Mit zittrigen Beinen komme ich im Vorhof zum Stehen und lasse mich an der von Brombeerranken umwucherten Mauer nieder. Meine Schuppen haben sich unter die Haut zurückgezogen, was nichts daran ändert, dass ich mich wie ein Häufchen Elend fühle.
Wer bin ich?
Mensch oder Drache?
Befreierin oder Sklavenherrin?
Longs Tochter oder doch die von Han Wei?
Gehöre ich zur Familie Song oder zur Familie Han?
Diese und tausend andere Fragen quälen mich, wühlen sich durch meine Eingeweide und halten mich jede Nacht wach.
Was bin ich?
Freund oder Feind?
Ich berge mein erhitztes Gesicht in den Armen. Meine Brust hebt und senkt sich ruckartig, mit jedem Atemzug drängt sich ein Keuchen aus meiner Kehle. Ich habe eine meiner Teamkolleginnen gebissen, mit Drachenzähnen, scharf wie Rasierklingen. Mein gesamtes Bike-Polo-Team muss mich für ein Monster halten.
Tränen wollen sich vorarbeiten, doch ich halte sie zurück. Seit meiner ersten und letzten Verwandlung habe ich nicht mehr geweint. Ich muss stark sein. Aufrecht stehen. Meinen Ängsten die Stirn bieten. Stattdessen laufe ich bloß davon.
Ich streife mir das nasse Haar aus dem Gesicht und fummle nach meinem Mobiltelefon. Meine Gliedmaßen zittern, wie bei jedem Versuch in den letzten Wochen, meine Wandlung zu reproduzieren. Ich wähle eine Nummer – eine der wenigen, die ich auswendig weiß – und drücke das Handy an mein Ohr. Ich lausche dem steten Tuten, seine Regelmäßigkeit beruhigt mich ein wenig, verschmilzt im Einklang mit meinem langsamer werdenden Atem. Schließlich hebt jemand ab.
»Hallo?« Blechern hallt die Stimme meines Cousins wider.
»Zhang?« Meine Finger graben sich durch mein Haar, die Nägel kratzen über meine Kopfhaut. »Hast du Zeit?«
»Klar.« Ein Dröhnen erklingt, als würde er sich die Haare föhnen.
»Bist du zu Hause?«
»Nö, in einer Besprechung im Ratsgebäude.« Seine Schritte geben ein Echo von sich. »War gerade auf dem Klo. Sollten in einer halben Stunde fertig sein. Holst du mich mit dem Fahrrad ab? Papa braucht das Auto, hat einen Termin mit Oma. Deswegen musste ich zu diesem elendslangweiligen Hexade-Treffen fahren – mit dem Bus.« Sein Ton macht klar, was mein Cousin von der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel hält.
»Ich bin zu Fuß unterwegs.« Zhang würde lieber auf meinem Gepäckträger mitfahren, als in Bus oder Straßenbahn zu steigen.
Er stößt ein verächtliches Geräusch aus. »Na gut«, gibt er nach, »dann halt der olle Bus.«
Ich taste nach dem Zaun hinter mir und ziehe mich daran in die Höhe. Schwindel erfasst mich. Obwohl ich immer wieder an meine körperlichen Grenzen gelange, habe ich noch kein einziges Mal geschafft, die Verwandlung zum Blauen Drachen zu reproduzieren. Ich bin eine Versagerin.
»Bis gleich.« Ich lege auf.
Jemand nähert sich. Mit einem Ruck hebe ich den Kopf. Es ist mein Vater.
»Deiner Freundin geht’s gut!«, ruft er aus der Entfernung. An seinem angespannten Gesicht kann ich sehen, dass er lügt. Seit wann sind seine Schläfen so grau? Habe ich ihm das angetan?
Ich stecke das Handy in die Gesäßtasche, bemühe mich um Contenance. Das Wort kenne ich von Großmama Pheng. Contenance, Christine.
»Alles in Ordnung?« Papa tritt an mich heran.
»Ich möchte bloß Luft schnappen.«
Unschlüssig reiben seine Lippen aufeinander. »Deine Teamkollegin hätte dich nicht würgen sollen«, stellt er fest.
Ich schaue weg. »Aufgehalten hast du sie auch nicht.«
Er presst den Mund zusammen.
»Ich weiß, dass ich ein schwieriger Fall bin«, füge ich hinzu und wende mich ab.
