Red Scales

Red Scales

Die Drachen von Talanis - Band 3

Katharina V. Haderer

Drachenmond Verlag

Dieses Buch widme ich dir,

weil du gewartet hast

bis zum Schluss.

Inhalt

Die drei Bevölkerungsgruppen von Talanis

Prolog

1. Grenzgänger

2. Wer bin ich?

3. Ein Buch mit sieben Siegeln

4. Verdrängungsmassnahmen

5. Zu einem einzigen Zweck

6. Alte Bekannte, neue Freunde

7. Andenken an früher

8. Jäger und Gejagte

9. Es ist etwas passiert

10. Zwei in einem Grab

11. Ich hör, ich hör, was du nicht siehst

12. Das ist noch nicht zu Ende

13. Buchhaltung

14. Ein einziger Atemzug

15. Sieben

16. Was schert mich die Welt

17. Geschwisterliebe

18. Glückskind

19. Glockenspiel

20. Das Geschenk

21. Zwanzig Jahre

22. Der Mann, mein Vater

23. Autowrack

24. Familie in Scherben

25. Flugstunden

26. Stromausfall

27. Bezwingerin des Himmels

28. Ein Komet in der Nacht

29. Getrennte Wege

30. Reiz

31. Nachtschwingen

32. Zwei Drachen über den Dächern

33. Weiwan

34. Der Wolf im Schafspelz

35. Vatermörder

36. Die Bedeutung von weissem Tee

37. Die Proportion der Hoffnung

38. Jemand muss es beenden

39. Die letzte gemeinsame Nacht

40. Finale

41. Holt ihn mir aus der Luft

42. Ein Häufchen Elend

43. Uns bleiben Narben

44. Am heiligen Hügel

45. Die Chance, etwas zu verändern

Begriffslexikon

Die drei Bevölkerungsgruppen von Talanis

Guī-Ding

Die Guī-Ding machen den größten Teil der Bevölkerung von Talanis aus. Großmama Pheng, Großvater Zuko, die Han- und die Wang-Familie gehören den Guī-Ding an. Der talanidische Kontinent versinkt in regelmäßigen Abständen zum großen Teil im Meer. Die Guī-Ding besitzen die größte Landfläche, die nicht unter Wasser versinkt, im Nordwesten des Kontinents. Die höfliche Anrede der Männer lautet Xiansheng, die höfliche Anrede der Frauen Nüshi.

 

Yama-ni

Die Yama-ni sind nicht so zahlreich wie die Guī-Ding, halten sich jedoch gern für überlegen und heiraten unter sich. Ursprünglich stammen sie von den erhöhten Bergen im Nordwesten des Kontinents, wo es immer zu Auseinandersetzungen mit den Guī-Ding kam.

Han Weis verstorbene Ehefrau gehörte zu den Yama-ni, genau wie die Watanabe-Familie.

Die höfliche Anrede der Yama-ni lautet Sama.

 

Seomi

Eine der drei Bevölkerungsgruppen von Talanis, auch lang Seom-ui-jumin genannt. Da die Seomi während der versunkenen Jahrhunderte vor allem auf Inselresten zurückblieben, gibt es bis heute eine große Tradition der Fischerei. Daher hält sich bei den anderen beiden Bevölkerungsgruppen hartnäckig das Vorurteil, dass die Seomi gesellschaftlich nieder wären.

Mister Rhee gehört genauso zu den Seomi wie die verschwundene Familie Choi der einstigen Tetrade von Shousa.

Die höfliche Anrede von Männern der Seomi lautet Oppa/Hyung (je nach eigenem Geschlecht) oder Noona/Onnie bei Frauen. Da diese aber quasi älterer Bruder/Schwester bedeuten, wird in der Drachen-Triade auch gern mal die höflichere Ansprache der Guī-Ding verwendet.

 

Andere wichtige Ausdrücke von Talanis:

 

Wéiwàn, der, adj. Wéiwàn

Abfälliger Ausdruck für Drachen, die nicht wandelfähig sind. Bedeutet so viel wie unvollständig, unfertig.


Kinju

Bezeichnung für einen Sklaven der hohen Drachenfamilien. Diese haben sich im Laufe der Zeit zu einer eigenen Kaste entwickelt – als Sklaven aus Aurora geholte Grüne Drachen, die einzige Drachenwandlerart, die außerhalb Talanis bekannt ist.

 

Tāmāde

Scheiße!


Prolog

Rückblick

Ich führe den verstoßenen Jason in unsere Wohnung und bitte ihn, sich zu setzen. Meiner Aufforderung folgt er widerstrebend, er wirkt fluchtbereit wie ein scheues Tier, das einen Jäger hinter sich zu spüren glaubt. Mit seinem Blick tastet er wahnhaft das Apartment ab, ohne dabei Ruhe zu finden. Als ich einen Lappen aus dem Bad hole, um sein dreckstarrendes Gesicht zu reinigen, weicht er zurück.

»Halte still«, bitte ich.

Für einen Augenblick gelingt es mir, seine Aufmerksamkeit zu bannen. Ich hebe das Tuch an. »Darf ich?«

Sein Mund öffnet sich einen Spalt. Ich erwarte, dass er etwas sagt, doch sein Blick irrt auch schon wieder davon.

Ein Seufzen zwängt sich aus meiner Kehle. Schmutz hat sich in die Linien seiner Mimik gefressen. Ungeduldig drücke ich ihm den nassen Lappen gegen die Wange. Er zuckt zurück.

