Liebe Leserin, lieber Leser,

Danke, dass Sie sich für einen Titel von »more – Immer mit Liebe« entschieden haben.

Unsere Bücher suchen wir mit sehr viel Liebe, Leidenschaft und Begeisterung aus und hoffen, dass sie Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern und Freude im Herzen bringen.

Wir wünschen viel Vergnügen.

Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Über das Buch

Auch im größten Chaos findet sich ein Funken Magie.

Marnie MacGraw wünscht sich ein normales Leben – einen Ehemann, Kinder und ein kleines Häuschen mit Vorgarten. Und jetzt, da sie Noah, den Mann ihrer Träume heiratet, ist sie ganz kurz davor, ihre Träume endlich zu verwirklichen. Auf einer Familienfeier lernt sie Noahs schwerkranke Großtante Blix kennen. Mit der eigenwilligen, skurrilen alten Dame versteht sich Marnie sofort, teilen sie doch eine Leidenschaft: sie verkuppeln von Herzen gerne ihre Mitmenschen.

Als ihre Ehe nach zwei unglücklichen Wochen endet, steht Marnie schneller als gedacht vor den Scherben ihrer Träume. Dann jedoch erhält sie eine Nachricht: Blix hat ihr ihr Haus in Brooklyn vererbt und bevor Marnie es verkaufen darf, muss sie drei Monate dort leben.

Kurzerhand packt Marnie ihre Koffer und startet in das größte Abenteuer ihres Lebens. Doch in Brooklyn warten allerlei Überraschungen auf sie. Denn zusammen mit dem Haus, hat Marnie auch die Mieter des Hauses geerbt. Eine bunte Mischung an »unvollendeten Projekten« von Blix – untröstliche, kauzige Freunde und Nachbarn, die vor dem Glück und der Liebe davonlaufen …

Über Maddie Dawson

Maddie Dawson wuchs in den Südstaaten auf, in einer Familie von Geschichtenerzählern. Ihre zahlreichen Jobs als Aushilfslehrerin, als Verkäuferin, Schreibkraft für Krankenberichte, Kellnerin, Katzensitterin, Empfangsdame eines Hochzeitseinladungsunternehmens, als Kindermädchen, Erzieherin, EKG-Technikerin und Taco-Bell-Taco-Macherin waren nur deshalb erträglich, weil sie sich bei der Arbeit Geschichten ausgedacht hat. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Guilford, Connecticut und ist eine erfolgreiche Bestseller-Autorin.

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Maddie Dawson

Liebeszauber für Anfänger

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Sabine Neumann

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Danksagung

Impressum

Eins

Blix

Ich hätte nicht herkommen sollen. So viel steht fest. Es ist noch nicht mal fünf Uhr nachmittags, und ich würde schon jetzt am liebsten schnell und schmerzlos ins Koma fallen. Irgendetwas Dramatisches, mit einem schönen Zusammenbruch, verdrehten Augäpfeln und zitternden Gliedmaßen.

Ich bin auf der alljährlichen Nach-Weihnachts-Party meiner Nichte. Alle Jahre wieder werden die Gäste, die nach wochenlangem Geschenke-Shopping, Weihnachtsfeiern und verkaterten Feiertagen kaum noch in der Lage sind, geradeaus zu laufen, von Wendy Spinnaker gezwungen, sich noch einmal in ihre roten Pullis und karierten Hosen zu schmeißen und stundenlang in ihrem Wohnzimmer herumzustehen, damit sie ihre überteuerte Weihnachtsdeko und ihre aufgemotzte Villa bewundern können, während sie einen absurd roten Cocktail schlürfen, der ihnen von einer Highschool-Schülerin in Kellnerinnenuniform serviert wird.

Ich glaube ja, der einzige Sinn und Zweck dieser Veranstaltung ist der, dass meine Nichte all die netten Menschen in Fairlane, Virginia, daran erinnern kann, dass sie eine prominente Persönlichkeit ist und außerdem stinkreich – eine ernst zu nehmende Größe. Edle Spenderin für wohltätige Zwecke. Vorsitzende von einem Haufen Dinge. Ehrlich gesagt habe ich darüber längst den Überblick verloren.

Ich bin versucht, aufzustehen und um Handzeichen zu bitten. Wessen Seele ist auch innerhalb der letzten paar Stunden komplett verdorrt? Wer schließt sich meiner Polonaise an, die schnurstracks aus der Haustür hinausführt? Ich bin mir sicher, es gäbe so einige Interessenten. Und meine Nichte würde mich im Schlaf ermorden lassen.

Ich wohne weit weg und bin steinalt, also wäre ich eigentlich gar nicht zu dieser Veranstaltung gekommen – meistens bin ich schlau genug, es zu vermeiden –, aber Houndy meinte, ich müsste. Er meinte, ich würde es bereuen, die Familie nicht ein letztes Mal gesehen zu haben, wenn ich nicht käme. Um solche Dinge macht Houndy sich Gedanken – über Sachen, die wir auf dem Sterbebett bereuen und so. Ich glaube, er stellt sich das Ende des Lebens so vor wie das Ende eines guten Romans: etwas, das man mit einer hübschen Schleife versehen sollte, alle Sünden vergeben. Als würde das jemals passieren.

»Ich fahre hin«, habe ich schließlich zu ihm gesagt. »Aber ich erzähle ihnen nicht, dass ich krank bin.«

»Das werden sie dir ansehen«, sagte er. Natürlich haben sie das nicht.

Noch schlimmer: Ausgerechnet dieses Jahr musste sich mein Großneffe Noah verloben. Deshalb dauert diese Party hier schon eine gefühlte Ewigkeit, weil wir alle auf ihn und seine Verlobte warten, die aus Kalifornien anreisen, damit man seiner Holden die High Society zeigen kann, in die sie einheiraten wird.

»Sie ist irgend so eine Traumtänzerin, die er auf einem Kongress kennengelernt hat. Und irgendwie hat sie es geschafft, sich ihn unter den Nagel zu reißen«, erzählte mir Wendy am Telefon. »Wahrscheinlich hat sie keine einzige funktionierende Gehirnzelle. Eine Aushilfe im Kindergarten, du machst dir kein Bild. Ihre Familie ist nicht der Rede wert. Ihr Vater arbeitet im Versicherungswesen, und ihre Mutter macht überhaupt nichts, wenn ich das richtig verstanden habe. Sie kommen aus Flah-rida. So sagt sie das. Flah-rida

Ich war noch dabei, das Wort Traumtänzerin zu verarbeiten und mich zu fragen, welche Bedeutung es wohl in Wendys Welt hatte. Mich würde sie zweifellos mit etwas ähnlich Abwertendem beschreiben. Ich bin für sie schließlich immer noch das schwarze Schaf in der Familie, diejenige, die man im Auge behalten muss. Blix, das Ärgernis. Sie kommt nicht damit klar, dass ich mein Erbe genommen habe und nach Brooklyn gezogen bin, was, wie jeder weiß, absolut untragbar ist, weil es entsprechend dicht besiedelt mit Nordstaatlern ist.

