Illustrationen
Timo Grubing
Die Autorin dankt dem österreichischen Bundeskanzleramt für die Unterstützung während der Arbeit an diesem Buch.
Die Dunklen Bücher – Jahrmarkt der Geister
von Barbara Schinko
1. Digitale Auflage 2020
www.ggverlag.at
ISBN E-Book: 978-3-7074-1735-7
ISBN Print: 978-3-7074-2284-9
In der aktuell gültigen Rechtschreibung
Coverillustration: Timo Grubing
Innenillustrationen: Timo Grubing
© 2020 G&G Verlagsgesellschaft mbH, Wien
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Die Mutprobe
Der Lunapark
Sind wir allein?
Nur ein Traum?
Katz und Maus
Die drei Geschwister
Der letzte Abend
Der Geist des Jahrmarkts
Achterbahn-Spuk
Nie wieder!
Hallo, ich bin der Vincent! Bin 12 Jahre alt, habe kurze, blonde Haare und blaue Augen. Ich bin sehr neugierig und hasse es, wenn man mich für feige hält. Wofür ich mich am meisten interessiere? Konsolenspiele und Achterbahnfahren!
Ich bin Lea und 11, fast 12 Jahre alt. Ich habe schwarze Haare und trage meistens einen Pferdeschwanz. Meine Lieblingsfarbe ist Lila. Ich liebe Pferde! Ich bin ziemlich schlau und eher ein bisschen ängstlich.
Ich heiße Tessa, bin 12 Jahre alt und habe kurze, dunkelbraune Haare. Ich bin sehr mutig (manche sagen auch tollkühn). Mein Hund heißt Rocky. Mein liebstes Hobby ist Klettern. (Und Süßigkeiten naschen.)
Vincent wusste: Wer seine Eltern austricksen wollte, musste schlau sein.
Der 12-Jährige sah sich im Wohnwagen um. Seine Mutter verstaute gerade die letzten Teller im Kasten über der Spüle. Sie mochte es, wenn alles schön aufgeräumt war. Besonders im Urlaub!
Vincent hängte das Geschirrtuch an einen Haken. Seine Mutter liebte es auch, wenn er sich wie heute freiwillig zum Abtrocknen meldete.
Sein Vater hatte Nudeln mit Tomatensoße gekocht. Jetzt blätterte er in einer Autozeitschrift. Diesen Luxus gönnte er sich nur im Urlaub. Daheim arbeitete er zu viel.
Die Gelegenheit war also günstig. Vincent wartete, bis seine Mutter den Kasten schloss und sein Vater einen neuen Sportwagen betrachtete. Dann fragte er lässig: „Ist es okay, wenn ich heute bei Tessa schlafe?“
Zwei Köpfe drehten sich in seine Richtung.
„Sie hat in ihrem Wohnmobil einen Riesenfernseher. Und DVDs“, ergänzte Vincent schnell. Seine Eltern fänden es sonst sicher komisch, dass er bei einem Mädchen übernachten wollte. Lieber wäre er natürlich mit seinem besten Freund Robin abgehangen. Aber der und seine Spielkonsole waren ja nicht hier. Auf dem Campingplatz gab es außer Vincent nur noch Tessa, Lea und ein paar Kindergartenbabys.
„Ist dort auch genügend Platz für Gäste?“, fragte seine Mutter besorgt.
„Klar, sie sind bloß zu dritt. Und haben sechs Betten.“ Tessas Eltern besaßen ein Monster von einem Wohnmobil. Der kleine Wohnwagen, den Vincents Familie für diesen Italienurlaub gemietet hatte, hätte mindestens dreimal reingepasst.
„Und was sagen Tessas Mama und Papa dazu?“
„Die freuen sich“, schwindelte Vincent.
Seine Eltern tauschten Blicke. „Von mir aus gerne“, sagte sein Vater.