»Sch, sch, sch«, beeile ich mich, ihn zu beruhigen. »Alles wird gut.« Wasser bahnt sich eine Spur durch den Straßenstaub und versinkt im Barthaar. Seine mit Stoffwickeln umhüllten Hände zittern. Die Sohlen lösen sich von seinen Schuhen, das Stiefelleder ist abgeschabt. Hunderte Meilen trennen unsere beiden Städte, Shousa und Poschovar. Mit einem Auto legt man die Distanz in wenigen Stunden zurück. Zu Fuß muss er Tage, wenn nicht Wochen unterwegs gewesen sein, über Straßen und Felder hinweg, getrieben vom bitterkalten Nordwind, der die Ebenen südlich der Küste gefangen hält.

»Alles wird gut.« Ich kämpfe die Worte mühevoll hervor, auch wenn mir selbst Tränen in den Augen schwimmen. Es ist meine Schuld, dass Jason heimatlos ist, schließlich habe ich ihn aus seinem Bund als Kinju entlassen. Mein leiblicher Vater hat ihn daraufhin aus dem gesamten Familienverband verstoßen. Wie konnte ihm Han Wei das bloß antun?

Ratlos betrachte ich seine verwahrloste Gestalt. Ohne Führung scheint er verloren. Momentan wünsche ich mir einfach nur, dass Han ihn zurücknimmt. Jason ist ein Tier, das in Gefangenschaft aufgezogen wurde. Ihn in den Großstadtdschungel auszuwildern gleicht einer unlösbaren Aufgabe. Die Ketten, die ihn fesselten, hielten ihn aufrecht. Zurück bleibt bloß dieses Häufchen Elend, seine Seele in den Untiefen seiner Hülle verschollen.

Nein, ringt eine zweite Stimme in mir. Du wolltest etwas verändern. Das hier ist eine Chance. Deine Chance. Seine Chance. Eine Möglichkeit auf ein freies Leben.

Ein freies … ein besseres Leben?

Der gebrochene Mann vor mir blockiert meinen Optimismus. Meine Hände sinken in meinen Schoß zurück, verkrampfen sich um das Tuch, dessen Feuchtigkeit in meine Jeans kriecht. Hilflosigkeit drückt schwer wie Blei auf meine Glieder. Wer hätte gedacht, dass meine gedankenlos dahingesprochenen Worte derart weitreichende Konsequenzen haben würden? Dass das Duell zwischen meinen Vätern ausgerechnet Jason zum Opfer haben würde – ihn zum Ausgestoßenen macht?

»Ach Jason …«, seufze ich. »Was soll ich nur mit dir anfangen?«

Obwohl ich geglaubt habe, dass er mich nicht richtig wahrnimmt, sieht er mich auf einmal an. Abrupt kommt er in Bewegung.

»Das war ein Fehler«, murmelt er und steht auf. Bevor ich reagieren kann, spurtet er Richtung Wohnungstür.

»Jason!«

Überrumpelt versuche ich seinen Ärmel zu fassen, doch er bewegt sich zu schnell. Der Boden dröhnt unter seinen Schritten, Kiesel lösen sich aus seinen Schuhsohlen. Schon greift er nach der Türklinke und reißt daran. Die Tür klappt auf, doch der Weg wird von meinem Vater versperrt, der soeben aufschließen wollte.

Das letzte Mal standen sich die beiden in der Kampfarena der Triade gegenüber. Jason war als Hans Kinju dazu gezwungen geworden, sich mit meinem Ziehvater zu duellieren. Die beiden sich beinahe umgebracht.

Jason reagiert instinktiv.

Wie von einer Explosion getrieben, steigt Magie aus seinen Poren und verdickt sich binnen Augenblicken. Grünliche Schleier treiben von ihm davon, winden sich zur Ahnung einer Drachengestalt, die mich prickelnd streift. Ich will Jasons Namen rufen, doch die Magiewolke brennt in meiner Kehle und lässt mich husten. Ich taste nach ihm, als sich bereits ein geschuppter Schweif aus dem Schleier löst und über mich hinwegsaust. Mit einem überraschten Ausruf stolpere ich rückwärts, meine Ferse verhakt sich am Fuß des Stuhles und ich lande auf dem Hintern.

Mein Kopf klingelt. Die Drachenmagie erfüllt den Raum in smaragd­farbenen Schwaden, meine Sinne vibrieren. Im Augenwinkel gleitet warzige Haut durchs Licht. Ein Scharren ertönt, als sich eine Echse aus der Wolke schält und mit der Flanke das Sofa zur Seite tritt. Ein Stoß mit der gewaltigen Pranke lässt den Couchtisch rotieren, Mamas Teetassen zerschellen am Boden.

»Jason!« Ich rapple mich auf.

Ein Dröhnen dringt aus dem aufgeplusterten Nacken. Die Drohgebärde wird von einem Fauchen erwidert – mein Vater hüllt sich ebenfalls in seine zweite Gestalt. Das schlangenähnliche Wesen mit sechs Beinen buckelt. Sein Nackenhaarkamm reckt sich imposant, sein Schwanz peitscht. Der wölfisch zugespitzte Schädel entblößt nadelspitze Zähne, sein Körper ist der einer feuerroten Schlange, die sich wie durch Wasser windet, besetzt mit sechs vogelartigen Klauen.