Ich sehe mich in diesem Zimmer des Hauses um, das einst unser Familiensitz war und über Generationen hinweg von Lieblingstochter an Lieblingstochter weitergegeben wurde (ich wurde natürlich übersprungen), und ich muss wirklich alle Kraft aufbringen, die ich habe, um all die negative Energie abzuwehren, die die Fußbodenleisten entlangwabert. Der drei Meter hohe künstliche Weihnachtsbaum mit dem Glasschmuck von Christopher Radko und den funkelnden Lichterketten soll weismachen, dass hier alles vom Feinsten und einfach nur perfekt ist, vielen Dank, aber ich weiß es besser.

Diese Familie ist durch und durch verdorben, ganz gleich, was die Deko suggeriert.

Ich sehe die Dinge, wie sie wirklich sind, hinter all dem schönen Schein und der auf Hochglanz gebrachten Fassade. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als dieses Haus noch auf authentische Weise eindrucksvoll war, bevor Wendy Spinnaker sich entschieden hat, die Fassade für Tausende von Dollar scheinrenovieren zu lassen.

Aber genau das fasst die Lebensphilosophie dieser Familie perfekt zusammen: Gipse einfach alles zu, was echt ist, und verpasse dem Ganzen dann einen schönen Anstrich. Und schon wird niemand irgendetwas merken.

Außer mir.

Ein, leicht angetrunkener, älterer Herr mit Mundgeruch kommt herüber und fängt an, mir von irgendwelchen Bankenfusionen zu erzählen, die er fusioniert hat, und von irgendwelchen Akquirierungen, die er akquiriert hat. Und davon, dass meine Nichte wohl die einzige Person auf der Welt ist, die es schafft, dass Welsh Rarebit schmeckt wie ein Haufen alter Socken. Ich will ihm gerade zustimmen, als mir mit Schrecken klar wird, dass er Letzteres gar nicht wirklich gesagt hat. Es ist einfach zu laut und zu stickig hier drinnen, also lasse ich ihn in meiner Vorstellung verdampfen, und er trollt sich tatsächlich.

Ich habe eben auch so meine Talente.

Dann, oh, Wunder, oh, Wunder, als wir alle schon dabei sind, der Resignation und den harten Drinks zu erliegen, fliegt die Haustür auf, und die Party bekommt einen Energieschub, als hätte jemand den Stecker wieder reingesteckt und uns alle wieder zum Leben erweckt.

Das junge Paar ist da!

Wendy eilt zum Eingang hinüber, klatscht in die Hände und ruft: »Leute! Leute! Ihr kennt natürlich alle meinen reizenden, brillanten Noah – und das hier ist seine entzückende Verlobte Marnie MacGraw, unsere zukünftige hinreißende Schwiegertochter! Herzlich willkommen, meine Liebe!«

Das kleine Quartett in der Ecke des Wohnzimmers stimmt den Hochzeitsmarsch an, und alle Gäste scharen sich um die Verlobten, um sie zu begrüßen und ihnen die Hände zu schütteln, und nehmen mir so die Sicht. Ich höre Noah, der – ganz der polternde, prahlende Erbe seiner Familie – über den Flug und den Verkehr schwadroniert, während seine Verlobte von einem zum anderen weitergereicht und umarmt wird, als wäre sie eine Ware, die ab sofort jedem gehört. Ich recke den Hals und schiele hinüber. Sie ist wirklich bezaubernd – groß und schlank, mit roten Wangen und goldenem Haar. Sie trägt ihre blaue Baskenmütze schief aufgesetzt und mit einer Unbeschwertheit, die man auf Wendys Partys normalerweise nicht zu Gesicht bekommt.

Und dann fällt mir noch etwas an ihr auf, an der Art und Weise, wie sie unter ihrem blonden Pony hervorlugt. Und dann – peng! – treffen sich unsere Blicke quer durch den Raum hinweg, und ich könnte schwören, dass gerade im Bruchteil einer Sekunde etwas von ihr auf mich überging.

Ich war gerade im Begriff gewesen, von der Chaiselongue aufzustehen, aber jetzt lasse ich mich wieder zurücksinken, schließe die Augen und presse die Finger zusammen.

Ich kenne sie. Oh mein Gott. Es kommt mir wirklich so vor, als würde ich sie kennen.

Ich brauche eine Minute, um mich wieder zu fangen. Vielleicht täusche ich mich. Woher sollte ich sie kennen? Aber nein. Es stimmt. Marnie MacGraw erinnert mich an mich selbst in ruhmreicheren Tagen. Wie sie da steht und dem Ansturm vornehmer Südstaatenfreundlichkeit ins Auge sieht. Ich sehe ihr junges und altes Selbst und spüre mein eigenes Herz hämmern wie früher.

Komm hier rüber, Süße, denke ich.

Deshalb bin ich also hier. Nicht, um einen jahrelangen Familienzwist zu begraben. Nicht, um diese absurden Cocktails zu trinken. Noch nicht mal, um noch einmal zu meinen Wurzeln zurückzukehren.

Ich sollte Marnie MacGraw treffen.

Ich lege mir die Hand auf den Bauch. Auf den Tumor, der dort seit dem letzten Winter wächst, die harte, feste Masse, von der ich weiß, dass sie mich vollständig umbringen wird, bevor der Sommer kommt.

Komm hier rüber, Marnie MacGraw. Es gibt so vieles, was ich dir erzählen muss.

Noch nicht. Noch nicht. Sie kommt noch nicht.

Ach ja. Natürlich. Man muss gewisse Pflichten erfüllen, wenn man der feinen Südstaatengesellschaft vorgeführt wird, jedenfalls als vorgesehene Thronfolgerin. Angesichts dieser Kraftanstrengung wird Marnie MacGraw flatterig und nervös – und dann begeht sie einen furchtbaren Fauxpas, einen, der so beglückend entsetzlich ist, dass allein er ausgereicht hätte, dass sie für den Rest ihres Lebens meinen Platz einnimmt: Sie lehnt ab, als man ihr eine Portion von Wendys Welsh Rarebit anbietet. Zuerst schüttelt sie nur höflich den Kopf, als ihr der Teller entgegengeschoben wird. Sie sagt, sie habe keinen Hunger, aber das ist eindeutig gelogen, wie Wendy mit ihrem Laserblick sofort feststellt. Schließlich sind Marnie und Noah seit Stunden unterwegs, und zufällig weiß Wendy genau, dass sie weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen haben und sich nur mit ein paar Erdnüssen im Flugzeug über Wasser gehalten haben.