»Ich bin auch nur zur Hälfte ein Drache, Christine. Bei mir war es auch nicht einfach.«
»Nicht so wie bei mir …«
Sein Schweigen bedeutet Zustimmung. Er greift nach mir, doch ich weiche aus. »Ich kann nicht mehr«, wehre ich ab. »Machen wir für heute Schluss. Ich werde mich bei Chris entschuldigen.«
»Ich weiß nicht, ob …«
»Ich werde mich bei Chris entschuldigen!«, wiederhole ich so laut, dass meine Stimme über den Vorplatz der Fabrik schallt und sich an den Mauern fängt. Damit stapfe ich zurück zur Fabrikhalle und wappne mich davor, Chris ins Gesicht sehen zu müssen. Ich kann nicht ständig weglaufen. Ich bin kein Kind mehr.
Mädchen oder Erwachsene?
Jägerin oder Gejagte?
Stehe ich vor der Grenze – oder habe ich sie längst überschritten?
Chris meidet meinen Blick, während ich mich bei ihr entschuldige. Schließlich würgt sie hervor, dass es möglicherweise ein Fehler war, mich in den Schwitzkasten zu nehmen. Ehrlich gesagt, ist mir das egal. Ich weiß, dass mich meine Mädels unterstützen wollen. Sie haben bloß noch nicht ganz begriffen, womit sie es zu tun haben.
Die anderen betrachten mich schüchtern, ihr aufmunterndes Lächeln wirkt brüchig. Ich fühle mich abgeschieden und einsam. Cordula berührt meinen Arm. »Das wird schon wieder«, sagt sie und lässt mich mit der Unsicherheit zurück, ob sie nun wirklich Chris’ Verletzung meint.
»Ich danke euch für eure Hilfe«, sage ich so laut, dass sich mein gesamtes Fahrrad-Polo-Team angesprochen fühlt. »Aber ich denke, diese Art des Trainings war von Beginn an keine gute Idee. Mein Vater und ich werden einen anderen Weg finden, wie ich mein …« Ich verbeiße mir das Wort. »… mein Erbe annehmen kann.«
Angela Bosco verschränkt die Arme vor der Brust und betrachtet mich skeptisch, ihre beiden Zöpfe streifen ihre Schultern. »Und das Fahrrad-Polo-Training?«, fragt sie. Takt war noch nie ihre Stärke. Ich nehme es ihr nicht übel. Ich habe gerade meine Teamkollegin gebissen, was weiß ich schon von Manieren? »Ich werde eine Weile aussetzen.«
»Christie …!«, raunt Cordula. »Bist du sicher, dass das notwendig ist?«
Nachdrücklich nicke ich. »Solange ich mich nicht unter Kontrolle habe, bin ich bloß eine Gefahr für jeden in meiner Nähe.« Ich verbeuge mich, erkenne mitten in der Bewegung, dass ich einer talanidischen Tradition folge, ihnen allen Ehrerbietung für ihre Mühen zu erweisen. »Ich danke euch.« Damit ziehe ich mich zurück.
Mein Vater wartet draußen, eine Hand in der Jackentasche, zwischen den Fingern der anderen eine selbst gedrehte Zigarette, die er immer wieder an den Mund heranführt, um daran zu ziehen. Er raucht mehr als früher. »Sollen wir …?«
»Ich habe etwas mit Zhang ausgemacht.«
Sein Blick lässt nicht von mir ab. Sorge zieht seine Augenbrauen zusammen, bildet dazwischen ein Viereck aus Falten, mit dem er seit dem Auftauchen meiner blauen Schuppen über die Ereignisse brütet. »Bist du sicher, dass es dir gut geht?« Er macht sich Sorgen um mich – macht sich Sorgen um die gesamte Familie. Ich weiß das. Doch seine Sorge belastet mich noch mehr, als wenn ihm alles egal wäre.
Ich streife seine Frage ab wie seine Hand. »Alles klar mit mir. Ich muss los. Bis dann.« Damit versenke ich die Fäuste in den Hosentaschen und gehe einfach. Egal was passiert, ich zwinge einen Schritt vor den anderen. Egal, wie lang die Strecke auch ist, ein Schritt geht immer, so klein er auch sein mag. Stillstand bedeutet, dass man tot ist.
Und noch lebe ich.
Genau wie Zhang.