Draußen klappt eine Wohnungstür auf. »Was soll der verdammte Lä…?!« Der Nachbar von gegenüber bricht ab und schlägt wieder die Tür zu.

»Halt!«, schreie ich. »Jason! Mein Vater ist nicht dein Feind!«

Der Grüne Drache stößt den Schädel gegen die Decke, die Hänge­lampe klirrt. Es knirscht, als Jason auf das Teeservice tritt. Sein Schwanz peitscht gegen unseren Schrank, ein dumpfer Trommelschlag, der die Türen erzittern lässt.

»Lass das!«, rufe ich aus. Als er erneut mit dem Schwanz ausholt, springe ich vor und packe ihn, bevor er die talanidische Malerei der Holztüren zerstört, eines der wenigen Dinge, die Mama noch von ihren Eltern geblieben sind.

Jason zuckt herum, sein Maul öffnet sich, als wollte er nach mir schnappen. Im letzten Moment fängt er die Bewegung ab. Aus geschlitzten Pupillen vor aderndurchfurchtem Gelbgrün glotzt er mich an.

»Was macht der verdammte Kinju hier?!«, schreit mein Vater. Auf dem Korridor verraucht seine zweite Gestalt und lässt den Mann mit dem dunklen Haar und angegrautem Bart zurück, dem ein Schlüssel­bund von der Hand und eine Einkaufstasche von der Ellenbeuge baumeln.

»Verwandle dich zurück!«, flehe ich Jason an. »Du zerstörst unsere Wohnung!«

Einige Herzschläge lang starrt er mich an, dann ruckt sein massiver Schädel nach vorn. Er mustert meinen Vater, der sich die Haare rauft, aber als Mensch keine akute Gefahr darstellt, und endlich transformiert er sich.

Der verhornte Rückenkamm schmilzt, meine Finger gleiten durch die fliehende Magie. Ich verliere das Gleichgewicht und komme unsanft auf dem Boden auf. Schwaden drehen sich zu Spiralen und zerreißen, als würden sie vom Wind zerstreut. Ich drücke mich hoch. Die grüne Drachengestalt scheint noch einen Moment als Ahnung im Raum zu stehen, bis sie sich verzieht und endgültig verblasst.

Zurück bleibt Jason in menschlicher Form, die Schultern angehoben, die Hände zu Fäusten geballt. An seinem Revers sind seine Drachenschuppen zu sehen, die glänzend auf seiner Nackenhaut aufliegen.

Wie rasch er von konfuser Verzweiflung in den Kriegsmodus geschnappt ist, bereitet mir Angst.

Für Ablenkung sorgt mein Vater, der die Nase kräuselt und die Zähne fletscht. »Würde mir jemand erklären, was hier vor sich geht?!«

»Er kann nicht hierbleiben.« Long schüttelt entschieden den Kopf.

»Papa!«, entfährt es mir und ich springe vom Küchenstuhl. Ich muss mich zusammenreißen, damit ich nicht zu schreien beginne. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

»Han Weis Kinju? Christie, das geht einfach nicht.«

»Wir können ihn nicht auf die Straße setzen! Er hat doch niemanden außer uns!«

»Falls er die Wahrheit sagt …«

»Wie bitte?«

»Bist du schon auf die Idee gekommen, dass Han Wei ihn als Spion geschickt hat? Dass alles eine reine Scharade sein könnte, die er ausgezeichnet beherrscht?«

Meine eben heimgekehrte Mutter greift nach Longs Hand. »Du hast den Jungen gesehen, Long. So ein guter Schauspieler ist er nicht.«

Mein Vater presst die Lippen zusammen. Seine Stirn schlägt heftige Falten. »Das ändert nichts.« Er fischt nach seinem Phoenix-Gold-Tabak und beginnt sich eine Zigarette zu drehen.

»Han hat ihn verstoßen. Die Triade war alles, was er kannte. Er ist doch verloren ohne unsere Hilfe!«

»Wir können nicht jeden Köter von der Straße holen, Christie. Zuerst Thomas, jetzt er? Wen bringen mir meine Töchter noch nach Hause?«

Seine Worte treffen mich.

»Long«, mahnt Ruth. »Schluss damit!«

»Hier ist kein Platz für ihn. Abgesehen davon wird er nie auf eigenen Beinen stehen, wenn er fortführt, was ihm die Triade beigebracht hat.«

Verständnislos verziehe ich die Augenbrauen. »Wovon sprichst du?«

Entschieden streift Long die Zigarette glatt. »Jason kann nicht von seinem Xiansheng zu einer Nüshi wechseln, von seinem Herrn zu einer Herrin.«

Wut lodert in meinem Bauch. »Was redest du da?«, ereifere ich mich. »Jason ist hierhergekommen, weil er meine Hilfe braucht! Ich bin seine einzige Freundin!«

»Christie, du bist nicht seine Freundin! Du bist seine Herrin!« Die Flamme schnalzt aus dem Feuerzeug, Papa saugt sie ein. Er bläst Rauch durch seine Nase und spricht weiter. »Jason begibt sich von einer Abhängigkeit in die nächste. Es ist, was er kennt. Bliebe er hier, was würde er tun? Dich Tag und Nacht beschützen? Dich um Erlaubnis fragen, was er tun darf und was nicht?«

»Das würde ich nicht zulassen«, presse ich hervor. Ich balle die Hände zu Fäusten. Was Papa sagt, macht mich so unglaublich wütend. »Ich werde ihn nicht so behandeln wie Han Wei oder Han Li. Ich bin anders!«

»Ein Gefängnis bleibt ein Gefängnis, ob man hineingezwungen wird oder freiwillig drinnen bleibt, weil es Sicherheit vermittelt.«

»Was weißt du schon!«, spucke ich.