»Aber Liebling, du musst etwas essen!«, ruft Wendy. »Du bist doch sowieso schon so dünn, du meine Güte!«

Ich schließe die Augen. Sie ist seit fünf Minuten hier und hat sich schon ein tödliches »Du meine Güte!« eingefangen. Marnie gibt nach und nimmt sich einen Scone und eine einzelne rote Traube, aber das ist natürlich auch nicht richtig.

»Nein, nein, Liebes, nimm ein bisschen von dem Rarebit«, drängt Wendy sie. Ich kenne diesen schneidenden Unterton nur zu gut. Anscheinend hat Noah vergessen, seiner einzig wahren Liebe zu erklären, dass es als ungeschriebenes Gesetz dieser Familie gilt, dass man als Gast auf jeden Fall von dem Rarebit essen muss, bevor man unter Lobpreisungen buchstäblich zu Boden sinkt und immer wieder der Herrlichkeit dieses Gerichts huldigt. Und es muss immer noch herrlicher sein als im letzten Jahr.

Und dann sagt Marnie etwas, das ihr Schicksal besiegeln wird. Sie stammelt: »Es – es tut mir leid, ich esse keinen Hasen.«

Ich schlage die Hand vor den Mund, damit niemand sieht, wie breit mein Grinsen ist.

Aha! Die Augen meiner Nichte blitzen, und sie lacht ihr sprödes, gruseliges Lachen. Dann ruft sie so laut wie möglich, sodass jeder innehält und hinüberschaut: »Meine Liebe, wie um alles in der Welt kommst du darauf, dass im Welsh Rarebit Hase wäre? Weil es so ähnlich klingt wie rabbit? Bitte sag mir, dass du das nicht wirklich glaubst!«

»Es tut mir leid. Ich wusste nicht – oh mein Gott, es tut mir so leid …«

Aber zu spät. Was passiert ist, ist passiert. Der Teller wird weggezogen, und Wendy schwebt kopfschüttelnd von dannen. Die Gäste nehmen wieder ihre Gespräche auf. Arme Wendy! Die Jugend heutzutage! Also wirklich! Keine Manieren!

Und wo ist Noah währenddessen? Marnies Retter und Beschützer? Ich recke den Hals, um nach ihm zu suchen. Ah ja, er ist mit seinem besten Freund Simon Whipple abgedampft. Natürlich. Ich sehe sie drüben im Billardzimmer über irgendetwas lachen. Zwei Hengstfohlen, die belustigt über irgendeinen dämlichen, bedeutungslosen Witz mit den Hufen stampfen.

Also stehe ich auf, um Marnie zu mir zu holen. Sie hat gerötete Wangen, und ohne die Baskenmütze, die sie inzwischen abgesetzt hat, ist ihre blonde Mähne ein winziges bisschen zerzaust. Wahrscheinlich hat Wendy sie längst bis in alle Ewigkeit verurteilt. So trägt man sein Haar vielleicht am Strand. Aber nicht in Gesellschaft. Und schon gar nicht in der Gesellschaft der hohen Tiere von Fairlane, Virginia, bei ihrer alljährlichen Nach-Weihnachts-Feierlichkeit.

Ich nehme Marnie mit zurück zu meinem Platz, klopfe auf die Chaiselongue neben mir, und sie setzt sich, die Finger gegen ihre Schläfen gedrückt. »Es tut mir so leid«, sagt sie. »Ich bin so eine Idiotin, oder?«

»Bitte«, sage ich. »Keine Entschuldigungen mehr, meine Liebe.«

Ich sehe ihr an, dass ihr gerade schwant, was sie schon alles falsch gemacht hat, seit sie hier ist. Von dem Rarebit mal abgesehen, trägt sie eindeutig das falsche Outfit für diese Art von Soiree. Eine schwarze, schmal geschnittene Hose! Eine Tunika! In einem Meer aus unerlässlichen roten Kaschmirpullovern, betonierten Fönfrisuren und Weihnachtsmannohrringen wagt es Marnie MacGraw mit ihrer blonden Strubbelmähne und dem zu langen Pony, ein graues Oberteil zu tragen – und dann auch noch ohne einen einzigen glitzernden Klunker am Leib, um Weihnachten als das heiligste aller Feste zu ehren und die Nach-Weihnachts-Party als wichtigsten Teil von Weihnachten überhaupt! Und ihre Schuhe: türkisfarbene Cowboystiefel! Fantastisch, ganz klar, aber eben keine High-Society-Stiefel.

Ich nehme ihre Hand in meine, um sie zu beruhigen, und auch um verstohlen ihre Lebenslinie zu überprüfen. Als alte Frau kann man jederzeit andere Leute anfassen. Schließlich ist man harmlos und sowieso die meiste Zeit unsichtbar.

»Beachte Wendy gar nicht«, flüstere ich ihr zu. »Als Manieren verteilt wurden, war sie damit beschäftigt, sich eine doppelte Portion Einschüchterungsgebärden zu sichern.«

Marnie sieht auf ihre Hände hinunter. »Nein, ich war diejenige, die sich furchtbar benommen hat. Ich hätte das Rarebit einfach nehmen sollen.«

»Einen Scheiß hättest du«, flüstere ich zurück und bringe sie damit zum Lachen. Die Leute finden es zum Schreien, wenn man als alte Frau Scheiße sagt. Anscheinend bricht man damit ein Naturgesetz. »Du hast höflich versucht, drum herum zu kommen, ein niedliches, flauschiges Tierchen zu essen, und wurdest dafür bloßgestellt.«

Sie sieht mich an. »Aber – aber es ist ja gar kein Hase drin, oder?«

»Na ja, aber es klingt tatsächlich so. Manche Leute nennen es heute noch Welsh Rabbit. Na und? Sollst du vielleicht erst mal sämtliche Gerichte der nordeuropäischen Küche studieren, bevor du zu einer Weihnachtsparty gehst? Hör auf!«

»Ich hätte es wissen müssen.«

»Hör mal zu, auf wessen Seite stehst du eigentlich? Auf deiner oder auf der von der affektierten Dame des Hauses?«

»Was?«

Ich tätschele ihr die Hand. »Du bist entzückend«, sage ich. »Und ehrlich gesagt ist meine Nichte ein ganz schöner Besen. Guck dich doch mal hier um. Normalerweise bringe ich nicht gerne die Mächte des Bösen gegen mich auf, indem ich Kritik übe, aber schau dich einfach um: Überall nur aufgesetztes Lächeln und saure Gesichter. Ich muss mich mit einer Drahtbürste waschen, wenn ich hier raus bin, um mir die ganze Negativität vom Leib zu schrubben. Und dir rate ich das Gleiche. Das hier ist einfach nur ein Haufen Heuchler, die sich mit Welsh Rarebit vollstopfen, ob es ihnen schmeckt oder nicht. Und weißt du was?«

»Was?«

Ich beuge mich zu ihr hinüber und flüstere theatralisch: »Da könnten auch Hasenköttel drin sein – sie würden es trotzdem essen. Weil Wendy Spinnaker ihre oberste Herrin und Anführerin ist.«

Sie lacht. Ich liebe ihr Lachen. Dann sitzen wir in kameradschaftlichem Schweigen nebeneinander. Für alle anderen im Raum sind wir nur zwei Fremde, die höflich plaudern, weil sie bald verwandt sein werden. Aber innerlich platze ich fast. Ich muss ihr alles erzählen. Erst muss jedoch der Höflichkeit Genüge getan werden. Natürlich stelle ich mich total dämlich an, weil ich so aus der Übung bin, was Small Talk betrifft.