Seine Mutter ergänzte: „Aber komm zum Frühstück wieder, hörst du? Nicht dass die Friedmanns glauben, wir hätten keine Nougatcreme mehr und sie müssten dich durchfüttern.“
Vincent versprach es. Er packte seine Zahnbürste und Zahnpasta in einen Turnbeutel. Seinen Gamer-Pyjama mit dem Controller auf der Brust stopfte er dazu.
„Sag Danke, wenn man dir Chips oder Kekse anbietet“, ermahnte ihn seine Mutter. „Und lass Tessa die DVD aussuchen. Es ist schließlich ihr Wohnmobil.“
Vincent rollte die Augen. Sie tat, als wäre er ein Baby und wüsste nicht, was sich gehörte. Als hockte er daheim nicht andauernd bei Robins Familie.
„Und bleibt nicht zu lange auf, auch wenn Ferien sind. Spätestens um elf liegst du im Bett.“
Vincent versprach auch das. „Gute Nacht!“, rief er und öffnete die Wohnwagentür. Der stille Campingplatz breitete sich vor ihm aus. Nur die Grillen zirpten. Die Abendluft roch nach Piniennadeln. Vincent schloss die Tür hinter sich.
Der Wohnwagen stand in Reihe D, Platz 24. Weit entfernt vom Eingang, aber dafür näher am Zaun des Campingplatzes. Es gab hier nicht so viele Straßenlaternen wie in Reihe A, wo Tessas Monster-Wohnmobil parkte. Vincent zog sich die Kapuze seines schwarzen Pullis über die blonden Haare. Jetzt sahen ihn seine Eltern garantiert nicht mehr! Er duckte sich hinter einen knallgelben VW-Bus, schlich über ein paar unbelegte Plätze und erreichte den Zaun.
Hier war es dunkel. Das Gras und die Brennnesseln gingen Vincent bis zu den Knien. Er hätte doch lange Jeans statt der Shorts tragen sollen. Der Zaun war zwei Meter hoch und aus Maschendraht. Zerknüllte Papiertaschentücher und Zeitungsblätter hatten sich in ihm verfangen.
Vincent schmiss den Turnbeutel ins Gras. Er trampelte mit seinen Sneakers ein paar Brennnesseln nieder und lehnte sein Gesicht an den Zaun. Nur der Mond schien auf den Wald dahinter. Die Loopings einer Achterbahnstrecke verknoteten sich wie eine Schlange über den Baumkronen und Wipfeln.
Bei der Ankunft hatte Vincent den Vergnügungspark in der Nähe des Campingplatzes gesehen und sich zuerst total gefreut. Was für eine tolle Überraschung! Seine Eltern hatten seit Wochen davon geschwärmt, wie schön es hier sein würde. Die gute Waldluft. Das Eiscafé im nächsten Städtchen. Der Pool mit Sprungturm auf dem Campingplatz. Aber kein Wort von einem Jahrmarkt.
Dann waren sie daran vorbeigefahren. Und Vincent hatte das Schild auf Deutsch und Italienisch an der Mauer gesehen, die den Vergnügungspark umgab:
Ungeduldig trat er jetzt von einem Bein aufs andere. Irgendwo auf dem Campingplatz heulte ein Baby. Ein Hund bellte. Wahrscheinlich hatte er das Baby aufgeweckt oder das Baby ihn. Wo blieben Lea und Tessa? Sie würden doch hoffentlich nicht kneifen.
Lea hatte diese Mutprobe überhaupt erst vorgeschlagen. Und Tessa war furchtlos, sie köpfelte sogar vom Dreimeterturm in den Pool, was sich Vincent nie traute.
Seine Hand schlich in die Tasche seiner Shorts. Es war gar nicht so einfach gewesen, heimlich die Taschenlampe seines Vaters mitzunehmen. Nicht dass sie ihm sein Vater nicht geborgt hätte. Er hätte aber wissen wollen, wofür.
Ein kratzendes Geräusch!
Vincent riss den Kopf herum. Niemand da.
Er war allein.