»Ich habe in einem gesessen«, erwidert er ruhig. »Und man mag es glauben oder nicht – die vertrauten Wände spenden dir nach einer Weile Geborgenheit.«

Ich blinzle, versuche Tränen der Wut zu unterdrücken, die sich in meinen Augen sammeln. Ich möchte Jason helfen. Schließlich bin ich es, die ihm all das eingebrockt hat. Ich will mich um ihn kümmern, ihm zeigen, dass ich für ihn da bin, dass er sich auf mich verlassen kann.

Gleichzeitig muss ich erkennen, dass Papa recht hat.

Ich hasse ihn dafür.

»Was bedeutet das?« Tränen der Wut und Verzweiflung sammeln sich in meinen Augen. »Willst du ihn einfach vor die Tür setzen?«

Mein Vater betrachtet mich lange, schlussendlich seufzt er. Er nimmt einen Zug von seiner Zigarette, dann stößt er die Aschespitze am Tellerrand ab, den er als Aschenbecher missbraucht. »Natürlich nicht. Wir werden eine Bleibe für ihn finden, wo er auf die Beine kommen kann. Ich unterstütze ihn bei einer Ankunft in einem neuen Leben – aber nicht bei der Fortführung seines alten.«

Kapitel 1

Grenzgänger

Acht Wochen später

Hey, Mädchen! Fürchtest du dich vorm bösen Wolf?«

Die Augen verbunden, lausche ich dem Ausruf sowie dem Ticken von Fahrradspeichen, das sich in unterschiedlicher Entfernung bewegt.

»Sollen wir wirklich …?«, fragt jemand verstört.

»Ich passe auf.« Die vertraute Stimme meines Vaters kommt von schräg oben. Von dem Gerüst aus, das die Wände der Lagerhalle bedeckt, behält er das Geschehen im Auge.

Ich sauge die Luft ein und stoße sie langsam wieder aus. Meine Sportschuhe streifen prüfend über den Boden, ertasten den harten Beton unter all dem Schmutz. Es riecht nach Winter. Irgendwo unter meinen Füßen ist Doktor Schnee gestorben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich eines Tages hierher zurückkehren würde, in die Fabrikhallen der Pensings. Nun nutzen wir sie, um mich zu trainieren. Dafür, meine zweite Gestalt – die des Blauen Drachen – hervorzureizen.

»Bist du bereit?«, fragt Papa.

Ich hebe den Daumen.

Rundherum erklingt das bekannte Geräusch, als eifrig in die Fahrradpedale getreten wird. Die Speichen ticken, die Reifen schmatzen über den Untergrund, Schleifen werden um mich gezogen. Jemand stößt ein Lachen aus. Meine Arme kribbeln. Die Härchen an meinen Fingern ziepen. Instinktiv möchte ich davonlaufen, doch ich zwinge mich zur Ruhe. Ich muss mich meiner Furcht stellen. Sie allein bringt mich an den Rand des Wahnsinns – an die Grenze zu meiner zweiten Gestalt.

Plötzlich saust jemand heran.

»Vorsicht!«

Ich ducke mich. Trotzdem peitscht etwas gegen meine Wange und hinterlässt ein Brennen. Demütigung blockiert meinen Hals, aber auch Angst. Das Bedürfnis, mir die Augenbinde vom Gesicht zu reißen, lässt meine Finger jucken, doch ich halte mich zurück. Die Haut an Brust und Schultern spannt wie nach einem Sonnenbrand.

»Alles in Ordnung, Christie?«, ruft jemand. Es ist Cordula, meine beste Freundin – die den Rest des Fahrrad-Polo-Teams für diese Trainingseinheit herbestellt hat. Eine Spezialeinheit, wie mein Vater verlangte. Als er ihr erzählte, was er sich vorstellt, fiel ihr das Lächeln von den Lippen.

Zwei weitere Räder nähern sich. Meine Armhärchen stehen vor Anspannung, die Schuppen an meinen Schultern jucken unter der Haut. Dann sind sie heran – und ich springe.

Einer der Stoffstreifen, mit denen sie nach mir peitschen, streift meinen Unterschenkel, der andere klatscht daneben auf.

»Mist!«, schimpft Angela Bosco, die noch nicht verstanden hat, dass das hier kein Spiel ist. Für mich ist es tödlicher Ernst. Ich muss meine Drachengestalt meistern, wenn ich mich gegen Han und die Triade stellen will.

Fahrräder entfernen sich, das Speichenticken wird lauter und leiser. Meine Nasenflügel beben. Ich versuche, das Team zu erschnuppern. Obwohl die Mädels sich entfernt zu haben scheinen, streift mich der penetrante Duft eines Deodorants.

»Hab …«

Ich ducke mich zur Seite und rolle mich über die Schulter. »… ich dich!« Das Band schlägt zu Boden.