»Erzähle mir was von dir«, sage ich hastig. »Genießt du noch deine Freiheit, solange du nicht verheiratet bist und dein Leben für immer an seines bindest?«

Sie zieht ganz leicht die Augenbrauen hoch. »Hm, ja … ich habe einen guten Job. Und ich habe … Sachen gemacht. Bin gereist. Ich bin jetzt fast dreißig. Es wird also Zeit, erwachsen zu werden. Sesshaft zu werden.«

»Sesshaft zu werden. Das klingt grauenhaft, oder?«

»Ich finde, es klingt … ganz nett. Ich meine, wenn man jemanden wirklich liebt, ist es etwas Gutes. Endlich ankommen, aufhören zu suchen und ein gemeinsames Zuhause erschaffen.« Sie sieht sich im Zimmer um, sucht wahrscheinlich nach einem anderen Gesprächsthema. Dann bleibt ihr Blick wieder an mir hängen. »Übrigens: Ich finde dein Outfit fantastisch.«

Ich trage ein Vintage-Abendkleid aus lila Samt, das ich in einem Secondhandladen in Brooklyn gekauft habe. Es ist über und über mit kleinen Glasperlen bestickt und hat einen echten, nachweisbaren, nennenswerten Ausschnitt. Nicht, dass es da irgendetwas Großartiges zu sehen gäbe. Tatsächlich sieht mein Dekolleté aus wie ein Sack voller schrumpliger Pfirsiche.

»Das ist mein Showstopper-Kleid«, erkläre ich ihr. Dann beuge ich mich zu ihr hinüber und flüstere: »Ich bin wahnsinnig stolz auf die Mädels heute Abend. Ich musste sie zwar in diesem unbequemen Bügel-BH festzurren, damit sie hierfür genügend Halt haben, aber ich bin der Meinung, diesen letzten Auftritt können sie mir ruhig gönnen. Nach heute Abend müssen sie nie wieder in einen BH. Das habe ich ihnen versprochen.«

»Ich finde die Farben ganz toll. Ich wusste nicht, was ich anziehen soll, und dachte, ein graues Oberteil passt einfach immer, aber es wirkt so langweilig im Vergleich zu allen anderen.« Sie beugt sich zu mir und lacht. »Ich glaube, ich habe noch nie so viele rote Pullover in einem Raum gesehen.«

»Das ist die offizielle Weihnachtsuniform hier in Fairlane, Virginia. Es überrascht mich, dass man dir nicht direkt am Ortsschild einen verpasst hat.«

In dem Augenblick kommt die Highschool-Schülerin mit einem Tablett voller Getränke vorbei. Marnie und ich wählen beide irgendein rotes Gebräu. Es ist mein vierter Drink, aber wer zählt schon mit? Ich stoße mit ihr an, und sie lächelt. Ich kann nicht aufhören, ihr in die Augen zu sehen, die so sehr den meinen ähneln, dass es schon fast irritierend ist. Meine Kopfhaut kribbelt ein kleines bisschen.

»Also«, sage ich. »Glaubst du, du wirst immer noch ein wundervoller Freigeist bleiben, wenn du verheiratet bist?«

Sie macht große Augen. »Freigeist? Ich?«, fragt sie und lacht. »Nein, nein, nein. Du schätzt mich total falsch ein. Ich freue mich wirklich darauf, sesshaft zu werden. Ein Haus zu kaufen. Kinder zu kriegen.« Sie lächelt. »Ich bin der Meinung, jeder Mensch braucht einen Lebensplan.«

Ich halte kurz inne, seufze leise und rücke umständlich meine Mädels zurecht. »Vielleicht habe ich das falsch gemacht. Ich glaube, ich bin in meinem Leben keine Sekunde irgendeinem Plan gefolgt. Sag mir: Ist so ein Plan es wert, dafür seinen freien Geist aufzugeben?«

»Ein Lebensplan bedeutet einfach Sicherheit. Verbindlichkeit.«

»Ah«, mache ich. »Dieser ganze Krempel. Jetzt weiß ich, warum ich das nie verfolgt habe. Jedes Mal, wenn irgendjemand Sicherheit erwähnt, als wäre das etwas Gutes, kriege ich Zustände. Und Verbindlichkeit. Igitt!«

»Hm. Warst du jemals verheiratet?«

»Oh Gott ja. Zweimal. Eigentlich sogar fast dreimal. Das erste Mal mit einem Professor mit dem illustren Namen Wallace Elderberry, wenn ich bitten darf.« Ich lege meine Hand auf ihre und lächele. »Er hat das eine, wilde, wertvolle Leben, das ihm geschenkt wurde, damit verbracht, den Lebenszyklus einer bestimmten Insektenart zu erforschen. Wir sind nach Afrika gereist und haben da Proben von irgendwelchen bizarren hartschaligen Dingen gesammelt. So skurril, dass man eigentlich keine zwanzig Minuten seines Lebens dafür opfern will, über sie nachzudenken. Kannst du dir das vorstellen? Und als wir nach Hause kamen, wurde mir klar, dass ich in meinem Leben genug Käfer gesehen hatte.« Ich senke meine Stimme zu einem Flüstern. »Und, wenn du es genau wissen willst, für mich sah Wallace Elderberry selbst so langsam aus wie eine große Kakerlake. Also haben wir uns scheiden lassen.«

»Wow. Ehemann verwandelt sich in Kakerlake. Klingt nach Kafka.«

»Gott. Findest du es auch immer so herrlich, wenn jemand es hinkriegt, bei einer guten alten Nach-Weihnachts-Party ganz nebenbei Kafka zu erwähnen?«

»Du hast damit angefangen«, erwidert sie. »Was ist mit dem zweiten Ehemann passiert? In was hat er sich verwandelt?«

»Das zweite Mal habe ich wider besseren Wissens geheiratet – was du übrigens auf gar keinen Fall tun solltest, nur für den Fall, dass du es in Erwägung ziehst …«

»Tue ich nicht.«

»Du natürlich nicht, aber das ist ein weitverbreiteter Fehler. Wie auch immer, Ehemann Nummer zwei war Rufus Halloran, Rechtsberater. Er hat aus einem kleinen Ladenlokal in Brooklyn heraus gearbeitet. Damals in den 70ern war Brooklyn noch total chaotisch. Also haben wir viel für Ausreißer und Obdachlose und so gearbeitet.«