Schritt für Schritt, Hand in Hand. Wir haben uns in den schlimmsten Zeiten wieder aufgerafft, mit neuen Narben und neuen Feinden. Ich werde es machen wie er, meistern wie er – auch wenn es ein ständiger Kampf bleibt. Er ist der Einzige, der mich versteht.
Also mache ich mich auf den Weg zur nächsten Straßenbahn, die die Buslinie zum Ratsgebäude der Hexade streift. Wäre ich noch immer ein Iudex Poschovaris, hätte ich an der Ratssitzung teilgenommen. Da sich Long als mein Ziehvater kurzfristig dazu entschlossen hat, ebenfalls um den Posten im Stadtrat zu kandidieren, musste ich meine Rolle ablegen. Er befindet sich in der nächsten Stufe des Aufnahmeverfahrens – und ich kann nur danebenstehen und zusehen wie alle anderen.
Der Bus schaukelt mich durch die Stadt und entlässt mich zwei Seitenstraßen entfernt vom Ziegelgebäude, in dem die Hexade tagt. Ich lasse mich auf den Stufen nieder und warte darauf, dass die Besprechung ein Ende findet. Ein bisschen wundere ich mich, dass Großmama Pheng, die ebenfalls einen Platz in der Hexade besetzt, ausgerechnet den desinteressierten Zhang als Stellvertreter geschickt hat. Andererseits war immer schon geplant, ihn und nicht seinen Vater, Onkel Thien, als Nachfolger zu ernennen.
Meine Knie blitzen durch die Löcher meiner Jeans, in meinem Mund dominiert ein eigenartiger Geschmack, weswegen ich mir einen Kaugummi zwischen die Zähne stecke. Tauben sammeln sich auf den Steinvasen, die die Treppe flankieren, aus dem gesprungenen Gehsteig blinzeln erste Grashalme. Die Sonne erwärmt die Stufen. Der Frühling hält Einzug.
Ich kratze die Kruste von meinen zerschundenen Knien und blinzle zur anderen Straßenseite, auf der die Autos vorbeirauschen. Als ich eine Gestalt vor einer spiegelnden Auslage bemerke, recke ich den Kopf.
Kastanienbraunes Haar fällt glatt über einen grauen Trenchcoat, der sicher eine andere Farbbezeichnung wie beige oder taupe bevorzugt. Er sieht edel aus, ist an der Taille schmal geschnitten und umhüllt wie eine Tulpe schlanke Beine in hohen Schuhen, die mir bekannt vorkommen.
Die junge Frau tritt einen Schritt zur Seite, fließend wie eine Katze, und einen Augenblick lang glaube ich diese auch im Schaufenster zu sehen. Ist das Lisbeth? Wurde sie nach ihrer Attacke von der Kojotenwandlerin Vanessa bereits aus dem Krankenhaus entlassen?
Ich rapple mich auf. Nachdem ihre Mutter von Geralts Wolfsrudel getötet worden war, hat sich Lisbeth in ihrer zweiten Katzengestalt bei Hexade-Nachfolger Viktorius Horasch verkrochen. Niemand wusste, warum genau sie ausgerechnet diesen stillen, abweisenden Mann erwählte, ihr Unterschlupf zu gewähren. Allerdings sind Katzen dafür bekannt, sich zu jenen hingezogen zu fühlen, die sich am wenigsten für sie interessieren.
Der Mann vom Fluss hat es mit stoischer Gelassenheit über sich ergehen lassen und wurde nicht selten mit Katzenfutterdosen bei Hexade-Besprechungen gesichtet, in denen er den alten Anselm Horasch vertrat.
»Lisbeth?«, rufe ich, doch der Lärm der vorbeisausenden Autos dämpft meine Stimme. Entweder hört sie mich nicht oder ich irre mich.
Meine Aufmerksamkeit wird gebannt, als hinter mir die Tür zum Ratsgebäude aufgeht. Ulla und Johann Wegemann treten hervor und unterhalten sich dabei in sanftem Plauderton. Sie sind Cordulas Eltern und ebenfalls Teil des Stadtrats.