Ich rapple mich wieder auf. Mein Atem geht schwer, die Schuppen pulsieren unter der Haut. »Das ist unfair!«, rufe ich. »Ohne Fahrrad war nicht abgemacht!«

»Die Triade ist nicht fair«, knurrt mein Vater irgendwo. Ein Fahrrad saust heran. Ich sprinte davon. Die Anspannung treibt mir erste Schuppen aus der Haut.

»Gut!«, ruft Long. »Mehr davon! Reizt sie! Treibt sie! Macht ihr …« er bricht ab.

… macht ihr Angst.

Plötzlich packt mich jemand von hinten. Im nächsten Augenblick befinde ich mich im Schwitzkasten, trete blind um mich. Die Panik wächst.

»Lass das!«, höre ich Cordula rufen. »Das ist zu viel!«

Muskulöse Arme schlingen sich um meinen Hals, drücken mir die Luft ab. Meine Hände grapschen danach, ziehen Furchen in die Haut. Der Widerstand bleibt beständig. Ich treffe einen Fuß, ein dumpfer Laut fährt mir ins Ohr.

Meine Schuppen pulsieren. Zerreiße, zerhacke, zerteile deinen Gegner, flüstert mir etwas ins Ohr. Hol ihn dir! Stattdessen dränge ich gegen die weibliche Brust, drücke sie einen Schritt, dann noch einen zurück.

»Schluss jetzt!«, ruft Cordula. Das Ticken von Fahrradspeichen verklingt, ein hoher Piepton gleißt durch mein Ohr. »Long!«

Mein Vater schweigt. Vielleicht höre ich ihn auch nur nicht. In meinen Ohren rauscht es – nicht sanft wie das Meer. Es ist ein Damm, der plötzlich bricht. Meine Schultern brennen, meine Haut fühlt sich an, als wollte sie platzen und Fleisch und Fett darunter entlassen.

»Sehr gut«, grunzt meine Angreiferin. Chris. Sie heißt wie ich, kurzhaarig, burschikos, muskulös.

Zerfetze sie!

Ich ringe nach Luft, meine Lunge droht zu zerspringen. Die Schuppen an meiner Brust verfestigen sich – es fühlt sich an wie ein Panzer, der sich um weiche Haut aufbaut. Ich spüre, wie sie Chris’ Griff davonschieben, nur ein kleines Stückchen. Als ich nach Luft sauge, klingt es wie ein Grollen.

Ich reiße den Mund auf. Blind beiße ich zu.

Chris schreit.

So habe ich sie noch nie kreischen gehört.

Ich realisiere, was ich getan habe. Die plötzliche Angst ist eine andere. Das Jucken in meiner Haut ebbt ab.

Cordulas Rufe dringen dumpf zu mir heran. Ich werde gepackt und aus Chris’ Umarmung gezogen, meine Zähne – klein und nadelspitz – gleiten aus ihrem Arm. Es schmeckt nach Blut. Im ersten Augenblick erweckt es in mir eine Lust auf Zerstörung, dann dringt mein menschlicher Teil zu mir durch – und mir wird schlecht.

Ich taumle. Jemand fängt mich auf. Am Geruch erkenne ich meinen Vater, der mich abzuschirmen versucht.

Ich reiße die Augenbinde von mir. Wenige Meter vor mir krümmt sich Chris und drückt den verletzten Arm an ihre Brust. Zwei Mädchen lassen die Fahrräder fallen und sprinten an ihre Seite. Cordula, unsere Teamkapitänin, ist gleich bei ihr und spricht beruhigend auf sie ein. Sie möchte ihren Arm berühren, doch Chris wehrt ihre Hand ab. Zumindest hört sie endlich auf zu schreien.

Mit einem Ruck hebt sie den Kopf und starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an.

Sie hat eine Scheißangst. Angst vor mir.

Ich reiße mich los. Mein Name verfolgt mich, als ich loslaufe, hinaus aus der Halle, bis mir die Tür in den Rücken schlägt. Rennen ist das Einzige, was ich tun kann, selbst wenn meine Lunge brennt und mich Seitenstechen plagt.

Ich kann nicht kämpfen. Ich kann nicht wandeln. Ich kann nicht helfen.

Bloß wegrennen wie ein Feigling.

Kapitel 2

Wer bin ich?

Mit zittrigen Beinen komme ich im Vorhof zum Stehen und lasse mich an der von Brombeerranken umwucherten Mauer nieder. Meine Schuppen haben sich unter die Haut zurückgezogen, was nichts daran ändert, dass ich mich wie ein Häufchen Elend fühle.

Wer bin ich?

Mensch oder Drache?

Befreierin oder Sklavenherrin?

Longs Tochter oder doch die von Han Wei?

Gehöre ich zur Familie Song oder zur Familie Han?

Diese und tausend andere Fragen quälen mich, wühlen sich durch meine Eingeweide und halten mich jede Nacht wach.

Was bin ich?

Freund oder Feind?

Ich berge mein erhitztes Gesicht in den Armen. Meine Brust hebt und senkt sich ruckartig, mit jedem Atemzug drängt sich ein Keuchen aus meiner Kehle. Ich habe eine meiner Teamkolleginnen gebissen, mit Drachenzähnen, scharf wie Rasierklingen. Mein gesamtes Bike-Polo-Team muss mich für ein Monster halten.

Tränen wollen sich vorarbeiten, doch ich halte sie zurück. Seit meiner ersten und letzten Verwandlung habe ich nicht mehr geweint. Ich muss stark sein. Aufrecht stehen. Meinen Ängsten die Stirn bieten. Stattdessen laufe ich bloß davon.