»Und was ist dann passiert? Hat er sich auch in eine Kakerlake verwandelt?«

»Nein, ich fürchte, er hatte nicht genügend Phantasie, sich in irgendetwas zu verwandeln. Er war einfach nur ein schrecklich langweiliger Mensch, der an allem immer nur die schlechten Seiten gesehen hat. Wenn ich zu ihm rübergeschaut habe, kam es mir so vor, als umgäbe ihn ein dichter grauer Nebel, den ich nicht durchdringen konnte. Ich habe wirklich alles versucht, aber von ihm kam überhaupt nichts. Keinerlei ehrliche Freude. Nur Mauern aus langweiligen, langatmigen Worten. Also: Scheidung. Es kam, wie es kommen musste.«

»Ernsthaft?« Sie neigt den Kopf und lächelt, als würde sie überlegen. »Du hast dich von einem Mann scheiden lassen, weil er langweilig war? Ich wusste nicht, dass das eine Rechtsgrundlage ist.«

»Aber ich musste! Ich wäre vor Langeweile fast gestorben. Es war, als wäre er schon tot und würde mich mit in den Abgrund reißen.«

»Ja, aber das Leben kann nicht immer nur faszinierend sein.«

»Oh, Liebes. Meines sehr wohl. Wenn es länger als zwei Wochen langweilig wird, nehme ich Änderungen vor.« Ich lächele und sehe ihr dabei direkt in die Augen. »Es hat sich ausgezahlt, denn jetzt lebe ich mit Houndy zusammen, einem Hummerfischer, und bei ihm ist es so, dass er mit mir vier Tage lang durchgehend über Hummer und ihre Panzer und die Gezeiten und den Himmel sprechen könnte, und nichts davon würde mich jemals langweilen, weil es bei allem, was Houndy sagt, eigentlich um die Liebe und das Leben und den Tod und Wertschätzung und Dankbarkeit und witzige Momente geht.«

Ihre Augen leuchten, und ich sehe ihr an, dass sie genau weiß, was ich meine.

»So geht es mir, wenn ich bei der Arbeit bin«, sagt sie leise. »Ich arbeite in einem Kindergarten, also verbringe ich meinen Tag damit, zusammen mit Drei- und Vierjährigen auf dem Boden zu sitzen und mich mit ihnen zu unterhalten. Viele Leute mögen das für den langweiligsten Job der Welt halten, aber oh mein Gott! Die Kids erzählen mir die erstaunlichsten Dinge. Sie geraten in philosophische Diskussionen über ihre Wehwehchen und darüber, dass die Würmer auf dem Gehweg auch manchmal verletzte Gefühle haben, und darüber, warum der gelbe Buntstift der gemeinste ist und der lilafarbene der netteste. Nicht zu fassen, oder? Sie wissen alles über die Persönlichkeiten von Buntstiften.«

Sie lacht und streckt die Beine aus. »Neulich habe ich das meinem Dad erzählt, aber er hat es überhaupt nicht verstanden. Er findet natürlich, ich sollte irgendetwas … Erwachseneres machen. Ihm würde es gefallen, wenn ich mich für die Wirtschaftswelt interessieren würde.« Sie hält inne, wirkt peinlich berührt und fügt dann hinzu: »Eigentlich ist mein Dad wirklich nett, aber er hat mir eine echt teure College-Ausbildung finanziert, weißt du, und ich habe es nicht weiter als bis zur Hilfskraft im Kindergarten geschafft. Meine Schwester hingegen – auf die kann er stolz sein. Sie ist Chemikerin in der Forschung. Aber ich – na ja. Also habe ich zu ihm gesagt: ›Hör zu, Dad, du hast eine brillante Tochter und eine gewöhnliche, und eine von zweien ist doch keine schlechte Quote.‹«

»Hör mal«, sage ich. Ich bin hin und weg von all dem. »Komm doch mit mir nach draußen. Ich muss hier raus. Siehst du, wie sich all die negative Energie da drüben am Klavier ballt? Siehst du es? Die Luft dort drüben ist dunkler. Ich finde, wir sollten rausgehen und ein bisschen echte Luft tanken.«

Sie sieht verunsichert aus. »Vielleicht sollte ich mal Noah suchen.«

Plötzlich sind wir beide uns der Party um uns herum bewusst, der kleinen Grüppchen, die sich unterhalten. Wendy hält im Esszimmer Hof, lacht ihr kreischendes Lachen.

Ich sage Marnie, dass Noah irgendwo mit seinem Freund Whipple unterwegs ist. Sie sind unzertrennlich. Es ist besser, wenn sie das direkt erfährt.

»Oh ja, ich habe schon viel von Whipple gehört«, sagt sie. »Vielleicht sollte ich mit den beiden mal reden. Whipple versichern, dass ich nicht die Art von Ehefrau sein werde, die etwas gegen die Kumpels ihres Mannes hat.«

»Ich finde, du solltest mit mir nach draußen kommen. Whipple kann warten. Aber natürlich bist du hier der Ehrengast, deswegen müssen wir unseren Abgang gut abstimmen, damit niemand auf die Idee kommt, uns aufhalten zu wollen. Bist du gut im Schleichen? Einfach mir folgen und um Himmels willen mit niemandem Blickkontakt aufnehmen.« Ich nehme ihre Hand, und wir machen uns auf den Weg, huschen mit eingezogenen Köpfen den hinteren Flur entlang und durch die Küche hindurch.

Die Hausangestellten erledigen gerade den Abwasch, und eine von ihnen – Mavis, die, wie ich vorhin bemerkt habe, in den UPS-Boten verliebt ist – ruft mir zu: »Es ist kalt draußen, Ms Holliday.« Ich versichere ihr, dass wir gleich wieder reinkommen und einen heißen Tee trinken werden.

Und dann haben wir es endlich nach draußen geschafft. Die Abendluft ist so klar und kalt, dass wir tief Luft holen müssen. Es ist wundervoll hier im riesigen, weitläufigen Garten, der die Größe eines Golfplatzes hat und sich, von Hecken gesäumt, bis zu einem Rosengarten unten am Teich erstreckt. Das goldene Licht der Party fällt auf die Terrasse, und der Garten wird von Dutzenden von Leuchten erhellt – weiße Papiertüten, in denen elektrische Kerzen glimmen.

Der Abend ist so perfekt, dass ich nicht überrascht bin, als es anfängt, ganz leicht zu schneien, so als hätte jemand extra für uns einen Schalter umgelegt.

