flogen aus seinem Mund. Er warf Margery an den Kopf, sie sei eine wirklich dumme Person. Sie würde sich im Regenwald verirren und in einer Grube sterben …

Mr. Mundic schnappte seinen Pass und ging. Trotz seiner Größe wirkte er klein mit seinen zu kurzen Haaren und seinem zu großen Anzug. Er ballte die knochigen Hände zu Fäusten und drängte sich an den Kellnerinnen mit ihren kleinen weißen Häubchen und an den geduldig auf einen Platz wartenden Gästen vorbei, als hasse er jeden Einzelnen von ihnen.

Er war ein Opfer des Kriegs, und Margery hatte keine Ahnung, wie sie ihm helfen könnte.

 

Ihre zweite Bewerberin, die Witwe, kam zu früh, was gut war, und wollte nur ein Glas Wasser, was noch besser war. Aber sie dachte, Margery hätte mit Kaledonien Schottland gemeint. Nein, sagte Margery. Sie meinte Neukaledonien, auf der anderen Seite der Erdkugel.

Damit war das Gespräch beendet.

 

Margery konnte nur noch mit Mühe Ruhe bewahren. Von ihren vier ursprünglichen Bewerbern hatte die erste, Enid Pretty, sich selbst disqualifiziert, bevor es überhaupt zu einem Gespräch gekommen war. Mr. Mundic brauchte

Kaum hatte Margery ihr von ihrem Käfer erzählt, als Miss Hamilton blitzartig ihr Notizbuch zückte und ihren eigenen Fragenkatalog abarbeitete – manche Fragen stellte sie auf Französisch. War Margery auch an Schmetterlingen interessiert? (Nein. Nur an Käfern. Sie hoffte, viele Arten sammeln zu können.) Wie lange würde die Expedition dauern? (Fünfeinhalb Monate, einschließlich der Reise.) Hatte sie schon eine Hütte als Basislager gemietet? (Noch nicht.) Das ganze Gespräch verlief in umgekehrter Richtung, dennoch war Margery begeistert. Es war, als begegne sie hier einer verbesserten Ausgabe ihrer selbst, die keine Nervosität kannte – und das sogar in einer Fremdsprache. Nur als Miss Hamilton nach ihrer Arbeit fragte, geriet Margery in Panik. Sie gab den Namen ihrer Schule an und wechselte dann das Thema. Außerdem schob sie ihre Füße unter den Stuhl – Miss Hamilton konnte natürlich nichts von den Stiefeln wissen, aber Schuldgefühle halten sich nun einmal nicht an Logik.

»Sie brauchen keins dieser blonden Flittchen als Assistentin«, sagte Miss Hamilton, als passenderweise ein

»Pardon?«

»Was ist Ihr familiärer Hintergrund?«

»Ich bin bei zwei Tanten aufgewachsen.«

»Geschwister?«

»Meine vier Brüder sind am selben Tag bei Mons gefallen.«

»Ihre Eltern?«

»Auch tot.«

Margery brauchte eine Pause. Die Wahrheit über ihren Vater war ein schwarzes Loch, eingekreist von »Betreten verboten«-Schildern. Sie machte immer einen großen Bogen darum. Der Tod ihrer Mutter war anders gewesen, vielleicht, weil sie starb, während sie in ihrem Sessel döste. Obwohl Margery sie gefunden hatte, war es kein Schock für sie gewesen. Ihre tote Mutter hatte auf tröstliche Weise ihrer lebenden Mutter geähnelt. Ihre Brüder hatte sie schon so lange verloren, dass sie sich als Einzelkind fühlte. Sie war die letzte Dose aus der Benson-Fabrik, das Ende der Produktion.