Ich streife mir das nasse Haar aus dem Gesicht und fummle nach meinem Mobiltelefon. Meine Gliedmaßen zittern, wie bei jedem Versuch in den letzten Wochen, meine Wandlung zu reproduzieren. Ich wähle eine Nummer – eine der wenigen, die ich auswendig weiß – und drücke das Handy an mein Ohr. Ich lausche dem steten Tuten, seine Regelmäßigkeit beruhigt mich ein wenig, verschmilzt im Einklang mit meinem langsamer werdenden Atem. Schließlich hebt jemand ab.

»Hallo?« Blechern hallt die Stimme meines Cousins wider.

»Zhang?« Meine Finger graben sich durch mein Haar, die Nägel kratzen über meine Kopfhaut. »Hast du Zeit?«

»Klar.« Ein Dröhnen erklingt, als würde er sich die Haare föhnen.

»Bist du zu Hause?«

»Nö, in einer Besprechung im Ratsgebäude.« Seine Schritte geben ein Echo von sich. »War gerade auf dem Klo. Sollten in einer halben Stunde fertig sein. Holst du mich mit dem Fahrrad ab? Papa braucht das Auto, hat einen Termin mit Oma. Deswegen musste ich zu diesem elendslangweiligen Hexade-Treffen fahren – mit dem Bus.« Sein Ton macht klar, was mein Cousin von der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel hält.

»Ich bin zu Fuß unterwegs.« Zhang würde lieber auf meinem Gepäckträger mitfahren, als in Bus oder Straßenbahn zu steigen.

Er stößt ein verächtliches Geräusch aus. »Na gut«, gibt er nach, »dann halt der olle Bus.«

Ich taste nach dem Zaun hinter mir und ziehe mich daran in die Höhe. Schwindel erfasst mich. Obwohl ich immer wieder an meine körperlichen Grenzen gelange, habe ich noch kein einziges Mal geschafft, die Verwandlung zum Blauen Drachen zu reproduzieren. Ich bin eine Versagerin.

»Bis gleich.« Ich lege auf.

Jemand nähert sich. Mit einem Ruck hebe ich den Kopf. Es ist mein Vater.

»Deiner Freundin geht’s gut!«, ruft er aus der Entfernung. An seinem angespannten Gesicht kann ich sehen, dass er lügt. Seit wann sind seine Schläfen so grau? Habe ich ihm das angetan?

Ich stecke das Handy in die Gesäßtasche, bemühe mich um Contenance. Das Wort kenne ich von Großmama Pheng. Contenance, Christine.

»Alles in Ordnung?« Papa tritt an mich heran.

»Ich möchte bloß Luft schnappen.«

Unschlüssig reiben seine Lippen aufeinander. »Deine Teamkollegin hätte dich nicht würgen sollen«, stellt er fest.

Ich schaue weg. »Aufgehalten hast du sie auch nicht.«

Er presst den Mund zusammen.

»Ich weiß, dass ich ein schwieriger Fall bin«, füge ich hinzu und wende mich ab.

»Ich bin auch nur zur Hälfte ein Drache, Christine. Bei mir war es auch nicht einfach.«

»Nicht so wie bei mir …«

Sein Schweigen bedeutet Zustimmung. Er greift nach mir, doch ich weiche aus. »Ich kann nicht mehr«, wehre ich ab. »Machen wir für heute Schluss. Ich werde mich bei Chris entschuldigen.«

»Ich weiß nicht, ob …«

»Ich werde mich bei Chris entschuldigen!«, wiederhole ich so laut, dass meine Stimme über den Vorplatz der Fabrik schallt und sich an den Mauern fängt. Damit stapfe ich zurück zur Fabrikhalle und wappne mich davor, Chris ins Gesicht sehen zu müssen. Ich kann nicht ständig weglaufen. Ich bin kein Kind mehr.

Mädchen oder Erwachsene?

Jägerin oder Gejagte?

Stehe ich vor der Grenze – oder habe ich sie längst überschritten?

Chris meidet meinen Blick, während ich mich bei ihr entschuldige. Schließlich würgt sie hervor, dass es möglicherweise ein Fehler war, mich in den Schwitzkasten zu nehmen. Ehrlich gesagt, ist mir das egal. Ich weiß, dass mich meine Mädels unterstützen wollen. Sie haben bloß noch nicht ganz begriffen, womit sie es zu tun haben.

Die anderen betrachten mich schüchtern, ihr aufmunterndes Lächeln wirkt brüchig. Ich fühle mich abgeschieden und einsam. Cordula berührt meinen Arm. »Das wird schon wieder«, sagt sie und lässt mich mit der Unsicherheit zurück, ob sie nun wirklich Chris’ Verletzung meint.