»Oh mein Gott!«, ruft Marnie und streckt die Hände aus. »Schau dir das an! Ich sehe so gut wie nie Schnee! Es ist wundervoll!«

»Der erste Schnee des Jahres«, sage ich. »Immer wieder ein Publikumserfolg.«

»Noah hat mir erzählt, dass du hier aufgewachsen bist. Vermisst du das alles manchmal?«

»Nein«, antworte ich. »Ich habe schließlich Brooklyn.«

Dann erzähle ich ihr von meinem verrückten Haus und meiner verrückten kleinen Gemeinschaft von Leuten – ein Kuddelmuddel von Kindern und Eltern und alten Menschen. Ein Haus, in dem jeder ständig bei jedem ein- und ausgeht, und alle erzählen sich ihre Geschichten und geben sich gegenseitig Ratschläge und kommandieren sich gegenseitig herum. Ich erzähle ihr von Lola, meiner besten Freundin von nebenan, die ihren Mann vor zwanzig Jahren verloren hat, und von Jessica und ihrem niedlichen, schrägen Jungen, davon, wie sie alle so viel Liebe brauchen und wie sie doch alle so große Angst davor haben, wenn die Liebe ihnen dann tatsächlich zu nahe kommt. Und dann, weil Marnie das unbedingt wissen muss, erkläre ich ihr das mit meinen Verkuppelungsaktionen. Dass ich ganz einfach immer genau weiß, zu wem die Menschen gehören und mit wem sie zusammen sein müssen. Ich will ihr gerade auch von Patrick erzählen, aber dann halte ich inne, weil ihre Augen immer größer werden und sie ruft: »Du verkuppelst Leute?«

Und Bingo! Da sind wir – genau dort, wo wir sein müssen.

»Ja. Ich habe so ein besonderes Gespür, wenn ich Menschen treffe, die zusammengehören. Du hast das auch, oder?«

Sie starrt mich an. »Woher weißt du das? Ich denke schon mein ganzes Leben über solche Sachen nach. Ich sehe zwei Menschen und weiß einfach, dass sie zusammengehören, aber ich weiß nicht, warum das so ist. Ich … weiß es einfach.«

»Ja, genauso ist es bei mir auch.«

Ich schweige, wünsche mir, dass sie weiterspricht.

»Das Beste, was ich je gemacht habe, war, einen Ehemann für meine Schwester zu finden«, sagt sie schließlich. »Er ist der Bruder meiner ehemaligen College-Mitbewohnerin, und ich habe ihn kennengelernt, als er sie mal vor den Weihnachtsferien abgeholt hat. Ich wusste sofort, dass er der Richtige für Natalie ist. Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Es war, als würde mein Herz wehtun, bis ich sie endlich einander vorstellen konnte. Und als es dann endlich so weit war, hat es sofort gefunkt. Sie haben sich fast augenblicklich ineinander verliebt. Ich habe keine Ahnung, woher ich es wusste, es … es war einfach so.«

»Natürlich wusstest du es«, sage ich leise.

Ich lasse den Blick über den Garten und die Bäume schweifen, die sich dunkel vor dem fallenden Schnee abheben, und am liebsten wäre ich vor Dankbarkeit zusammengesackt. Hier bin ich – am Ende meines Lebens, und das Universum hat mir sie geschickt. Endlich.

»Du hast viele Begabungen«, sage ich, als ich die Sprache wiederfinde.

»Du glaubst, das ist eine Begabung? Ich finde ja eher, dass ich einfach ein Mensch bin, der rumsitzt und denkt: ›Wow, meine Kollegin Melinda hat vielleicht Lust, sich mit dem Typen zu treffen, der nachmittags das Fußballtraining mit den Kids macht. Irgendwie passen die beiden zusammen.‹ Derweil erforscht meine Schwester Sachen, die die Welt retten, und in meinem Gehirn geht es nur darum, wer in meinem Umfeld sich vielleicht in wen verlieben könnte. Riesensache!«

Mein Herz schlägt so laut, dass ich meine Finger zusammenpressen muss, um mich selbst zu erden. »Bitte«, sage ich. »Die subversive Wahrheit über die Liebe ist doch, dass sie wirklich die Riesensache ist, die jeder aus ihr macht. Und dabei geht es nicht um irgendeine Art von Sicherheit oder um eine Versicherungspolice gegen die Einsamkeit. Liebe ist alles. Sie regiert das ganze Universum!«

»Na ja. Sie ist nicht so wichtig, wie Krebs zu heilen«, sagt sie.

»Doch. Liebe ist Lebenskraft. Sie ist einfach alles.«

Sie schlingt die Arme um ihren Oberkörper, und ich beobachte sie, während Schneeflocken auf ihren Armen landen.

»Manchmal«, sagt sie, »sehe ich Farben um Menschen herum. Und kleine Lichter. Meine Familie wäre entsetzt, wenn sie es wüsste. Für sie wäre es wahrscheinlich irgendeine Art von neurologischer Störung oder so. Aber ich sehe … so kleine Funken, die aus dem Nichts auftauchen.«

»Ja, ich weiß. Das ist bloß Gedankenenergie«, sage ich zu ihr. Und dann beiße ich mir auf die Lippe und beschließe, ins kalte Wasser zu springen. »Versuchst du auch manchmal, Dinge mit deinen Gedanken zu bewirken? Nur so zum Spaß?«

»Was meinst du?«

»Warte. Guck zu. Dreh dich um und schau mal da zum Fenster rein. Mal gucken – ja, wir nehmen die Frau in dem roten Pullover.«

Sie lacht. »Welche? Die haben alle rote Pullover an.«

»Die mit den roten Haaren. Lass uns ihr ein paar Gedanken rüberschicken. Ein bisschen weißes Licht. Los geht’s. Guck einfach, was passiert.«

Wir schweigen beide. Ich tauche die Frau in ein weißes Glimmen, wie ich es so oft mache. Und tatsächlich, nach etwa einer halben Minute stellt sie ihr Getränk ab und sieht sich im Raum um, als hätte sie irgendwen ihren Namen rufen hören. Marnie lacht verzückt.

»Siehst du? Das waren wir! Wir haben ihr einen kleinen Schlag mit etwas Gutem geschickt, und sie hat ihn bekommen«, sage ich.

»Warte mal. Das ist Energie? Funktioniert das immer?«

»Nicht immer. Manchmal stößt man auf Widerstand. Ich mache das nur zum Spaß. Aber das Verkuppeln – das scheint von woanders zu kommen. Es ist, als würde mir gezeigt werden, welche Menschen zusammen sein sollen.«

Sie sieht mich interessiert an. Das Rot ihrer Wangen leuchtet jetzt ein bisschen intensiver. »Hast du das Verkuppeln zu deinem Beruf gemacht? Vielleicht sollte ich das auch versuchen.«

»Ah, Liebes. Mein Beruf ist es, ich zu sein. Ich habe mit der Zeit gelernt, dass die gleiche Intuition, mit der ich weiß, welche Menschen zusammengehören, mich auch genau dort hinführt, wo ich sein soll, und mir genau das gibt, was ich brauche. Von dem Tag an, als ich beschloss, mein Leben so zu leben, wie ich es leben will, war ich immer gut versorgt.«

»Wow«, sagt sie und lacht. »Ich stelle mir gerade vor, wie ich versuche, das meinem Dad zu erklären.« Dann nimmt sie meine Hand. »Hey! Wirst du zu unserer Hochzeit kommen? Ich möchte dich unbedingt dabeihaben.«

»Natürlich komme ich«, antworte ich. Falls ich noch da bin. Falls ich kann.