»Grüß dich, Christie!« Johann blinzelt durch seine Nickelbrille, als sie die Stufen herabkommen. »Wie geht es dir?«
Ich entschließe mich zu der schnellsten Antwort. »Gut, vielen Dank.«
Hinter ihnen schlüpft Paul Pensing aus dem Tor. Er würdigt mich keines Blickes – nun, da ich nicht länger ein Iudex Poschovaris bin, hat er keine Verwendung für mich. Eilig fischt er eine Zigarette aus der Tasche und zündet sie an. Wie für die beiden Feuermagier und Brüder üblich, benötigt er dazu kein Feuerzeug, sondern lässt eine Flamme aus seinen Fingern kräuseln. Zufrieden pafft er.
Endlich erscheint mein Cousin. Zhang ist eine schwarze Weidenrute, die aus dem Gebäude stakt. Er zupft sich den Rollkragen zurecht, der die Narben an seinem Hals verdecken soll. Seine lange Nase zuckt. Er wirkt äußerst gelangweilt. Er fühlt sich zu wohl in seiner Rolle als fixer Nachfolger, was ihn manchmal arrogant wirken lässt. Manchmal?
»Wenn du so weiterrauchst, kann ich dich bald als Mumie in die Sitzungen schleifen«, blafft er Paul an. Dabei spielt er darauf an, dass er die Fähigkeit zur Nekromantie beherrscht – er kann die Toten kontrollieren. Nun … zumindest verstorbene Nagetiere und Vögel.
Paul stößt den Rauch mit einem Schnauben aus der Nase. »Klappe, Song.«
Zhang grinst nur und schlurft mit langen Beinen die Treppe herab, direkt auf mich zu, kurz drückt er mich an sich. »Na, altes Haus«, brummt er mit seiner rauen Stimme, die er dem Biss des Wolfsgestaltenwandlers zu verdanken hat. »Wie lief das Training mit Long?«
Auch hier entscheide ich mich für die kürzeste Antwort. Jetzt, wo Zhang hier ist, möchte ich nicht über meine negativen Erfahrungen reden. Es tröstet mich schon, dass er einfach nur da ist. »Gut.« Ich nicke zur anderen Straßenseite. »Ist das nicht Lisbeth?«
Ich spüre, wie sich Zhang anspannt und den Kopf hebt wie ein Erdmännchen. »Lisbeth …?«
An uns vorbei trabt Viktorius Horasch, mit zurückgebundenem fahlblonden Haar und farbbefleckten Jeans und T-Shirt. »Morgen«, grüßt er mich, das Gesicht glatt, zwischen seinen Fingern klimpert sein Schlüsselbund. Ich habe ihn eigentlich noch nie in Jeans ohne Farbe oder Löcher gesehen, was daran liegt, dass Viktorius für die Renovierung der Häuser des Volkes am Fluss zuständig ist. Diese in sich geschlossene Gemeinschaft zeichnet sich nicht nur durch ihre Liebe zu dem sich durch Poschovar windenden Fluss, der Mahr, aus, sondern auch durch ihre teilweise etwas abweichenden Haar- und Hautfarben, die darauf hindeuten, dass sie von Interens wie ich abstammen. Im Fall von Viktorius und Anselm Horasch, Nachfolger sowie aktueller Patriarch der Hexade, ist es ein eigentümlicher Gelbstich ihres fahlen Haars, der an vergilbtes Elfenbein erinnert, der Fremde kurz innehalten lässt, wenn sie ihnen das erste Mal begegnen.
Viktorius tritt zwischen den parkenden Autos hindurch und schreitet zielgerichtet über die Straße. Irgendwo blinkt sein Wagen auf.
Ob er Lisbeth ebenfalls erkennt? Wann hat er sie das letzte Mal gesehen? Er muss ihr ja furchtbar die Meinung gegeigt haben, als sie sich wieder zurückverwandelt hat.
Ich höre ihren Namen – und diesmal ist es Viktorius, der ihn ruft. Ich versuche Verärgerung herauszuhören, doch sie fehlt. Seine fleckigen Jeans reiben an dem nächsten Wagen entlang, als er sich zum Schaufenster hindurchkämpft. Lisbeth rotiert auf ihren Stöckelschuhen herum und ihr wunderschönes Gesicht mit katzenhaften grünen Augen erweicht zu dem womöglich ersten echten Lächeln, das ich jemals an ihr gesehen habe.
Sie tritt auf ihn zu und tastet nach seiner Schulter, um sich noch ein Stück weiter in die Höhe zu ziehen. Dann küssen sie sich.
Auf den Mund.
Jawohl. Viktorius Horasch und Lisbeth Devoye küssen sich auf offener Straße.