»Ich danke euch für eure Hilfe«, sage ich so laut, dass sich mein gesamtes Fahrrad-Polo-Team angesprochen fühlt. »Aber ich denke, diese Art des Trainings war von Beginn an keine gute Idee. Mein Vater und ich werden einen anderen Weg finden, wie ich mein …« Ich verbeiße mir das Wort. »… mein Erbe annehmen kann.«

Angela Bosco verschränkt die Arme vor der Brust und betrachtet mich skeptisch, ihre beiden Zöpfe streifen ihre Schultern. »Und das Fahrrad-Polo-Training?«, fragt sie. Takt war noch nie ihre Stärke. Ich nehme es ihr nicht übel. Ich habe gerade meine Teamkollegin gebissen, was weiß ich schon von Manieren? »Ich werde eine Weile aussetzen.«

»Christie …!«, raunt Cordula. »Bist du sicher, dass das notwendig ist?«

Nachdrücklich nicke ich. »Solange ich mich nicht unter Kontrolle habe, bin ich bloß eine Gefahr für jeden in meiner Nähe.« Ich verbeuge mich, erkenne mitten in der Bewegung, dass ich einer talanidischen Tradition folge, ihnen allen Ehrerbietung für ihre Mühen zu erweisen. »Ich danke euch.« Damit ziehe ich mich zurück.

Mein Vater wartet draußen, eine Hand in der Jackentasche, zwischen den Fingern der anderen eine selbst gedrehte Zigarette, die er immer wieder an den Mund heranführt, um daran zu ziehen. Er raucht mehr als früher. »Sollen wir …?«

»Ich habe etwas mit Zhang ausgemacht.«

Sein Blick lässt nicht von mir ab. Sorge zieht seine Augenbrauen zusammen, bildet dazwischen ein Viereck aus Falten, mit dem er seit dem Auftauchen meiner blauen Schuppen über die Ereignisse brütet. »Bist du sicher, dass es dir gut geht?« Er macht sich Sorgen um mich – macht sich Sorgen um die gesamte Familie. Ich weiß das. Doch seine Sorge belastet mich noch mehr, als wenn ihm alles egal wäre.

Ich streife seine Frage ab wie seine Hand. »Alles klar mit mir. Ich muss los. Bis dann.« Damit versenke ich die Fäuste in den Hosentaschen und gehe einfach. Egal was passiert, ich zwinge einen Schritt vor den anderen. Egal, wie lang die Strecke auch ist, ein Schritt geht immer, so klein er auch sein mag. Stillstand bedeutet, dass man tot ist.

Und noch lebe ich.

Genau wie Zhang.

Schritt für Schritt, Hand in Hand. Wir haben uns in den schlimmsten Zeiten wieder aufgerafft, mit neuen Narben und neuen Feinden. Ich werde es machen wie er, meistern wie er – auch wenn es ein ständiger Kampf bleibt. Er ist der Einzige, der mich versteht.

Also mache ich mich auf den Weg zur nächsten Straßenbahn, die die Buslinie zum Ratsgebäude der Hexade streift. Wäre ich noch immer ein Iudex Poschovaris, hätte ich an der Ratssitzung teilgenommen. Da sich Long als mein Ziehvater kurzfristig dazu entschlossen hat, ebenfalls um den Posten im Stadtrat zu kandidieren, musste ich meine Rolle ablegen. Er befindet sich in der nächsten Stufe des Aufnahmeverfahrens – und ich kann nur danebenstehen und zusehen wie alle anderen.

Der Bus schaukelt mich durch die Stadt und entlässt mich zwei Seitenstraßen entfernt vom Ziegelgebäude, in dem die Hexade tagt. Ich lasse mich auf den Stufen nieder und warte darauf, dass die Besprechung ein Ende findet. Ein bisschen wundere ich mich, dass Großmama Pheng, die ebenfalls einen Platz in der Hexade besetzt, ausgerechnet den desinteressierten Zhang als Stellvertreter geschickt hat. Andererseits war immer schon geplant, ihn und nicht seinen Vater, Onkel Thien, als Nachfolger zu ernennen.

Meine Knie blitzen durch die Löcher meiner Jeans, in meinem Mund dominiert ein eigenartiger Geschmack, weswegen ich mir einen Kaugummi zwischen die Zähne stecke. Tauben sammeln sich auf den Steinvasen, die die Treppe flankieren, aus dem gesprungenen Gehsteig blinzeln erste Grashalme. Die Sonne erwärmt die Stufen. Der Frühling hält Einzug.

Ich kratze die Kruste von meinen zerschundenen Knien und blinzle zur anderen Straßenseite, auf der die Autos vorbeirauschen. Als ich eine Gestalt vor einer spiegelnden Auslage bemerke, recke ich den Kopf.

Kastanienbraunes Haar fällt glatt über einen grauen Trenchcoat, der sicher eine andere Farbbezeichnung wie beige oder taupe bevorzugt. Er sieht edel aus, ist an der Taille schmal geschnitten und umhüllt wie eine Tulpe schlanke Beine in hohen Schuhen, die mir bekannt vorkommen.

Die junge Frau tritt einen Schritt zur Seite, fließend wie eine Katze, und einen Augenblick lang glaube ich diese auch im Schaufenster zu sehen. Ist das Lisbeth? Wurde sie nach ihrer Attacke von der Kojotenwandlerin Vanessa bereits aus dem Krankenhaus entlassen?

Ich rapple mich auf. Nachdem ihre Mutter von Geralts Wolfsrudel getötet worden war, hat sich Lisbeth in ihrer zweiten Katzengestalt bei Hexade-Nachfolger Viktorius Horasch verkrochen. Niemand wusste, warum genau sie ausgerechnet diesen stillen, abweisenden Mann erwählte, ihr Unterschlupf zu gewähren. Allerdings sind Katzen dafür bekannt, sich zu jenen hingezogen zu fühlen, die sich am wenigsten für sie interessieren.