Und an dem Punkt entscheidet das Universum, dass das Maß voll ist, und Noah taucht auf. Er tritt aus der Hintertür und kommt mit großen Schritten auf uns zu. Wie ein Mann mit einer leicht nervigen Mission.

»Ich habe dich überall gesucht«, ruft er. »Oh mein Gott, hier draußen schneit es! Und ihr habt noch nicht mal Mäntel an.«

»Ich brauche keinen. Es ist wundervoll«, sagt Marnie. »Guck, wie der Schnee im Licht funkelt. Ich hatte keine Ahnung, dass er das tut.«

»Es ist nur ein Schneegestöber«, sagt er, kommt herüber und legt ihr einen Arm um die Schultern. Er ist so ein gut aussehender Mann, denke ich, mit diesen dunklen Haaren und Augen, aber die Aura, die ihn umgibt, ist beige und trist. Marnies Gesicht nimmt eine zartrosa Färbung an, sie sieht ihn so liebevoll an, dass es wirkt, als würde sie einen funkelnden Sternenregen versprühen.

»Ich habe gerade eine ganz reizende Unterhaltung mit deiner Verlobten geführt«, erkläre ich ihm.

»Das ist großartig, aber wir müssen jetzt los«, sagt er, ohne mich anzusehen. »Schön, dich gesehen zu haben, Tante Blix, und es tut mir leid, dass es nur so kurz ist, aber wir sind noch auf eine andere Party eingeladen.«

Er erinnert sich bestimmt nicht mehr daran, dass er mich früher einmal vergöttert hat, und an unsere Waldspaziergänge, als wir zusammen mit unseren Gummistiefeln oder barfuß in die Pfützen gesprungen sind, und an den einen Sommer, als wir Glühwürmchen und Elritzen gefangen, gesegnet und dann wieder freigelassen haben. Aber das ist eine Ewigkeit her, und inzwischen scheint er die Einstellung seiner Mutter übernommen zu haben, dass ich es nicht wert sei, beachtet zu werden.

Ich habe mich damit abgefunden – wirklich. Vor langer Zeit einmal hatte auf so viel mehr gehofft, aber inzwischen bin ich so an das Desinteresse meiner Familie gewöhnt, dass es mir total egal ist, wie sie die Augen verdrehen, wenn sie glauben, dass ich es nicht mitkriege, und wie sie immer sagen: »Oh, Blix!«

Marnie hakt sich bei Noah unter, küsst ihn auf die Wange und erklärt mir, für den Fall, dass ich es noch nicht weiß, dass er der beste Grundschullehrer überhaupt ist und wie sehr ihn sämtliche Kinder in seiner Klasse und ihre Mütter vergöttern. Ich sehe ihn an und lächele.

Noah ist das Ganze sichtlich unangenehm. »Marnie, ich fürchte, wir müssen wirklich los. Der Verkehr wird immer schlimmer.«

»Natürlich müsst ihr das«, sage ich. »Ich würde sofort von dieser Party verschwinden, wenn mir nur eine halbwegs plausible Ausrede einfallen würde.«

Noahs Gesichtsausdruck bleibt unverändert, aber Marnie dreht sich zu mir um und grinst mich an. »Also …«, sagt er zu ihr. »Ich hole dir deinen Mantel. Ist er im Arbeitszimmer?«

»Ich hole ihn schon«, sagt sie, aber ich berühre ihren Arm und schüttele fast unmerklich den Kopf, als sie mich ansieht. Lass ihn gehen. Und als er weg ist, sage ich: »Hör zu, ich muss dir das sagen. Du bist wundervoll und stark und auf dich wartet ein großes, großes Leben. Es wird viele Überraschungen für dich bereithalten. Das Universum hat Großes mit dir vor.«

Sie lacht. »Oh, oh. Ich glaube, ich mag überhaupt keine Überraschungen.«

»Es werden schöne Überraschungen sein, da bin ich mir sicher«, entgegne ich. »Das ist das Wichtigste. Gib dich nicht mit etwas zufrieden, das du nicht wirklich willst. Das ist die Hauptsache.«

Ich schließe die Augen, will ihr sagen, dass sie durch und durch golden ist und Noah komplett beige, dass eine unglücksselige Dumpfheit in der Luft liegt, wenn er sie anschaut – und wenn ich könnte, wenn ich nicht wüsste, dass sie mich für verrückt erklären würde, würde ich ihr erzählen, dass sie und ich irgendwie miteinander verbunden sind und dass ich nach ihr gesucht habe.

Aber da kommt Noah auch schon wieder zurück, mit ihrem Mantel und ihrer Tasche und der Anweisung, sie solle hineingehen und sich von seiner Familie verabschieden.

Sie dreht sich zu ihm um. »Deine Tante Blix sagt, sie kommt auf jeden Fall zu unserer Hochzeit. Ist das nicht großartig?«

Er hilft ihr in den Mantel und sagt: »Ja, okay, sag meiner Mutter, sie soll sie auf die Liste setzen.« Und dann gibt er mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Pass auf dich auf«, sagt er.

Es ist Zeit, aufzubrechen. Er marschiert los, auf diese männliche, ungeduldige Art und Weise, und winkt ihr, ihm zu folgen.

»Hier! Nimm den! Ein bisschen Farbe für dich!« Ich nehme meinen Schal ab, es ist mein Lieblingsschal mit den blauen Seidenausbrennern und den dichten Fransen, und lege ihn ihr um den Hals, und sie lächelt und wirft mir eine Kusshand zu.

Auf dem Weg ins Haus sieht sie zu ihm hoch, rosa und golden und scharlachrot vor Liebe, ein einziger Funkenregen.

Als sie weg sind, beruhigt sich die Luft um mich herum langsam. Die Funken verglühen wie Wunderkerzen am Unabhängigkeitstag, wenn sie all ihren Zauber verbraucht haben und schließlich nichts als Metallstäbe sind.

Ich schließe die Augen, fühle mich plötzlich ausgelaugt und müde. Und da wird mir etwas klar, mit einer solch absoluten Gewissheit, wie ich sie noch nie zuvor gespürt habe: Marnie MacGraw und Noah werden nicht heiraten.

Genau genommen ist ihre Beziehung längst zu Ende.