Der Mann vom Fluss hat es mit stoischer Gelassenheit über sich ergehen lassen und wurde nicht selten mit Katzenfutterdosen bei Hexade-Besprechungen gesichtet, in denen er den alten Anselm Horasch vertrat.

»Lisbeth?«, rufe ich, doch der Lärm der vorbeisausenden Autos dämpft meine Stimme. Entweder hört sie mich nicht oder ich irre mich.

Meine Aufmerksamkeit wird gebannt, als hinter mir die Tür zum Ratsgebäude aufgeht. Ulla und Johann Wegemann treten hervor und unterhalten sich dabei in sanftem Plauderton. Sie sind Cordulas Eltern und ebenfalls Teil des Stadtrats.

»Grüß dich, Christie!« Johann blinzelt durch seine Nickelbrille, als sie die Stufen herabkommen. »Wie geht es dir?«

Ich entschließe mich zu der schnellsten Antwort. »Gut, vielen Dank.«

Hinter ihnen schlüpft Paul Pensing aus dem Tor. Er würdigt mich keines Blickes – nun, da ich nicht länger ein Iudex Poschovaris bin, hat er keine Verwendung für mich. Eilig fischt er eine Zigarette aus der Tasche und zündet sie an. Wie für die beiden Feuermagier und Brüder üblich, benötigt er dazu kein Feuerzeug, sondern lässt eine Flamme aus seinen Fingern kräuseln. Zufrieden pafft er.

Endlich erscheint mein Cousin. Zhang ist eine schwarze Weidenrute, die aus dem Gebäude stakt. Er zupft sich den Rollkragen zurecht, der die Narben an seinem Hals verdecken soll. Seine lange Nase zuckt. Er wirkt äußerst gelangweilt. Er fühlt sich zu wohl in seiner Rolle als fixer Nachfolger, was ihn manchmal arrogant wirken lässt. Manchmal?

»Wenn du so weiterrauchst, kann ich dich bald als Mumie in die Sitzungen schleifen«, blafft er Paul an. Dabei spielt er darauf an, dass er die Fähigkeit zur Nekromantie beherrscht – er kann die Toten kontrollieren. Nun … zumindest verstorbene Nagetiere und Vögel.

Paul stößt den Rauch mit einem Schnauben aus der Nase. »Klappe, Song.«

Zhang grinst nur und schlurft mit langen Beinen die Treppe herab, direkt auf mich zu, kurz drückt er mich an sich. »Na, altes Haus«, brummt er mit seiner rauen Stimme, die er dem Biss des Wolfs­gestaltenwandlers zu verdanken hat. »Wie lief das Training mit Long?«

Auch hier entscheide ich mich für die kürzeste Antwort. Jetzt, wo Zhang hier ist, möchte ich nicht über meine negativen Erfahrungen reden. Es tröstet mich schon, dass er einfach nur da ist. »Gut.« Ich nicke zur anderen Straßenseite. »Ist das nicht Lisbeth?«

Ich spüre, wie sich Zhang anspannt und den Kopf hebt wie ein Erdmännchen. »Lisbeth …?«

An uns vorbei trabt Viktorius Horasch, mit zurückgebundenem fahlblonden Haar und farbbefleckten Jeans und T-Shirt. »Morgen«, grüßt er mich, das Gesicht glatt, zwischen seinen Fingern klimpert sein Schlüsselbund. Ich habe ihn eigentlich noch nie in Jeans ohne Farbe oder Löcher gesehen, was daran liegt, dass Viktorius für die Renovierung der Häuser des Volkes am Fluss zuständig ist. Diese in sich geschlossene Gemeinschaft zeichnet sich nicht nur durch ihre Liebe zu dem sich durch Poschovar windenden Fluss, der Mahr, aus, sondern auch durch ihre teilweise etwas abweichenden Haar- und Hautfarben, die darauf hindeuten, dass sie von Interens wie ich abstammen. Im Fall von Viktorius und Anselm Horasch, Nachfolger sowie aktueller Patriarch der Hexade, ist es ein eigentümlicher Gelbstich ihres fahlen Haars, der an vergilbtes Elfenbein erinnert, der Fremde kurz innehalten lässt, wenn sie ihnen das erste Mal begegnen.

Viktorius tritt zwischen den parkenden Autos hindurch und schreitet zielgerichtet über die Straße. Irgendwo blinkt sein Wagen auf.

Ob er Lisbeth ebenfalls erkennt? Wann hat er sie das letzte Mal gesehen? Er muss ihr ja furchtbar die Meinung gegeigt haben, als sie sich wieder zurückverwandelt hat.

Ich höre ihren Namen – und diesmal ist es Viktorius, der ihn ruft. Ich versuche Verärgerung herauszuhören, doch sie fehlt. Seine fleckigen Jeans reiben an dem nächsten Wagen entlang, als er sich zum Schaufenster hindurchkämpft. Lisbeth rotiert auf ihren Stöckelschuhen herum und ihr wunderschönes Gesicht mit katzenhaften grünen Augen erweicht zu dem womöglich ersten echten Lächeln, das ich jemals an ihr gesehen habe.

Sie tritt auf ihn zu und tastet nach seiner Schulter, um sich noch ein Stück weiter in die Höhe zu ziehen. Dann küssen sie sich.

Auf den Mund.

Jawohl. Viktorius Horasch und Lisbeth Devoye küssen sich auf offener Straße.