Zwei

Marnie

»Oh mein Gott, das war ein epischer Reinfall«, sagt Noah im Auto. »Episch! Und Whipple, du Freak, könntest du vielleicht so fahren, als wärst du wenigstens ansatzweise nüchtern? Als würdest du nicht versuchen, wegen Trunkenheit am Steuer in den Knast zu wandern? Wir würden die Fahrt gerne überleben.«

Ich schwöre, es kommt einem wirklich so vor, als würde Whipples Auto – ein brandneues BMW-Cabrio – die Kurven auf nur zwei Reifen nehmen. Außerdem scheint er das Kunststück perfektioniert zu haben, mit nur zwei Fingern der linken Hand am Lenkrad zu fahren, während er in der rechten ein Cocktailglas hält. Ein Glas, aus dem ständig roter Alkohol auf die Sitze und die Mittelkonsole schwappt.

Ich habe mich automatisch auf die Rückbank gesetzt, und zu meiner Überraschung ist Noah neben mir eingestiegen. Whipple sitzt also allein vorne, was zur Folge hat, dass er ständig den Hals nach hinten verrenken muss, um an der Unterhaltung teilzunehmen. Und jedes Mal, wenn er den Kopf bewegt, gerät der Wagen ins Schlingern und Whipple drückt das Gaspedal noch weiter durch.

Oh, heute Abend gab es so viele Enttäuschungen. Ich habe wirklich keine Lust, mit Schwiegermutterproblemen ins Eheleben zu starten. Laut meiner Chefin Sylvie ist dies das Schlimmste, was man tun kann. Und jetzt, hier im Auto, habe ich auch direkt die Stimme meiner eigenen Mutter im Ohr: »Das war so unhöflich von dir, den ganzen Abend nur da rumzusitzen und mit niemandem außer einer alten Dame zu reden! Du hättest dich unter die Gäste mischen sollen! Dafür war die Party schließlich gedacht. Dafür, dass du die Familie und Freunde deines Verlobten kennenlernst.«

Und jetzt das, die größte Enttäuschung von allen – der großartige Simon Whipple, über den ich so fantastische Dinge gehört habe, ist in Wahrheit nichts anderes als der typische rotgesichtige, alberne und inzwischen zu groß geratene Typ aus der Studentenverbindung. Und in seiner Gegenwart scheint sich Noah von Minute zu Minute mehr zurückzuentwickeln.

Anscheinend sind wir auf dem Weg zu irgendeinem anderen Freund, den ich laut Noah unbedingt kennenlernen muss. Er meinte, er wolle mir seine komplette Heimatstadt zeigen. Die Freaks vorstellen. Jetzt zieht er mich grob an sich und fängt an, an meinem Hals zu saugen, als wolle er mir einen Knutschfleck verpassen. Er scheint zu glauben, wir wären wieder auf der Highschool, nur weil wir auf der Rückbank sitzen. »Heilige Scheiße, es tut mir so leid, was ich dir da vorhin angetan habe«, sagt er mir viel zu laut ins Ohr. »Dass ich dich in den Fängen meiner Tante Blix zurückgelassen habe.«

»Du stehst gewaltig in ihrer Schuld, Alter«, verkündet Whipple.

»Ja, oder? Blix ist wie die alte Frau im Wald, die Kinder isst.«

»Weil sie eine Hexe ist«, sagt Whipple. »Marnie, du kannst froh sein, dass noch etwas von dir übrig ist. Ich habe zu ihm gesagt: ›Alter, du musst deine Freundin holen. Wenn du sie noch länger bei deiner Mutter und deiner Großtante lässt, ist sie gleich über alle Berge.‹«

»Nicht die«, sagt Noah. »Die habe ich im Sack.«

Ich löse mich von ihm. Sein Bart kratzt, und sein Atem stinkt wie eine ganze Brauerei. Ich befühle den Schal, den Blix mir gegeben hat. Er ist wunderschön, mit vielen verschiedenen Blautönen und Löchern, die aussehen, als habe man sie absichtlich hineingebrannt. »Echt jetzt? Sie ist eine Hexe?«, frage ich und bringe sie damit beide zum Lachen. »Nein, nein, sagt mal im Ernst. Praktiziert sie … Hexerei? Ist sie in einem Hexenzirkel oder so?«

»Von einem Hexenzirkel weiß ich nichts«, sagt Whipple, »aber sie hat auf jeden Fall Zaubersprüche drauf, stimmt’s, Mann?«

»Zaubersprüche und Zaubertränke und den ganzen Scheiß«, stimmt Noah ihm zu. »Wenn du mich fragst, ist das alles nur übertriebenes Drama.«

»Sie scheint wirklich nett zu sein«, sage ich. »Ich mag sie.«

Noah beugt sich vor, greift zwischen den Sitzen hindurch, nimmt Whipple das Glas aus der rechten Hand und trinkt es in einem Zug aus.

Whipple lacht. »Hey! Das war meins! Das habe ich mir verdient, Alter.«

»Ich brauche es mehr als du, Mann. Und außerdem fährst du.«

»Erzählt mal«, beharre ich. »Was hat sie getan? Ihr glaubt ja wohl nicht wirklich, dass sie eine Hexe ist.«

Aber die beiden sind schon längst beim nächsten Thema. Sie reden darüber, ob irgendwelche Mädels aus der Highschool auf der Party sein werden, zu der wir unterwegs sind. Jemand namens Layla wird angeblich ausrasten, wenn sie herausfindet, dass Noah sich verlobt hat, ohne es mit ihr zu besprechen.

Ich schaue aus dem Fenster und sehe all die Häuser an mir vorbeiziehen – große Villen in riesigen Gärten, geschmückt mit funkelnden Lichterketten und Weihnachtsbäumen, die die Fenster erhellen. So vornehm, so reich.

Ich frage mich, ob ich hier jemals wirklich hineinpassen werde.

Kurios, denke ich später, wie du auf einer Party in Kalifornien einen gut aussehenden Typen kennenlernen kannst, und er erzählt dir, er habe mal Drehbücher geschrieben, und eines davon wäre wirklich fast verfilmt worden, aber dann doch nicht, und dann erzählt er dir, dass er jetzt in der Grundschule unterrichtet und wie sehr er Kinder liebt und Snowboarden, und später, im Bett, nachdem er die erstaunlichsten Dinge mit dir gemacht hat, erzählt er dir, wie sehr er Menschen auf der Welt helfen möchte, und du kannst es nicht fassen, wie sehr es dich berührt zu sehen, wie sein Blick sich verändert, wenn er dir das erzählt, wie viel Tiefe er hat, und du beginnst, dich in diese Seiten von ihm, die er dir gerade zeigt, zu verlieben – und dann später, viel später, nachdem er bei dir eingezogen ist und dir eine Luxusknoblauchpresse und phantastische türkisfarbene Stiefel geschenkt und ein Lied für dich geschrieben hat, das er auf der Gitarre spielt, reist du mit ihm in seine Heimatstadt und findest heraus, dass er, oh mein Gott, der ziemlich verwöhnte Sohn reicher Leute ist, bei denen er sich alles erlauben kann, die aber nicht automatisch etwas mit dir anfangen können, abgesehen von einer alten Tante, die anscheinend niemand mag.